Eine etwas andere Geschichte - Die Klammer muss weg! von izu- ================================================================================ Kapitel 1: Warum ich es immer aufgeschoben habe - Der erste Termin (02.02.2021) ------------------------------------------------------------------------------- Ich bin ein sensibler Mensch. Sensibler, als mir recht ist und als ich es mir eigentlich zugestehen möchte. Peinliche oder unangenehme Situationen überspiele ich gerne mit Humor. So war es auch immer mit meinen Zähnen. Immerhin sieht es ja lustig aus, wenn man die Prothese rausnimmt und Jemanden mit einer riesigen Zahnlücke angrinst. Aber insgeheim hat es mich auch immer gestört, etwas „Loses“ wie ein Gebiss zu haben. Es ist eine Sache, die immer unangenehm für mich war. Wie erzählt man zum Beispiel seinen Schwarm/seinen festen Freund, dass einem die Frontzähne fehlen? Denn im Alter von 14 musste ich das regelmäßig tun. Und wie Jugendliche eben sind, traf ich oft auf Abneigung und Beleidigungen und selten auf Verständnis. Auf Bildern sehe ich immer sofort, dass ich eine Zahnprothese trage. Viele meiner Freunde sagen, dass ihnen das nie aufgefallen ist. Ich weiß aber, wo ich schauen muss. Denn neben den vier Frontzähnen die mir fehlen sieht man nach zwei weiteren festen Zähnen (genau gesagt am jeweils 1. Prämolar) einen Draht, der den festen Zahn umschließt und somit die Dritten oben halten. Ich will nicht sagen, dass es schlecht aussieht. Die Prothese sieht sogar sehr gut aus! Doch stellt euch einfach mal vor, wie ich und mein Verlobter uns abends die Zähne putzen. Ja, ihr dürft bei der Vorstellung ruhig lachen, wie wir nebeneinander stehen er sich die Zähne putzt, während ich meine Prothese mit der Zahnbürste bearbeite. Es ist für mich (und auch für ihn) normal geworden. Tatsächlich hatte ich sogar schon einmal die Situation, dass ich meine Prothese im See raus gespuckt und verloren hatte. Mein Verlobter M., hat sie eine geschlagene Stunde gesucht, nachdem er sich bei unseren Liegepartnern eine Taucherbrille ausgeliehen hatte. Er ging auf die wildfremden Leute zu und sagte: „Hi, ich bin M. Entschuldigt die Störung, aber meine Freundin hat ihre Zähne im See ausgespuckt. Kann ich mir mal bitte eure Taucherbrille ausleihen, um sie zu suchen?“ Toll, oder? Stellt euch bitte einmal bildlich vor, wie ihr einen schönen Tag am See verbringt und irgend so ein Typ mit diesen Worten auf euch zu kommt. Also im Normalfall würde ich mich veräppelt fühlen. Mir war es nicht nur peinlich, sondern auch wirklich beschämend. Immerhin stand mir in diesem Moment wortwörtlich ins Gesicht geschrieben, dass ich nicht wie andere Menschen bin. Denn wenn die Zähne erst einmal raus sind, gibt es eine unschöne Delle in der Lippe, die ganz offensichtlich aufzeigt, dass dort etwas fehlt. Wenn man währenddessen auch noch am heulen ist, weil die Zähne futsch sind, sieht man nicht nur die Delle sondern auch das nackte Zahnfleisch. Nicht nur unschön, sondern auch peinlich. Auch vor den Freunden, mit denen wir eigentlich einen schönen Tag am See verbringen wollten und stattdessen eine Tour zum Zahnarzt fuhren, da wir nur mit einem Auto unterwegs waren. Sie waren wirklich sehr verständnisvoll, haben mich getröstet und gesagt, dass das nicht schlimm sei. Aber trotzdem: Man fühlt sich einfach fremd. Dazu kam, dass ich meinen Chef im Aldi anrief, um ihm zu sagen, dass ich am nächsten Morgen (ein Samstag) nicht zur Arbeit kommen könnte, da ich meine Prothese im See verloren hatte. Die große Freude könnt ihr euch sicher vorstellen!   Daher kommt die große Frage auf: Warum lasse ich mir kein Zahnimplantat machen? Eine gute Frage. Immerhin ist diese Prothese, die ich auch heute immer noch trage, ein Provisorium. Wie der Name schon sagt eine Übergangslösung, die ich eigentlich nur im Alter zwischen vierzehn bis ungefähr zwanzig tragen sollte. Also bis mein Kiefer ausgewachsen ist und man sich dann etwas Festem widmen kann. Warum also habe ich das vor sechs Jahren nicht gemacht?   Nun, zum einen ist das auch eine psychische Frage. Keiner von uns mag Zahnärzte, man sucht sie am liebsten nur im Notfall auf. Für mich war das nie ein Problem, ich habe in meinen jungen Jahren schon gefühlt hundert Zahnärzte, Kieferorthopäden und Kieferchirurgen kennen gelernt. Es hat mich nie gestört, mich auf den Zahnarztstuhl zu setzen, solange es nur um eine Karies ging. Doch ich musste feststellen, dass ich mit den Jahren eine gewisse Angst entwickelt habe, sobald es um die Prothese ging, oder eher gesagt, um den Schritt nach der Prothese. Woher das kommt? - Keine Ahnung. Doch immer wenn meine Eltern, meine Geschwister, mein Verlobter oder jemand anderes mich darauf ansprach, was denn nun mit dem festen Zahnersatz sei, habe ich es geschickt auf ein anderes Thema abgelenkt. Komisch eigentlich. Denn das wäre ja der logische Schritt, nachdem man etwas Loses hat und nun etwas Festes haben möchte.   Als nächstes kommt natürlich die Kostenfrage. Denn sind wir mal ehrlich (und das ist auch kein Geheimnis): Zähne sind Schweineteuer!! Bitte lasst mich euch eines ans Herz legen: Sucht euch eine gute Zahnzusatzversicherung! Egal wie gut oder schlecht eure Zähne sind. Egal, wie alt oder Jung ihr seid. Das rettet euer Sparschwein! Es kann immer was mit euren Zähnen passieren, was am Ende wirklich, wirklich, wirklich teuer ist. Und nein, ich habe keine Zahnzusatzversicherung. Warum? Nennt mir eine Versicherung, die mir bereitwillig Implantate bezahlen will. Genau.- Keine. Ja, ich höre euch schon schreien: „Schau doch mal in der Werbung – die haben da ein Angebot!“ Ja, haben sie. Aber nicht für Zähne die nicht vorhanden sind. Man müsste sich für viele Jahre bei dieser Versicherung verpflichten und würde extrem hohe Beiträge zahlen, was am Ende des Spiels teurer ist, als es selbst zu bezahlen. Gut, da wir das nun geklärt haben, erzähle ich weiter. ;-) Ich würde mich als Normalverdiener beschreiben. Mit meinem Gehalt und dem meines Verlobten, können wir uns zusammen schon schöne Sachen leisten. Unser Hobby sind Autos, genauer gesagt Japaner. M Hat sich vor zwei Jahren einen wirklich schönen Nissan gegönnt, ich besitze seit vielen Jahren einen alten Honda. Das geht natürlich ins Geld. Wir haben uns mit Freunden zusammen eine Halle angemietet, eine Hebebühne gekauft, hier und da ein paar Tuningteile. An sparen für die Zähne habe ich generell nicht gedacht. Oder genauer gesagt: Ich hatte daran gedacht, habe es aber nicht getan. Ich bin ja auch keine Oma! Ich hatte mich bis zum Seevorfall mit einer losen Prothese arrangiert, auch wenn ich meinen Eltern bei der Frage Zahnersatz immer sagte: „Ja, das müssen wir bald mal machen.“, was so viel heißt wie: „Ja, vielleicht wenn ich im Lotto gewonnen habe.“ Nennt mich verrückt, aber generell ist es für mich auch keine schöne Vorstellung, wie mir Dr J das Zahnfleisch vom Oberkiefer abzieht, mir in den Knochen reinbohrt und dann ein Gewinde da rein setzt, um schließlich dort Zähne reinzuschrauben. Da läuft's mir kalt den Rücken runter. Dennoch kam in mir immer weiter der Wunsch auf, etwas Festes zu haben. Die Prothese stört mich immer mehr. Und auch wenn ich über mich und meine Prothese lachen kann, bin ich davon überzeugt, dass Implantate da doch die bessere Lösung sind, so sehr ich auch das lustige Zähneputzen mit meinem Verlobten schätze.   Also habe ich einen Termin bei meinen Zahnarzt Dr J gemacht. Ein sogenanntes Einleitungs- und Beratungsgespräch. Und das war gestern. Und das ist der Grund, warum ich anfing zu schreiben. Die Verwirrung darüber, dass ich gestern vor meinen Zahnarzt geheult habe ist wirklich groß. Auch wenn ich sensibel bin, bin ich keine Frau die so schnell anfängt zu weinen. Ich mache das meist mit mir selbst aus, und drauf los heulen kommt für mich weder in Frage, noch ist es eine Option. Wenn ich ein Problem habe, bin ich der typ Mensch der es lieber in Angriff nimmt, als sich selbst zu bemitleiden. Aber von Vorne:   Dr J ist ein wirklich netter Herr mittleren Alters. Ich kenne ihn schon seit über zehn Jahren, nachdem ich meine erste, wirklich schlechte Prothese die den gesamten Gaumen überdeckte von einen anderen Zahnarzt bekam, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und veranlasste sofort sein Zahnlabor, mir eine Neue anzufertigen. Meine Eltern sind seitdem von ihm überzeugt, gehen auch selber in die Praxis. Alle Ärzte aus seinem Team sind mir bekannt und wirklich sympathisch. Auch wenn meine Zahnärzte mich fragten, wann wir das Thema Zahnersatz denn mal in Angriff nehmen wollten, kam meine seit Jahren typische Antwort: „Ja, müssen wir bald mal machen.“ Daher denke ich, hatte Dr J sich schon damit abgefunden, dass er mir kein Gewinde in den Kiefer schrauben durfte. Im Januar habe ich aber endlich einen Termin zum Thema Zahnersatz gemacht, habe es auch meinen Eltern erzählt, welche mir ein Feedback von Verwirrung, Freude bis hin zu ironischer Kommentare gaben. Ich denke, auch sie hatten das Thema abgeschrieben. Umso verwirrter war ich, als sie mir zum Geburtstag neben neuen Werkzeug einen vierstelligen Geldbetrag für meinen Zahnersatz schenkten. Nun stellt euch vor: Eine Sechsköpfige Familie hat nie viel Geld. Wir waren nie reich, aber ich kann behaupten, dass wir immer glücklich waren. Umso mehr schockierte es mich, als ich den Umschlag öffnete und dort ein Geldbetrag im Wert von zwei Monatsmieten drin war. Mein erster Gedanke: SIND DIE DENN VERRÜCKT?! Ich wollte das Geld nicht annehmen, doch meine Eltern bestanden darauf. Immerhin hatten sie das Geld extra für mich gespart. Etwas, was ich nicht getan hatte. Ich habe zwar ein Tagesgeldkonto auf dem ich immer spare, doch das gesparte Geld war immer für Urlaub, Autoteile oder einen Notfall gedacht. Vor dem Termin habe ich das „Notgroschen-Konto“ also auch als Zahngeld-Konto abgeschrieben und hatte dadurch ein gutes Eigenkapital, wenn man das so nennen kann. Wie auch immer...   Als ich bei Dr J rein kam, grinste er mich durch seine Maske wie ein Honigkuchenpferd an und verkündete: „Ach Verena, Ihre Mutter hat mir gestern auch eine Email geschrieben.“ - „Wie bitte?!“, platzte es aus mir heraus. Ich befürchtete schon das Schlimmste. Zurecht. „Ja, sie hat mir geschrieben, ich möge Ihnen doch bitte einen angenehmen Preis machen.“ Mir fiel alles aus dem Gesicht. Hier darf ich anmerken, dass Mütter nicht nur in der Pubertät peinlich sind. Meine Mutter kann das ein ganzes Leben lang. „Das hat sie nicht getan!“, antwortete ich, was Dr J zum lachen brachte. „Das ist doch voll in Ordnung!“, meinte Dr J, immernoch durch seine Maske grinsend. Er ist jedenfalls kein Kind der Traurigkeit. Nachdem er die Routine-Untersuchung gemacht hatte und mein Röntgenbild vorlag, setzten wir uns an einen Tisch. Er hatte mein Röntgenbild in ausgedruckter Version vor sich liegen und sah mich an. „Nun, Verena, das wird nicht so einfach, wie wir uns das dachten.“, meinte er und tippte mit einen Stift auf der Kopie rum. Schlag Nummer eins. Aber ich ließ mir nichts anmerken. „Warum dachte ich auch, bei mir wäre einmal etwas einfach?“, fragte ich spaßend und grinste ihn durch meine Maske an.   Dr J hingegen sah mich noch einmal prüfend an, bevor er fortfuhr, mir erklärte, dass sich über die Jahre mein Kiefer zurück gebildet hatte und man erst einmal eine sogenannte „Knochenaufbau-Therapie“ machen müssen. Ich merkte, wie mir die Tränen kamen. Bloß nicht heulen! Ich klimperte sie weg. Er erklärte weiter, dass man bei diesem Knochenaufbau ein Stück Knochen aus dem Unterkiefer entnimmt und dieses Stück schließlich am Oberkiefer einschraubt, wo man den Knochen braucht. Warum ich mir Dr J dabei psyschohaft lachend mit einer Werkstattfräse über meinem Gesicht hängend vorstelle, ist mir ein Rätsel. Anschließend wird das Zahnfleisch wieder zu genäht und es muss etwa ein halbes Jahr heilen. Bei der Erklärung kritzelte er unentwegt weiter auf dem Röntgenbild, um mit alles zu veranschaulichen. Ich merkte, wie mir die Tränen wieder kamen. Ein ganzes halbes Jahr, bis ich wirklich festen Zahnersatz haben KÖNNTE! Denn diese Prozedur garantiert nicht, dass der Knochen wirklich dran wächst. Als die (für meinen Geschmack viel zu aufmerksame) Zahnarzthelferin mit der Tempo Box kam und mir entgegen streckte, war es bei mir vorbei. Ein leiser Schlurzer entkam mir, was Dr J in seiner Erklärung und seinem Kritzeln stoppen ließ. „Alles okay?“ Ich nahm mir ein Tempo aus der Box, nickte schnell und wischte die Tränen weg. Ich hätte mich nicht schminken sollen! Dr J erklärte mir professionell den ganzen Ablauf, sagte, dass ich mir das gut überlegen sollte und schickte mich auf den ersten Schock erst einmal nach Hause. Im Auto angekommen brach ich so richtig in Tränen aus. Ich brauchte eine geschlagene Stunde, bis ich mich einigermaßen ein bekommen hatte und los fahren konnte. So kenne ich mich nicht. Das macht mir irgendwie Angst. Wie soll das denn weiter gehen, wenn mir bei jedem Wort aus seinem Mund die Tränen kommen?   Als ich endlich zu Hause ankam, brauchte es nur einen Blick von meinem Verlobten und erneut brach ich in Tränen aus, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte nicht zu heulen. M sah man die Überforderung ganz deutlich in den Augen an. Sein Allheilmittel für alles: „Schatz... Setz dich erstmal hin... Ich hol dir ein Bier. Nicht weinen! Was ist denn los?!“ Dafür liebe ich ihn! M. ist bei vielen Sachen überfordert. Ich bin die „Reglerin“ in unserer Beziehung. Auch als eine gute Freundin der Familie starb, ich in Tränen ausbrach und mein Verlobter das sah, gab es nur eine einzige, unbeholfene Lösung: Bier. Er kann mich einfach nicht weinen sehen.   Tatsächlich entfloh mir ein kleines, verheultes Lachen. „Es ist nichts!“, beteuerte ich, ließ mir dennoch bereitwillig mein Bier öffnen und nahm einen großen Schluck. Dann erklärte ich ihm alles, was Dr J mir gesagt hatte, verdrückte dabei einige Tränchen. Ich glaube, ich habe seit Jahren nicht mehr so heftig geheult. Warum das so ist? Ich weiß es nicht. Ich wusste schließlich, dass das schon ohne den Knochenaufbau schmerzhaft werden würde. Warum also ist es deshalb etwas Anderes? Oder hätte ich auch geheult, wenn Dr J mir ein positives Feedback gegeben hätte? Nach dem Motto „Jo, morgen können die Zähne rein“.   Ich denke es ist die Angst davor, dass es so schlimm werden könnte, wie Damals. Ich habe Angst vor den Schmerzen, vor einer Knochenentnahme und vor allem, was irgendwie dazu gehört. Ich habe Angst, ein halbes Jahr ohne Zähne rumzulaufen. Das hat irgendwie einen Touch von „asozial“. Ich weiß nicht, was auf mich zu kommt und das macht mich nervös. Ich weiß, dass das bescheuert ist. Aber trotzdem kam ich wegen dieser Verwirrtheit darauf, eine Art Bericht zu schreiben und diesen mit euch zu teilen. Vielleicht ist Jemand in meiner Situation, hat ähnliche Probleme, Gedanken, oder einfach nur Lust, meine kleine Geschichte und meinen Werdegang zu verfolgen. Und solange ich nur einen Menschen mit diesem Bericht erfreuen kann, hat es sich gelohnt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)