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Animus captimente

von

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[09. Juni] "Ist heute mein Geburtstag?"

Munteres Vogelgezwitscher riss ihn aus einem unruhigen Schlaf. Sein erster und sehr missmutiger Gedanke galt ihrer defekten Klimaanlage, die sie seit Tagen dazu zwang, der sommerlichen Hitze dadurch zu entfliehen, nachts die Fenster geöffnet zu lassen. Er verkniff sich ein Stöhnen, das sich ohnehin nicht hätte entscheiden können, ob es frustriert oder schlichtweg erschöpft hätte klingen wollen, und öffnete die Augen. Sie brannten und sein Blick war verschwommen, als er für eine lange Weile lediglich an die weiße Schlafzimmerdecke starrte. Er fühlte sich, als wären seine Gedanken in zäher Gelatine gefangen und seine Gliedmaßen tonnenschwer. Wann hatte er das letzte Mal gut geschlafen? Wann war er aufgewacht, ohne sich ausgelaugt und am Ende seiner Kräfte zu fühlen? Vermutlich Ende Januar, nach ihrer nicht enden wollenden Neujahrstour – definitiv noch vor Uruhas Unfall. Uruha. Seine Lider waren geschwollen, als er sie senkte und versuchte, nicht in der Trauer zu ertrinken, die wie eine Sturmflut über ihn hereinzubrechen drohte.

 

Er drehte den Kopf zur Seite, fixierte Aoi, der mehr als eine Armeslänge von ihm entfernt beinahe am Rand des Bettes lag. Er hatte die Decke wie einen Kokon um sich geschlungen, wirkte so schmal und verletzlich, dass er es kaum ertrug, ihn anzusehen. Das Bett war zu groß für sie beide und egal wie oft sie versuchten, in der Mitte, in den Armen des jeweils anderen, Ruhe und Frieden zu finden, über Nacht drifteten sie immer auseinander. Als wären sie zwei Planeten, denen ihr Stern genommen worden war und die nun ohne seine Gravitation haltlos durchs Weltall taumelten, sich immer weiter voneinander entfernten.

 

Plötzlich brannten seine Augen verräterisch. Er wendete sich ab, schlug die Decke zurück und schob die Beine über die Bettkante. Langsam erhob er sich, atmete tief durch. Sein Kreislauf war in letzter Zeit nicht der beste und so musste er für einen Moment innehalten, bis der Schwindel und die schwarzen Punkte vor seinen Augen verschwanden. Rukis besorgte Sticheleien, er wäre nur noch ein halbes Hemd, waren mittlerweile nicht mehr von der Hand zu weisen. Er strich über seinen Oberkörper, folgte seinen Fingern mit Blicken, die keine Mühe hatten, die sich abzeichnenden Rippen nachzufahren. Er war immer so stolz auf sein Aussehen gewesen, hatte Stunden im Fitnessstudio verbracht, aber seit Uruha nicht mehr hier war, erschien ihm das Training so sinnlos. Sinnloser fast als essen, wobei ihn sein Körper daran wenigstens regelmäßig erinnerte.

 

Die Dusche war eine unspektakuläre Angelegenheit, war doch auch sie, genau wie ihr Bett, plötzlich viel zu groß. Er wollte nicht an die vielen Momente der Leidenschaft denken, die sie hier gemeinsam verbracht hatten, aber die Erinnerungen lauerten überall in dieser Wohnung. Nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen erschien ihm die Möglichkeit, sich etwas Eigenes zu suchen, um Abstand von allem zu gewinnen, sehr verlockend. Er hasste sich für diese Schwäche, allein für den Gedanken, Aoi im Stich zu lassen, aber manchmal …

Energisch schüttelte er den Kopf, drehte das warme Wasser ab und begann, sich grob abzutrocknen. Es wurde Zeit, dass er sich wieder unter Kontrolle brachte. Aoi brauchte ihn und Uruha brauchte ihn … besonders heute.

 

Mit noch feuchten Haaren, geputzten Zähnen und einem Handtuch um die Hüfte geschlungen betrat er erneut ihr Schlafzimmer. Leise zog er die Jalousien auf und kniete sich vors Bett.

„Aoi“, wisperte er, zupfte an der Bettdecke, bis er das Gesicht seines Liebsten freigelegt hatte und hauchte einen sanften Kuss auf die spröden Lippen. „Aufstehen.“

 

„Uru, lass mich …“, nuschelte Aoi kaum verständlich, aber leider hatte er genug gehört. Reitas Herz zog sich schmerzhaft zusammen und nur ein beherzter Biss auf seine Unterlippe verhinderte, dass ihm ein verzweifeltes Wimmern entkam. Sein Partner hatte sich murrend von ihm weggedreht und obwohl er wusste, dass er im Begriff war, absolut irrational zu reagieren, konnte er nicht verhindern, dass für einen Augenblick unendliche Wut in ihm hochstieg. Wie konnte ihm Aoi das antun? Wie konnte er ihn so verletzen, ohne es überhaupt zu bemerken? Er atmete tief durch, kniff die Augen zusammen und presste Zeige- und Mittelfinger gegen seine Nasenwurzel. Es war dumm, so zu empfinden, dumm und kindisch und dem anderen gegenüber nicht fair. Sichtbar straffte er die Schultern, öffnete die Augen wieder und richtete sich auf, nur um sich vorsichtig auf die Bettkante zu setzen.

 

„Hey, alter Mann, erheb deine müden Knochen.“ Er streichelte Aoi über den Rücken, fühlte das kurze Erschauern, bevor sich der Körper vor ihm wie ein übergroßer Kater zu rekeln begann.

 

„Charmant wie immer.“ Sein Gegenüber drehte sich herum, legte einen Arm hinter seinen Nacken und zog ihn tiefer, um mit noch immer geschlossenen Augen seine Lippen zu finden. „Konntest du schlafen?“ Reita lächelte dünn, während er sich fragte, wann sie von ‚Gut geschlafen?‘ zu ‚Konntest du schlafen?'gewechselt waren.

 

„Nicht gut, aber besser als die letzten Tage.“ Sein Liebster musterte ihn stumm, eine steile Sorgenfalte zwischen den Brauen, die er mit dem Daumen zu glätten versuchte. „Mir geht es gut.“

 

„Ach, Rei …“ Aois Hand legte sich auf seine Schulter, zog ihn nach unten, bis er ihn richtig umarmen konnte. Er konnte spüren, dass seinem Partner etwas auf der Seele lag, aber der andere war noch nie gut mit Worten gewesen und Reita wusste, dass er ihm Zeit geben musste. Ihn zu drängen, würde nur den gegenteiligen Effekt haben. So seufzte er nur leise, schmiegte sich stärker gegen den schlafwarmen Körper und stellte sich für einen herrlichen Augenblick vor, Uruha wäre nur schon aufgestanden, während Aoi und er noch ein wenig dösten. Irgendwann würde ihr Geliebter auf bemüht leisen Sohlen hereinschleichen, wobei es nicht auszuschließen war, dass er vor lauter Übereifer mit dem Zeh an der Ecke der Kommode oder des Bettes hängen bleiben würde. Er konnte sein jammerndes Fluchen beinahe hören und das unterdrückte Lachen spüren, das nicht nur in seiner Brust kitzeln würde. Verflucht, er würde alles geben, um noch einmal so einen kostbaren Augenblick erleben zu dürfen. Seine Augen waren feucht geworden und beschämt wollte er sich erheben und wegdrehen, Aoi ließ das allerdings nicht zu.

„Ist okay“, wisperte er, streichelte über seine Wange und als er den Blick hob, erkannte er den gleichen, verräterischen Glanz in den dunklen Augen, der sich auch in seinen widerspiegeln musste. „Versteck dich nicht vor mir, bitte.“

 

Er nickte, schloss die Augen erneut und fand Aois Lippen, die ihm in dieser Sekunde wie ein rettender Anker vorkamen.

 

~*~

 

„Was machst du denn da Schönes?“ Aoi betrat die Küche und brachte den vertrauten Duft seines Duschgels mit sich. Unbewusst atmete Reita tief ein, bevor er sich von der Arbeitsplatte abwendete, um ihn ansehen zu können.

 

„Du wirst es nicht glauben, aber ich versuche mich an einem Erdbeerkuchen. Vermutlich wird es auf Dessert im Glas hinauslaufen, aber niemand kann mir vorhalten, ich hätte es nicht versucht.“

 

„Wie kann es sein, dass ich nach all den Jahren noch immer Facetten an dir entdecke, die mich sprachlos machen?“

 

„Du weißt doch, dich sprachlos zu machen, ist der Sinn meines Lebens.“ Er lächelte breit, als sich Aois Arme um seine Mitte legten und warme Lippen über seinen Hals kosten.

 

„Dann versprich mir, dass du diesen Sinn nie verlieren wirst.“

 

Reita schluckte, nickte jedoch und drückte Aoi ganz fest an sich, die unsinnige Angst verdrängend, er könnte wie einer dieser einsamen Exoplaneten davonfliegen, würde er ihn loslassen.

Nur widerwillig löste er sich eine ganze Weile später, hielt jedoch in jeder Bewegung inne, als sich schmale Finger um den Ehering schlossen, den er seit Uruhas Unfall an einer Kette um den Hals trug. Die Finger seines besten Freundes waren durch die vielen Infusionen immer zu geschwollen, um ihn noch länger tragen zu können und dafür, ihn im Krankenhaus zu lassen, war das Kleinod viel zu kostbar. Also hatten sie sich für die pragmatischste Lösung entschieden – einer von ihnen würde ihn tragen, solang Uruha es nicht konnte.

 

„Ich bin froh, dass du auf ihn aufpasst.“ Die Morgensonne, die durch das Fenster in der Küche fiel, spiegelte sich im Weißgold, als Aoi den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, und blendete ihn für einen Augenblick.

 

„Ich bin noch immer der Meinung, dass du ihn tragen solltest.“

 

„Unsinn“, entgegnete sein Partner beinahe unwirsch, zog die Finger zurück und legte stattdessen die Hand genau über das Schmuckstück auf seine Brust. „Uruha hätte das genau so gewollt.“

 

Reita lächelte, schob seine Hand über die Aois und schaute ihm für einen langen Moment tief in die Augen.

„Da wir das jetzt geklärt hätten …“, murmelte er fast ein wenig beschämt, „lass mich mal weiterarbeiten.“ Er räusperte sich und trat einen Schritt zurück, nicht aber, ohne sich vorher noch einen Kuss zu stehlen. „Die Besuchszeit beginnt ab neun, ich will so früh wie möglich bei unserem Geburtstagskind sein.“

 

„Rei …“ Er hatte sich gerade wieder zur Arbeitsplatte drehen wollen, aber der seltsame Unterton in Aois Stimme ließ ihn innehalten.

 

„Was denn?“

 

„Mir ist bewusst, dass wir heute Uruha besuchen wollten, um seinen Geburtstag mit ihm zu verbringen, aber …“

 

„Was, aber? Kai hat uns extra deswegen den freien Tag herausgeschlagen. Ich weiß, dass Ruki ein Meeting mit seinem Designerteam für die neue Kollektion hat, aber selbst er will nachkommen. Wo liegt also das Problem?“

 

„Ich sag ja nicht, dass es ein Problem gibt. Es ist nur … die Aufnahmen sind wichtig und …“ Aoi hob beide Hände in einer Geste, die wohl beschwichtigend wirken sollte, die in Reitas ohnehin prekärer Verfassung jedoch genau die gegenteilige Wirkung hatte.

 

„Du willst mir nicht allen Ernstes sagen, dass irgendetwas wichtiger ist, als an Uruhas Geburtstag bei ihm zu sein?“ Aufgebracht hatte er Aois Rechtfertigungsversuche unterbrochen und funkelte ihn nun aus verengten Augen an.

 

„Reita, verdammt, hör mir doch mal zu!“ Er blinzelte, geschockt von Aois Ausbruch. Sein Partner wurde nie laut, nie, und doch stand er ihm nun gegenüber, schwer atmend und mit einer kaum unterdrückten Rage in den Augen. „Denkst du wirklich, ich tu das, um dir wehzutun? Oder weil es mir egal ist, dass Uruha heute Geburtstag hat? Hältst du wirklich so wenig von mir?“

 

„Aoi … ich … nein …“ Hilflos zuckte er mit den Schultern und war einen Schritt auf den anderen zugegangen, wusste gerade jedoch nicht, wie er mit ihm umgehen sollte. Seine Hand war auf halber Höhe eingefroren, hing zwischen ihnen wie ein Friedensangebot, bis er sie unverrichteter Dinge wieder sinken ließ.

 

„Ich muss heute noch mal ins Studio, weil wir gestern mit den Aufnahmen nicht fertig geworden sind. Ich hatte so sehr gehofft, dass es kein Problem für mich sein würde, aber es fällt mir so verflucht schwer, Uruhas Parts einzuspielen.“ Aoi rieb sich über die Augen, ließ geschlagen die Schultern hängen. „Die Deadline ist morgen, Reita, das weißt du so gut wie ich.“

 

„Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?“, wisperte er, öffnete die Arme und war unendlich erleichtert, als sich Aoi gegen ihn lehnte. Er küsste den schwarzen Schopf, vergrub das Gesicht an seiner Halsbeuge und versuchte, sein aufgewühltes Gemüt mit tiefen Atemzügen wieder zu beruhigen.

 

„Die neuen Lieder sind es nicht mal und es liegt auch nicht an seiner Technik, obwohl sie so anders ist als meine …“, redete Aoi weiter, als hätte er ihn nicht gehört. Das war es also, was ihm so schwer auf der Seele gelegen hatte. Reita schloss für einen tiefen Atemzug die Augen. Diese Momente, in denen ihm schmerzlich bewusst wurde, wie sehr Uruha in ihrer Mitte fehlte, waren unerträglich. Sein bester Freund hätte genau gewusst, was er tun oder sagen musste, um Aoi einen Teil seiner Last von den Schultern zu nehmen. Er hingegen fühlte sich in solchen Situationen nur schrecklich überfordert und wusste nie, was er tun konnte.

„Es ist so schwer, die Melodien spielen zu müssen, die nur die seinen sein sollten.“ Aois Finger bohrten sich in seine Schultern und er konnte das Zittern spüren, das den schmalen Körper durchfuhr. „Ich weiß, dass ich das schaffen muss, und ich werde es auch durchziehen, aber …. Reita, es tut einfach nur weh.“

 

„Lass mich dir helfen. Ich bin zwar kein Gitarrist, aber auch kein Anfänger. Ich kenne meine Saiten und die Begleitriffs hab ich in ein Paar Durchgängen drauf.“

 

Aoi hob den Kopf und sah ihm für einen langen Moment in die Augen, bevor er zögerlich verneinte.

„Versteh mich nicht falsch, ich weiß, dass du das draufhast, aber … Ich muss das für ihn tun, allein, das bin ich ihm schuldig.“

 

„Aber doch nicht nur du allein.“ Reitas Stirn legte sich in Falten, während er seinen Freund ungläubig musterte. „Wir alle wollen ihm mit dem Album Zeit verschaffen, da bist du doch nicht mehr oder weniger in der Pflicht.“ Reita löste sich ein kleines Stück, um Aoi in die Augen sehen zu können. „Wir hätten uns doch nach einem Support-Gitarristen umsehen sollen. Es ist einfach zu viel, was du dir zumutest.“

 

„Dafür ist es jetzt ohnehin zu spät. Außerdem … ich brauch das, so widersprüchlich sich das auch anhören mag.“

 

„Aber …“

 

Vehement schüttelte sein Partner den Kopf.

„Nimm mir das nicht, Reita.“ Das Flehen in Aois Stimme war so deutlich zu hören, dass er den verzweifelten Ausdruck in seinem Gesicht gar nicht hätte sehen müssen, um zu wissen, was gerade in ihm vorging. Und wieder wurde ihm nur zu deutlich vor Augen geführt, dass er ein Versager war, wenn es um soziale Interaktionen ging. Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, aber sein Halt um Aois Schultern war schwacher geworden.

„Es ist das Einzige, was ich aktiv für ihn tun kann, Rei. Vermutlich ist das egoistisch von mir, aber ich muss das tun, so schwer es auch ist.“

 

„Bist du dir sicher, dass du dich damit nicht für etwas bestrafst, wofür du nichts kannst?“, versuchte er halbherzig an Aois Vernunft zu appellieren, hatte aber auch damit keinen Erfolg.

 

„Kann ich nicht?“ Sein Liebster lachte trocken auf und nun war Reita sich sicher, Tränen in seinen Augen erkennen zu können. „Hätte ich mich an diesem Abend nicht mit ihm gestritten, wäre er nie auf die dumme Idee gekommen, bei schlechter Witterung mit dem Fahrrad wegzufahren.“

 

~*~

 

Natürlich gab es keinen Erdbeerkuchen, was hatte er sich auch vorgemacht? Er war kein Ass in der Küche, wie Kai eines war, und nach dem Gespräch mit Aoi war er froh gewesen, überhaupt noch irgendetwas Vorzeigbares aus den Zutaten herauszubekommen. Die kleinen Gläser, in die er seine verunglückte Kreation gefüllt hatte, klirrten, als er den Plastikkorb von der rechten in die linke Hand nahm, um die Klinke des Krankenzimmers herunterdrücken zu können. Er atmete tief durch, zauberte von irgendwo ein Lächeln auf seine Lippen und betrat den Raum. Jedes Mal erwartete er steriles Weiß und war überrascht von den Farbklecksen, die sich hier und da verteilten. Über Uruhas weißes Bettzeug schlängelten sich grüne, lianenartige Muster, die Vorhänge waren sonnengelb und irgendwer hatte einen Strauß bunter Wiesenblumen geschickt.

 

„Hast du einen Verehrer, von dem ich nichts weiß?“, erkundigte er sich scherzend, stellte seine Mitbringsel auf den kleinen Tisch in der Ecke und ging an das Krankenbett heran. Sanft streichelte er über die dunkelblonden Haare mit dem bereits mehrere Zentimeter breiten schwarzen Ansatz. „Ach, Ducky, du brauchst wirklich einen Friseur.“ Sein Geliebter hätte beim Zustand seiner Haare die Hände über den Kopf geschlagen, hätte er sich so sehen können. Aber genau da lag das Problem. Uruha sah nichts, obwohl seine Augen geöffnet waren. Er bekam nichts um sich herum mit, obwohl sich Reita ab und an einbildete, in einem unbewussten Zucken oder Naserümpfen eine Antwort lesen zu können. Aber nein, das war alles nur Wunschdenken. Sein bester Freund war in sich selbst gefangen und es gab nichts, was er für ihn tun konnte. Er kniff die Augen zusammen, ballte die Rechte zur Faust und krümmte sich, als erneut grenzenlose Wut in ihm aufstieg. Er fühlte sich so verflucht hilflos.

 

Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis er wieder klar denken konnte. Aber irgendwann richtete er sich auf, straffte die Schultern und erkannte verwundert die vereinzelten, dunklen Flecken, die seine Tränen auf der Bettdecke hinterlassen hatten. Er hatte geweint? Unwirsch rieb er sich über die feuchten Wangen und räusperte sich.

 

„Sorry, kommt nicht wieder vor.“ Er verlieh seiner Stimme einen bemüht fröhlichen Unterton, als er sich für einen Moment von Uruha wegdrehte und die Blumen näher inspizierte. „Dann wollen wir doch mal sehen, wer dir diese Schönheiten hier geschickt hat. Ich würde dir ja beschreiben, welche Blumen es genau sind, aber dafür bräuchte ich erst einmal ein Lexikon.“ Er hielt inne, das dünne Kärtchen noch ungelesen in der Hand, auf dem vermutlich der Absender stand. „Gibt es so was überhaupt? Ein Blumen-Lexikon, mein ich? Wenn es so was gibt, hast du es bestimmt zu Hause. Ich schau heute Abend gleich mal nach, dann kann ich sie dir morgen beschreiben, was hältst du davon? Aber auf jeden Fall sind die Dinger echt schön. Rot und gelb und so ein verbranntes Orange, was mich irgendwie an unsere ersten Färbeversuche erinnert. Weißt du noch, als du dir in den Kopf gesetzt hast, dass mir blond unheimlich gut stehen würde? Ich hatte monatelang eine kahle Stelle am Hinterkopf.“ Er lachte, bildete sich fast ein, Uruhas verschmitztes Kichern hören zu können, aber als er den Blick auf seinen Freund richtete, hatte sich nichts an ihm verändert. Uruha blinzelte, nur ein Reflex, wie ihm die Ärzte ein ums andere Mal bestätigt hatten, blinzelte erneut und noch mal …

 

„Also …“ versuchte er weiterzureden, aber seine Stimme war so dünn und brüchig geworden, dass es ihn zwei Anläufe kostete. „Die Blumen sind von deiner Ma. Jetzt wo ich den Absender lese, fällt mir auch wieder ein, dass sie mir am Wochenende gesagt hat, dass sie dir welche schicken will.“ Er lachte gezwungen und schüttelte den Kopf. „Ich sag es dir, mein Hirn ist momentan wirklich ein Sieb. Sie wollen dich am Sonntag besuchen kommen, freust du dich schon?“ Er lächelte schief, wussten sie doch beide, dass Uruha mit seinen Eltern in der Vergangenheit nicht immer so gut ausgekommen war. Aber eines musste er ihnen lassen, seit ihr Sohn im Koma lag, kümmerten sie sich rührend um ihn und erkundigten sich mehrmals die Woche nach seinem Befinden, weil sie nicht selbst bei ihm sein konnten. Mittlerweile war auch das leidige Thema Uruhas unkonventioneller Partnerwahl komplett in den Hintergrund gerückt und wenn sein Unfall auch nur ein einziges Gutes hatte, dann das, dass Aoi und er nun zur Familie gehörten.

 

„Ich hab dir übrigens auch etwas mitgebracht“, sprach er weiter, nachdem er den Weg aus seinen eigenen Gedanken wiedergefunden hatte. „Es hätte ein Erdbeerkuchen werden sollen, aber na ja, du kennst mich und meine nicht vorhandenen Backkünste ja. Ich bin sowieso der Meinung, dass sich Erdbeerdessert im Glas viel nobler anhört, findest du nicht auch? Ich geh mal zum Pflegepersonal, besteche sie mit etwas Kuchen, und dann komm ich mit deinem Essen wieder, okay?“ Er küsste Uruhas spröde Lippen, griff nach dem kleinen Tiegel mit Balsam, der auf dem Nachttisch stand, und verteilte eine dünne Schicht auf ihnen. „Wir wollen ja nicht, dass dein Schmollmund verschrumpelt, nicht?“ Er grinste, wartete fast schon darauf, dass sich Uruhas Brauen empört zusammenziehen würden, aber das Gesicht vor ihm blieb glatt und ausdruckslos. Sein Lächeln war traurig, als er ihm noch einen Kuss auf die Stirn drückte und das Zimmer verließ. „Ich komm gleich wieder.“

 

„Ah, Reita-kun, bist du heute ganz allein hier?“ Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, sprach ihn eine vertraute Stimme von der Seite her an.

 

„Schwester Karen, guten Morgen. Ja, Aoi und meine Kollegen müssen noch was erledigen, sie kommen aber später noch vorbei.“

 

„Oh, wie schön. Da wird sich das Geburtstagskind freuen.“ Sie setzten sich in Bewegung, Schwester Karen geschäftig auf das Klemmbrett in ihrer Hand sehend, während ihr Reita samt klapperndem Korb folgte. „Was trägst du hier denn Interessantes mit dir herum?“

 

„Sie glauben doch nicht wirklich, dass Sie und Ihre Kollegen leer ausgehen, wenn Uruha Geburtstag hat?“

 

„Oh.“ Die Augen der älteren Krankenschwester strahlten, während sie versuchte, einen Blick in den Korb zu erhaschen. „Sehe ich da Erdbeeren?“ Reita nickte und für einen Augenblick war ihre Freude ansteckend, als sich das erste, ehrliche Lächeln des Tages auf seine Lippen legte.

 

Im Schwesternzimmer angekommen stellte er seine Mitbringsel auf dem runden Besprechungstisch ab und wurde sogleich von zwei ihm mittlerweile nur allzu bekannten Pflegern umringt, die neugierig in den Korb spähten.

 

„So, wie ihr reagiert, möchte man meinen, die geben euch hier nichts zu essen.“

 

Einer mit Hornbrille, der seine schulterlangen Haare in einem strengen Pferdeschwanz trug und sich vor Wochen als Takeshi, nicht der Showmaster, vorgestellt hatte, blickte auf und ihm mit skeptisch hochgezogener Augenbraue ins Gesicht.

 

„Wenn du dich fast nur von Krankenhausessen ernähren müsstest, würdest du genauso gucken, glaub mir.“

 

„Oh, du armer Mensch.“

 

„Ich weiß.“

 

Sein Kollege, ein Schmächtiger mit kurz geschorenen Haaren, hatte derweilen kleine Löffel organisiert und hielt eine Tasse fragend hoch.

„Willst du Kaffee?“

 

„Unbedingt. Ich würde nur gern wieder zu Uruha zurück.“

 

„Kein Problem, bringst die Tasse einfach vorbei, bevor du gehst.“

 

„Klar.“ Er lächelte und war den Schwestern und Pflegern hier nicht zum ersten Mal dankbar dafür, dass sie sich nicht nur so gut um Uruha kümmerten, sondern auch ihn mehr oder weniger in ihre Gemeinschaft aufgenommen hatten.

 

Schwester Karen setzte sich seufzend und streckte die Beine aus, während sie über die Schulter zu dem Schmächtigen schaute.

 

„Umino? Schau mal, ob wir noch Sondennahrung mit Erdbeergeschmack dahaben.“ Zu ihm gerichtet meinte sie: „Dann hat dein Freund wenigstens annähernd was von seinem Geburtstagskuchen.“

 

Reita nickte, als ihm Umino das Fläschchen Sondennahrung und eine Tasse dampfenden Kaffees in die Hände drückte und hoffte, dass die anderen nicht sehen konnten, wie gerührt er gerade war.

„Danke“, setzte er mit rauer Stimme nach. „Dann lasst es euch mal schmecken.“

 

„Werden wir.“ Eine Hand klopfte ihm auf die Schulter und Takeshis grinsendes Gesicht schob sich in sein Blickfeld. „Aber ich komm schnell noch mit und serviere unserem Ehrengast den ersten Gang, okay?“

 

~*~

 

Wie geplant hatte er den ganzen Tag im Krankenhaus verbracht. Er hatte Takeshi geholfen, Uruha zu waschen, hatte ihm die Haare gekämmt und dafür gesorgt, dass sich sein Geliebter hoffentlich etwas wohler in seiner Haut fühlte. Er hatte ihm vorgelesen, ihm von ihren Plänen die Band betreffend erzählt und sich mit ihm unterhalten, obwohl er natürlich nie eine Reaktion erhielt. In der Anfangszeit hatte er sich unglaublich gehemmt gefühlt, waren seine Versuche, ganz normal mit Uruha zu reden, eine wahre Kraftanstrengung gewesen. Mittlerweile jedoch störte er sich kaum noch daran, nie eine Antwort auf seine Fragen zu erhalten. Wie an so vieles, das der Unfall verändert hatte, hatte er sich auch daran gewöhnt. Manchmal fragte er sich allerdings, ob das eine so gute Entwicklung war. Zeigte das Fehlen von Unwohlsein nicht, dass er sich mit der Situation arrangiert hatte? Hatte er unterbewusst womöglich schon die Hoffnung aufgegeben, dass sein bester Freund jemals wieder aufwachen würde?

Er schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch, während seine Finger über die Saiten von Uruhas schwarzer Akustikgitarre huschten. Auch heute hatte er sie mitgebracht, wie er es immer tat, wenn er ihn besuchte, und entlockte ihr eine ruhige, fast traumwandlerische Melodie. Er überlegte nicht, was er spielte, sein Blick ging nachdenklich aus dem Fenster, wo die Sonne langsam hinter den hohen Mauern des Krankenhauses versank. Trotz der späten Stunde glaubte er, die Luft noch immer flirren zu sehen, aber vielleicht waren es auch nur Insekten, die die anhaltende Wärme genossen. Leises Summen begleitete sein Spiel – ein Lied ohne Worte. Plötzlich vibrierte sein Handy in seiner Hosentasche und ließ ihn abrupt innehalten.

„Ruki hat geschrieben“, durchbrach er reflexartig die eingetretene Stille im Raum und öffnete die Nachricht, nachdem er die Gitarre von seinem Schoß genommen hatte.

 

[19:32]

»Meeting beendet. Bin total am Ende. Migräne. Besuche Uruha am WE. Sorry. R.«

 

Es gab eine Zeit, in der er ausreichend Kraft gehabt hätte, sich nun Sorgen um ihren Sänger zu machen. Die Regelmäßigkeit von Rukis Kopfschmerzen hatte in den letzten Monaten im gleichen Maße zugenommen, wie sich die Sorgenfalten stetig tiefer in seine Haut gruben. Reita wusste, wie sensibel sein Kollege war, auch wenn er immer alles daran setzte, sich und die Welt vom Gegenteil zu überzeugen. Dennoch entlockte ihm seine Mitteilung gerade nur ein resigniertes Seufzen.

 

[19:36]

»Schon gut, ruh dich aus.«

 

Während er die Nachricht absendete, versuchte er diese nagende Empfindung, die sich ganz nach Verrat anfühlte, herunterzuschlucken. Uruha war es schließlich einerlei, ob er heute oder am Wochenende von Ruki Besuch bekam und nur das zählte. Er hatte also kein Recht, sich nun im Stich gelassen zu fühlen.

 

„Ruki kommt erst am Wochenende“, begann er mit bemüht fröhlicher Stimme seinen laufenden Kommentar, den er sich angewöhnt hatte, immer, wenn er bei Uruha war. Wie ein Moderator oder eine Schallplatte mit Sprung. Immer redend, immer bemüht aufgeweckt, nur um nicht heulend an seiner Seite zu sitzen und ihn anzuflehen, endlich wieder aufzuwachen. „Sei ihm nicht böse, er hatte den ganzen Tag mit seinem Designerteam zu tun und jetzt plagen ihn Kopfschmerzen.“ Reita erhob sich, stellte die Gitarre vorsichtig beiseite und beugte sich über Uruha, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Er fängt schon an wie du, mit diesen ekelhaften Migräneanfällen. Sobald du wieder wach bist, musst du ihm ein paar Tipps geben, mh?“

Ohne es zu wollen, wurden seine Augen erneut feucht und er musste sich abwenden, um sich zu sammeln. Verdammt, warum kam Aoi nicht? Er hatte es doch versprochen.

 

Sein Blick fiel auf ein kleines, rotes Buch, das neben Fläschchen und Tiegeln mit verschiedenen Tropfen und Salben auf dem Nachttisch lag. Eines der vielen Notizbücher seines Freundes. Er hob es hoch, strich über den Ledereinband, dessen Ecken bereits deutliche Abnutzungsspuren aufwiesen. Es gab so viele Gelegenheiten, an die er sich erinnerte, zu denen er Uruha mit diesem oder einem anderen Büchlein vorgefunden hatte. Sie waren ihm immer wie ein Schatz vorgekommen, ein Tor in die Gedankenwelt seines besten Freundes. Aoi hatte einmal scherzhaft gemeint, dass Uruha ohne diese Bücher nicht überleben konnte und so makaber es auch klingen mochte, vielleicht hatte er recht. Selbst in seiner kopflosen Wut, im Eisregen auf dem Fahrrad unterwegs, hatte er eines von ihnen dabei gehabt. Dieses hier, und Reita hatte darauf bestanden, dass es bei ihm bleiben musste. Denn was wäre, würde sich Aois flapsige Vermutung als Wahrheit herausstellen? Himmel, wenn sein Geliebter seine Gedanken nun hören könnte, würde er nur wieder den Kopf über seine abergläubischen Anwandlungen schütteln. Durch die Nase schnaubend legte er das Buch vorsichtig zurück.

 

„Tut mir leid, ich war in Gedanken“, murmelte er und drehte sich wieder zu Uruha um. „Ist bestimmt nicht angenehm für dich, wenn du weißt, dass jemand bei dir ist, aber nicht mit dir spricht. Kommt nicht wieder vor.“ Er zeichnete Uruhas rechte Braue mit dem Daumen nach und wischte vorsichtig ein Sandkörnchen aus seinem Augenwinkel. „Pfleger Takeshi meinte, ich kann dir noch deine Augentropfen geben, bevor ich gehe. Denkst du, wir zwei kriegen das hin?“ Er lächelte auf Uruha herab, der blinzelte und weiterhin ins Leere starrte. Was er wohl sehen mochte? Sah er überhaupt etwas oder befand er sich in der vollkommenen Schwärze eines Traums? „Hoffentlich helfen die Tropfen“, redete er vor sich hin und streichelte über die strohigen Haare. Uruha war immer so stolz darauf gewesen, dass sein Haar das viele Färben so gut mitmachte, dass es seidig und glänzend blieb, aber davon war mittlerweile nichts mehr zu spüren. „Ich hab wirklich Sorge, dass deine Augen zu trocken werden, gerade wo doch die ganze Zeit wieder Pollen in der Luft sind. Aber Takeshi-kun meint, sie haben hier gute Erfahrungen damit gemacht.“ Ohne den Blick von seinem Freund zu nehmen, tastete er nach dem weißen Plastikfläschchen, stieß dabei jedoch das rote Buch vom Nachttisch, das mit einem dumpfen Laut zu Boden fiel.

 „Mist“, maulte er und bückte sich, um es wieder aufzuheben. Als sein Blick jedoch auf die aufgeschlagenen Seiten fiel, hielt er wie erstarrt inne.

 

HELFT MIR!

 

Er blinzelte, ungläubig auf die beiden Worte starrend, die mit roter Farbe grob über beide Seiten geschrieben waren.

„Was zum …“ Mit zitternden Fingern griff er nach dem Buch, richtete sich wieder auf und hob wie in Zeitlupe den Kopf. Mit geweiteten Augen starrte er auf die reglose Gestalt im Bett, die nichts weiter tat als zu atmen, zu blinzeln und hin und wieder die Nase zu rümpfen. In seinen Ohren rauschte es, während er sich nicht traute, den Gedanken zuzulassen, der wie mit langen, spitzen Fingernägeln über die Innenwände seines Schädels zu kratzen schien.

 

‚Uruha hat das geschrieben!‘

 

Er schluckte, seine Knie zitterten so stark, dass er sich an der Ecke des Nachttischs festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Wie betäubt ließ er sich auf die Bettkante sinken, den Blick nun starr auf die beiden Worte gerichtet, die sich wie rote Mahnmale in seine Retina brannten.

 

HELFT MIR!

 

Wie war das möglich?

Seit wann standen diese Worte hier?

Wieso?

 

Als sich die Tür öffnete, zuckte er so heftig zusammen, dass ihm das Buch aus den Fingern rutschte und unter das Bett fiel. Mit geweiteten Augen sah er auf, starrte den Pfleger an, als hätte er ihn noch nie gesehen.

 

„Tut mir leid, dass ich euch stören muss, aber die Besuchszeit ist bald vorbei.“ Takeshi lächelte ihn an, bis sich Verwirrung über sein Gesicht legte und er ihn prüfend zu mustern begann. „Reita-kun, geht es dir nicht gut? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

 

~*~

 

„Aber wenn ich es dir doch sage, es stand hier!“ Reita blätterte hektisch in dem roten Buch, hatte mittlerweile jede Seite bestimmt schon vier Mal angesehen, doch von der Nachricht war keine Spur mehr. Bis zur Hälfte waren die Seiten mit Uruhas kleiner, präziser Handschrift gefüllt, der Rest war weiß und eindeutig unbeschrieben. Kein Rückstand roter Farbe, kein Zeichen eines Hilferufs.

 

„Hör auf, Reita.“ Aois Hände lagen warm auf seinen Schultern und er drückte leicht zu, ließ ihn seine Verspannungen nur zu deutlich spüren. „Du bist übermüdet und … Das ist für uns alle nicht leicht. Komm schon, Rei, dort drin steht nichts außer Uruhas Gedanken.“

 

Er ließ das Buch sinken, legte es mit tauben Fingern auf den Wohnzimmertisch und sackte im Sessel in sich zusammen. Tränen sammelten sich in seinen Augen, tropften auf seine ineinander verschränkten Finger, doch er hatte keine Kraft mehr, sie zurückzuhalten.

 

„Ich weiß, was ich gesehen hab.“

 

„Ach, Rei …“

 

Aoi ging vor ihm in die Hocke, streichelte mit beiden Händen über seine Oberschenkel. „Das stelle ich doch auch nicht infrage. Aber vielleicht haben dir deine Augen nur einen Streich gespielt.“

Reitas Blick hob sich, fixierte sich auf die dunklen Augen seines Liebsten, die ihm besorgt entgegensahen. „Du kannst seit Wochen nicht mehr richtig schlafen, bist vollkommen ausgelaugt, da wäre das doch kein …“

 

„Was ist, wenn er unsere Hilfe braucht?“, unterbrach er ihn, wollte seine Erklärungen nicht hören, die nur versuchten, alles in ein nachvollziehbares Licht zu rücken. Aber an dem, was er erlebt hatte, war nichts Nachvollziehbares, nichts, was man mit Logik rationalisieren konnte. „Ich weiß, was ich gesehen habe“, wiederholte er, „das war Uruhas Handschrift, da bin ich mir sicher.“ Er nahm das Buch an sich, stand auf und ging an Aoi vorbei zu ihrem Bücherregal. Uruhas Tagebücher standen für alle sichtbar in der untersten Reihe. Ihr Geliebter hatte stets darauf vertraut, dass sie seine Privatsphäre wahren würden, und war nicht einmal auf den Gedanken gekommen, sie vor ihnen zu verstecken.

 

„Was tust du?“

 

Reita war vor dem Bücherregal in die Hocke gegangen und balancierte nun einen Stapel der dünnen Bände in beiden Händen.

 

„Weißt du, ob das alle sind?“

 

„Ich frag noch einmal, was machst du?“

 

„Ich bringe ihm seine Gedanken wieder.“ Er eilte in die Küche, nahm einen Jutebeutel aus dem Stauraum unter der Spüle und steckte die Bücher hinein. Sein Atem ging stoßweise und das Blut rauschte wie tosende Wellen in seinen Ohren. Er konnte nicht beschreiben, was er fühlte, wo diese Energie plötzlich herkam, die ihn sich lebendiger als in all den Monaten zuvor fühlen ließ. Er wusste nicht, was er vorhatte, warum es sich anfühlte, als würden ihm die Sekunden zwischen den Fingern hindurchrinnen. Zurück im Flur wollte er gerade in seine Jacke schlüpfen, nachdem er sich die Schuhe angezogen hatte, da ließ ihn die Stimme seines Partners in jeder Bewegung innehalten.

 

„Reita, ich versteh nicht, was in dich gefahren ist. Was machst du?“

 

„Ich hätte sein Tagebuch nicht nehmen sollen, ich muss es ihm zurückbringen … und die anderen auch.“

 

„Was? Wieso? Es ist mitten in der Nacht.“

 

„Weil er es braucht, darum.“ Reita fühlte sich wie im Wahn, wie fremdgesteuert und unerklärliche Panik stieg in ihm auf. Er hätte das Buch niemals mit hierher nehmen dürfen. Niemals!

 

„Jetzt hör aber auf, was soll denn der Unsinn?“ Aois Finger legten sich einem Schraubstock gleich um sein Handgelenk und hinderten ihn am Gehen. „Reita, komm schon“, versuchte er es mit sanftem Nachdruck in der Stimme und wollte ihn an sich ziehen, Reita stemmte sich jedoch dagegen. „Wir fahren morgen früh gleich zu ihm und bringen ihm die Bücher, in Ordnung?“

 

„Nein, nichts ist in Ordnung!“ Reita konnte nicht mehr an sich halten. Er riss sich los und funkelte Aoi wütend an. „Wenn du mir nicht glauben willst, schön, dann tu das nicht, aber schreib mir nicht vor, was ich zu tun und zu lassen habe! Ich fahr jetzt ins Krankenhaus und geb ihm zurück, was er braucht, mir egal, ob du mitkommst oder nicht.“

 

„Reita, das ist doch …“

 

„Was? Bockig? Kindisch? Was, Aoi?“ Er fuhr sich durch die Haare, während er versuchte, durch den Kloß in seinem Hals ausreichend Luft zu bekommen. „Ich sag dir, was das ist – Hoffnung. Ich weiß, was ich gesehen habe und egal, ob du mir glaubst oder nicht, ich werde alles tun, um Uruha zu helfen.“

 

„Aber was willst du denn tun? Was nutzt es dir denn, jetzt noch mal ins Krankenhaus zu fahren? Sie werden dich nicht zu ihm lassen, die Besuchszeit ist längst vorbei.“ Aoi schüttelte verständnislos den Kopf. „Reita, denkst du wirklich, er wacht plötzlich auf, nur weil du irgendwas gesehen hast und ihm seine Tagebücher bringst?“

 

„Vielleicht? Vielleicht auch nicht, aber wenigstens tue ich was. Anders als du!“ Reitas Augen weiteten sich im Schock, während er dabei zusehen konnte, wie Aois Gesicht sämtliche Farbe verlor. „Aoi, das … das hab ich nicht gewollt.“

 

„Schon gut.“

 

„Ich …“ Hilflos zuckte er mit den Schultern, während er unbewusst das kleine, rote Buch, das er noch immer wie einen Rettungsanker umklammert hielt, in die Innentasche seiner Lederjacke steckte. „Ich hab nur den ganzen Tag auf dich gewartet und …“

 

„Du weißt, dass ich kommen wollte, dass ich es getan hätte, wären wir früher fertig geworden. Ich hab es versucht, Reita.“ Aoi biss sich auf die Unterlippe und ein verräterischer Glanz stieg in seine Augen. „Es war hart heute …“

 

„Ich weiß … das war es auch für mich. Ich hätte dich gebraucht …“

 

„Ja.“

 

Wie zwei Marionetten, deren Schnüre gekappt worden waren, standen sie sich plötzlich kraftlos im Flur ihrer Wohnung gegenüber. Ihr Schmerz schien sich in den Augen des jeweils anderen widerzuspiegeln, bis er sich in einer endlosen Zahl von Reflexionen verlor, unwichtig wurde. Alles war so unwichtig.

 

„Aoi.“ Er streckte eine Hand aus, fühlte sich, als müsste diese simple Geste eine unvorstellbare Distanz überwinden. „Bitte, komm mit mir.“ Eine unerträgliche Ewigkeit lang legte sich Stille über sie, bis Aoi die Schultern straffte und nickte.

 

„Er hat noch eine Schachtel mit alten Tagebüchern im Schlafzimmer unterm Bett. Ich hol sie schnell und dann fahren wir zu ihm.“



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