Stichflamme von Coronet (Der Aufstieg des Phönix) ================================================================================ Kapitel 28: Löwenmut -------------------- Aller guten Dinge waren drei, zumindest wenn es nach den Muggeln ging. Minerva war das recht, denn die heilige Sieben, die von der magischen Gemeinschaft beschworen wurde, wäre ihr entschieden zu viel. Es reichte vollkommen, drei Mal in einem kalten Kellerverlies aufzuwachen, noch dazu mit dröhnendem Schädel und Feuer in den Gliedern. Immerhin war ihr Kopf inzwischen klarer, auch wenn das bedeutete, dass sie sich in allen schrecklichen Einzelheiten an die Geschehnisse der letzten Stunden – oder mittlerweile eher Tages – erinnerte. In dem stetig gleichbleibenden Licht der Zaubersphäre war es unmöglich, die Tageszeit festzustellen. Unter dem Einfluss des Heiltranks schien Minerva zumindest eine Weile geschlafen zu haben, denn ihr Magen knurrte laut, kaum, dass sie die Augen aufgeschlagen hatte. Mit Elphinstones Hilfe gelang es ihr, sich aufrecht hinzusetzen. Der Schmerz lauerte weiterhin in jeder Faser ihres Körpers und gestaltete die Bewegungen zu einem Kraftakt, aber das war nichts im Vergleich zu dem lähmenden Feuer Stunden zuvor. Obwohl es nicht länger nottat, zumindest nicht aufgrund ihrer Verfassung, lehnte Minerva den Kopf trotzdem an Elphinstones Schulter. Ihm schien das recht, denn er griff schlicht nach ihrer Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. »Hast du geschlafen?«, erkundigte sie sich leise in dem inzwischen nahezu gewohnten Mix aus Gälisch und Englisch. »Ein wenig, hin und wieder. Nicht gerade bequem hier, ganz zu schweigen von der Angst, dass sie zurückkommen könnten.« Ein Schaudern durchlief Elphinstone und er rieb sich mit der freien Hand den Oberarm. Das schlechte Gewissen biss Minerva umgehend. Sein Umhang diente ihr als Decke und in seinem Hemd hatte er der Kälte nichts entgegenzusetzen. Sie unternahm schon Anstalten, den Stoff von sich zu ziehen, doch Elphinstone wehrte sie mit erhobener Hand ab. »Du brauchst das gerade mehr als ich«, murmelte er und befühlte ihre Stirn. »Der Cruciatus hat es an sich, dass der Körper für äußerliche Einflüsse anfälliger wird und somit Schwierigkeiten hat, seine gesunde Normaltemperatur zu halten. Ich will nichts riskieren.« Minerva seufzte. »Bei all dieser Fürsorge könnte man wirklich meinen, dass an dir ein Heiler verloren gegangen ist.« »Oh nein, dafür wäre ich nicht geeignet.« Elphinstone schnaubte, lächelte aber versöhnlich. »Ich kann dich einfach nicht leiden sehen. Wenn ich Heiler wäre, würde ich einen Haufen Kräuter auf meine Patienten werfen und hoffen, dass das Problem sich von alleine löst. Fluchwunden – an lebenden Personen – schlagen mir auf den Magen.« Das entlockte Minerva ein raues Kichern. »Verstehe ich. Quidditch-Verletzungen gehen ja noch, aber Flüche ...« Sie hielt inne und zog sacht an ihrer Hand in seiner, sodass sie Elphinstones Unterarm sehen konnte. Der Schnitt wuchs bereits wieder zusammen, doch der Einstich vom Artefakt war nach wie vor ein dunkler Fleck, an dessen Rändern sich klebriges Blut abgesondert hatte. Wenigstens wirkte das Schwarz in den Adern nun bloß wie ein jahrzehntealtes Tattoo, so verblasst war es. »Tut es noch sehr weh?« »Nein. Dank deiner Hartnäckigkeit geht es mir erstaunlich gut. Der Heiltrank hat trotz halber Portion ganze Arbeit geleistet. Was auch immer mit meiner Magie passiert sein soll, ich merke nichts.« »Gut. Dann bleibt nur die Frage – ist irgendetwas passiert in der Zeit, die du wach warst? Ich fürchte, ich habe geschlafen wie ein Stein. In deinen Armen ist es einfach zu bequem.« Elphinstone hob den rechten Mundwinkel und schüttelte den Kopf. »Nein, alles ruhig. Vor einer guten Stunde müsste Wachwechsel gewesen sein, ich habe die Schritte gehört. Und jetzt – horch mal.« Sie lauschte in die Stille hinein ... und hätte fast aufgelacht. Ganz leise drang durch die Tür zum Vorraum des Kellers der unregelmäßige Klang menschlichen Schnarchens. »Vermutlich ist es wieder Abend«, gluckste Elphinstone. »Die anderen schlafen wohl ebenfalls.« »Mh, das ist gut. Wir können keine Lestranges gebrauchen, die hier rumlaufen, während wie einen Ausweg suchen.« Minerva streckte ihre Beine von sich und wippte mit den Füßen, um den Blutkreislauf wieder in Schwung zu bekommen. »Dass wir wegmüssen, steht wohl außer Frage. Denn in einem hat Rodolphus Lestrange recht – das Ministerium und Mulciber haben keine Ahnung, wo wir sind. Und ich werde nicht warten, bis sie es herausfinden.« »So kenne ich dich.« Ein kleines Lachen vibrierte durch Elphinstone. »Schön, dich zurückzuhaben. Also, was schlägst du vor?« »Wir brauchen Zauberstäbe«, überlegte Minerva laut. »Wenn wir die haben, steigen die Chancen, dass wir uns den Weg notfalls freikämpfen können. Wir müssen nur hinter die Grenze für den Apparierschutz – den Weg habe ich mir versucht zu merken; dann können wir die Auroren alarmieren, mit ihnen hierher zurück apparieren und den Lestranges das Handwerk legen ... aber zuerst brauchen wir natürlich einen Weg aus diesem Keller.« »Richtig, dann will ich unsere Unterkunft mal einem genaueren Blick unterziehen. Bisher hatte ich dazu keinen Kopf, aber jetzt, wo du wach bist, kann ich mich diesen Gitterstäben widmen. Solange wir einigermaßen leise sind, wird unsere Schnarchnase da draußen wohl weiterträumen.« »Ich helfe dir.« »Du bist verletzt.« Wieder schüttelte Elphinstone den Kopf. »Schone lieber deine Kräfte, du wirst sie für die Flucht brauchen.« »Größtenteils bin ich in meinem Stolz verletzt«, hielt Minerva dagegen. »Abgesehen davon ist dank dem Heiltrank nur leerer Schmerz zurückgeblieben. Und der ist nichts gegen den Cruciatus an sich. Oder eine ordentliche Quidditch-Verletzung.« »Trotzdem –« »Zu zweit sind wir stärker, schon vergessen? Und zwei Paar Augen sehen mehr als eines.« Minerva drehte den Kopf, so weit es ihre Position zuließ, und sah Elphinstone herausfordernd an. In seinen hellen Augen schimmerte es verdächtig. Seine Ohren färbten sich rot und anstelle eine Antwort zu formen, drückte er die Lippen in einer flüchtigen Berührung gegen ihre Stirn. »Oh Min, du machst Sachen mit mir«, murmelte er. »Du musst mich für einen ziemlichen Trottel halten, dass ich dich so verzweifelt beschützen will, obwohl du das auch wunderbar alleine hinbekommst. Aber irgendwie setzt mein Verstand aus, seit wir hier sind.« Elphinstones warmer Atem strich bei jedem Wort federleicht über ihre Haut und in Minervas Brust schlug eine Flamme – der guten Art – empor. Der falsche Zeitpunkt, es war sowas von der falsche Zeitpunkt! Sie konnte jetzt nicht an diese Gefühle denken, nicht in diesem Kerker, dessen modriger Mief sie in die Lunge stach wie der Cruciatus selbst. Das Schöne verdiente es nicht, in ihrer Erinnerung von Schmerz überschattet zu werden. Rasch senkte sie die Lider und konzentrierte sich stattdessen auf ihrer beider verschlungene Hände. »Mir geht es doch wie dir.« Sie schniefte wenig würdevoll. »Können wir uns darauf einigen, dass wir einander beschützen? Bitte.« Es dauerte einige Herzschläge, bis Elphinstone mit belegter Stimme antwortete. »Natürlich. Wenn ich dir schon mein Herz ergebe, dann vertraue ich dir auch mein Leben an.« Er legte erneut die Lippen an ihre Stirn. »Dann wollen wir mal, was?« Mit einem Kloß im Hals nickte Minerva, ehe sie ihre Hand langsam zurückzog und ihn freigab. Vorsichtig schlüpfte Elphinstone unter ihrem Arm heraus. Seine Knochen knackten hörbar, als er sich erhob. Minerva schob sich mit der Wand im Rücken ebenfalls empor, Elphinstones Umhang eng an sich gedrückt. Sie ließ ihren Blick schweifen. Im gelblichen Schein der Zaubersphäre erkannte sie zum ersten Mal mehr von ihrem Gefängnis als nackten Stein. Ihr Teil des Raumes wurde an zwei Seiten von eisernen Gitterstäben begrenzt, die ihnen zumindest acht Schrittlängen Bewegungsspielraum in jede Richtung zugestanden. Doch die ausgetretenen Sandsteinplatten zu ihren Füßen waren vollkommen kahl. Nicht einmal eine Decke oder eine Möglichkeit zur Notdurft war in der Zelle vorhanden. Auch die steinernen Wände in ihrem Rücken und zur rechten waren makellos, sauber verfugt. Keine Chance, etwas aus losem Mörtel herauszubrechen. Im Raum hinter den Eisenstreben hingegen befand sich neben ihrer einzigen Lichtquelle eine Regalreihe voller Kessel, rostiger Gartengeräte und Kisten, die handgeschriebene Beschriftungen wie ‚Weihnachtsdekoration‘ trugen. Erschreckend normal. Der ganz und gar nicht schwarzmagische Krempel weckte auch Elphinstones Interesse, denn er schritt in diese Richtung und schnippte misstrauisch gegen die Gitterstäbe, die sie von den Regalen trennten. Ein helles Pling antwortete ihm. Davon ermutigt, schloss er eine Hand um das Metall. Nichts geschah. Daraus konnte Minerva zumindest schließen, dass kein gefährlicher Bann auf der Eingrenzung lag, wie es bei Verliesen aus der grauen Vorzeit oft der Fall war. So wie die Streben glänzten, musste die Zelle ohnehin nachträglich eingefügt worden sein, obschon ein Privatverlies für ein altes Herrenhaus keine Seltenheit gewesen wäre. Ein weiteres Indiz dafür, dass es höchstens ein zweitrangiges Ferienhaus war. An den Wänden zeichneten sich noch die Schatten ab, wo einst zusätzliche Regale gestanden haben mussten. Offenbar hatte Bellatrix etwas umdekoriert. Die Freiräume zwischen den Gitterstäben zogen sich zwar von der Decke bis zum Boden, nur unterbrochen von drei Querstreben, allerdings waren diese Lücken so schmal, dass Minerva gerade einmal den Unterarm hindurchschieben konnte. Definitiv nicht genug, um an das Regal – und die Sachen darauf – zu gelangen. Frust machte sich in ihr breit. »Schon irgendeine Idee?« Elphinstone seufzte leise. »Ich wünschte. Aber leider haben die Lestranges das hier durchdacht.« Er wanderte am Gitter entlang und schob eine Schuhspitze zwischen die Streben. Mehr war ihm nicht möglich. »Als du noch geschlafen hast, habe ich mich in meiner Verzweiflung an einem stablosen Wärmezauber versucht, aber ... nichts. Entweder bin ich unfähig – oder es liegt ein Magiebann auf dieser Zelle, der die Entführer natürlich nicht einschließt.« Er stupste erneut das Metall an. Wieder antwortete ein helles Geräusch, das verzögert nachhallte. »Urteile du, aber ich vermute Letzteres, so wie es sich anhört. Da schwingt Magie mit. Zauber dieser Art nutzen sie auch in Askaban.« Minerva ließ sich gegen die Wand zurücksinken. Er hatte recht, natürlich hatte er recht. Und selbst wenn es den Bann nicht gäbe – sie hatte seit ihren Kindertagen keine Magie ohne Zauberstab gewirkt und damals war es nie eine bewusste Entscheidung gewesen. Was bräuchte es für einen derartigen Zauber, abgesehen von ihrer offenkundigen Verzweiflung? Sie wusste es nicht. Ihr Blick tastete dennoch jeden Spalt ab, auf der Suche nach einer winzigen Schwachstelle. Diese zu kennen wäre die halbe Miete. Aber die eisernen Gitterstäbe waren kräftig und nichts, was mit roher Gewalt überwunden werden konnte. Selbst das Vorhängeschloss an der Zellentür war massives Metall ... und einfachste Art, begriff sie. Sicher lag ein mächtiger Zauber darauf – aber sie hatten ja eh keine Magie zur Verfügung, um sich zu befreien. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. »Haarnadeln«, flüsterte sie und dankte Merlin, dass sie ihr Haar selten offen trug. Wer hätte gedacht, dass sich dieser Umstand ausgerechnet hier nützlich erweisen würde? »Bitte was?« Verwundert sah Elphinstone sie an. Zur Antwort griff sie sich nur ins Haar und zupfte eine lange Haarnadel heraus, die sie ihm strahlend entgegenhielt. »Das könnte unser Ticket hier raus sein.« »Ich weiß, dass du ziemlich schlau bist, aber ich versteh es nicht, fürchte ich.« Minerva zwinkerte. »Wart’s nur ab. Ich hoffe, ich bekomme das noch hin. Ist ein bisschen her. Aber wenn ich das hinbekomme, sei bereit – dann ist die Tür offen.« Trotz der Gliederschmerzen legte sie Elphinstones Umhang ab, ehe sie zur Zellentür stakste, wo sie ihre dünne Haarnadel auseinanderbog. Sie kniete sich hinter das Schloss und schob ihre Hand mit dem behelfsmäßigen Werkzeug durch die Gitterstäbe. »Wollen wir mal hoffen, dass die magiebegründete Überheblichkeit unserer Gastgeber genauso grenzenlos ist, wie es den Anschein macht.« Allerdings erwies es sich nicht gerade einfach, die Nadel in das Schloss einzuführen. Sie hatte zwischen den Streben zu wenig Spielraum, ganz zu schweigen davon, dass ihr Ellenbogen nicht hindurchpasste. Minervas Glieder protestierten ächzend unter ihren Verrenkungen, während sie versuchte, an das Schlüsselloch zu gelangen. Sie biss sich auf die Unterlippe, um Elphinstone ja nicht zu verraten, wie sehr es schmerzte. Öfters streifte die Haarnadel das Schloss, aber das reichte bei weitem nicht. Innerlich fluchend, lehnte Minerva sich erschöpft gegen die Gitterstäbe. Ihr Herz schlug viel zu schnell, die Nadel bebte in ihren Fingern und trotz der Kälte rannen ihr Schweißtropfen über die Stirn. Rowle hatte mit seinen Flüchen ganze Arbeit geleistet. »Geht gleich wieder«, murmelte sie angesichts des besorgten Blicks von Elphinstone. »Es ist nur ... schwerer als gedacht.« Fast erwartete sie, ihren Atem in einer weißen Wolke aufsteigen zu sehen, so kalt war ihr, obwohl ihr Körper schwitzte. Elphinstone ging neben ihr in die Hocke und legte den Handrücken auf ihre Stirn. »Du glühst förmlich, Min. Nicht, dass du dich überanstrengst.« »Keine Sorge, ich bekomme das hin. Ich muss nur eine bessere Position finden. Wenn ich nur von außen ...« Plötzlich kam ihr eine Idee. Warum hatte sie da nicht schon vorher dran gedacht? Es war einer ihrer größten Vorteile! Sie schloss die Haarnadel fest in ihre Faust. »Ich muss mich verwandeln.« Die Stirn in Falten gelegt, senkte Elphinstone die Hand. Glücklich sah er nicht drein, aber er wusste genauso gut wie sie, dass er hier drin nicht viel bewirken konnte. »Meinst du, das funktioniert?« Minerva maß grob mit der Hand den Spielraum zwischen den Gitterstäben. »Sollte. Wenn nicht – erhältst du die einmalige Erlaubnis, mir einen Tritt zu verpassen.« Entrüstet öffnete Elphinstone den Mund, doch sie sprach schnell weiter. »Wegen eines etwaigen Bannes mache ich mir weniger Sorgen. Die Verwandlung in die Animagusgestalt ist schließlich keine herkömmliche Magie und wird dementsprechend nicht von derartigen Schutzzaubern tangiert. Ich kann mir vorstellen, dass die Lestranges das nicht bedacht haben bei der Einrichtung ihres Gästequartiers.« Sie reichte Elphinstone die verbogene Haarnadel. »Wir sehen uns auf der anderen Seite.« Er schenkte ihr einen unergründlichen Blick, bevor sie die Augen schloss und sich auf ihre Verwandlung konzentrierte. Dank ihrer Schmerzen ließ der Prozess auf sich warten, doch schlussendlich sank ihre Gestalt in sich zusammen und wenig später hatte sie Katzenform angenommen. Ihre verbesserte Sicht zeigte nur Elphinstones unverkennbar blaue Aura neben einem leichten Flirren der Luft entlang der Zellwände – der Zauber, der gewöhnliche Magie unterbinden sollte. Sie streckte sich testweise, aber die Fluchschmerzen hatte sie natürlich mit in ihre Animagusform genommen. Vorsichtig schob Minerva den Kopf durch die Gitterstäbe. Zu beiden Seiten rieben ihre Schnurrhaare am kalten Metall. Doch nichts hielt sie auf, keine unsichtbare Mauer oder unerklärliche Schmerzen. Es würde etwas ungemütlich werden, aber das war ein geringer Preis für die Freiheit. Erst die linke, dann die rechte Pfote, trat sie zwischen die Streben. Ihr Fell drückte sich ein, bis es platt an ihrem Katzenkörper lag und sie streckte sich lang, um so wenig Platz wie möglich einzunehmen. Zentimeter um Zentimeter arbeitete sie sich so vorwärts. Wie im Schraubstock pressten sich die Gitterstäbe eiskalt und unnachgiebig gegen ihre Rippen. Ihr Herz schlug fester. Nicht schreien! Das Nackenfell sträubte sich ihr ohne Zutun. Sie nahm einen tiefen Atemzug. Keine Schmerzen. Keine schwarzen Flammen im Brustkorb. Kein Rowle mit dem Cruciatus. Weiter. Elphinstone retten. Pfote vor Pfote, ein letztes Mal strecken – endlich folgte der Rest ihres Körpers durch die Metallstreben. Sie stand auf der anderen Seite der Zelle. Erleichtert sank Minerva auf die Hinterpfoten und wickelte den Schwanz um sich. Einatmen, ausatmen. Das Fell in ihrem Nacken glättete sich wieder und schließlich fand sie genug Kraft, sich zurückzuverwandeln. »Siehst du? Ich hab’s dir gesagt«, murmelte sie an Elphinstone gewandt, der sie mit einem breiten Lächeln ansah. »In der Tat.« Er reichte ihr die verbogene Haarnadel. »Zum Glück ist deine Animagusform so klein. Stell dir mal vor, du wärst ein ... Eisbär.« Seine Erleichterung war ansteckend. Trotz der kurzzeitigen Panik schmunzelte sie. »In der Animaguslotterie habe ich vermutlich Glück gehabt. Als ich mich beim Amt registriert habe, war vor mir eine Hexe, die einen Elefanten erwischt hat. Den Aufruhr als sie sich bei der Feststellung ihrer Identifikationsmerkmale auf einen Schreibtisch gesetzt hat, werde ich nie vergessen.« Elphinstone gluckste kaum hörbar. »Das hätte ich gerne gesehen.« Ihr gegenüber lehnte er sich an die Gitterstäbe und beobachte, wie sie das Schloss besah. Aus ihrer jetzigen Position war es deutlich einfacher, die verbogene Haarnadel in das Schlüsselloch zu schieben. Sie musste ein wenig hin und her rütteln, bis sie den richtigen Winkel fand, aber ihr Instinkt hatte sie nicht getäuscht. Das Vorhängeschloss war rein technisch gesehen kein besonders ausgefeiltes. All seine Raffinesse lag in dem Zauber darauf – der dem Schließmechanismus herzlich egal war, denn der funktionierte weiterhin. Auf Muggelart. Mit der Zunge zwischen den Lippen gelang es Minerva, dem Schloss ein befreiendes Klicken zu entlocken. »Und schon wieder können wir den Muggeln danken, dass sich ein Problem ganz ohne Magie lösen lässt.« »Woher kannst du das bloß?« Elphinstone sah ehrlich erstaunt aus. »Ich meine – das ist doch auch unter Muggeln nicht ganz legal ...?« »Dafür kannst du dich bei Dougal bedanken«, erklärte Minerva flüsternd und löste das Schloss mit bedachten Bewegungen von der Gittertür, um ja kein verdächtiges Klimpern hören zu lassen. »Er hat mich immer für die Menge an Haarnadeln in meiner Frisur belächelt, bis sein Vater uns aus Versehen im Heuschober eingeschlossen hat und sie ihm plötzlich gut zur Hand gingen.« Elphinstones Augen wurden groß, dann schmunzelte er, wobei seine Ohren neuerlich erröteten. »So so. Ich hätte nicht erwartet, dass du ein Mädchen fürs Heu bist. Du steckst immer wieder voller Überraschungen.« »Ich bin auf dem Land aufgewachsen, was hast du denn gedacht?« Es dauerte ein paar Sekunden, dann traf Minerva die Scham angesichts ihrer unverblümten Enthüllung doch noch. Zum Glück besaß Elphinstone den Anstand, sich von ihr abzuwenden, indem er sich plötzlich sehr dafür interessierte, seinen Umhang aufzuheben und ordentlich über seinem Arm zu drapieren. In ihr Schweigen hinein hörten sie wieder das Schnarchen ihres Gefängniswärters. »Ich denke nicht ... in dem Sinne an dich«, erklärte Elphinstone schließlich ernst. »Tut mir leid, falls mein Kommentar unsensibel war.« »Ach quatsch. Ich hab doch davon angefangen.« Minerva schüttelte fahrig den Kopf. »Na ja, ist auch egal.« Anstatt sich weiter zu verhaspeln, zog sie lieber die Zellentür einen Spalt auf, sodass Elphinstone hindurch schlüpfen konnte. »Danke. Hier –« Er legte den Wollumhang über ihre Schultern und ignorierte dabei ihren protestierenden Gesichtsausdruck. »Keine Widerrede. Nach all dem riskiere ich nicht, dass du dich erkältest.« Etwas widerwillig schob Minerva ihre Arme in die lockeren Ärmel. Zum Glück war sie den entscheidenden Zentimeter größer als Elphinstone, so war ihr der Umhang bloß zu weit, wo er doch für seine breiten Schultern gemacht war. In jedem Fall half die zusätzliche Stoffschicht gegen das Zittern in ihren Gliedern. Vielleicht gerade deshalb, weil der vertraute Geruch das Glutnest in ihrer Brust schürte. »Was jetzt?« Geschäftig krempelte Elphinstone den verbliebenen Ärmel seines Hemdes hoch. »Wie kommen wir an den Zauberstab von Mr. Schnarchnase?« Minerva fasste die Regale ins Auge. »Ich sage es nicht gerne – aber wir brauchen etwas, das wir unserer Aufsicht über den Schädel ziehen können. Ein ordentlicher Schlag auf den Kopf schaltet selbst Trolle aus.« Elphinstone ließ die Finger an den Regalbrettern voller magischer Alltagsutensilien aus dem vorigen Jahrhundert entlanggleiten, die nach Jahreszeiten und Festen organisiert vor sich hin staubten. »Irgendwelche Empfehlungen?« »Hm ...« Mit einem Schulterzucken hob Minerva den Deckel von der Kiste, deren Aufschrift ‚Weihnachtsdekoration‘ verkündete. »Da ist eine Feenlichterkette, das wäre nützlich, um die Wache zu fesseln, wenn wir sie überwältigt haben ...« Schlussendlich entschied sie sich als schlagkräftiges Argument für Hausmanns selbstkorrigierende Wasserwaage (Patent von 1874 ausstehend), die zumindest keinen bleibenden Schaden anrichten würde – hoffte sie. Das schwere Metallstück lag nicht so gut in der Hand wie das Treibholz beim Quidditch, mit dem sie sich im dritten Schuljahr ausprobiert hatte, würde aber dank genügend Wut im Bauch denselben Zweck erfüllen. Elphinstone schnappte sich eine rostfleckige Gartenschaufel und so bewaffnet schlichen sie zu der Tür, die in den Vorraum führte. Ihr Vorhaben war erfüllt von dem gryffindor’schen Übermut, den Minerva für gewöhnlich immer von sich wies. Wenn es schiefging, würde Rowle – oder schlimmer, Bellatrix persönlich – es künftig nicht beim Cruciatus bewenden lassen. In der Hoffnung, diesen Schritt nicht zu bereuen, bezog Minerva Stellung neben der Tür und lauschte. Auf der anderen Seite holzte weiterhin jemand im Schlaf die Wälder bis nach Transsilvanien ab. Besser würde es nicht werden. »Ich links, du rechts«, wandte sie sich an Elphinstone, eine Hand am eisernen Türring. »Auf drei?« Er nickte, die Schaufel erhoben wie ein Gärtner auf Gnomenjagd. »Eins, zwei – drei.« Minerva öffnete die Tür und schlüpfte in den Vorraum dahinter. Nur wenige Schritte zu ihrer Linken saß die Wache auf einer umgedrehten Weinkiste, das Kinn auf die Brust gesunken. Tock, tock, tock rissen Minervas Absätze ihn endgültig aus dem Schlaf. Er grunzte – hob blinzelnd den Kopf – schon war sie über ihm, die Waffe im Anschlag. »Runter!« Hausmanns patentierte Wasserwaage sauste an dem Blondschopf des Zauberers vorbei, als Minerva sich nach unten fallen ließ. Keine Sekunde zu früh. Dank Elphinstones Warnung krachte der rote Lichtblitz nur in die Wand hinter ihr. Stein und Mörtel regneten auf sie herab. Von der Treppe her drang Gelächter zu ihr. Der Fluchurheber holte erneut aus – Rowle? – doch sein Vergnügen versiegte rasch. Elphinstone schlug mit der Schaufel nach dem Jungen und Minerva wirbelte zu ihrem Gegner zurück. Der war inzwischen aufgesprungen, aber seine Schläfrigkeit geriet ein weiteres Mal zu seinem Nachteil. Während er noch den Zauberstab aus der Hosentasche fummelte, krachte die Wasserwaage gegen seine Schläfe. Der Kerl stöhnte und Minerva riss ihr Knie hoch, genau in seinen Schritt. Der Fluch auf seinen Lippen erstarb in einem überraschten Japsen. Trotzdem bewies er die Zähe eines Trolls, indem er sich auf den – wankenden – Beinen hielt. Sein Zauberstab schnellte messergleich auf Minerva zu. Rasch warf sie sich ein zweites Mal aus der Schussbahn, auf den Boden. Der Zauber traf dennoch, nur nicht sie. Sie hörte das Keuchen jemand anderes an ihrer Stelle. Hoffentlich sein Komplize, nicht Elphinstone. Aus dem Liegen trat Minerva dem Zauberer vor sich gegen die Kniescheibe und er brach über ihr zusammen. Gerade rechtzeitig rollte sie sich beiseite, sodass er mit dem Gesicht voran unsanft auf die Sandsteinplatten traf. Ein hässliches Knirschen hallte durch den Raum, dann trat Stille ein. »Oh oh ...«, hauchte Elphinstone aus Richtung der Treppe. Bevor sie die Besorgnis in seiner Stimme begriff, tat Minervas Herz einen Satz. Er war nicht vom Fluch getroffen worden! Ein rascher Blick über die Schulter zeigte, dass sein Gegner – doch nicht Rowle – ebenfalls Begegnung mit dem Boden gemacht hatte. Elphinstone stand hinter ihm, den zerbrochenen Stiel seiner Schaufel in den Händen. Davon ermuntert wandte Minerva sich wieder dem Zauberer vor ihr zu und drehte diesen auf den Rücken. Ihm lief Blut aus der Nase und seine Augen waren nach hinten gerollt, aber sein Puls blieb kräftig. Er würde es überstehen – genauso wie sie. Hoffentlich. Alles, was sie brauchte, war sein Zauberstab ... Minerva tastete den Boden ab – »Min ... hinter dir!« Die Wasserwaage in der rechten Hand fuhr sie herum. Der zweite Zauberer lag an derselben Stelle wie eben; er hatte auch keine Verstärkung von seinen Komplizen bekommen – und trotzdem waren sie nicht alleine im Keller. Aus einem Quergang hervor schwebte eine verhüllte Gestalt, einige Handbreit über dem Boden, die knochigen Finger in Minervas Richtung ausgestreckt. Einmal mehr war ihr, als würde sie ein Bad im Schwarzen See nehmen. Ihre Kehle schnürte sich zu und die Wasserwaage rutschte aus ihrem Griff. Nicht, dass sie damit je etwas gegen einen Dementor hätte ausrichten können. Wie war das möglich? Minerva hatte das Gefühl, ihr Kopf platzte. Die Dementoren dienten dem Ministerium. Warum nicht dieser? Er war kleiner. An die zwei Meter hoch, statt drei. War er hier ... geboren? Dementoren entstanden an Orten menschlichen Leids. Unfassbaren Leids. Das Wesen holte rasselnd Luft und Minervas Gedanken wurden fortgewischt. Angelockt vom Widerstreit ihrer Gefühle glitt der Dementor auf sie zu. Die kurzzeitige Hoffnung – weg. Zurück blieb eine Menge hässlicher Erinnerungen. Ein missratener Schulaufsatz, ihre schluchzende Mutter, die den Zauberstab in der Sockenschublade versteckte; die Tränen in Dougals Augen, als sie ihre Verlobung auflöste und Elphinstones Schmerzenslaute. Blind tastete Minerva nach dem Zauberstab ihres Gegners hinter sich. Endlich bekam sie etwas Hölzernes zu fassen. »Expecto patronum!« Der Schrei hallte von den Wänden wider, doch ihm folgte keine silbrige Katze. Nur ein müdes Wölkchen puffte aus der Spitze des fremden Stabs. Minerva versuchte es erneut, aber – nichts. Nie zuvor hatte der Gedanke an ihre erste gelungene Animagusverwandlung sie im Stich gelassen. Nicht, dass sie je von einem Dementor angegriffen worden war ... Elphinstone rief wie ein verzerrtes Echo denselben Zauber aus, gefolgt von einer Reihe nichtmagischer Flüche. Nicht mal silberne Schlieren wollten ihm mit seinem fremden Zauberstab gelingen. Der rauchschwarze Umhang des Dementors war Minerva inzwischen so nahe, dass sie erste Schemen unter seiner Kapuze ausmachen konnte. Voller Panik hob sie den entwendeten Stab höher. Da sah sie es: Das Holz hatte einen feinen Riss, aus dem silbrige Stränge Einhornhaar quollen. Der Zauberstab hatte den Sturz seines Besitzers nicht überstanden. Egal wie gut Minerva zauberte – zerbrochen war zerbrochen. »Expecto patronum«, rief sie dennoch flehentlich. Mehr helle Wölkchen pufften aus der Stabspitze wie aus den Erfindungen in Albus‘ Büro. Nutzlos. Minerva schob sich rückwärts über den Boden. Wo war Elphinstone? Sie konnte ihn hinter dem Dementor nicht mehr erkennen. Ihr Blickfeld war nur noch von der überlebensgroßen Kreatur erfüllt; dem Umhang, der sich kräuselte wie Rauch – einem Schlund dahinter. Im Augenwinkel sah sie etwas durch die Luft hüpfen, eine Art fliegender Funken, dann beugte sich der Dementor hinab und die Farbe entschwand aus der Welt. Alles war so grau, kalt ... Wie hatte sie je glauben können, dass ihre Flucht klappen würde? Unsichtbare Ketten wanden sich um Minervas Brustkorb. Der fremde Zauberstab in ihrer Hand zitterte, so lächerlich nutzlos und trotzdem konnte sie ihn nicht sinken lassen. »Elphinstone!« Die Verzweiflung zwang ihre Stimme in neue Höhen. Ein Kreischen antwortete ihr, beinahe wie der Ruf eines Greifvogels. Der Dementor würde ihre Seele aussaugen. Das war keiner von Askabans Wächtern, die sich nur an Verbrechern labten. Das war Bellatrix‘ Schöpfung. Minerva versuchte, ihren letzten geistigen Widerstand aufzubauen. Dachte an köstliche Ingwerkekse und ihre Familie, einen Besenrundflug über Hogwarts‘ Ländereien und Elphinstones warme Umarmung, nach der sein Umhang duftete; an die zarten gälischen Worte, die er ihr zugeflüstert hatte ... Die knochigen Hände des Dementors zogen die Kapuze zurück. Aber statt einem gesichtslosen Kopf war da nur Rauch. Wie die unendliche Nacht aus der Finsternisschote brandete eine Nebelwoge unter dem Umhang hervor über Minerva. Krallen aus Schwärze langten nach ihr und sie presste sich flach auf den Boden. Ein einzelner, grausiger Schrei drang aus dem Herz der Dunkelheit, durch das sich eine silberne Klinge bohrte. Es klang, als würden Fingernägel zu dem Gesang einer Banshee über eine Tafel kratzen. Und dann ... war alles vorbei. Nach Atem ringend lag Minerva auf dem Stein. Nebel und Dementor waren fort. Dafür sah sie den fliegenden Funken wieder am steinernen Gewölbehimmel über sich. Mit ausgebreiteten Schwingen landete Fawkes neben der Klingenspitze, die nur Zentimeter entfernt von Minervas Herzen in der Luft hing. Dahinter kniete Elphinstone, den Griff des Schwertes umklammert. Ein, zwei Herzschläge lang starrten Minerva und Elphinstone einander mit aufgerissenen Augen an, dann warf er die Waffe zu Boden und riss sie an seine Brust. Fawkes konnte sich nur um Federbreite vor der Umarmung retten. »A mhic an damnaidh!«, fluchte Elphinstone. »Thoir ifrinn iad! Droch fhuil orra!« Das Lachen brach sich ohne Minervas Zutun frei. Sie drückte Elphinstone an sich und ließ es einfach geschehen. Erleichterung, Glück und Freude rasten prickelnd durch ihre Nerven, als hätte ihr Kollege Filius sie mit seinem stärksten Aufmunterungszauber getroffen. Elphinstone hingegen fluchte weiter, wünschte all das Schlechte über Bellatrix und ihre Gefolgschaft, aber die deftigen Schimpfworte waren ihr egal. Er hatte den Dementoren ... vernichtet? »Alles gut, Phin«, hickste Minerva zwischen zwei Lachern, »mir geht es gut! Sag mir lieber, wo du das Schwert herhast und woher du wusstest, dass einen Dementor tötet!« »Was ...? Oh, richtig. Das.« Elphinstone lockerte seine Umarmung etwas, sodass sie sah, wie er den Kopf schüttelte. »Das – das klingt jetzt verrückt, aber dieser Phönix ... Ich habe noch nie einen Phönix gesehen. Ist das ...?« »Fawkes. Albus‘ Phönix.« »Das – nun es erklärt einiges und nichts«, murmelte er. »Das Schwert muss eines von den Dingern sein, mit denen die Lestranges ihr Haus verziert haben. Auch wenn ich nicht wusste, dass es funktioniert, Fawkes schien es zu wissen. Vermutlich hat er das Schwert deshalb gebracht, auch wenn ich nicht verstehe, warum es in dem Hut war –« »Hut?« »Ah, der ... Sprechende Hut?« Über die Schulter deutete Elphinstone auf einen wohlbekannten, altersfleckigen Lederhut in der Mitte des Kellers. Fawkes segelte von Minervas Seite dorthin und sobald seine Krallen sich um die Krempe schlossen, verschwand der Hut in einem goldenen Funkenregen. »A mhic an Merlin!«, entfuhr es Elphinstone. »Gut, dass du das gesehen hast. Ich schwöre es dir, das Schwert war irgendwie ... darin.« Einen Moment lang fand Minerva keine Worte, dann stieß sie die Luft durch ihre Nase aus und grinste. »Ich weiß ja nicht, was du für gewöhnlich aus dem Hut zauberst, aber ich dachte immer, das macht man mit Kaninchen und nicht mit Schwertern.« »Hm?« Verwirrt sah Elphinstone von ihr zur Waffe und zurück. »Ach«, winkte Minerva ab, »vergiss was ich –« Der Rest des Satzes ging in ihrem Luftschnappen unter. Auf den zweiten Blick wurde ihr klar, dass dieses Schwert ganz sicher kein Dekorationsobjekt war. »Phin! Das ist Godric Gryffindors Schwert!« »Ja – Was?« »Ich erkenne es, aus Albus‘ Büro!« »... Oh.« Einen Moment war nur Fawkes leises Federrascheln zu hören, dann pfiff Elphinstone durch die Zähne. »Kein Wunder, dass es den Dementor vernichtet hat.« »Aber ...« Minerva starrte den rubinbesetzten Schwertgriff an. Ein weiteres Glucksen entfloh ihr. Jeder Gryffindor kannte die Legende. Das Schwert kam nur jenen in der Not zur Hilfe, die wahren Mutes waren. Echten Gryffindors. »Du bist ein Slytherin!« »War. Und?« »Nichts und. Aber wenn ich je an dir gezweifelt hätte, dann hast du gerade den Beweis erbracht, dass wahrer Mut mehr ist als ein Hogwartshaus.« Elphinstone legte die Hände auf ihre Schultern und sah sie an, wobei sein Gesicht sich nicht entscheiden konnte, ob es Sorge oder Freude zeigen sollte. Seine Augen glänzten feucht und der rechte Mundwinkel war zur Andeutung seines typischen Grinsens erhoben. »Gut. Denn es ist mir ziemlich egal, wessen Schwert es ist, das dein Leben rettet. Verflucht, Minerva, es reicht mir einfach, zuzusehen, wie du beinahe stirbst! Das macht mein Herz nicht mit!« »Frag mich mal, ich dachte schon, ich würde herausfinden, ob mein Vater recht hat mit dem Leben nach dem Tod. Oder als Geist zurückkehren wegen all der unkorrigierten Schüleraufsätze.« Minervas Gesichtsmuskel schmerzten unter ihrem anhaltenden Lächeln, als hätte sie in den vergangen Stunden verlernt, wie es war, glücklich zu sein. Doch jetzt erinnerte sie sich besser denn je zuvor, was dieses Gefühl bedeutete. In all seinen Kleinigkeiten. Jedem beiläufigen Streifen von Fingerspitzen, jedem gestohlenen Blick, jedem geflüsterten Wort. Selbst, nein – besonders im Angesicht absoluter Schwärze. »Oh Phin ... ich wusste doch, wir schaffen das. Gemeinsam.« Sie schob Elphinstone eine verschwitzte Haarsträhne aus den Augen und fuhr über seine zerfurchte Stirn. Trotz all des Schweiß, Drecks und Bluts des Tages brachte er ihr Herz zum Hüpfen, auch ohne namhaftes Schwert und Heldentaten. Sie konnte sich nur wundern, die Erkenntnis nicht eher akzeptiert zu haben. Er lächelte, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Ob die Berührung dieser Lippen so sanft wäre, wie die Worte, die sie sprachen? »Darf ich ...«, hob Elphinstone zeitgleich mit ihr an – Minerva schmunzelte und seine Worte wurden zu ihren, »... dich endlich küssen?« Die gegenseitige Frage war Antwort genug, also schlang sie die Arme um seinen Nacken und zog ihn am Hemdkragen heran. Die Augen fest auf sie gerichtet, strich er mit den Fingerkuppen über ihre Wange zum Kinn hinab und hob es sacht an. Der Abstand zwischen ihnen schmolz auf Pergamentdünne zusammen, es brauchte nicht einmal besonders viel, ihn zu überwinden, und doch kam es Minerva vor, als würde sie sich von einer Klippe in tosende Fluten stürzen. In ihrem Leben hatte sie nie mehr Mut für eine so kleine Geste aufbringen müssen. Sie legte die Lippen auf Elphinstones und er antwortete mit vorsichtigem Druck. Die Berührung war fest und doch wieder flüchtig wie der Schnatz, der sich nicht fangen ließ. Seine Hand vergrub sich halb in ihrem Haar, der Daumen strich über ihren Wangenknochen und prickelnde Wärme rann als glühend-kalter Schauer durch sie. Bevor sie das Gefühl ganz begriffen hatte, verflog der Moment bereits, ihre Lippen getrennt. Wonach schmeckte der Kuss? Minerva wusste es nicht. Sie wollte mehr, viel mehr, aber die Zeit drängte. Zuerst mussten sie überleben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)