Stichflamme von Coronet (Der Aufstieg des Phönix) ================================================================================ Kapitel 41: Stille ------------------ »Oh, jetzt bin ich aber enttäuscht ...« Mulcibers laute Worte trafen auf umso intensivere Stille. Einige Herzschläge lang hörte man nicht einmal Atemzüge. Alle drei starrten Minerva, Elladora und selbst Rosier den Eindringling an, unerwartet im Schrecken vereint. Was tat er hier? Eine große Hand legte sich aus dem Nichts um Minervas Magen und drückte langsam zu. Etwas stimmte an dieser Situation nicht. Nur was? Sie suchte Mulcibers Blick, doch dieser wich ihr gekonnt aus, indem er sich auf der Stelle drehte und den nahezu leeren Raum in Augenschein nahm. Für den Flügel hinter Elladora hatte er eine erhobene Augenbraue übrig, das war es auch schon. Letztlich wandte er sich Rosier zu und schickte ein Seufzen in das anhaltende Schweigen. »Komme ich wirklich so ungelegen? Ich meine – man hat mir drüben allerlei wilde Versprechungen gemacht, was dieses kleine ... Tête-à-Tête angeht, aber hier wird sich doch tatsächlich nur unterhalten. Da hatte ich mir nach all den Andeutungen ehrlich mehr versprochen, Gid ...« Minerva sah dabei zu, wie Mulciber durch das Zimmer spazierte und Rosier einen Klopfer auf die Schulter versetzte. Es brauchte einige weitere Wimpernschläge, bis sie endlich begriff, was so falsch an diesem Bild – an Alston Mulciber – war. Es war das Aussehen. Mulciber sah wieder aus wie immer. Nicht wie das Narbengesicht, in das der Vielsafttrank ihn verwandelt hatte. Doch sie verstand nicht, wieso. Sie waren schließlich nicht umsonst in Tarnung angereist ... Auf Rosiers Zügen wich die Irritation dafür plötzlich einem breiten Grinsen. »Al, mit dir habe ich gar nicht gerechnet«, rief er aus und scheuchte die letzte Verwunderung kopfschüttelnd fort. »Everard meinte, Rookwood und du, ihr würdet euch bedeckt halten müssen ...« »Tja, Überraschung!« Mit einem zufriedenen Grinsen breitete Mulciber die Arme zu beiden Seiten aus wie ein Straßenkünstler nach der Aufführung, der auf ein paar Pfundnoten – oder Sickel – aus war. Nicht nur trat er in seiner eigenen Haut auf – er verhielt sich auch genau so, selbstsicher und spöttisch wie eh und je. Er war kein unerwünschter Eindringling wie sie, begriff Minerva. Nein, Mulciber war in dieser Gesellschaft zuhause. Er gehörte dazu. Weshalb dann bloß das Schauspiel zusammen mit Elphinstone und ihr? Wenn das hier eine Falle war, warum hatte er sie nicht eher auffliegen lassen? Sie versuchte, schneller zu denken, einen Grund zu finden, aber ... nichts. »Ich dachte mir, so kurz vor’m Ziel kann man mal eine kleine Ausnahme machen«, fuhr Mulciber derweil mit einem Achselzucken fort, gänzlich unberührt von der gegenwärtigen Anspannung. »Kann mir ja nicht immer das Beste entgehen lassen! Wenigstens einmal muss ich bei so einer Veranstaltung einfach den versteckten Wichtel geben und mich ein bisschen umsehen. Ich sollte schließlich auch wissen, mit wem wir es so zu tun haben, findet ihr nicht?« Während er sprach, sah er langsam von Rosier zu Elladora. Die befand sich genau wie Minerva immer noch in Schockstarre und fixierte Mulciber mit schmalen Augen. Doch sobald sie seinen Blick auffing, zupfte an ihren Lippen ein kleines Lächeln. »Nun, zumindest ich gebe dir recht, Alston«, sagte sie tonlos, aber es war eindeutig, dass ihre Schultern ein Stück herabsanken. Noch etwas, auf das Minerva sich keinen Reim machen konnte, ebenso wenig wie auf Mulcibers Reaktion. Dessen überzogenes Strahlen flackerte nämlich und für den Bruchteil einer Sekunde sah das Lächeln, was übrig blieb, gar echt aus. Lange währte der Eindruck jedoch nicht, bevor er sich abwandte und stattdessen mit dem Daumen in ihre Richtung wies. »Eine Frage drängt sich mir allerdings auf, Gid. Was wird das hier nun für eine Privatvorstellung? Und vor allem: Warum mit der? Hab ich was verpasst? Ich wollte Everard ja nicht glauben, als er mir von McGonagall erzählte ...« Zur Antwort gab Rosier ein unterdrücktes Schnauben von sich, das seine kurzzeitige Freude direkt vertrieb. »Eine kleine, aber bitter nötige Lektion wird das. Eine, mit der du – bei allem Respekt – nichts zu tun hast.« »Ist ja gut, entspann dich, alter Freund.« Abwehrend hob Mulciber beide Hände. »Ich frag doch nur, immerhin sind McGonagall und ich alte Feinde. Da muss ich den Anblick einfach genießen, wenn du ihren Willen wirklich gebrochen hast. Sorry Gid, gönn mir die Minute.« »Meinetwegen, aber dann mach gleich zwei draus«, erwiderte Rosier gedehnt. Seine Mundwinkel zuckten ganz und gar nicht humorvoll. »Soll sich ja auch lohnen für dich, wo du dich heute schon mal zum Fußvolk bequemt hast. Alles für unsere wertvollen Unterstützer im Ministerium et ceterea, et cetera ...« Mulciber lachte nur und schlenderte langsam in Minervas Richtung, wobei er es kunstvoll vermied, sie anzusehen. Obwohl sie seinen Blick inzwischen offensiv suchte, machte er keine Anstalten, ihr ins Gesicht zu sehen. Dafür musterte er alles andere an ihr – das ramponierte Kostüm; die bebenden Finger, die am liebsten wieder eine Faust ballen wollten ... »Endlich mal keine Widerworte aus Minerva McGonagalls Mund! Dass ich das noch erleben darf ...« Mulciber schob die Hände zurück in seine Hosentaschen, während Rosier mit verschränkten Armen wartete. »Nachdem ich jahrelang darunter leiden durfte, mit dieser kleinen Mistkatze zusammenzuarbeiten, ist das hier ein Anblick, der mein Herz höher schlagen lässt. Sie unter dem Imperius, das ist wirklich ... genial! Ich schulde dir einen Feuerwhisky, Gid.« Rosier verdrehte die Augen, grinste dabei allerdings. »Die Leiden des Alston Mulciber – ich sag’s dir, eines Tages schreibe ich ein Buch darüber.« »Oh, ich bitte darum«, gab Mulciber umgehend zurück. »Soll ich dir mein Tagebuch geben, damit du Originalzitate benutzen kannst?« »Sehr witzig.« Mit einem Kopfschütteln vertrieb Rosier das Grinsen abermals von seinen Lippen. »Hör zu Al, wenn ich hier fertig bin, kannst du mit McGonagall machen, was du willst, ja? Ich werd auch nicht danach fragen, wenn sie anschließend ... verschwindet.« »Sowas traust du mir zu?« Die gespielte Empörung auf Mulcibers Zügen wich sogleich wieder Provokation. »Na, okay, vielleicht hast du ja recht. Weil sie es ist, mache ich vielleicht noch eine Ausnahme.« Am liebsten wäre Minerva zurückgewichen, als Mulciber die letzten Zentimeter zwischen ihnen überbrückte und zwei Finger unter ihr Kinn legte. Seine Berührung war ungewöhnlich kalt, ja brannte geradezu auf ihrer Haut. Er schob ihren Kopf ein Stück nach hinten und zwang sie somit, zu ihm aufzusehen. Allein die Furcht vor den Konsequenzen möglichen Widerstandes hielt sie an ihrem Platz. Wenigstens konnte Mulciber so nicht länger ihrem Blick ausweichen. Nicht, dass es etwas geändert hätte – in seinem Gesicht war keine Regung und erst recht keine Reue zu erkennen. Weder Mitleid noch Hohn spiegelten sich in seinen dunklen Augen, nur das ferne Mondlicht von draußen. »Oh McGonagall ... wer von uns triumphiert nun, hm?« Er seufzte kaum merklich. Aus dem Augenwinkel beäugte er indes Elladora, die ihrerseits zwischen ihm und Rosier hin- und hersah. Sie presste sich mit dem Rücken gegen den Flügel, ihre rechte Hand in den Falten ihres Kleides verborgen. Für einen lächerlich hoffnungsvollen Moment erwartete Minerva, sie würde gleich den Zauberstab ziehen und ihr zur Hilfe eilen. Doch nichts dergleichen geschah. Dafür schien sich plötzlich ein enges Gummiband um ihren Schädel zu spannen. Sie sah zu Mulciber zurück. Las er etwa ihre Gedanken? Grimmig formte sie ein möglichst eindeutiges »Fick dich!« in ihrem Kopf, nur für den Fall. Und prompt bekam sie ihre Antwort. Es konnte unmöglich Zufall sein, dass Mulcibers Mundwinkel zuckten, kaum dass sie den Gedanken beendet hatte. Im Gegenteil, ihr Zorn schien ihn anzuspornen. Nur sein Unvermögen, ihr wenigstens ein paar Sekunden länger in die Augen zu schauen, verriet den Hauch eines Gewissen. Aber in ihrem Geist gab es für ihn ohnehin viel mehr zu sehen. Ohne ihr Zutun erinnerte Minerva wieder, wie Rosier ihr den Zauberstab Rowles abgenommen hatte und obwohl sie die Zähne zusammenpresste, drängte sich ihre Verabschiedung von Elphinstone zurück in den Vordergrund. Das Gefühl seiner Finger, die aus ihren glitten, das Brennen von Goldlackwasser auf ihren Lippen nach dem letzten Kuss und schließlich der Wirbel, in dem Elphinstone mit dem Portschlüssel verschwunden war. Und dann, als ihre Finger schon erwartungsvoll zuckten, um endlich die Faust zu bilden, die Mulciber in den Magen treffen könnte – stolperte sie beinahe vorwärts. Der Legilimentikdruck war weg, der Schleier vergangener Erlebnisse vor ihrem geistigen Auge nicht. Mulciber hatte sich von ihr gelöst und wieder Rosier zugewandt, doch seine Stimme war auf einmal in ihrem Kopf. Sie behauptete, dass es einen Ausweg gäbe. Das war keine ihrer Erinnerungen, auch wenn sie die Arrestzelle im Ministerium wiedererkannte, deren Bild zu den Worten gehörte. Genauso wie die trotzige Elladora darin, die vorwurfsvoll fragte: »Was willst du tun? Es ist zu spät, für alles! Er ist nicht der Einzige, der in Gewalt die Lösung sieht!« »Ich finde einen Weg«, beschwor Mulcibers körperlose Stimme in Minervas Gedanken, während der echte Mulciber keine Armlänge entfernt dastand und mit Rosier über ihren vermeintlich willenlosen Zustand scherzte. »Wir finden einen Weg.« Die Worte hallten völlig selbstverständlich durch ihren Kopf, als wären sie ihr wohlbekannt. »Ich habe dafür gesorgt, dass Gideon gehen kann, anstatt für die Sache mit den Flugblättern belangt zu werden. Er hat keinen Grund, mir zu misstrauen. Ich bin schließlich immer noch sein Kumpel – zumindest wird er das denken. Und der Rest genauso. Merlin, ich habe deinen Bruder sicher nicht umsonst überzeugt, die Entlassungen für gewisse Demonstranten schnellstmöglich durchzuwinken! Es darf jetzt einfach niemandem der Zauberstab ausrutschen. Belohnt werden nur die Geduldigen.« Die erinnerte Elladora seufzte. »Ich hoffe so sehr, dass du recht behältst, Al ...« Durch den verblassenden Schleier von Mulcibers Erinnerung sah Minerva bestürzt zu, wie er sich nunmehr der realen Elladora näherte. Was hatte das zu bedeuten? War ihm überhaupt bewusst, dass er sie in seine Gedanken gelassen hatte? Oder hatte er es gar gewollt? Hatte sie sich womöglich doppelt in ihm getäuscht? »Nur eines verstehe ich nicht«, sagte der gegenwärtige Mulciber leichthin über die Schulter zu Rosier, »was hat Elladora mit McGonagalls wohlverdientem Imperius-Problem zu tun? Was für eine Art Lektion soll das werden?« Rosier hielt die Arme weiterhin verschränkt, doch sein nervös auf und ab wippender Zauberstab in der rechten Hand verriet die Ungeduld hinter seiner Fassade. »Ach Al ... Was denkst du denn, was deine liebe Ex-Kollegin hier treibt? Glaubst du etwa, sie war eingeladen?« »Muss ich ja, nach all euren Sicherheitsvorkehrungen. Ich wäre ja selber kaum reingekommen. Um ein Haar hätte ich eine Geheimnissonde im Allerwertesten gehabt!« Das kommentierte Rosier mit einem Schnauben. »Nun, vielleicht sollte Ella etwas dazu sagen, wie McGonagall herkam? Ich denke, sie kann diese Geschichte noch schöner erzählen als ich. Und dann wirst du schon verstehen.« Mulciber sah Elladora genau wie Rosier an, wenn auch besorgt, anstatt begierig. Elladora schrumpfte unter den Blicken förmlich zusammen. Ihre eben noch entspannten Schultern wanderten wieder in die Höhe. »Als wenn ich wüsste, woher McGonagall kam!«, stieß sie gepresst hervor. »Zum letzten Mal – ich habe nichts damit zu tun, auch wenn du es dir wünscht, Gideon.« »Lüg mich nicht an!« Selbst Mulciber zuckte bei dem plötzlichen Schrei Rosiers zusammen. »Ich weiß, dass sie gemeinsam mit deinem Bruder herkam, auf dein Geheiß –« »Ach«, warf Mulciber rasch ein, »der kleine Elphinstone?« Minerva hielt die Luft an; spannte all ihre Muskeln. Tu es nicht, flehte sie in Gedanken, gleichwohl sie nicht einmal wusste, ob er sie hörte. Das würde Elladora dir nie verzeihen! Mulciber ließ sich nichts anmerken, sondern sprach einfach weiter. »Es würde mich wundern, wenn Elphinstone hier war. Den habe ich bei Dienstschluss schließlich noch dabei gesehen, wie er seine letzten Akten im Archiv zurückgegeben hat. Jetzt wo er suspendiert ist, muss er ja all seine Unterlagen ans Ministerium herausgeben ... geschieht ihm recht.« Er lachte erneut auf, aber es klang dünn, wie eine Saite kurz vor dem Zerreißen. Offenbar überzeugte die Lüge Rosier ebenso wenig wie Minerva, denn er schüttelte seufzend den Kopf. »Erfindest du jetzt schon Ausreden in Elphinstones Namen? Du enttäuschst mich. Dabei habe ich dich einst für klug gehalten. Und für einen echten Freund. Aber in letzter Zeit zeigst du genau wie meine werte Frau dein wahres Gesicht, nicht?« Fast bewunderte Minerva, wie schamlos Mulciber einen unschuldigen Ausdruck aufsetzte und Rosier gegenüber mit den Achseln zuckte. »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte er gleichmütig. »Obwohl – lass mich raten! Geht es um die Sache mit den Flugblättern? Dir ist doch wohl klar, dass ich dir da zumindest ein bisschen auf die Finger hauen musste, ja?« »Natürlich; um den Anschein zu wahren ...« Rosier gab ein leises Schnalzen von sich. »Fast hättest du mich überzeugt, Alston. Fast. Aber nein, das meine ich nicht. Was ist mit deinen letzten Ausflügen? Glaubst du, ich weiß nichts davon?« »Ausflüge?« Dieses Mal schien Mulcibers Ahnungslosigkeit echt. »Tja, klingt, als hättest du da etwas Wichtiges ... vergessen?« Mit einem tiefen Atemzug, der ihn und sein breites Kreuz förmlich wachsen ließ, trat Rosier ein paar Schritte näher. »Vielleicht so etwas wie die Tatsache, dass du mit Elphinstone und McGonagall dort draußen rumgeturnt bist und deine eigenen Ermittlungen angestellt hast?« »Gideon ...« Im Gegensatz zu sonst fehlte Mulcibers typischem, herablassenden Schnauben die Leichtfertigkeit; das dazugehörige Grinsen. Jetzt waren seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben und eisige Kälte lag auf seinen Zügen. »Sag nicht, dass du es warst, der mich obliviert hat.« »Ach komm, gib jetzt nicht den Schockierten«, entgegnete Rosier unbekümmert. »Natürlich war ich es. Weißt du eigentlich, wie schwierig das mit den Heilern vor Ort war? Um die musste ich mich auch noch kümmern, von den lästigen Muggeln ganz zu schweigen!« Gefangen in der Rolle der Beobachterin vergaß Minerva angesichts dieser Wendung beinahe ihren Widerstand gegen den Imperius. Erst in letzter Sekunde riss sie sich mit einem Blinzeln aus der gefährlichen Lethargie. Mulciber indes wich keinen Schritt vor Rosier zurück, doch hinter all seinem Sarkasmus hörte sie den ersten Anflug von Besorgnis heraus. »Warum, Gideon? Weil es deine Nichte war, die mich zweimal fast umgebracht hätte? Kann ich ja nicht ahnen!« Missbilligend schüttelte Mulciber den Kopf. »Abgesehen davon hatte sie es nicht anders verdient. Entschuldige bitte, aber ich bin doch etwas angefressen, nachdem ich in der Flohzentrale mit unverzeihlichen Flüchen beschossen wurde, von dem Fiasko in Gringotts ganz zu schweigen. Ja, ich gebe es zu, da kam mir McGonagalls privater Rachefeldzug wirklich gelegen! Ich hänge schließlich auch – man möchte es kaum glauben – an meinem beschissenen kleinen Leben!« Rosier reagierte seinerseits nur mit einem Augenrollen auf die Vorwürfe. »Oh, immer dieses armselige ‚Warum Gideon ...‘«, äffte er Mulciber nach. »Sieh den Tatsachen ins Auge – du bist eben nicht der Einzige, der unzufrieden mit der Gesamtsituation ist. Du bist nur ein schlechter Verlierer, wenn es nicht nach deiner Laune geht.« Für einen Augenblick fiel wieder Schweigen über den Raum, dann sah Minerva etwas Dunkles, eine hastige Bewegung – doch Mulciber zog nur die Hände aus den Hosentaschen und streckte Rosier die leeren Handflächen anklagend entgegen. »Und du denkst, für ein paar Machtspielchen wäre es in Ordnung, mein Gedächtnis zu löschen? Anstatt einmal mit mir zu sprechen? Nach allem, was ich für dich als Freund getan habe?« »Manchmal sind halt kleine Opfer notwendig. Du hättest es ja nie erfahren, wenn du dich nicht unbedingt einmischen müsstest. Und sag jetzt nicht, du hättest so etwas noch nie getan.« Spöttisch zog Rosier die Augenbrauen hoch. »Außerdem glaubst du doch nicht, meine Nichte und ihr Mann hätten all diese Dinge von alleine geschafft? Du weißt genauso gut wie ich, dass sie noch halbe Kinder sind. Aber nur weil meine Schwester der Meinung ist, eine Frau sollte keine Ambitionen haben, heißt das nicht, dass ich Bellas Potential ebenso verkenne. Betrachte meine Taten einfach als Investition in die nächste Generation. Das Thema liegt dir doch am Herzen.« Die folgende Stille war so umfassend, dass Minerva in weiter Ferne das leise Zusammenspiel von Musik und Gesprächen hören konnte. Dazwischen mischte sich nur Elladoras flacher Atem und – wenn man ganz genau lauschte – das Knirschen von Mulcibers fest zusammengebissenen Zähnen. Jede Faser ihres Körpers zum Zerreißen gespannt, die Muskeln bereit ihr Gedankengefängnis zu sprengen, wartete Minerva darauf, dass Mulciber den Zauberstab zog, Rosier einen Fluch entgegenschleuderte, der Beginn eines Kampfes ... Doch es folgte kein plötzlicher Lichtblitz, kein wütender Schrei. Natürlich nicht. Mulciber hatte genau wie sie seinen Stab beim Einlass abgeben müssen. Somit war er ebenfalls unbewaffnet. Das würde immerhin erklären, weshalb er es Rosier bloß gleichtat und die Arme vor der Brust verschränkte. »Also war das alles von Anfang an dein Plan? Du hast Bellatrix und ihren Mann ... inspiriert?«, fragte er heiser. Glucksend ahmte Rosier Mulcibers bühnenreife Geste mit den ausgebreiteten Armen nach. »Bravo, du hast es erfasst. Ja, ich habe insgeheim etwas nachgeholfen. Wenn ihr Fluch hält, was er verspricht, dann werden das Ministerium und all seine Anhänger schon bald die wahre Macht des Walpurgis begreifen! Unsere Macht! Das, wovon wir seit der dritten Klasse immer geträumt haben, Al!« »Bist du wirklich so verblendet?« Kaum merklich verzog Mulciber das Gesicht. »Ist dir nicht klar, dass du damit in erster Linie die Aufmerksamkeit des Aurorenbüros riskierst? Was meinst du, wie er dir danken wird, wenn du alles in Gefahr bringst, was wir über die letzten Jahre aufgebaut haben?« »Hah, das Aurorenbüro! Sollen sie nur kommen.« Rosier schnaubte verächtlich. »Im Gegensatz zu dir bin ich nicht so naiv, zu glauben, dass sich die Welt einfach so, von heute auf morgen, zu unseren Gunsten ändern wird. Und wenn es einen Krieg dafür braucht, dann werde ich ihn führen. In jedem Fall können wir alle fähigen Zauberstäbe auf unserer Seite gebrauchen. Es wird höchste Zeit, den inneren Kreis zu erweitern.« »Das ist Irrsinn«, hauchte Mulciber, augenscheinlich genauso fassungslos wie Minerva. »Bellatrix ist nicht im Mindesten dafür geeignet, eine von uns zu werden –« »Das entscheidest ja wohl kaum du.« »Aber auch nicht du!« Alle Köpfe flogen herum, als Elladora sich plötzlich mit bebender Stimme einmischte. Bis eben hatte sie nur am Flügel gelehnt und das Geschehen reglos verfolgt, doch nun trat sie ein paar energische Schritte vor. »Wie kannst du Druella – deine eigene Schwester! – so hintergehen? Ihre Tochter für deine Kriegslust zu benutzen –« »Du hast hier überhaupt nichts zu sagen«, würgte Rosier sie ab. Sein Zorn schraubte die Lautstärke langsam aber sicher in neue Höhen. »Und vor allem solltest du nicht von Moral oder Anstand sprechen. Wer von uns hat sich denn mit Caius eingelassen, hm? Das warst du! Du hast das alles erst möglich gemacht, du lügende, dreckige Schlampe!« Je lauter Rosier wurde, desto mehr Kontrolle sickerte in Minervas Glieder zurück. Minuten zuvor hatte es sie jede Anstrengung gekostet, sich überhaupt bei Bewusstsein zu halten, doch inzwischen brauchte es nur einen kurzen Gedankenbefehl und ihr Körper gehorchte. Diese Chance konnte sie nicht verstreichen lassen! Unbemerkt von Rosier, dessen Stimme sich im Wettstreit mit Elladoras immer höher schaukelte, schob sie sich ein paar winzige Testschritte zur Seite. Ihr war, als ginge sie durch zähen, hüfthohen Matsch und jedes Mal, wenn sie auftrat, schienen ihre Füße am Boden festzukleben. Aber sie schaffte es, Rowles Zauberstab in Rosiers Tasche immer vor Augen. »Ich wusste doch die ganze Zeit, dass du mit Caius schläfst!«, schrie Rosier Elladora derweil weiter an. »Immerhin war er Bella gegenüber sehr freigibig mit den Dingen, die er gegen dich in der Hand hat! Du kannst froh sein, dass du noch so nützlich für meine Sache warst, sonst hätte ich das hier schon viel eher beendet! Du bist nur eine –« Weiter kam er nicht, denn Mulciber durchschnitt seine Tirade mit einem Schlag gegen den Flügel, der die Mechanik darin lautstark klirren und scheppern ließ. »Das reicht, Gideon!«, rief er so durchdringend, dass es auch Stahlseile hätte durchtrennen können. Kurzzeitig fürchtete Minerva, Putz würde von der Decke regeln. Schwer atmend standen sich beide Männer gegenüber und trugen ein stummes Kräftemessen allein über ihre Blicke aus. Immerhin brachte sie diese Ablenkung noch zwei wacklige Schritte näher an Rosier heran ... »Das hört jetzt auf«, verlangte Mulciber leise und doch in fester Stimmlage von Rosier. »Ich begreife nicht, was aus dir geworden ist, aber lass es dir von einem Freund sagen – es ist Schluss. Lass Elladora in Frieden. Wenn er hiervon erfährt, wirst du es bereuen. Er mag es nicht, wenn man hinter seinem Rücken agiert, das solltest du eigentlich wissen.« Wie erwartet schüttelte Rosier nur den Kopf. »Oh Alston ... du bist so ein Idiot. Weißt du, du hättest einfach die Finger von der ganzen Sache lassen sollen. Es wäre so einfach für dich gewesen! Aber ich will mal nicht so sein, der guten alten Zeiten wegen. Geh jetzt und du kannst sogar noch McGonagall haben, wenn ich hier fertig bin. Das ist mein letztes Angebot an dich.« Einen Augenblick lang stand Mulciber reglos da – dann schob er sich ein Stück weiter nach links, vor Elladora. »Das werde ich nicht tun.« Wieder schüttelte Rosier mit dem Kopf, während er den Zauberstab in der Hand hin und her rollte. »Da gebe ich dir eine Chance, einfach davonzukommen, und du ergreifst sie nicht, Al ... Wirklich?« »Wirklich. Ich werde das hier nicht zulassen. Und wenn es unsere Freundschaft kostet.« »Al, nicht –«, versuchte Elladora zu intervenieren, doch ein warnender Blick von Mulciber brachte sie zum Verstummen. »Ach, wie rührselig ...«, höhnte Rosier bei diesem Anblick. »Ist es Mitleid oder warum fühlst du dich mit einem Mal zum strahlenden Ritter berufen, Alston?« Mulciber zwang seine Arme aus ihrer Verschränkung und straffte seine Schultern. »Weder noch. Im Gegensatz zu dir habe ich einfach ein Fünkchen klaren Verstandes. Du vergisst, dass ich Ella genauso lange kenne wie dich. Und bei allem was mir heilig ist, ich werde nicht zulassen, dass du sie in deinem blinden Zorn verletzt, nur weil sie nicht nach deiner – ziemlich mies gespielten – Geige tanzt.« »So? Das denkst du also?« Rosier schlenkerte bedrohlich seinen Zauberstab umher. »Steckt ihr etwa unter einer Decke? Wollt ihr uns gemeinsam an ihren Bruder und das Ministerium ausliefern? Ist es das?« Kalter Schweiß rann Minerva den Rücken hinab, als sie zwei weitere Schritte in Richtung Rosier tat. Sie konnte kaum über seine Worte und ihre Bedeutung nachdenken. Sie wusste bloß, dass sie und Rosier nur noch eine Armlänge trennte. Wenn sie sich nach vorne stürzen, ihn packen würde – dann könnte sie eventuell den Zauberstab ergreifen ... »Erhofft ihr euch vielleicht Amnestie vom Ministerium, weil ihr zu feige für den Kampf seid?«, tobte Rosier ungeachtet ihrer Bewegungen weiter und lockerte seine Kontrolle damit erst recht. »Hast du vielleicht auch noch mit Elladora geschlafen, Alston? Hast du vielleicht gedacht, du könntest dich mit ihr über den Tod deiner ach so geliebten Maybell hinwegtrösten, ja?« »Hör auf Gideon!« Elladora stieß einen sprachlosen Mulciber mit dem Ellenbogen beiseite und zog die Hand aus der Kleidtasche, ihren Zauberstab fest im Griff. »Bitte, hör auf! Alston hat nichts dergleichen getan. Auch wenn ich wünschte, ich hätte mich damals in ihn verliebt! Er ist jedenfalls der bessere Mann!« Rosier schlug sie durch eine harsche Handbewegung zurück und einer von Elladoras Absätzen brach unter ihrer strauchelnden Hacke weg. Mit einem dumpfen Schlag stolperte sie rückwärts gegen den Flügel und brachte damit die Tasten erneut zum Klimpern. »Tja, dann wünschte ich, ich hätte mir ein Beispiel an Alston genommen und dich genauso vergiftet, wie er es mit seiner Maybell getan hat!«, brüllte Rosier zurück. Mulciber wurde aschfahl, die Hände zu Fäusten geballt. »Das stimmt nicht und du weißt es! May war krank!« »Ach ja? Nun, Ella ist genauso krank! Geisteskrank! Sie versucht, alles kaputt zu machen. Aber wartet nur ab, sie wird den heutigen Tag schon bald bereuen!« »Das reicht!«, fauchte Elladora, die sich trotz gebrochenen Absatzes wieder aufrichtete. Sie hob den Zauberstab und richtete ihn auf ihren Mann. »Weißt du was – egal was du mir antust, ich werde nichts bereuen. Aber ich schenke dir vorher noch die Wahrheit, damit du genau weißt, was ich dir angetan habe.« Sie bleckte ihre Zähne. »Ich habe Elphinstone zwar nicht hergebracht, aber ich habe ihm zur Flucht verholfen. Mit meinen Erinnerungen an das ach so große Vermächtnis der einstigen Walpurgisritter. Bald wird das ganze Land von den Todessern wissen!« Minerva keuchte. Sengende Hitze durchströmte ihre Brust. Sie verstand die Bedeutung von Elladoras Worten nicht, aber das war egal. Die Wellen fremden Zornes in ihr genügten, um zu begreifen, dass sie einen unfassbaren Verrat begangen hatte. Die Augen glühten förmlich in Rosiers zornbleichem Gesicht, als er unbeherrscht aufschrie. »Ich wusste es! Mal sehen, wie lange du noch große Töne spuckst, wenn ich dich von der Freundin deines Bruders foltern lasse! Oder sollte ich sie lieber gleich deinen lieben Alston foltern lassen? Ja, ich denke, das wäre nett!« »Das wirst du nicht!«, brüllte Elladora. Ein dunkler Blitz schoss knapp an Rosiers linkem Ohr vorbei. »Krümm auch nur einem von ihnen ein Haar und du wirst es bereuen!« Rosier zischte wie eine wütende Schlange, als sie ihm einen zweiten Fluch hinterherjagte, den er gerade so parieren konnte. Mit einer schneidenden Bewegung schleuderte er ebenso pure, schwarze Magie zurück – und noch während der Zauber sich in knisternde, verbrannt riechende Energie entlud, brach Minerva frei. Sie warf sich mit der Schulter voran gegen Rosier. Überrascht von dem plötzlichen Stoß stolperte er zurück. Im gleichen Atemzug hörte sie, wie seine Magie sich in den Flügel hinter Elladora und Mulciber fraß. Begleitet von schrecklich dissonanten Lauten aus brechendem Holz und reißenden Klaviersaiten schlug Minerva zu Boden, Rosier direkt vor ihr. Rowles Zauberstab rollte aus seiner Tasche und von ihnen fort, über den glatten Marmorboden. Mit ausgestreckter Hand rutschte Minerva hinterher, streckte die Finger – Ein eiserner Griff umschlang ihren Hals. Ohne dass sie jemand berührte.   Sie durfte sich nicht bewegen. Egal wie sehr es sie verlangte. Die zitternden Finger mitten in der Luft, hielt sie inne. Sie musste stark sein! Wie Fingernägel auf einer Tafel kratzte der Drang, sich den Zauberstab zu schnappen, an ihren Nerven, ließ ihr die Haare zu Berge stehen – aber sie durfte nicht, das war wichtig. Gideon forderte es von ihr –   Nein, nicht Gideon. Rosier. Und sie wollte das nicht! Es war nur der Imperius, der ihr das einredete. Der Imperius, der verdammte Imperius-Fluch und sie würde sich ihm nicht unterwerfen, niemals, nie wieder; nicht Zentimeter vom Zauberstab und damit der Rettung entfernt! Minerva streckte die Finger weiter, aber Rosiers Interesse galt ihr schon gar nicht mehr. Er sah geradewegs über sie hinweg, schwang erneut den Stab – und dann hörte sie Mulcibers Schrei. »Ella!« Diese Laute glichen nichts, was Minerva je gehört hatte. Nicht von Alston Mulciber. Das war nicht seine Stimme, die plötzlich brach, so voller ... Schmerz. Ein letztes Mal warf Minerva sich gegen den Imperius, ignorierte das brennende Stechen in ihrer Brust, griff nach dem Zauberstab, zwang ihre Finger, sich um das Holz zu schließen, rappelte sich auf, wirbelte herum ... Sie sah nur Elladora am Boden, das Gesicht unfassbar bleich, Mulciber auf den Knien neben ihr. Dann geschah alles rückwärts. Oder zumindest sah Minerva zuerst Rosier auf die Fliesen schlagen, ehe ihr das grüne Licht auffiel – und lange, bevor die Beschwörungsformel dazu sich in ihr Bewusstsein brannte. Leere Augen durchbohrten sie schon, da bemerkte sie erst Mulcibers ausgestreckten Arm, den Zauberstab von Elladora fest im Griff. »Avada Kedavra.« Er hatte nicht einmal seine Stimme erhoben. Nach all dem Geschrei war der Tod unheimlich leise gekommen, nur begleitet von einem kleinen Knistern, als sich die statische Energie des Fluches entladen hatte. Ein paar Sekunden stand Minerva einfach nur da, dann begriffen ihre Glieder die Freiheit vom Imperius. Prompt war es, als hätte jemand die Fäden durchgeschnitten, die sie festhielten. Die Hand mit Rowles Zauberstab sackte gen Boden und zog den Rest von ihr nach sich. Mit dem knirschenden Aufprall ihrer Kniescheiben begriff Minerva endgültig. Gideon Rosier war tot. Ermordet von Alston Mulciber. »Ella ... nein ...« Jemand holt rasselnd Luft. »Nein, nein – verfluchte Drachenscheiß! Nein!« Minerva hörte ihren eigenen Atem so laut, als wolle er die heiseren Worte von Mulciber und die röchelnden Luftzüge von Elladora übertünchen. Aber nichts in der Welt konnte die Wahrheit vertreiben. Nicht weit von ihr hockte Alston Mulciber, Elladoras Oberkörper in seinem Schoß, ihren Kopf an seine Brust gebettet. »Ella ... Warum musstest du das tun? Ich wollte dir doch helfen! Es sollte doch nicht ... nicht so enden!« »Aber ... es musste ... enden ...« Enden. Minervas schmerzender Kopf sackte in ihre Hände hinab. Rowles Zauberstab ließ sie nicht los, dabei war er jetzt so nutzlos, vollkommen nutzlos ... Sie wandte den Blick von Elladora ab, deren Hautton binnen Sekunden von aschgrau zu violett wechselte. Rosier lag nur eine Armeslänge von ihr entfernt. Seine leeren Augen sahen geradewegs durch sie – und doch konnte sie sich nicht dazu bringen, stattdessen wieder zu der anderen Tragödie in diesem Raum zu schauen. Sie hörte Mulcibers Tränen, da musste sie diese nicht sehen. Die Zeit schien sich dahin zu quälen wie eine altersschwache Schnecke. Stundenlang, so kam es Minerva vor, saß sie da und ertrug den Blick des toten Gideon Rosier. In Wirklichkeit waren es eher Sekunden, vielleicht eine Minute – höchstens. Sie sollte aufstehen. Doch was dann? Elladora starb. Der zerstörte Flügel hinter ihr bewies die Letalität von Rosiers schwarzer Magie. Was konnte sie jetzt noch ausrichten? Etwa Rosiers Mörder zur Rede stellen? Oder ihm doch eher helfen? Sie regte sich nicht. Konnte es nicht. Ihre Glieder waren so schwer; wie der Körper einer Fremden. Die Verbindung zwischen Kopf und dem Rest funktionierte nicht länger, die Nerven hatte noch gar nicht verstanden, dass Rosier keine Befehle mehr geben würde. Und ausgerechnet jetzt, wo sie die Wolken aus Gleichgültigkeit am meisten gebraucht hätte, waren sie fort. »... Minerva ...« Die Stimme war eigentlich viel zu schwach, um ihren Atem zu übertönen. Doch vielleicht schaffte sie es gerade deswegen, zu ihr vorzudringen. Dieser Schmerz darin, das leise Flehen, die Sanftheit gingen tiefer ins Mark als jeder von Rosiers Schreien. Blut lief aus Elladoras Nase und tropfte lautlos zu Boden, als Minerva die Kraft fand, aufzusehen. Nicht nur das – auch an ihren Lippen klebte das Rot, in ihren Augenwinkeln glänzte es ... »Bitte ...«, wisperte sie und brachte damit mehr zähes, verklumptes Blut zum Vorschein. Wenn Minerva ihren Magen noch gespürt hätte, wäre ihr wohl schlecht geworden. So allerdings fühlte sie sich einfach nur ... leer. Da, wo alles hätte sein müssen, war bloß ein schwarzes Loch, das jede Emotion in sich aufsog. Auf den Knien schob sie sich zu Elladora, die Augen fest auf sie geheftet. »Es ... es ... es tut mir so leid«, murmelte sie fahrig. »Ich ...« Elladora senkte die Lider ein Stück und fast sah es aus, als wolle sie lächeln. »Nicht ... ist egal. Ich will nur ...« Ihre Worte brachen in einem Husten ab. Nur am Rande nahm Minerva wahr, dass Mulciber, der auch noch da war – natürlich –, seine Arme fester um Elladora schlang, ihr sogar eine verklebte Haarsträhne aus der Stirn strich. »Mein Bruder«, hauchte Elladora schließlich, sobald der Husten sich gelegt hatte. »Du ... du bist ... für ihn da, oder ...?« Minerva blinzelte gegen die Tränen an. »Ich hatte ihm versprochen, dich zu beschützen und jetzt –« Nun lächelte Elladora wirklich, wenn auch kaum merklich. »Jetzt entbinde ich dich von deinem ... Versprechen. Sei einfach ... bei ihm, ja ...?« »Ich kann mir nichts anderes vorstellen«, presste Minerva hervor. »Ich liebe ihn doch. Ich liebe ihn so sehr. Und ich habe ihm das noch nie gesagt ...« »Dann ... versprich einer Sterbenden –« »Sag so etwas nicht!«, schnitt Mulciber Elladora unvermittelt das Wort ab. »Gib nicht auf ...« »Oh Al.« Sachte schüttelte Elladora den Kopf. »Hat ... keinen Zweck. Ich wusste, welchen Preis ich zahle. Also ... Minerva – sei ehrlich mit meinem kleinen Bruder, in Ordnung?« Minerva konnte nichts mehr sagen, nur nicken. Zu mächtig war der Kloß in ihrem Hals. »Dann ... ist gut. Und du – Al ...« »Was?« Mulciber setzte einen sarkastischen Ton auf, doch seine Stimme zitterte viel zu sehr, als dass man ihm die Unbekümmertheit abnehmen konnte. »Soll ich Elphinstone etwa auch sagen, dass ich ihn liebe?« »Nur, wenn du es auch meinst. Nein ... was ich will, ist, dass du ... nicht aufgibst, ja?« »Du weißt ja nicht, was du von mir verlangst«, murmelte Mulciber. »Sag es.« »Schon gut, schon gut – Ich werde unsere Sache nicht aufgeben, Ella.« »... gut.« Elladora entließ einen tiefen Atemzug aus ihrer Brust und schien noch im gleichen Moment zu schrumpfen. Mit einem Mal wirkte sie nicht länger wie die unnahbare, stolze Hexe, die Minerva in Caius’ Erinnerung kennengelernt hatte, sondern jünger, verletzlicher. Gerade das himmelblaue Kleid und die blonden Locken verstärkten den Eindruck zusätzlich. Mulciber fuhr mit einem zitternden Finger über ihre Wange. »Ella ...« »Sei nicht ... traurig, Al. Gerechtigkeit hat ... gesiegt.« »Nein ...« Mulciber schüttelte den Kopf. »Nein, Ella, Gerechtigkeit, wäre, wenn du nicht sterben würdest –« »Quatsch.« Elladora schloss ihre Augen. Ihr Atem wurde rauer und die Worte kamen immer unverständlicher durch. »Ich habe es ... nicht anders verdient. Ich war nie ... besonders gut zu anderen. Nicht einmal ... zu meinem Sohn. Ich kenne Evan ja kaum noch, seit er in Hogwarts ist.« Ein Blutstropfen rollte über die Wange in ihr Haar – vielleicht war es auch eine Träne. »Aber ... immerhin habe ich die Gewissheit, dass er alleine klarkommen wird. Nein, Al, jetzt zählt nur noch ... dass Gideon vor mir gegangen ist. Also ... danke.« Fassungslos sah Mulciber sie an. Dann, nach einer kleinen Ewigkeit, entkam ihm ein knappes, ersticktes Lachen. »Ella«, stieß er hervor, »bitte ... versprich mir wenigstens, dass du ihm das Jenseits zur Hölle machen wirst.« Doch von Elladora kam keine Antwort mehr, außer eines abgehackten Hustens, das vielleicht ein versuchtes Lachen war. Ein paar Mal holte sie noch tief Luft, aber selbst als Mulcibers Tränen unaufhaltsam auf ihr Haar fielen, öffnete sie nicht wieder die Augen oder den Mund. Mulciber nahm ihre Hand und hielt sie an sein Gesicht. »Das kannst du mir doch nicht wirklich antun«, murmelte er immer wieder, nahezu in einem Wettstreit mit ihren schwindenden Atemzügen. »Verflucht, ich habe es doch nicht wirklich verdient, meine älteste Freundin zu überleben!« Elladora seufzte noch einmal, bevor es schlagartig ruhig wurde. Dann rutschte ihre Hand aus Mulcibers und fiel geräuschlos zu Boden. In diesem Moment begriff Minerva, warum man von Totenstille sprach. Keine Stille war je so vollkommen wie die ersten Sekunden nach Elladoras letztem Atemzug. Der Tod lag wie eine schwere Decke über dem Raum, als wären alle Geräusche mit ihr gestorben. Selbst Mulcibers Tränen fielen lautlos. Eine ganze Weile saßen sie so da, Mulciber mit Elladora auf dem Schoß und Minerva zwischen ihr und Rosier, die Arme um ihren Oberkörper geschlungen. Erst nach einer halben Ewigkeit, in der Mulciber Elladora hin und her wiegte wie ein kleines Kind, bettete er sie schließlich sanft auf den Boden, als würde er sie schlafen legen. Er drückte ihr den Zauberstab zurück in die Hand, sodass sie neben der Leiche ihres Mannes aussah wie Mörderin und Opfer zugleich. Mit einem Seufzen strich Mulciber über ihre Locken, dann stand er auf. Minerva tat es ihm gleich, ohne zu wissen warum. Sie hatte keine Ahnung, wie sie jetzt handeln sollte. Wohin sie gehen sollte. Zögerlich hob sie den Blick von Elladoras bleichem Gesicht, nur um Mulciber direkt in seines zu sehen. Einen Moment lang starrte sie in seine rotgeäderten Augen und es war, als blickte sie einen Fremden an. Diesen Mann mit den Tränenspuren auf den Wangen kannte sie nicht. »Minerva ...« Aber den Mörder kannte sie. Ein Knoten ballte sich in ihrem Magen. Sie spürte das raue Holz von Rowles Zauberstab unter ihren Fingern und erinnerte sich endlich, dass sie frei war; frei zu zaubern – ihre Wut explodierte in heiße Tränen. Sie loderten auf ihren Wangen, wie all die unzähligen Feuer, die ihren Weg hierher gesäumt hatten; brannten sich in ihre Haut, bis sie eine einzige Flamme war. »Kein Stück näher!«, schrie sie und richtete den fremden Stab direkt auf Mulcibers Brust. Zwischen ihnen war so wenig Luft, dass sie ihn beinahe stach. »Nur eine falsche Bewegung und du bereust es! Ich meine es ernst!« »Ich würde ja Angst vor deinen Fähigkeiten haben«, antwortete es ihr leise, »aber ich weiß, dass du besser bist als das. Nicht einmal deine Wut ist stärker als deine Moral. Das ist schließlich so bewundernswert nervig an dir.« »Du hast ja keine Ahnung! Bald wird Elphinstone zurücksein, zusammen mit den Auroren! Und dann, dann –« »Er wird nicht kommen.« »Natürlich! Elladoras Erinnerungen werden sie überzeugen, es kann nicht mehr lange dauern!« Sie stieß den Zauberstab vorwärts und Mulciber wich nicht einmal zurück, sondern seufzte nur leise. »Nein, du verstehst nicht. Er kann nicht.« »Was redest du da? Es muss nur jemand seine Gedanken lesen, dann wissen sie die Flohadresse! So wie du es bei mir getan hast!« »Ich wünschte, es wäre so.« Aus Mulcibers nächstem Seufzer wurde ein freudloses kleines Auflachen. »Ich habe dich angelogen, Minerva. Ich habe gar nichts in deinen Gedanken gelesen. Alles, was deine Erinnerung mir gezeigt hat, war Ella. Ella in der Winkelgasse.« Rowles Zauberstab zitterte so sehr in Minervas Hand, dass es ihr schwerfiel, weiter auf Mulciber zu zielen. »Nein! Ich glaube dir nicht –« »Weil ich jetzt noch Grund hätte, dich anzulügen? Sieh mich an. Du hast das Schlimmste an mir längst gesehen.« »Deswegen! Du ... du hast nicht gezögert ... ihn, deinen ... deinen Freund umzubringen! Er war ein Arsch, aber das –« »Ich bin eben auch ein Arsch, das wirst du doch nie müde zu betonen.« Fassungslos starrte sie Mulciber an. »Wie kannst du jetzt immer noch so sein?« Geradezu hilflos zuckte er mit den Schultern, während er kaum merklich einen Mundwinkel hochzog. »Was soll ich sonst tun? Der Sarkasmus ist seit Jahren das Einzige, was mich überhaupt lebendig hält. Außerdem wird nichts Ella zurückbringen. Verflucht, nichts wird die Tatsache ändern, dass ich Gideon getötet habe!« Ihm entfuhr ein Geräusch zwischen Würgen und Lachen. »Freu dich doch einfach, dass ich so schrecklich bin, wie du immer angenommen hast.« Minerva schüttelte den Kopf so heftig, dass Rowles Zauberstab ebenso wippte. »Nicht, wenn ich gehofft hatte, dass du eigentlich ein Freund bist!« »Freund ...« Mulciber rollte das Wort über die Zunge wie etwas, an dessen Geschmack er zweifelte. »Ich war noch nie wirklich irgendjemandes Freund. Wenn ich ein echter Freund wäre, hätte ich Ella schon im Ministerium gerettet. Dann hätte ich dich und Elphinstone gar nicht hierhergelassen, anstatt euch vorzuspielen, dass ich von nichts weiß.« Die Stille kehrte zurück und selbst Minervas leises »Aber ... weshalb hast du es nicht einfach getan?« konnte sie nicht aufbrechen. »Ist es nicht offensichtlich?« All seinen Stolzes beraubt, rieb Mulciber sich den linken Unterarm. »Elphinstone hatte recht mit allem, was er heute über mich gesagt hat.« »Sprich es aus«, flüsterte Minerva. Von Neuem spannte sie ihren Zauberstabarm an und hob ihn höher, nachdem er zwischenzeitlich bedenklich herabgesunken war. »Ich war seit der Schulzeit einer von Voldemorts ersten Walpurgisrittern«, sagte Mulciber. »Verdammt, ich war immer derjenige, der seinen Mist unter den Teppich kehren durfte!« Eine alte und doch wieder aufgefrischte Erinnerung aus dem Denkarium durchzuckte Minerva. »Du hast ... damals, in den 50ern – du hast dafür gesorgt, dass er der Strafverfolgung entkommt! In Northumberland; bei dem Mord an Hepzibah Smith!« »Ja«, seufzte Mulciber schlicht. »Das war meine Aufgabe. Und heute ...« Endlich sah er ihr geradewegs in die Augen. »Heute bin ich sein Todesser.« Dem Zauberstab in Minervas Hand entkam roter Funkenregen, der kleine Löcher in Mulcibers Umhang sengte. »So nennt er die treusten seiner Anhänger seit kurzem«, setzte Mulciber überflüssigerweise hinzu. »Weil Ritter offenbar nicht kriegerisch genug sind.« Ein frisches Beben schüttelte Minervas Schultern und mehr glutheiße Tränen verschleierten ihr Blickfeld. »Ich werde kämpfen!«, stieß sie hervor. »Gegen dich, gegen deine Kumpel, gegen Voldemort – gegen euch alle, wenn es sein muss!« Mit einem erstickten Lachen Mulcibers als Erwiderung rechnete sie allerdings nicht. Während sie noch überlegte, welchen Zauber sie anwenden sollte, schüttelte er den Kopf. »Das wäre in meinem Fall überflüssig, immerhin bin ich unbewaffnet. Nicht, dass ich andernfalls vorhätte, mich zu wehren.« Kalte Finger schlangen sich um ihre Hand und schoben Rowles Zauberstab erstaunlich sanft zur Seite. »Lass mich lo-« Minerva stolperte über ihre eigene Zunge, als Mulcibers Arme sich plötzlich um ihre Schultern legten. Er umarmte sie. Wie ein Kokon hüllte er sie in seine Kühle ein und hielt sie fest, obwohl sie den Zauberstab nach wie vor fluchbereit umklammerte. Warum? Wollte er sich trösten oder tatsächlich sie? Einen Moment lang sprach keiner von ihnen ein Wort. Sie standen einfach nur da, in der ungewohnten Nähe erstarrt. Minerva hörte Mulcibers wilden Herzschlag; jeden einzelnen, angestrengten Atemzug. Sie fühlte das Zittern in seinen Schultern und die Tränen auf ihrem Umhang, unfähig zu begreifen, dass er derselbe Mulciber war, mit dem sie sich immer gestritten hatte. Der so unausstehlich war und sie trotzdem gerettet hatte. Der ein Mörder, ein Todesser war. »Ich ... Es tut mir so, so leid«, flüsterte Mulciber schließlich. »Auch wenn du mir nicht glauben wirst – ich wollte euch wirklich beschützen. Mindestens vor euch selber.« »Du hast uns belogen!« Nun war es an Minerva, dem verzweifelten Lachen, das in ihr gärte, nachzugeben. »Natürlich glaube ich dir nicht! Nie wieder!« »Das erwarte ich auch nicht«, entgegnete Mulciber immer noch flüsternd. »Aber ich biete dir dennoch meine Hilfe an. Die Zeit läuft uns davon.« Er schluckte deutlich vernehmbar. »Bitte, Minerva. Ich meine das ernst. Wir beide wollen Bellatrix Lestrange aufhalten. Dazu brauchen wir einander. Und verflucht, ich will sicher nicht Elladoras Geisterzorn auf mich laden, wenn Elphinstone nie aus deinem Mund hört, dass du ihn liebst.« »Alston ...« Minerva verstand ihn nicht. Auf welcher Seite stand er wirklich? Warum rettete er sie, wenn er eigentlich der Feind war? In diesem Augenblick wünschte sie sich schmerzlichst Elphinstones Umarmung an Mulcibers Stelle herbei. Sie vermisste seine Wärme, das Lächeln, die schier endlose Stärke, die dahinter ruhte – und ausgerechnet Mulciber war ihre einzige Chance darauf. Ein Schluchzen verließ ihre Kehle, als die Wut langsam in Trauer verlosch. »Was können wir denn jetzt noch tun?«, presste sie mühsam hervor. »Ich habe einen Plan«, murmelte Mulciber, »aber der funktioniert nicht mit Tränen.« Er schluckte schwer, bevor er tief durchatmete, und Minerva war nicht sicher, ob er mit dieser Ermahnung sie oder doch sich selber meinte. »Ich weiß, dass ich eine Menge von dir verlangen werde, aber ... kannst du noch einmal so tun, als wärst du unter dem Einfluss des Imperius? Unter meinem Imperius?« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)