Stichflamme von Coronet (Der Aufstieg des Phönix) ================================================================================ Kapitel 15: Wurzeln des Verrats ------------------------------- Von Albus’ Büro aus unternahm Minerva einen langen Spaziergang um den schwarzen See, der zumindest einige Gedanken geraderückte. Hier und jetzt war kaum die Zeit, sich Sorgen hinzugeben. Sie würde Jonathan Alditch befreien, so viel stand fest. Also nahm sie ihren Plan wieder in Angriff – mehr über die Melionwurz erfahren. Pomona fand sie – wie erwartet – inmitten ihres Gewächshauses Nummer zwei, wo sie eine Reihe bunter Ohrenschützer mit dem Zauberstab feinsäuberlich zurück in eine große Kiste dirigierte. »Minerva!« Überrascht sah ihre Freundin auf. Die letzten Paare besonders flauschiger pinker Ohrschützer kollidierten miteinander und plumpsten ungeordnet hinab. Pomona zuckte nur mit den Schultern und wandte sich ihr zu. »Wo ist der Drache los, dass du mich ausgerechnet in meinem Reich beehrst?« »Hallo Mona.« Minerva machte einen Bogen um einen verdächtig zitternden Ginsterbusch, während sie zu ihr an den gewaltigen Holztisch in der Mitte des Gewächshauses trat. »Ich mach’s kurz – ich brauche Informationen über eine gewisse Pflanze. Manche Dinge erfährt man eben am Besten direkt vor Ort.« »Oh, du kannst mich alles fragen«, sagte Pomona freudestrahlend und wischte einige Erdkrümel vom Tisch. Dann hielt sie einen Moment inne. »Sag ... ist es immer noch wegen der Sache mit dem verschwundenen Jungen?« »Leider ja. Was weißt du über die Melionwurz, Mona?« »Melionwurz?« Pomona blies die Wangen auf und seufzte. »Weiß Mr Urquart etwa nichts darüber oder warum fragst du ausgerechnet mich?« Unglücklich schnippte Minerva ein paar verbliebene Dreckbrocken über den Arbeitstisch. »Ich habe ihn nicht gefragt. Abgesehen davon bist du hier die Professorin und damit meine erste Anlaufstelle.« Ihre Freundin brauchte nichts sagen. Es reichte schon, zu sehen, wie sie die dunklen Augenbrauen zusammenzog und ihr Stirn sich in Furchen legte. »Also, Melionwurz, Mona. Was macht dieses Kraut oder was immer es ist?« Pomona holte tief Luft. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und bedeutete Minerva, ihr zu folgen. »Dann wollen wir mal ins Gewächshaus drei gehen. Da kann ich dir gleich noch den Ableger meiner Teufelswelwitschia für deinen Vorgesetzten – entschuldige: ehemaligen Vorgesetzten – mitgeben.« Der Unterton in dieser Aussage entging Minerva nicht, doch sie ließ die Bemerkung unkommentiert. »Ich weiß nicht, ob ich das mit ins Ministerium nehmen sollte. Wenn die mich überhaupt noch reinlassen, nach der Sache mit dem Flohportal.« »Ach, keine Sorge, das ist nichts Klassifiziertes. Anders als die Melionwurz! Beschwer dich also lieber nicht, dass ich dir zu viel erzähle! Das ist eine höchst vielschichtige Pflanze, die dir da untergekommen ist ...« Nach dem Besuch in Gewächshaus drei – dem sie nicht schnell genug entfliehen konnte – führte Minerva der Weg in Horace’ Kerker und von da aus eulenwendend zurück zu Pomona, um sich zusätzliche Zaubertrankzutaten zu besorgen. Der Mond lugte schon über die Baumwipfel, als sie endlich die Bibliothek verließ, einen Stapel spezieller Bücher aus der verbotenen Abteilung unter dem Arm sowie eine reichlich gefüllte Tasche voller Grünzeug und weiteren unappetitlichen Zutaten, die Horace ihr gegeben hatte. Im Feuerschein über die Bücher gebeugt, wünschte Minerva sich einen von Elphinstones Wachmachtränken herbei, aber letztlich trieb der Drang, dem Erstklässler schnellstmöglich zu helfen, sie auch so an. Die übelriechenden Dämpfe aus ihrem faltbaren Kessel, die ihr ganzes Büro verhüllten, taten ihr Übriges. Die Nacht neigte sich bereits dem Ende, da schreckte sie ein harsches Klopfen auf. In sich versunken hatte sie darauf gewartet, dass der Trank die vorgeschriebene zartviolette Farbe annahm, und nun wäre ihr vor Schreck beinahe der Holzlöffel in den Sud gefallen. Wahrscheinlich hätte das alles ruiniert. Grummelnd stapfte sie zum Fenster hinüber, um die hellbraune Eule hineinzulassen, deren gelbe Augen sie bereits vorwurfsvoll musterten. Im Gegensatz zu ihrer Artverwandten wenige Nächte zuvor, landete diese immerhin nicht auf ihrer Arbeit, sondern ließ sich auf einer Stuhllehne nieder. Der Brief am Bein der Eule war denkbar kurz.   Schwesterherz,   Mama hat uns für Samstag zum Essen eingeladen, um neunzehn Uhr. Komm doch auch vorbei, sie würde sich freuen. Gerne in Begleitung, soll ich dir ausrichten. Bis dahin bin ich hoffentlich mit dem Buch fertig, das du mir geliehen hast. Es ist länger, als ich dachte, entschuldige die Verzögerung.   Alles liebe Robbie   Hastig kritzelte Minerva eine Antwort auf die Rückseite des Pergaments, speiste die Eule mit einem trockenen Keks ab und bat sie, gleich zurückzufliegen. Ihr Herz raste vor Aufregung. Wenn Robbie ihr übermorgen endlich die Adresse der Entführer gab, stand ihrem Plan wirklich nichts mehr im Weg. Und dann würde der ganze Spuk hoffentlich bald ein Ende haben.   Pünktlich um acht stand Minerva am nächsten Morgen mit einer vollgepackten Handtasche im Atrium des Zaubereiministeriums. Immerhin schien das Schicksal des Flohportals noch nicht mit ihr in Verbindung gebracht worden zu sein, denn man ließ sie anstandslos herein. Das musste sie Mulciber zugutehalten. Jetzt nutzte es ihr überdies, eine ehemalige Angestellte zu sein. Den Zauberer am Sicherheitsschalter kannte sie noch und er unterzog ihre kleine Ledertasche, in der es unheilvoll klapperte, als sie den Riemen fester packte, nur einer oberflächlichen Musterung. Andernfalls hätte ihm der Tarnzauber auffallen können, der die magische Taschenerweiterung verbarg – und die Früchte ihrer nächtlichen Arbeit, die hier sicher nicht allzu gerne gesehen waren. Der Sicherheitszauberer informierte sie, dass die heutigen Haftprüfungen unter Aufsicht von Elphinstone in Gerichtsraum drei stattfanden, und damit war sie frei, ihrer Wege zu gehen. Das war viel zu einfach, dachte sie säuerlich, während ihre klappernden Absätze sie am Brunnen der magischen Geschwister vorbeitrugen. Nichts außer einer frisch postierten Riege Polizeibrigadisten in schnittigen Umhängen erinnerte an die Attacke der Reinblüterbewegung, dabei war es gerade einmal zwei Tage her. Bei den laschen Sicherheitsmaßnahmen wunderte es Minerva nicht, dass Demonstranten – und Erklinge – Zutritt erlangt hatten. Zum Glück für das Ministerium waren die kleinen Tränke in ihrer Tasche für die Entführer vorgesehen. An den Fahrstühlen war nicht mehr viel los, die meisten Angestellten waren längst in ihren Büros. Rasch schlüpfte sie in eine ankommende Kabine. Den Knopf für die Etage mit der Flohnetzwerkzentrale hatte man mit rotem Zauberband überklebt. Offenbar waren doch nicht alle Spuren beseitigt, wenn das Stockwerk nicht betreten werden konnte. Sie wollte gerade die goldene Neun für die unterste Ebene drücken, da stellte sie fest, dass diese bereits leuchtete. »Guten Morgen, McGonagall.« Mulciber stand hinter ihr im Fahrstuhl, einen dicken Stapel Akten sowie Zauberstab unter dem Arm, ein wölfisches Grinsen im Gesicht. »Einen schönen Abend gehabt?« »Friss Mist, Mulciber.« Sie war nicht bereit, weitere Worte mit ihm zu wechseln. Sein Auftritt in Albus’ Erinnerung hatte ihr Misstrauen endgültig bestärkt. Den Rücken zu ihm gewandt, starrte sie angestrengt in die Schwärze vor den Gittertüren, während der Fahrstuhl sich langsam wieder in Bewegung setzte. »Oh, das trifft mich jetzt aber hart«, höhnte Mulciber zurück. Über die Schulter schoss sie ihm einen funkensprühenden Blick zu. »Vielleicht sollte ich mich deutlicher ausdrücken – ich hätte nicht wenig Lust, dich in eine Nacktschnecke zu verwandeln und diese dann in einen Salzstreuer zu stecken, den ich mit einem Dauerklebefluch verschließe und anschließend in der Themse versenke.« Zumindest war er schlau genug, zu wissen, dass sie durchaus in der Lage dazu war, was den Verwandlungsteil anbelangte. Trotzdem zuckten seine Mundwinkel wissend. Er schien dieses Zusammentreffen regelrecht zu genießen. »Es tut mir ja so leid, falls du jetzt von der Realität enttäuscht bist.« »Oh, tu nicht so unschuldig. Du bist genauso verdorben wie alle deine netten Schulfreunde – Rosier, Nott, Riddle ...« Mulciber zuckte nur mit den Schultern. »Du willst doch nicht ehrlich diese Karte spielen. ‚Alle Slytherins sind schlechte Menschen‘ – das wird dir nicht gerecht. Nur weil ich die Schule mit gewissen Leuten besucht habe, kannst selbst du mich nicht verurteilen. Zumal dasselbe doch für deinen lieben Verehrer gilt. Ich interessiere mich lediglich für eine stärkere magische Gemeinschaft. Etwas, was durchaus auch in deinem Interesse liegt, McGonagall.« »Nun, du vergisst, dass ich nach eurer Ansicht auch nur ein schmutziges Halbblut bin. Glaub nicht, dass du mich so von deinen hässlichen kleinen Weltherrschaftsträumen überzeugen kannst.« »Ich muss dich von gar nichts überzeugen, immerhin hast du es auch so schon nicht in dir gehabt, einen Muggel zu heiraten«, spöttelte er mit erhobenen Augenbrauen. »Am Ende hast sogar du Angst, in einem unmagischen Haushalt gefangen zu sein und deine Fähigkeiten tagein, tagaus zu verbergen, so wie deine arme Mutter. Ich bin der Letzte, der dir einen Vorwurf macht. Ein solches Leben wäre an eine Hexe mit deinen Fähigkeiten zweifellos verschwendet.« Die Gittertüren des Fahrstuhls glitten rasselnd auf, doch Minerva blieb wie festgehext stehen. Woher wusst er ...? Ihre unrühmlichen Gründe, Dougal zu verlassen, kannte nur Albus. Mulciber tippte sich die Zauberstabspitze an die Stirn. »Deine Gedanken sind manchmal furchtbar laut, McGonagall.« Der Fahrstuhl um sie herum schien zu schrumpfen und die Luft wurde dünn. Ihr war kalt, so kalt als stünde ein Dementor direkt hinter ihnen. Jegliche gepfefferte Beleidigungen, die ihr so einfielen, blieben ihr im Halse stecken. »Das kann nicht dein Ernst sein«, stammelte sie betroffen. Freudlos lachte Mulciber auf. »Keine Sorge, es interessiert mich wirklich nicht, welchen Umgang du sonst so zu deinen Liebschaften pflegst. Wobei es unter diesen Umständen fast schon tragisch ist, wie treudoof Urquart dir hinterherläuft.« Ohne ihr noch einen weiteren Blick zu widmen, marschierte er den langen Flur hinab. Minerva beeilte sich, aus dem Fahrstuhl zu springen, bevor er wieder hoch ins Atrium fuhr. Mit einem Knoten im Magen sah sie dem wehenden Umhang Mulcibers hinterher, der gerade um eine Ecke verschwand. Sie hätte ihn wirklich in eine Nacktschnecke verwandeln sollen. Wobei das noch nett gewesen wäre.   Der Gerichtssaal Nummer drei hatte sich in zehn Jahren kein Stück verändert. Trotz der vielen Fackeln an den Wänden blieb es düster und die harten Zuschauerbänke waren genauso unbequem wie immer. Weder Angeklagte noch Mitglieder des Gamot sollten sich in dem steinernen Rund wohlfühlen. Entgegen Minervas Annahme war sie nicht die Einzige, die zur Haftüberprüfung aufgetaucht war. Neben ihr gab es eine weitere Zuschauerin, eine junge Hexe in einem auffällig schillernden Umhang, deren giftgrüne Schreibfeder von alleine über den Schreibblock in ihren Händen huschte. Sie warf Minerva einen kurzen Blick zu, ehe sie sich wieder ihrem Text widmete. Minerva kam das recht, immerhin war sie bloß hier, um Elphinstone abzupassen. Sobald er an der Spitze der Verhandelnden den Gerichtssaal betrat, zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen, als wollte es mit einem Schrumpfkopf konkurrieren. Die tiefen Ringe unter seinen Augen waren jetzt noch dunkler und der steife Gang sowie der verspannte Kiefer sprachen davon, dass er in den letzten Stunden zu viel Zeit hier verbracht hatte. Falls er überrascht war, sie hier zu sehen, ließ er es sich nicht anmerken. Routiniert schlug er die erste Akte auf, rief den Namen auf und widmete sich der Frage, welche vorübergehend inhaftierten Hexen und Zauberer das Ministerium auf freien Fuß setzen sollte. Er verlas unzählige Anklagepunkte nacheinander, die alle ein ähnliches Bild zeichneten: Demonstranten, die Beamte angegriffen hatten; die Vandalismus betrieben hatten oder unerlaubt in geschützte Bereiche vorgedrungen waren. Es waren genug bekannte Namen unter den Hexen und Zauberern, die das Gamot an diesem Tag unbescholten ziehen ließ. Letztlich lag die Entscheidung dafür nicht allein bei Elphinstone als Ankläger, doch angesichts der dürftigen Faktenlage, die er nüchtern vortrug und anschließend mit einer Empfehlung für ein niederes Strafmaß beendete, folgte das Gericht ihm nur in wenigen Fällen. Selbst wenn sie jedem einzelnen Demonstranten den Prozess bereiten wollten, sie wären noch in Jahren damit beschäftigt, das wusste Minerva. Früher oder später zögen schließlich die langsamen Mühlen der Justiz weitere Aktenschließungen nach sich, um dringlicheren Angelegenheiten Platz zu lassen. All die Jahre später wieder hier zu sitzen und Elphinstone bei der Arbeit zu beobachten, versetzte sie mehr in die Vergangenheit zurück als der kürzliche Besuch ihrer Erinnerung. Seit damals hatte sich vieles verändert, aber eines blieb – sie bewunderte die Fassung, mit der er sein Plädoyer führte; die Routine und Ruhe, die er ausstrahlte, wenn es darauf ankam. Die Hexe neben Minerva schien das anders zu sehen, denn sie schüttelte im Laufe der Zeit immer wieder mit dem Kopf, woraufhin ihre Feder noch eifriger die Zeilen füllte. Neugierig versuchte Minerva, einen Blick auf die Worte zu erhaschen, doch schon blätterten sich die Seiten um. Ob sie für irgendeine Zeitung arbeitete? Sie war reichlich jung – wenn auch keine ihrer ehemaligen Schülerinnen –, vermutlich hatte man ihr deshalb diese unliebsame Tätigkeit zugeschoben, die sonst niemand gerne erledigte. Ihr Blick blieb nicht unbemerkt, denn die blonde Hexe sah von ihrem Notizbuch auf und schenkte ihr ein zahnreiches Lächeln. Sie lehnte sich über die Bank hinweg zu ihr, eine Hand mit rot lackierten Fingernägeln auf Minervas Arm gelegt. »Meine Liebe, verzeihen Sie meine Neugier, aber – es ist nicht zufällig jemand Bekanntes von Ihnen unter den angeklagten Demonstranten?«, fragte sie in breitem amerikanischen Akzent. »Sicher nicht«, schnaubte Minerva. »Nicht?« Überrascht zuckten die aufgemalten Augenbrauen der Frau in die Höhe. »Was machen Sie dann hier?« Minerva entging nicht, dass die Feder in ihrem eifrigen Kritzeln innehielt. »Ich schaue zu«, entgegnete sie ausweichend. Doch ihr Gegenüber lächelte nur breiter. »Keine Sorge, mir können Sie vertrauen. Rita Kimmkorn, Juniorreporterin vom Tagespropheten«, sagte sie mit stolzgeschwellter Brust und schüttelte Minerva erstaunlich fest die Hand. »Ich versichere Ihnen, ich habe nicht vor, die Unzulänglichkeiten unseres Ministeriums länger zu verschweigen! Mein Artikel wird eine Abrechnung mit allen Versäumnissen, die unsere reinblütigen Freunde aufgedeckt haben.« »Oh ist das so?« Beinahe vergaß Minerva, zu flüstern. »Haben Sie mal genauer nachgesehen, was Ihre reinblütigen ‚Freunde‘ sich unter einer besseren Welt vorstellen? Vielleicht sollten Sie lieber darüber einen Artikel schreiben. Und nun, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss Kimmkorn, würde ich gerne das Verfahren verfolgen.« Damit rutschte sie aus der Reichweite ihrer lackierten Fingernägel und wandte den Blick zurück in den Saal. Vom Block der Reporterin her hörte sie hektisches Federkratzen. Sie ahnte, dass sie diese Worte noch bereuen würde. Immerhin ließ die Hexe nun von ihr ab. Es dauerte, bis Elphinstone endlich die letzte Akte zuschlug und die Verhandlungen vorläufig ein Ende fanden. Minerva wartete, bis der Gerichtssaal sich leerte, bevor sie sich erhob und ihm entgegenlief. Sie umklammerte den Riemen ihrer Tasche fester, als sie ihm gegenübertrat. All die Erlebnisse des gestrigen Tages überkamen sie erneut mit der Wucht eines Klatschers. Ihre Handflächen wurden rutschig vor Schweiß. Doch der Drang, ihren Plan durchzuziehen, überwog. Bevor er auch nur ein Wort gesagt hatte, zog sie ihn in eine rasche Umarmung. Es war verrückt, aber sie hatte ihn innerhalb der wenigen Stunden, die ihr wie Monate vorkamen, wirklich vermisst. So sehr, dass sie am liebsten einen Moment länger verharrt hätte; länger als akzeptabel wäre. »Wir müssen reden, alleine«, flüsterte sie, denn die Reporterin auf der Zuschauerbank veranstaltete ein ziemliches Aufheben darum, ihre Sachen zu packen. »Mein Büro in zwanzig Minuten?« Sie nickte kaum merklich, ehe sie sich von ihm löste. »Bis gleich«, formte er mit den Lippen, dann verschwand er durch den separaten Eingang für die Mitglieder des Gamots. An der Tür wartete unterdessen die blonde Reporterin. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war ähnlich hungrig wie das von Mulciber. »Sparen Sie sich Ihre Fragen«, zischte Minerva ihr im Vorbeigehen zu. Glücklicherweise folgte die Frau ihr den langen Flur zwischen den Gerichtssälen nicht und als sie sich an der Treppe umdrehte, war die Hexe einfach verschwunden. Es war ihr nur recht, wenn die neugierige Reporterin nicht mitbekam, wie sie mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock zu Elphinstones Büro fuhr. Minerva war nicht darauf vorbereitet, was es bedeutete, ihrem alten Arbeitsplatz wieder so nahe zu sein. In zehn Jahren hatte sich erstaunlich wenig verändert. Die Teppiche waren immer noch von derselben unidentifizierbaren Farbe und die Büros links und rechts dieselben wie zu ihrer Zeit. ‚Ihre‘ Abteilung war ebenfalls genau so wie damals. Nur saßen neue Hexen und Zauberer an den Schreibtischen, die sie nicht kannte. Fast ein bisschen wehmütig musterte sie ihren alten Platz, bis die dort sitzende Frau ihren Blick bemerkte und sie misstrauisch anstarrte. Es kribbelte in Minervas Nacken und eilig ging sie weiter zu Elphinstones Büro. Es überraschte sie, dass sie immer noch Zugang durch den Schutzzauber hatte, der es ausgewählten Personen erlaubte, den Raum trotz seiner Abwesenheit zu betreten. Eigentlich hätte er sie entfernen müssen infolge ihrer Kündigung. Wenigstens in seinem Büro fand sie Veränderung vor, ein Umstand, der sie erleichterte – sie war nicht mehr dieselbe wie vor zehn Jahren und er ebenso wenig. Es waren Kleinigkeiten; ein anderer Teppich, die frische Aussicht auf schottische Berge durch das verzauberte Fenster, neue Bilder in den Silberrahmen. Aber auch Altbekanntes war dabei, wie die Tasse in Form eines Schnatzes, die er bei einem bürointernen Wichteln zufällig von ihr erhalten hatte. Wie in seiner Wohnung hatten in dem kleinen Raum einige Pflanzen ihren Platz – allen voran die berühmt-berüchtigte Miss Cuddles. Das Monster von Teufelsschlinge in seinem riesigen Topf war gewachsen und offenbar nicht weniger anhänglich als bei ihrer letzten Begegnung. Mit einem bestimmten Schubs stieß Minerva eine dicke grüne Ranke von ihrer Schulter, die sich vorwitzig anschlich. Da es hier unten kein echtes Tageslicht gab, fühlte die Pflanze sich im gedämpften Licht des Büros eindeutig zu wohl. Minerva zog ihre klimpernde Handtasche auf den Schoß und wartete im gemütlichen grünen Polstersessel vor dem Schreibtisch. Dem Linken, denn der Rechte hatte eine lose Feder und ein wackelndes Bein. Dort bat Elphinstone nur diejenigen Platz zu nehmen, die nicht länger als nötig verweilen sollten. Allzu viel Geduld brauchte sie nicht, bevor er eintrat. Kaum war er durch die Tür, da legte er schon einen Imperturbatio-Zauber auf diese und verschloss sie anschließend zusätzlich mit einem Schlenker des Zauberstabs. Sicher war sicher. Er lehnte sich gegen die Tür und nahm einen tiefen Atemzug mit geschlossenen Augen. »Tut mir leid, falls du warten musstest. Dieser Tage nutze ich lieber das alte Treppenhaus, anstatt mit irgendwem im Fahrstuhl eingesperrt zu sein. Nichts als Fragen, auf die ich keine Antworten habe.« Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Ist wohl besser. Hast du die Blonde auf der Zuschauerbank gesehen? Tagesprophet«, seufzte sie. »Die hat schon versucht, mich auszufragen. Und ich glaube, aus ihrer Feder springt nichts Gutes.« Elphinstone verzog das Gesicht. »Nun, daran muss ich mich wohl gewöhnen. Besser wird’s so schnell nicht mehr, fürchte ich. Nicht, wenn ich noch zwanzig solcher brisanter Akten auf dem Tisch habe. Egal. Min, was machst du hier?« Besorgt, aber trotzdem erfreut musterte er sie. »Ich habe Neuigkeiten und einen Plan.« Unter lautem Rumsen warf er seine Unterlagen auf den Schreibtisch und ließ sich dann dahinter fallen. »Wenigstens etwas Gutes.« »Ich fürchte nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben viel mehr ein großes Problem.« »Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß«, seufzte er, eine Hand an die Stirn gelegt. »Ich würde sagen, es sind sogar gleich mehrere Probleme. Aber wenn du einen Plan hast, dann gibt es eine Lösung, oder?« Ähnlich laut wie zuvor seine Akten stellte sie die Handtasche auf seinem Schreibtisch ab. Die Handflächen zu beiden Seiten aufgestützt, lehnte sie sich vor und sah ihn eindringlich an. »Ich fürchte, das, was du noch nicht weißt, werde ich dir gleich erzählen und es wird keine angenehme Überraschung.« Sie zog Pomonas feinsäuberlich verpacktes Päckchen aus den Tiefen des Ausdehnungszaubers hervor. Mit einem dumpfen Schlag landete es auf den Akten. »Was ist das?« »Mach es auf.« Die Arme verschränkt, beobachtete sie, wie Elphinstone die obenliegende Melionwurz in Augenschein nahm. Fragend legte er den Kopf schief. »Wozu das?« »Weißt du, was das ist?« Seine Stirn legte sich in Falten. »Sicher. Melionwurz.« Gestikulierend bedeutete sie ihm, das näher auszuführen. »Wächst in Südostasien. Handelsklasse C, nur unter strengen Einfuhrbedingungen zu bekommen und Bestandteil einiger potenter Tränke mit – sagen wir hässlichen Wirkungen. Oft verwendet in Schutzzaubern nicht ganz legaler Art, um unerwünschte Eindringlinge festzuhalten. Den Opfern solcher vermeintlichen Schutzmaßnahmen fehlen gerne mal ein paar Gliedmaßen. Man bekommt ja so einiges zu sehen bei den permanenten Fluchschäden, aber dieses Zeug gehört zu den schlimmeren Dingen. Andererseits ist die Wurz auch ein Bestandteil des Skele-Wachs, mit dem man Knochen nachwachsen lassen kann. So oder so – eine ziemlich langweilige Pflanze bei der Wirkung, wenn du mich fragst.« Eine mustergültige Antwort, ganz wie Pomona sie ihr gegeben hatte. Zufrieden sank Minerva wieder in den Besuchersessel, während Elphinstone die Wurz vor sich ablegte und mit leuchtenden Augen den Setzling der Teufelswelwitschia entdeckte, der sich darunter verbarg. »Ich habe die Erinnerung von Mulciber gesehen«, erklärte sie. »Der Unterschlupf der Entführer wird höchstwahrscheinlich mit einem solchen Zauber geschützt, da Rowle nicht nur Finsternisschoten, sondern auch dieses Kraut zugespielt bekommen hat.« Nichts erweckte den Anschein, als würde ihre Aussage Elphinstone beunruhigen. Er sah zwar müde, aber entschlossen aus. »Also war die Erinnerung von Mulciber brauchbar?«, fragte er begierig. »Hast du noch etwas Nützliches erfahren? Womit – oder mit wem – werden wir es noch zu tun bekommen?« Minerva nahm einen tiefen Atemzug, den Blick gedankenverloren auf die fangzähnige Geranie am Rand des Schreibtisches gerichtet, über deren Blätter ein glänzender schwarzer Käfer krabbelte. »Jetzt kommen wir zu dem komplizierten Teil«, murmelte sie und lächelte ihn entschuldigend an. »Lass mich gleich eines sagen – ich vertraue dir. Ich vertraue dir, weil wir uns seit dreizehn Jahren kennen und ich dich zu meinen engsten Freunden zähle. Aber was denkst du, wo diese Mittel herkommen?« Nachdenklich hob Elphinstone die Melionwurz wieder an und rollte das Knäuel über seine Handfläche. »Aus illegalem An-«, er unterbrach sich selber und starrte auf die unscheinbare Wurzel, als hätte sie ihn gebissen. »Oder ... nein ...« »Deine Familie betreibt immer noch mehrere Plantagen mit magischen Pflanzen im Ausland, nicht wahr?« Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Unter anderem im philippinischen Hochland«, murmelte er. »Und ... in Peru. Deshalb habe ich die Finsternisschote erkannt, weil ich weiß, dass sie dort testweise angebaut wurde.« Sanft nickte Minerva ihm zu. »Und ich weiß noch, wie du mir einst erzählt hast, dass du mit dem Geschäft nichts zu tun hast. Aber das hier geht dich trotzdem an. Also gut ...« Elphinstone hörte sich ihre Schilderungen der Erinnerung ruhig an. Nur an seinem Kiefer, der sich immer fester aufeinanderpresste und den Fingern, die zusehends die Melionwurz zerdrückten, erkannte sie seine innere Unruhe. Als sie fertig war, schloss er für einen Moment die Lider und lehnte seinen Kopf zurück. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll. Oder wie. Bei Merlin ...« Er schlug die Augen wieder auf. Sein Blick traf Minerva unvorbereitet. Wenn sie nicht längst davon überzeugt gewesen wäre, dass er nichts wusste, dann spätestens jetzt. Der Verrat stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich ...« Kopfschüttelnd starrte er hoch an die Decke. »Das hätte ich nie erwartet. Elladora hat mich sogar erwähnt?« Minerva fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ja. Aber bei Merlins Unterhosen, ich bin mir nicht einmal sicher, dass die Erinnerung nicht manipuliert ist! Möglich wäre es Mulciber schließlich. Dafür bin ich mir allerdings sicher, dass du so etwas nie unterstützen würdest. Egal wie deine Familie ist.« Ein freudloses Lachen entkam Elphinstone. »Meine Familie ist nicht so. Elladora offenbar schon. Sie soll das Unternehmen meiner Eltern für seltene Trank- und Heilzutaten übernehmen, nicht ruinieren, indem sie ihre Position ausnutzt und gefährliche Pflanzen an Verbrecher verteilt.« Er presste die Lippen fest aufeinander und starrte ins Leere. »Ich hätte mir nie träumen lassen, dass es eine dieser Finsternisschoten ist, die ich am Tatort finde. Ich kann nicht glauben, dass ich so blind war! Es ... es tut mir so leid.« »Nein, mir tut es leid, dass du es so erfahren musst, Elphinstone.« »Kann ... kann ich es sehen? Die Erinnerung?« Sie zog die Phiole aus ihrer Tasche. »Natürlich. Soll ... ich mitkommen?« Für einen Moment sah er unschlüssig auf die blauen Wirbel, dann wieder zu ihr. Er nickte, ehe er sein handliches kleines Denkarium aus dem Schrank holte. Inzwischen war Minerva vorbereitet auf jeden Schluckauf in der Erinnerung, auch wenn sie ihr nach wie vor Kopfschmerzen bereiteten. Elphinstone hingegen sah aus, als würde er sich am liebsten in den Nebel übergeben, sobald sie in dem Muggelwohnzimmer standen. In einer stummen Einladung streckte sie ihre Hand aus und er griff danach. Die Finger verschränkt, fühlte sie, wie er zusammenzuckte, als seine Schwester den Kamin verließ. »Ich hätte nie gedacht, dass sie uns mal so hintergehen würde«, flüsterte er leise. Mitfühlend drückte sie seine Hand. »Wenigstens können wir das aufhalten. Du bist doch noch dabei, oder?« Er senkte den Kopf, sodass ihm sein blondes Haar in die Stirn fiel, und sah auf ihre verbundenen Hände. »Natürlich. Ich kann das mit dem Jungen nicht zulassen.« Sie schwiegen eine Weile, während die Erinnerung um sie herum weiterlief. »Hey Phin ...«, durchbrach Minerva schließlich infolge einer spontanen Eingebung die Stille nach Elladoras Abreise, »hast du morgen Abend zufällig noch nichts vor? Ich hätte da eine Einladung fürs Abendessen um neunzehn Uhr. Und die Aussicht auf die Adresse unserer Entführer. Wenn wir das haben, könnten wir direkt weiter machen.« »Klingt gut.« »Oh, aber ich muss dich warnen – es ist bei meinen Eltern.« Jetzt hob Elphinstone den Kopf, ein leichtes Schmunzeln um die Mundwinkel. »Dann werde ich definitiv da sein.« Keine Minute später waren sie zurück auf festem Boden in seinem Büro, ihre Hände voneinander gelöst. »Gut, dann enthülle ich dir mal Stufe eins des Planes.« Minerva zog die Trankphiolen aus ihrer Tasche und reihte sie vor Elphinstone auf. »Dank Monas und Horace’ Hilfe habe ich gestern einige Vorbereitungen getroffen. Ein paar Sachen benötigen noch Verfeinerung – das würde ich gerne dir überlassen. Ich habe eine Liste geschrieben, was wir noch gebrauchen können. Bis morgen Abend haben wir ja reichlich Zeit.« Die Lippe zwischen die Zähne geschoben, musterte er ihre Ansammlung an mehr oder minder durchschlagskräftigen Tränken. Er nahm eine kleine Phiole mit dunkelblauer Füllung in die Finger und drehte sie nachdenklich hin und her. Seine Gedanken schienen noch in der Erinnerung zu verweilen. »Danke. Für dein Vertrauen in mich.« Mit einem verdächtigen Glänzen in den Augen sah er sie an. »Ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen sollst.« Sie nickte. »Ich bin mir sicher, das werde ich nicht.« »In Sachen Elladora –« »Du kannst nichts tun. Nicht jetzt. Das weiß ich.« »Leider. Wenn sie erfährt, dass wir von der Sache wissen, könnte sie die anderen warnen. Aber wenn das vorbei ist, dann werde ich sie nicht in Schutz nehmen.« Er fuhr sich über das Gesicht und Minerva wandte betreten den Blick ab. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie er sich fühlte. Wenn ihr das Gleiche mit Robbie oder Malcolm passieren würde ... nicht auszudenken. »Kann ich sonst noch etwas tun?«, fragte Elphinstone nach einer kleinen Pause. »Vielleicht kannst du uns ein bisschen Ausrüstung besorgen? Alles, was das Ministerium so entbehren kann? Ein Unsichtbarkeitsumhang wäre praktisch.« »Ich werde sehen, was ich tun kann. Dann ... bis morgen Abend?« Sie lächelte. »Ja. Ich hole dich ab. Und ... viel Erfolg noch. Pass auf die Reporterin auf.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)