Pokémon Orange von KiraNear ================================================================================ Kapitel 2: Aller Anfang ist schwer ---------------------------------- Den Rest des Abendessens hatte ich die meiste Zeit über mit Schweigen verbracht und meinen Eltern bei ihrem eher belanglosen Gespräch belauscht. Leider hatten sie nicht viel neues oder Interessantes zu erzählen. Mein Vater berichtete von Dingen, die er auf seiner Arbeit erlebt oder gesehen hatte, doch da ich selbst auch schon in mehreren Büros gearbeitet hatte, war es nicht sonderlich spannend für mich. Und meine Mutter erzählte viel von ihrem Alltag, doch auch das war nicht sehr aufregend. Dennoch, es war einfacher für mich, dazusitzen und hin und wieder nach meinem Dratini zu sehen, als mich aktiv ins Gespräch einzumischen. Vermutlich erwarteten sie es auch nicht und ich fragte mich erneut, welchen Charakter die echte Fiona hatte. Doch da meine Eltern agierten, als wäre alles normal, schätzte ich, dass wir beide uns da wohl recht ähnlich waren. Und so gut konnte niemand eine normale Realität vorspielen, zumindest redete ich es mir ein. Auch war ich dankbar, dass sie nicht erwarteten, dass ich etwas zu ihren Erwachsenenthemen beisteuerte. Und als mein Blick zum wiederholten Male hinunter zu Dratini fiel, bemerkte ich, dass es ihren Napf geleerte hatte. Auch der Wassernapf, welchen mein Vater ihr zur Verfügung gestellt hatte, war so gut wie leer. Neugierig erwiderte sie meinen Blick und begann, auf meine Augenhöhe zu schweben. Wie als müsste ich mich dafür entschuldigen, langsamer als mein Pokémon beim Essen zu sein, blickte ich auf meinen Teller zurück. Noch immer wollte mir kein Name einfallen und ich kam mir langsam blöd vor. Normalerweise benannte ich meine Starterpokémon, bis auf Pikachu, immer nach meinem Freund. Damit hatte ich recht bald zu Beginn unserer Beziehung angefangen und es dann beigehalten. Doch Dratini war ein Weibchen, also passte der Name nicht. Und sehr ich überlegte, es wollte mir nichts einfallen. Tonlos seufzte ich ein wenig, bevor ich mir wieder eine Gabel mit Essen in den Mund schob. Es half alles nichts. Vielleicht würde mir ja vor dem Schlafengehen ein schöner Name einfallen? Oder spätestens morgen? Möglicherweise konnte ich auch meine Mutter um ihre Meinung bitten, falls mir bis morgen wirklich nichts eingefallen sein sollte. Kaum hatte ich meinen Teller geleert, wischte ich meinen Mund mit der Serviette ab. Noch etwas, was ich schon lange nicht mehr aus unserem Haushalt kannte. Servietten waren etwas, was wir nur sonntags benutzt hatten. Jedes Mal hatte ich die Ehre, sie auszuwählen und zusammenzufalten. Dass ich nur eine Figur kannte, störte dabei niemanden. Doch wie alles andere im Leben hatte auch das irgendwann ein Ende. Mit einer raschen Bewegung leerte ich noch mein Wasserglas und setzte ein Lächeln auf. „Vielen Dank für das leckere Abendessen, es hat echt gut geschmeckt“, sagte ich ehrlich und blickte abwechselnd meine Eltern an. Meine Mutter schien das ganz besonders zu freuen. „Schön, dass es dir geschmeckt hat“, sagte sie und lächelte mich sanft an. Ich bemühte mich, das Lächeln so gut es ging zu erwidern, was mir eher semi gelang. Mir war es noch nie gut gelungen, auf Kommando zu lächeln, besonders für Fotos nicht. Es fühlte sich immer als… zu wenig an. Als müsste ich noch mehr lächeln, noch breiter, aber dann taten mir stets die Mundwinkel weh. Daher musste wie immer das kleine, kurze Lächeln herhalten, von dem ich nie wusste, ob es sichtbar war für andere oder nicht. Meiner Mutter schien es aber genug zu sein. „Möchtest du noch ein wenig Zeit mit Dratini verbringen, bevor ihr euch schlafen legt? Ich kann mir vorstellen, dass es für euch beide ein besonders aufregender Tag war. Mach dir keine Gedanken wegen des Geschirrs, dein Vater wird mir beim Tischabräumen helfen“, sagte sie mit sanfter Stimme und ich wusste nicht so recht, was ich antworten sollte. Doch da ich im Moment auch lieber mehr Lust darauf hätte, Dratini noch ein wenig zu streicheln und mein Unterbewusstsein im Hintergrund arbeiten zu lassen, gefiel es mir, von den Pflichten im Haushalt für den Moment entbunden zu sein. „Ja, das möchte ich, danke Mama! Dann können Dratini und ich uns noch ein bisschen besser kennenlernen“, sagte ich und mein Blick fiel dabei auf die Uhr, die im Wohnzimmer hing. Es war erst kurz nach 21 Uhr, stellte ich fest. Dann erhob ich mich vom Essenstisch, gab meinen Eltern noch ein kurzes Lächeln, bevor ich mich zusammen mit Dratini auf den Weg in mein Zimmer machte.   Dort angekommen, schloss ich die Tür zu, kaum dass Dratini in mein Zimmer hineingeflogen war. Dann drehte ich mich zu meinem Pokémon um. „Du bist wirklich niedlich, weißt du das?“, sagte ich, als ich begann sie am Kopf zu streicheln. Dann ging ich von der Tür weg und Dratini folgte mir zu meinem Bett, auf welches ich mich setzte. Dort streichelte ich sie wieder und diese schien das Ganze zu genießen. Zumindest zog sie ihren Kopf nicht weg. Ihr Körper war so warm und sanft, zwar hätte ich es erwarten müssen, da Pokémon natürlich auch lebendige Wesen in dieser Welt waren, und doch hatte es mich überrascht. Bisher hatte ich Dratini nur als Plüschtier in der Hand, ein Geschenk von meinem Freund vor vielen Jahren. Doch ein Plüschtier ist kalt, leblos und nicht lebendig. Das Dratini neben mir dagegen war ein Wesen mit Gefühlen, Gedanken, einem organischen Körper und einer Seele. Doch was war ich? Wer war ich? Ich kannte den Körper nicht, in dem ich steckte, doch ich konnte nur versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Und das war es, nicht mehr über derartige Dinge nachzudenken. Zumal ich auch nicht wusste, ob es permanent oder temporär war. Und ich konnte auch aktuell nichts daran ändern. Möglicherweise ist das jetzt hier mein neues Leben und ich fragte mich für ein paar Sekunden, was in meinem alten Leben passiert war. Doch dann schüttelte ich kurz meinen Kopf, um solche Dinge wollte ich mir ebenfalls keine Gedanken mehr machen. Dratini dagegen schien keinerlei düstere Gedanken oder Existenzprobleme zu haben, für sie gab es nur meine Streicheleinheiten. Hin und wieder bewegte sie ihren Kopf, damit ich eine andere Ecke ihres Kopfes mit meiner Hand berührte, was aber auch schon alles an Bewegungen war, die sie machte. Da mir die Hand wie gewohnt taub wurde, nahm ich den Arm wieder runter. „Sorry, ich kann das leider nicht so lange machen… meine Hand fühlt sich dann immer komisch an. Ist nicht persönlich gemeint“, sagte ich und fragte mich erneut, wie viel Dratini von dem verstand, was ich sagte. Ich wusste, dass Pokémon einen schon mal viel besser verstanden, als es bei Hunden oder Katzen der Fall war. Aber sonst? „Keine Angst, ich werde mir noch einen schönen, tollen Namen für dich einfallen lassen“, sagte ich, um das Thema zu wechseln und mich auf andere Gedanken zu bringen. Dann schwieg ich, da ich nicht so recht wusste, was ich mit Dratini noch alles machen könnte. Viele Möglichkeiten gab es nicht, zumal es schon Abend war. Wann wohl meine Bettgehzeit war? Vermutlich deutlich früher, als es bei mir üblicherweise der Fall war. Naja, solange ich meine Einschlafhilfe hatte… Ich stutzte. Und dann fiel mir ein, dass ich genau diese eben nicht bei mir hatte. Ich hatte weder mein Handy bei mir noch meine kleinen Kopfhörer. ASMR fiel also flach und den PC wollte ich nicht benutzen. Zumal ASMR ohne Kopfhörer nicht das Gleiche war. Und ich konnte auch nicht sagen, ob es in dieser Welt überhaupt YouTube gab. Mein Blick durchsuchte den Raum und fiel auf das kleine Nachtkästchen neben meinem Bett, dem ich bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Darauf befand sich ein kleiner, runder Pokéball mit einer kleinen Anzeige. Ich erkannte sofort, dass es ein Wecker sein sollte. Auch wenn ich ihn persönlich nicht mit Uhrzeigern, sondern mit einer digitalen Anzeige bevorzugt hätte, da man diese auch im Dunkeln sehen konnte. Zwar nicht immer, aber meistens. Und ich konnte die Uhrzeit auch schneller ablesen, wenn sich 90% meines Hirns noch im Tiefschlaf befand. Doch da ich hier nur einen Wecker mit analoger Anzeige hatte, musste ich mit dem arbeiten, was ich hatte. Da das Nachtkästchen von meinem aktuellen Sitzplatz zu weit weg war, stand ich auf, ging um das Bett herum und nahm den Wecker in die Hand. 21:30 zeigten mir die Zeiger an, die Zeit war doch schneller vergangen, als ich bis eben angenommen hatte. Was jedoch nichts daran änderte, dass ich noch nicht müde war. Auch, dank meines Nickerchens vorhin. Und der Tatsache, dass ich eine Vollbluteule war.   Ich stellte den Wecker wieder zurück aufs Nachtkästchen und schaute zu Dratini hinüber. Dieses hatte sich wohl mein Zimmer, Möbelstück für Möbelstück, näher angesehen. Was ich verstehen konnte, da auch für mich das Zimmer noch total fremd war. Doch das wollte ich mir nicht anmerken lassen, wie seltsam wäre es denn, wenn ich mich in meinem eigenen Zimmer nicht auskennen würde? Zumindest so seltsam, dass ich schon eine gute Erklärung dafür bräuchte. Und die übliche Amnesie-Karte wollte ich nicht ausspielen. Dratini schien nicht zu bemerken, dass ich sie beobachtete und so nahm ich meinen Blick wieder von ihr. Stattdessen setzte ich mich wieder auf den gleichen Fleck zurück, an welchem ich bis vor wenigen Minuten noch gesessen war und sah auf meine gefalteten Finger hinab. Fragte mich, wie ich die Zeit bis zum Bettgehen überbrücken konnte. Und wie ich nachher einschlafen sollte. Kurz überlegte ich, ob ich Dratini etwas von mir und meinem Leben erzählen sollte, damit Dratini mich ein bisschen besser kennenlernen konnte. Doch was sollte ich ihr erzählen? Die meisten Dinge aus meiner Vergangenheit fielen schon mal flach. Dratini konnte mir zwar nicht antworten, aber sie war auch nicht dumm. So wäre es beispielsweise nicht so schlau, ihr zu erzählen, ich wäre ohne Vater aufgewachsen, wenn ganz klar im Erdgeschoss ein Mann herumlief, den ich bereits mehrfach als meinen Vater angesprochen hatte. Und die Ähnlichkeit zwischen uns beiden war nicht von der Hand zu weisen. Das würde selbst Dratini seltsam vorkommen. Außerdem würde es mich auch in Erklärungsnot bringen, sollte einer oder beide von meinen „Elternteilen“ sich spontan dazu entscheiden, zu mir ins Zimmer zu kommen und zu hören, wie ich über Dinge redete, die nicht sein konnten. Mir fiel es schon immer schwer, über mich zu reden und anderen von mir zu erzählen, aber jetzt war es noch schwerer, noch limitierter. So ließ ich mich rückwärts aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Mir fehlte die Mondlampe, die sich in meinem Schlafzimmer befand. In meinem echten Schlafzimmer. Meine Gedanken wanderten und wanderten, doch mir wollte nichts einfallen, was interessant, aber nicht zu riskant zum Erzählen gewesen wäre. Und dann, als hätte was in meinem Hirn einen Schalter umgelegt, hatte ich doch noch eine Idee. Wenn ich schon nichts aus meinem Leben erzählen konnte, so würde ich vom Leben anderer Leute etwas erzählen können, nicht wahr? Immerhin steckt ja trotzdem irgendwo ein Teil von mir und meine Gedankenwelt darin, also wäre es auch eine Möglichkeit. Schnell richtete ich mich wieder auf und richtete mein Wort an Dratini. „Hey, Dratini, Süße, kannst du bitte zu mir kommen?“, sagte ich und klopfte mit der linken Hand auf das Bett. Dratini, die die ganze Zeit meinen Computerbildschirm beschnuppert hatte, drehte sich um, schwebte zu mir und ließ sich neben mir aufs Bett fallen. Den Kopf bettete sie auf meinem Oberschenkel, was sie nochmal niedlicher aussehen ließ als es sowieso schon der Fall war. „Weißt du, ich erzähle dir eine Geschichte. Diese Geschichte habe bisher nur meiner besten Freundin erzählt, daher kennt sie auch so gut wie keiner. Ich … schreibe hin und wieder Geschichten, musst du wissen“, sagte ich und kratzte mir verlegen am Hinterkopf. Doch das schien Dratini nicht sonderlich zu beeindrucken oder zu stören. Sie kuschelte sich nur näher an mich heran und offenbar war es nicht wirklich wichtig, was ich sagte, sondern dass ich was zu ihr sagte. Ich räusperte mich ein wenig. „Ok, gut, dann erzähle ich dir mal die Geschichte von einer Gruppe von Freunden, die eine Menge an Abenteuern erleben. Aber ganz langsam, alles fing damit an, dass…“   „… wie genau das Ganze ausgehen wird, darüber bin ich mir ehrlich gesagt noch nicht so ganz sicher, aber ich glaube, da wird mir schon noch was einfallen. Auch bin ich mir nicht sicher, so ein richtiges Happy End wird es nicht werden, aber auch kein Sad End. Und offen wird es vermutlich auch nicht werden… naja, ein neutrales Ende?“ Ich zuckte mit den Schultern, darum sollte sich Zukunftskira Sorgen machen. Wenn ich überhaupt je dazu in die Lage kommen würde. „Egal. Das ist so mal die Geschichte im Groben, wie ich sie geplant habe, ein bisschen komplex, sehr aktionreich und traurig, aber das gehört so. Hat sie dir trotzdem gefallen?“, fragte ich und streichelte ihren Kopf. Wieder tat sie mir leid, dass ich keinen Namen für sie hatte. Doch auch während meiner Erzählungen wollte mir einfach kein Name einfallen. Zumal ich auch mehr damit beschäftigt war, alles aus meiner Erinnerung zusammen zu kratzen, was ich zu der Geschichte dort alles abgelegt hatte. Vorsichtig drehte ich mich um. Der Wecker zeigte, nachdem ich meine Augen ein bisschen zusammenkniff, an, dass es bereits 23:21 war. Also eine gute Uhrzeit, um sich schon mal über das Schlafengehen Gedanken zu machen. Und obwohl ich mich nur ein wenig müde fühlte und wusste, dass das Einschlafen wieder die Hölle sein wird, eine andere Beschäftigung fand ich nicht. Dratini eine weitere Geschichte erzählen wollte ich auch nicht, das wollte ich für einen anderen Zeitpunkt aufheben. „Hm, was dagegen, wenn wir uns bettfertig machen?“, sagte ich und blickte zu Dratini herunter. Diese nahm ihren Kopf hoch und sah mich mit einem warmen Blick an. Dann nickte sie ein wenig, mangels Worten, die ich verstehen konnte. Vorsichtig schob ich sie von mir und ging zu dem Schrank hinüber, öffnete diesen und warf einen Blick hinein. „Ich suche nur schnell was raus, was ich zum Schlafen tragen könnte“, sagte ich und dachte daran, dass ich vorhin in voller Montur in meinem Bett gelegen war. Was wohl die Ursache dafür war? So richtig konnte ich es mir nicht denken. Zu meinem Glück wurde ich recht schnell fündig, in einem Schubfach befanden sich mehrere Schlafhemden, welche, wie ich sie noch aus meiner Kindheit her kannte. Nur, dass diese allesamt pastellfarben waren. Doch das war mir egal, zum Schlafen würde es jede Farbe tun. Zumal außer mir, Dratini und meinen Eltern es niemand sehen würde. Schnell verschloss ich die Schranktür, legte das Nachthemd auf dem Bett und wollte anfangen, mich auszuziehen, als ich kurz innehielt. Ich war nicht alleine im Raum. Und ich hatte gerade vor, mich umzuziehen. Vor dem Blick einer anderen Person, auch wenn Dratini technisch gesehen keine Person war. Kaum wurde ich mir dessen bewusst, fühlte ich mich seltsam. Dann versuchte ich, jeden Gedanken und jede Unsicherheit von mir abzustreifen und begann, mich langsam umzuziehen. Wie bereits ein kleiner Teil von mir es erwartet hatte, hatte Dratini nichts dazu gesagt, keinen Laut getan oder mich irgendwie blöd angesehen. Stattdessen hatte es mich einfach nur neugierig beobachtet. Meine Wangen färbten sich rot und ich schallte mich in Gedanken als einen totalen Idioten. „Schätze mal, ich werde mich noch daran gewöhnen müssen, immerhin werden wir jetzt unseren Alltag zusammen teilen“, sagte ich und schlüpfte unter die Decke. Hob diese hoch, damit Dratini es sich ebenfalls darunter gemütlich machen konnte. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich meinen Eltern keine gute Nacht gewünscht hatte, aber da ich nicht wusste, ob ich nicht bereits über meine Schlafenszeit hinaus war, wollte ich nicht rausgehen und eventuellen Ärger riskieren. Und da sie nicht zu mir ins Zimmer gekommen waren, hatten sie wohl selbst nicht mehr daran gedacht. Schnell blickte ich mich um und sah neben meinem Bett einen Lichtschalter. Wenigstens eine Sache, die ich dieses Zimmer mit meinem echten eigenen Schlafzimmer gemeinsam hatte. Mit einer raschen Bewegung betätigte ich diese und das Zimmer fiel sofort in Dunkelheit. Dratini dagegen schmuste sich noch mehr an mich heran. Sie war so herrlich warm und weich. „Schlaf gut, Dratini“, sagte ich, und hoffte, dass sie schnell einschlafen würde. Ich wusste, ich würde immer mal wieder zum Wecker blicken, auch wenn ich diesen im Dunkeln nicht sehen konnte. Ich wusste, ich würde in diesem Bett liegen, über tausend Dinge nachdenken und darauf warten, dass ich irgendwann in den Schlaf fallen würde. Ich hasste es, wie jede einzelne Nacht zuvor, in der ich mit dem Problem zu kämpfen hatte. Doch ich konnte nichts dagegen tun, nur warten und hoffe. Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, fiel mein Geist in einen tiefen Schlaf und schickte mich, ohne mir einen einzigen Traum zu zeigen, durch die Nacht.   Am nächsten Morgen ging alles ganz schnell und alles ganz einfach. So nahm ich mir auch nicht die Zeit, mich darüber zu wundern, dass Fiona das gleiche Hemd in mehrfacher Ausführung hatte, entweder hatte es die mal in einer Großpackung gegeben oder die alte Fiona mochte diese einfach zu gerne. Schnell hatte ich mein Nachthemd zusammengefaltet und auf das Bett gelegt, wie gewohnt machte ich mir nicht die Mühe, die Bettdecke zurecht zu rücken. Ich hatte noch nie den Sinn darin gesehen und würde jetzt, in einem fremden Körper in einem fremden Leben, nicht damit anfangen. Nachdem ich die Schmutzwäsche in einen der Körbe im Bad verstaut hatte, weckte ich Dratini sanft und trug sie die Treppe herunter. Mein Magen meldete sich mit der üblichen schmerzhaften Leere und ich hoffte, dass es ein leckeres Frühstück geben würde. Doch sollte das nicht der Fall sein, wäre das auch in Ordnung. Wäre nicht das erste und letzte Mal, dass ich mir selbst das Frühstück machen würde. Ob meine Mutter auch Kaffee hatte? Ob sie mir das überhaupt erlauben würde? Wie alt war Fiona eigentlich? All das fragte ich mich, als ich mich zusammen mit Dratini dem Esstisch näherte. Kaum hatte sich mein süßes Pokémon neben ihrem Napf abgesetzt, kam auch schon meine Mutter auf mich zu. „Oh, Fiona, du bist gerade richtig wach geworden“, sagte sie und ich konnte zwei Schalen in ihrer Hand erkennen. Diese stellte sie auf dem Tisch ab und ich konnte sehen, dass beide zur Hälfte mit Müsli gefüllt waren. Müsli mit Apfel- und Schokostücken, soweit ich es erkennen konnte. „Ich wollte gerade hochgehen und dich wecken, aber da warst du wohl schneller als ich“, sagte sie amüsiert, während sie aus ihrer Schürze zwei Löffel herausfischte und diese ebenfalls auf den Tisch legte. „Aber wenn du schon mal hier bist, kannst du in die Küche gehen und dein Pokémon füttern. Denk daran, du musst die Verantwortung dafür tragen!“, sagte sie in einem leicht mahnendem Ton und ich nickte nur. Viel zu gerne hätte ich erwidert, dass ich mir der Verantwortung gegenüber meinem Dratini bewusst war, doch das wären zu viele Worte gewesen. Zwar war ich bereits ziemlich wach, doch gleichzeitig fühlte ich mich zu faul, um zu sprechen. Das müsste warten, bis ich wenigstens den ersten Löffel Frühstück intus hatte. „Ok, werde ich machen, Mama“, sagte ich und begann, in der Küche nach Dratinis Futter zu suchen. Zu meinem Glück wurde ich recht schnell fündig und konnte Dratini ihr Frühstück sofort geben. Während ich ihren Wassernapf ebenfalls füllte, fiel sie bereits über ihr Essen her. Es schien ihr offenbar zu schmecken. Kurz überlegte ich, ob ich es auch mal probieren soll, aber ließ es bleiben. Stattdessen setzte ich mich zu meiner Mutter an den Tisch, die in der Zwischenzeit uns beiden noch einen warmen Kakao auf den Tisch gestellt hatte. „Lass es dir schmecken, mein Spatz“, sagte sie und ich bedankte mich bei ihr. Danach genossen wir unser Frühstück und redeten über ein paar Dinge, jedoch blieb das Gespräch die ganze Zeit über eher oberflächlich. Wieder fragte ich mich, wie alt Fiona war, doch laut aussprechen wollte ich die Frage nicht. Das wäre doch mehr als seltsam gewesen.   Und irgendwann war auch das Frühstück fertig. Kaum hatte ich meiner Mutter beim Abräumen und Bestücken der Spülmaschine geholfen, drehte sie sich zu mir um und lächelte mich an. „Weißt du, ich habe mir Gedanken gemacht“, sagte sie, während sie ihre Hände ein wenig eincremte. Mit was, konnte ich nicht genau erkennen. Vermutlich mit einer ganz normalen Handcreme. „Dein Vater hat mir vor ein paar Tagen schon erzählt, dass er dir ein Pokémon schenken möchte. Immerhin bist du vor kurzem 14 Jahre alt geworden und damit nun alt genug, um auf eine Reise gehen zu können. Aber aller Anfang ist schwer und daher möchte ich dich unterstützen. Leider kenne ich mich nicht sehr gut aus, wenn es darum geht, ein Trainer zu sein, aber ein bisschen habe ich mich doch noch informieren können“, sagte sie und erhob sich aus ihrem Stuhl. Neugierig beobachtete ich sie, wie sie aus dem Esszimmer verschwand und mit dem blauen Turnbeutel in der Hand wieder zurückkam. „Bitte schön, das dürfte dir für den Anfang weiterhelfen“, sagte sie und reichte mir den Beutel. Dieser war deutlich schwerer als ihn das letzte Mal benutzt hatte und als ich ihn öffnete, weiteten sich meine Augen. Sofort fielen mir die Pokébälle auf, ein kurzes Durchzählen verriet mir, dass es genau fünf Stück waren. Außerdem war da noch ein normaler Trank. „Danke, das ist wirklich mehr als hilfreich“ sagte ich, stand auf und umarmte meine Mutter kurz. Als ich mich dann wieder von ihr löste, nahm sie meine Hand und legte etwas hinein. Es war irgendwie rund und fühlte sich seltsam an. Als ich auf meine Hand sah, auf das, was sie mir gegeben hatte, konnte ich es nicht glauben. „Das ist ein PokéNav“, sagte meine Mutter, die im Gegensatz zu mir das Sprechen nicht spontan vergessen hatte. „Damit kannst du uns jederzeit anrufen, falls etwas auf deiner Reise passieren sollte. Außerdem hat das PokéNav eine kleine Karte, damit du dich nicht verlaufen kannst. Dein Vater hat es für dich gekauft, leider konnte er es dir nicht selbst geben, da es in seiner Arbeit irgendeinen Notfall gab“, sagte sie und begrub damit mein Vorhaben, ihn zu Dratini zu befragen. Ob meine Mutter wusste, welche Attacken Dratini bereits beherrschte? Notfalls würde ich ihn nachher anrufen, vielleicht konnte er mir kurz am Telefon eine Antwort darauf geben. Das Vorhaben, meine Mutter nach einem geeigneten Namen zu befragten, hatte ich allerdings wieder begraben. Nein, der Name sollte doch lieber von mir selbst stammen, das würde sich viel besser anfühlen. Sofort verstaute ich den PokéNav in meinem Turnbeutel. So hübsch meine Hose auch war, sie war viel zu kurz, um Hosentaschen zu besitzen, wie ich zu meinem Leidwesen feststellen musste. Aber so waren Frauenhosen nun mal. Hübsch, aber auch irgendwo unbrauchbar, wenn es um Hosentaschen ging. „Achja, ich will dich ja nicht schimpfen, da darfst du mich nicht missverstehen“, fing meine Mutter wieder zu reden an. „Aber ich denke, heute sollten Dratini und du ein bisschen was draußen unternehmen. Es ist zwar schön, dass du deinem Pokémon deinen Fortschritt in deinem Nintendo-Spiel zeigen konntest, aber ich bin mir sicher, dass ihr auch noch viele andere Dinge unternehmen könnt. Vielleicht könnt ihr ja sogar ein wenig trainieren und damit euch noch besser kennenlernen? Denn denk daran, ohne einen Orden lasse ich dich nicht die Stadt verlassen. Zumindest nicht so weit. Du kennst die Grenzen, bis zu denen du laufen darfst“, sagte sie und kniff mir zart in die Wange. In mir dagegen starb für eine kurze Zeit etwas, wie immer, wenn Mütter oder Nicht-Gamer etwas als „Nintendo“ bezeichneten. Außerdem fühlte ich mich ertappt, auch, wenn ich nichts in der Richtung geplant hatte. Überhaupt hatte ich gar nichts geplant, außer, einen Namen für meinen kleinen Drachen zu finden. Drachen… der eine oder andere Gedanke schlich sich in meinen Kopf. Da ich mir keinen Ärger einhandeln wollte, beschloss ich, sämtliche Gedanken für mich zu behalten. „Alles klar, Mama und ja, ich weiß Bescheid. Ich werde nicht allzu weit weg gehen. Und ja, wir werden uns draußen ein wenig umsehen oder so… das werde ich dann sehen.“ Zufrieden wuschelte meine Mutter mir durch die Haare und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie in mir wohl immer noch ihr kleines Mädchen sah. Einmal eine Mutter, immer eine Mutter. Auch einer der Sprüche, die meine echte Mutter unendlich viele Male von sich gegeben hatte, wenn sie besonders nerviges Elternverhalten erklären wollte. Oder rechtfertigen, so genau konnte ich das nie sagen. „Damit ihr unterwegs nicht noch Hunger und Durst erleiden müsst“, sagte sie und ging dieses Mal in die Küche, aus welcher sie mit zwei Bentoboxen, einer kleinen Schale und einer Thermoskanne zurückkehrte. „Dafür werde ich euch beiden eine kleine Mahlzeit mitgeben. Für dich eine gemischte Box mit vielen, leckeren Sachen darin und für dein Dratini eine kleine Zusammensetzung von verschiedenen Pokéfuttersorten.“ Dies alles verstauten wir in meinem Turnbeutel und ich fragte mich, was meine Mutter mir wohl zum Essen gemacht hatte. Es ist schon lange her, dass Mama mir mal eine solche Box gemacht hat, auch, wenn es eine ganz einfache Box war… das war schön. „Danke, wir werden uns das sicherlich schmecken lassen“, meinte ich und lächelte sie so gut es ging an. Dafür wurde mir wieder der Kopf getätschelt, etwas, was sich nach wie vor sehr gut anfühlte. Dann trat meine Mutter ein paar Schritte zurück. „Ich möchte euch beiden nicht länger aufhalten, immerhin habt ihr jetzt sicherlich eine Menge geplant und wollt euch so gut wie möglich kennenlernen“, sagte meine Mutter und stemmte stolz ihre Hände in die Hüfte. Dem hatte ich nichts mehr hinzuzufügen, also bedankte ich mich erneut bei ihr und nahm ihr den Beutel ab. „Viel Spaß euch beiden!“, sagte sie mehr als fröhlich, als Dratini und ich das Haus verließen und kurz zu ihr zurückblickten. „Und denk daran, dir einen Namen für dein Dratini zu überlegen!“ „Keine Angst, das werde ich machen“, erwiderte ich, bevor wir beide uns umdrehten und vom Haus entfernten. Wenige Sekunden später konnte ich hören, wie die Haustür geschlossen wurde.   Von Dratini begleitet, ging ich durch die Stadt und zeigte ihr ein paar wichtige Ecken und Gebäude, die ich von Marmoria kannte und von denen ich dachte, dass sie für Dratini von Interesse wären. Das Pokémoncenter, der Laden, das Museum und am Ende blieben wir vor der Arena stehen. „Dort müssen wir irgendwann reingehen und den Arenaleiter Rocko besiegen. Von ihm bekommen wir dann unseren ersten Orden und dann wird Mama uns erlauben, die Stadt zu verlassen“, begann ich zu erklären. „Soweit ich weiß, besitzt er nur Gesteinspokémon, da sind wir weder im Vorteil noch im Nachteil, würde ich sagen. Aber vorher sollten wir uns erst einmal mit deinen Attacken beschäftigen und zusammen ein wenig üben. Alles andere würde keinen Sinn machen und ich würde nicht wollen, dass du unnötig verletzt wirst. Nur, weil ich zu wenig Erfahrung als Trainerin habe“, sagte ich und streichelte Dratini am Kopf. Dieses sah mich erst fragend, dann mit einem freundlichen Gesichtsausdruck an. Offenbar war sie der gleichen Meinung. Oder ihr gefielen meine netten Worte. „Gut, dann lass uns wieder gehen. Ich wollte dir nur mal die Arena zeigen, damit du sie schon mal gesehen hast. Aber wir sollten wirklich erst reingehen, wenn wir uns beide total sicher fühlen. Also du und ich. Vorher lieber nicht, sicher ist sicher.“ Dratini nickte, offenbar war sie tatsächlich hier einer Meinung mit mir. Dass wir uns kaum kannten, aber schon einig über das nächste Vorgehen waren, war ein gutes Zeichen in meinen Augen. Wir entfernten uns von der Arena und während ich Dratini erzählte, was ich angeblich alles über Rocko gehört hatte (und eigentlich bereits wusste), fiel mir ein Gedanke ein. Ein Gedanke, der sich vorhin erst kurz in meinen Kopf hineingeschlichen und sich dann auch genauso heimlich wieder davon gemacht hatte. „Oh, da fällt mir ein, ich muss noch meinen Vater anrufen, vielleicht kann er mir sagen, welche Attacken du schon kannst“, sagte ich und nahm meinen Turnbeutel herunter, den ich die ganze Zeit über auf dem Rücken getragen hatte. Der PokéNav war recht schnell gefunden und das Menü darin sah nicht sehr aufwendig aus. Wenige Sekunden später war ich in der Telefonapp des Geräts und konnte die Nummer meines Vaters raussuchen. Was keine Kunst war, immerhin hatte ich in meinen Kontakten nur noch „Mama“, „Zuhause“ und „Notfall“. Mein Vater ließ sein Gerät fünfmal läuten, bevor er abhob. „Hallo, mein Schatz, was kann ich denn für dich tun?“, fragte er mich und klang ein wenig so, als hätte ich ihn mit meinem Anruf überrascht. Noch ein Grund mehr, das Telefonat so kurz wie möglich zu halten. „Hallo Papa!“, begrüßte ich ihn freundlich. „Ich wollte eben ein bisschen mit Dratini trainieren und hatte gehofft, dass du mir vielleicht sagen kannst, welche Attacken Dratini schon beherrscht. Ich meine, ich kann sie ja schlecht fragen. Oder anders gesagt, ich kann sie fragen, aber sie wird mir keine Antwort geben können.“ Mein Vater schien kurz nachzudenken, dann konnte ich das Rascheln von Blättern hören und auch, wie er etwas vor sich in den nicht vorhandenen Bart murmelte. Während er so herumsuchte, betrachtete ich mein Dratini, wie es neben mir herumschwebte. Ich muss mir echt einen Namen einfallen lassen, das kann doch nicht so schwer sein?! Meine Mutter hatte ja auch grad mal eine Minute oder zwei, um spontan einen Mädchennamen für mich zu finden… also gut, welchen coolen Namen, der mit Drachen und Frauen zu tun habe, kenne ich… Doch ich kam nicht weiter zum Überlegen, da sich mein Vater wieder am Telefon zurückmeldete. „Dein Dratini beherrscht bereits die Attacken Wickel und Silberblick. Aber denk daran, das ist nur der Anfang, ein Pokémon kann noch viele andere Attacken lernen, sei es durch ein anderes Pokémon oder zusammen mit dir als Trainerin. Achja, hast du ihr etwa noch keinen Namen gegeben?“, wollte nun auch er von mir wissen und ich schüttelte mit dem Kopf. „Nein, aber ich bin schon fleißig am Überlegen, welcher Name es werden soll“, sagte ich aufrichtig zu ihm. Mein Vater sah mir auf dem kleinen Bildschirm entgegen und hob seinen Daumen hoch. „Du machst das schon, meine kleine Prinzessin“, sagte er und schaute anschließend in eine andere Richtung. „Verzeih mir, Kleine, ich will dich nicht loswerden, aber die Arbeit ruft und ich muss wieder…“ Wieder schüttelte ich mit dem Kopf, dieses Mal langsamer. „Das macht doch nichts, ich verstehe das vollkommen. Und wir haben ja auch etwas zu tun“, sagte ich so verständnisvoll wie möglich. Was bei meinem Vater auch so anzukommen scheint. „In Ordnung, du kannst mir heute Abend dann erzählen, wie das Training verlaufen ist. Hab dich lieb, Kleine, bis später“, sagte er und nur wenige Sekunden später hatte er aufgelegt. Schnell klappte ich meinen PokéNav wieder zusammen und verstaute ihn in meinem Turnbeutel. „Ok, Dratini“, sagte ich, als ich den Turnbeutel wieder wie einen Rucksack anzog. „Dann lass uns doch mal dort rüber gehen, da ist eine kleine Wiese, ich denke, da sollten wir gut trainieren können.“ Ich deutete mit dem Finger in eine ungefähre Richtung, in der ich die Wiese vermutete. Zu welcher wir uns auch sofort aufmachten.   „Das sieht doch hier schon mal gut aus, oder was meinst du, Dratini?“, fragte ich sie und sie sah sich ein wenig um. Gut, ich hatte keine großen Erfahrungen mit Pokémon-Trainingsplätzen, aber ich dachte mir, solange es frei war und wir niemanden störten… warum nicht? Dratini schien der gleichen Ansicht zu sein, weshalb ich meinen Turnbeutel erneut herunternahm und neben mir auf den Boden legte. „Ok, dann werden wir etwas suchen, mit dem wir üben können. Papa meinte, dass du Wickel und Silberblick beherrschst … hm, soweit ich weiß, ist Silberblick eine Attacke, mit der man die Verteidigung des Gegners senken kann. Vielleicht wäre es besser, wenn du die Attacke an mir mal übst? Hm, das lieber an einem anderen Mal. Heute sollten wir uns auf Wickel konzentrieren… ah, das ist doch gut!“, sagte ich und fand einen alten, dicken Stecken, der sich wunderbar für ein Wickel-Training eignete. Sofort untersuchte ich das Holz, es war wohl mal ein Teil des Zauns, welcher die Wiese hier einrahmte, welcher mal abgebaut und dann hier vergessen worden war. Da ich erkannte, dass das Holz noch immer recht stabil und solide war, aber auch nicht splittern würde, hob ich es hoch, damit Dratini es sehen konnte. „Ich denke, damit wirst du Wickel gut üben können, das Holz ist zwar nicht mehr das Neueste, aber für unser Vorhaben wird es schon reichen. Siehst du?“, fragte ich Dratini und begann, das Stück Holz in eine Umarmung zu nehmen. Dann, so fest ich es konnte, und das war nicht besonders viel, begann ich das Holz zu drücken. Meine Arme zitterten leicht, so fest versuchte ich es, bis ich wieder lockerließ. Das Holzstück war noch genauso intakt wie zuvor. „Da, es ist total ungefährlich und du kannst damit deinen Wickel üben. Nur mal so für den Anfang, du musst es nicht zerdrücken oder so, aber damit du ein Gefühl dafür bekommst, wie du es am besten anstellen kannst. Und vielleicht kann ich von außen noch irgendwas sehen, ob und was du verbessern kannst. Was meinst du?“ Dratini nickte mir zu und so stellte ich das Holzstück mit der abgesägten, flachen Seite auf den Boden. Sofort flog Dratini auf das Holzstück zu und nahm es mit ihrem kleinen Körper an sich. Zufrieden sah ich Dratini zu, dabei setzte mich auf den Boden neben meinen Turnbeutel. „Drück es am besten so fest du kannst und schau, dass du das schon ein paar Sekunden lang so halten kannst. Das Holzstück tut dir ja nichts, das ist ein Dummy. Aber in einem echten Kampf wirst du deinen Gegner festhalten müssen, damit dieser sich nicht mehr regen kann. Er wird sich dann zwar wehren, aber im Idealfall wird es ihn dabei auch ermüden. Stärkere Pokémon alleine wirst du damit nicht besiegen können, aber dafür können wir dir immer noch eine dritte Attacke beibringen.“ Kurz überlegte ich, bevor ich dem Dratini noch eine letzte Anweisung gab: „Für den Anfang, drück das Holz am besten so zehn Sekunden lang, wenn du dann ein Gefühl dafür entwickelt hast, erhöhe auf 15 Sekunden.“ Dratini gab einen Laut von sich, um mir zu zeigen, dass sie mir zugehört hatte und drückte das kleine Holzstück so fest sie konnte. Ich dagegen schaute, ob ich irgendwas Auffälliges sah, stand auf, und sah mir die Wickelversuche auch aus anderen Perspektiven an. Doch ich konnte nichts sehen, was irgendwie schlecht an dem aussah, was Dratini dort tat und so ließ es ich es in Ruhe üben. Gleichzeitig nutzte ich die Gelegenheit, noch einmal über die Namenssache nachzudenken. Ließ meine Gedanken schweifen, ob mir doch noch jemand einfallen würde. Hm, Sapphira wäre vielleicht eine Idee. Aber ich mochte die Buchreihe jetzt nicht so und ich bin auch kein großer Fan von dem Drachen. Aber welche weiblichen Drachen kenne ich denn noch so? Oder überhaupt welche namhaften Drachen? Smaug, aber der ist ein Er. Nein, nein, das wird nicht funktionieren… oh, Moment, wie wäre es mit…?“ Kaum war mir ein Name eingefallen, ging ich ihn gedanklich immer wieder und wieder durch. Sah dabei mein Dratini an und sprach den Namen gedanklich aus. Und je öfter ich es tat, desto mehr schien der Name zu passen. Desto mehr erschien es mir richtig. Sofort begann ich zu lächeln. Ich hatte jetzt endlich einen Namen gefunden. Jetzt musste er nur noch ihr gefallen. Und ich hoffte, dass dieser Fall eintrat. Denn sonst wäre ich wirklich mehr als aufgeschmissen.   Dratini hatte, während ich meinen Gedanken nachgegangen war, immer weiter fleißig vor sich hintrainiert. Hatte immer wieder und wieder das kleine Stück Holz zusammengedrückt, bis es am Ende eine kleine Kuhle gab. Einen kleinen Abdruck an den Stellen, an welchen Dratini mit ihrem kleinen Körper am meisten Druck ausgeübt hatte. Zufrieden betrachtete ich das leicht bearbeitete Holzstück und legte eine Hand auf Dratinis Kopf. Ein Blick auf den PokéNav wenige Minuten zuvor hatte mir gesagt, dass es bereits Zeit fürs Mittagessen war. „Das hast du gut gemacht, dein Wickel sieht jetzt schon ziemlich beeindruckend aus. Auf jeden Fall etwas, mit dem man arbeiten kann. Klasse, Dratini“, sagte ich und streichelte ihren kleinen Kopf. Diese ließ das Holz fallen und gab einen zufriedenen Laut von sich. „Mach jetzt eine Pause, das hast du dir mehr als verdient. Danach sehen wir weiter. Aber jetzt ist erstmal Essen und Trinken angesagt, immerhin hat Mama uns dafür extra etwas mitgegeben.“ Mit diesen Worten folgte Dratini mir zu meinem Turnbeutel und ich öffnete diesen. Holte die kleine Schale heraus, die uns meine Mutter mitgegeben hatte und schüttete ein wenig aus der Thermoskanne dort hinein. Ein kurzer Schluck verriet mir, um was es sich dabei handelte. „Ah, ein erfrischender Kamillentee. Der tut wirklich gut und schmeckt auch lecker, probiere es ruhig“, animierte ich Dratini zum Trinken, als diese neugierig den Tee beschnupperte. Dann öffnete ich die eine Lunchbox und stellte sie so hin, dass Dratini ihr Futter jederzeit erreichen konnte. Was sie auch sofort machte. Als hätte sie einen Bärenhunger, stürzte sie sich darauf und fing zu essen an. Ich begann ein wenig zu kichern. „Verschluck dich ja nicht, ok? Es ist mehr als genug für dich da“, sagte ich und öffnete meine eigene Lunchbox. Dort konnte ich mehrere verschiedene Dinge sehen: Gebratenes Lachsfilet mit einer sehr knusprigen Haut, so, wie ich es liebe. Gebratene Auberginen, ein kleiner Kloß aus Reis mit Pilzen drauf, gekochtes Gemüse und ein bisschen Obst. Ein jedes kleine Fach in meiner Bentobox enthielt etwas anderes, meine Mutter war offensichtlich darauf bedacht, dass ich eine ausgewogene und leckere Mahlzeit bekommen würde. Zwar konnte ich es kaum riechen, doch die ersten paar Happen, die ich mir nahm, schmecken ausgezeichnet. Glücklicherweise war bei der Bentobox ein kleines Geschirrset integriert, etwas, was ich sehr praktisch fand. „Lass es dir schmecken… Dratini“, sagte ich und wir aßen für ein paar Minuten vor uns hin. Schweigend betrachtete ich Dratini und nahm dann allen Mut zusammen, den ich hatte. „Dratini, Kleines? Kann ich dich kurz was fragen?“, sagte ich leise, aber trotzdem noch laut genug, dass mein Pokémon mich hören konnte. Fragend unterbrach sie ihre Mahlzeit und sah mich fragend an. „Ich habe mir die ganze Zeit etwas überlegt, auch, ohne dass meine Eltern mich permanent daran erinnert haben. Und zwar nämlich einen Spitznamen… hätte nicht gedacht, dass das so schwer ist. Aber immerhin ist es ein Name, den du für immer haben wirst und ich wollte dir nicht einfach irgendeinen Namen geben, sondern einen, der uns beiden gefällt. Und ich denke, mir ist da einer eingefallen.“ Kurz atmete ich ein und aus, Dratini machte keinen Mucks, sondern sah mich nur an. „Was denkst du, würde dir der Name Daeny gefallen?“ Dratini sah mich erst mit einem nichtssagenden, neutralen Blick an und für einen kurzen Moment rutsche mir das Herz in die Hose. Mochte sie den Namen nicht? Sollte ich mir lieber einen anderen überlegen? Doch da kam Dratini mit freudigen Rufen auf mich zugeschwebt und umarmte mich, so fest sie konnte, mit ihrem kleinen Körper. „In Ordnung, dann bist du ab heute Daeny, meine kleine Daeny“ sagte ich und erwiderte die Umarmung. Froh darüber, dass sie ihren Spitznamen angenommen hatte. Dann ließen wir uns los und Dratini schwebte zu ihrer Bentobox zurück. Doch sie schien kein Interesse daran zu haben, weiter zu futtern. Und auch mein Hunger war gestillt, auch wenn ich nur die Hälfte meines Mittagessens aufgegessen hatte. „Denke, wir können uns den Rest auch noch nachher gönnen“, sagte ich und verschloss die Boxen wieder. Nachdem ich alles, bis auf den Tee und die Schale, wieder verstaut hatte, sah ich Dratini mit einem Lächeln an. „Bereit, dass wir mit dem Training weitermachen? Das sah doch bisher ganz gut aus“, sagte ich und Daeny nickte mir fleißig zu. „Gut, dann lass uns keine Zeit verlieren. Wir müssen ja nicht mehr so lange machen, aber ein bisschen was sollten wir schon tun“, fügte ich noch hinzu, während ich das Holzstück holte. Und damit verbrachten wir auch noch den Rest des Nachmittags bis in den Abend hinein. Daeny und Ich, ein Duo, welches dabei war, immer weiter zusammenzuwachsen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)