Dead End von Lichtregen (Endeavor x Hawks) ================================================================================ Kapitel 1: Bad Day ------------------ „Verdammter Mist.“ Frustriert strich er den letzten Namen auf der Liste durch, setzte den Bleistift dabei mit solchem Druck auf, dass dieser das Papier durchstach. Verärgert starrte er auf das kreisrunde Loch, das das letzte Zeichen von Hikiishi Kenji alias Magne hatte unleserlich werden lassen, und ließ den Stift fallen. Tief durchatmen. Er musste sich beherrschen. Es war ein immer wiederkehrendes Muster, das bei ihm – zugegebenermaßen befeuert durch seine nicht nur bei seinen Kollegen bekannte kurze Zündschnur – regelmäßig zu Wutausbrüchen führte. Schon wieder waren Wochen mühsamster Ermittlungsarbeit dadurch zunichte gemacht worden, dass die Zielperson unter mysteriösen Umständen genau dann urplötzlich verstorben war, als sich die Verdachtsmomente gegen sie erhärteten. Eine Spur, die, wie so viele vor ihr, in einer Sackgasse mündete. Dabei hatte der Tipp eines Informanten, der ihn und sein Team zu einem Bordell am Stadtrand geführt hatte, das sich vor allem auf die Gelüste derjenigen Freier spezialisiert hatte, die für ihr Geld Befriedigung von beiden Geschlechtern gleichermaßen suchten, zunächst so vielsprechend ausgesehen. Offensichtlich zu vielversprechend, denn die Leitung dieses Etablissements war nur wenige Tage später mit Betonschuhen auf dem Grund des Sumidagawa aufgefunden worden. Er ballte die Fäuste, versuchte, seinen Zorn nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Dies war allerdings leichter gesagt als getan. Immerhin war er Todoroki Enji, seit fünf Jahren Leiter des Kommissariats für organisierte Kriminalität im Zentralen Polizeipräsidium Tokyo, und ließ sich von einer Bande Krimineller an der Nase herumführen. Einer Organisation, die sich den in ihren Kreisen untypischen Namen „Die Liga der Schurken“ gegeben hatte und deren Verfolgung und Zerschlagung er sich in den letzten 18 Jahren seines Berufslebens gewidmet hatte. Die gewählte Bezeichnung dieses Zweigs der japanischen Mafia, die in Tokyo ihr Unwesen trieb, widersprach so eklatant dem üblicherweise vorherrschenden Selbstverständnis der Yakuza als „ritterliche Organisation“, grenzte beinahe an Blasphemie, dass es ihn nicht das erste Mal wunderte, dass die übrigen Clans die Gruppierung nicht schon selbst dem Erdboden gleich gemacht hatten, sondern sie gewähren ließen. Aber wie hieß es so schön: Leben und leben lassen? Jedes Mal, wenn er gedacht hatte, er sei ihr endlich auf die Schliche gekommen, schaffte es die Liga ein ums andere Mal, ihm einen Schritt voraus zu sein. Gleich einer Hydra kamen auf ein festgenommenes Mitglied gefühlt zwei neue Kriminelle, derer sie sich annehmen mussten, um der Lage Herr zu werden. Der fehlende Erfolg nagte nicht nur an seinem Ego, sondern auch innerhalb der Polizei wurden die Stimmen lauter, die seine Befähigung infrage stellten, diesen Fall zu leiten. Dabei zweifelte er daran, dass es jemanden gab, der mit mehr Inbrunst und Aufopferung das tat, was getan werden musste, um die Liga zu Fall zu bringen. Zu lange schon regierte sie die Unterwelt Tokyos, zu lange schon grassierten wegen ihr Prostitution, illegales Glücksspiel und vor allem Drogen- und Menschenhandel. Jahrzehntelang hatte die Polizei nichts gegen die Yakuza unternommen, sie sogar gewähren lassen, bis die Regierung vor fünf Jahren dem Ganzen den Riegel vorgeschoben und die Yakuza offiziell als illegal deklariert hatte. Die Jagd war eröffnet worden und Enji, gerade frisch befördert, hatte die undankbare Aufgabe übertragen bekommen, nach jahrelangem Wegsehen, in dem die kriminellen Strukturen gewachsen und gediehen waren, den Karren aus dem Dreck zu ziehen und aus dem Nichts ein Spezialteam zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität auf die Beine zu stellen. Ein scheinbar aussichtsloses Mammutprojekt, das ihn nicht nur sämtliche Freizeit, sondern auch seine Familie gekostet hatte. Apropos Familie... „Verdammt!“, murmelte er an diesem Tag nun schon zum zweiten Mal und sprang von seinem Stuhl auf. Beinahe hatte er vergessen, dass er sich mit seiner Tochter zum Mittagessen verabredet hatte – er warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr – vor fünf Minuten. Hektisch griff er auf dem Schreibtisch nach seinem Portemonnaie und Handy, warf sich im Gehen den Mantel über. Er rauschte an dem noch schwankenden Kleiderständer vorbei aus der Tür, die er mit einem Knall hinter sich zuschlug... und stieß fast mit der Person, die die Hand nach der Klinke ausgestreckt hatte, zusammen. „Ah, Todoroki-san, gut, dass ich dich treffe, ich wollte dir noch...“ „Keine Zeit, Yagi“, schnitt Enji dem anderen das Wort ab und stürmte an diesem vorbei. Sein Chef hatte ihm gerade noch gefehlt... „Termin.“ „Aber du solltest wissen, dass später...“ Doch Enji hatte bereits das Treppenhaus erreicht und hörte nicht mehr, was ihn später noch erwarten würde. Bestimmt nicht gerade etwas, das seine Laune heben würde, wenn er an die anderen Hiobsbotschaften dachte, die ihm Yagi Toshinori zu überbringen pflegte. Nicht zuletzt diejenige, dass dieser – obwohl nur drei Jahre älter als er – bereits Leiter der Direktion Kriminalität und damit sein direkter Vorgesetzter geworden war... was Enji umso mehr gegen den Strich ging, da sie nicht nur die gleiche Schule besucht, sondern wegen Yagis verspäteten Eintritts in die Polizei auch die Ausbildung gemeinsam absolviert hatten. In einer hierarchischen Struktur wie in der Polizei gab es zwar immer jemanden, der über einem stand; es musste nur nicht unbedingt der stets freundliche und allseits beliebte Yagi sein... Und davon, dass er selbst einmal am Ende der Nahrungskette stand, war er so weit entfernt, dass jeder Gedanke daran verschwendete Zeit wäre. Dass er seinem Vorgesetzten so über den Mund gefahren war, beunruhigte ihn hingegen nicht. Wenn man schließlich eines über seinen langjährigen Rivalen sagen konnte, dann war es, dass dieser nicht nachtragend war. Zwei Minuten später kam er, keuchend und schwitzend, vor dem Laden zum Stehen, vor dem Fuyumi bereits wartete. „Guten Tag, Otou-san“, sagte sie höflich, aber freundlich, und neigte ihren Oberkörper zum Gruß auf eine zwischen Familienmitgliedern befremdlich förmliche Weise nach vorne. Ihre Handtasche ließ sie dabei, mit beiden Händen umklammert, vor ihren Beinen hängen und für Enji konnte es nicht eindeutiger sein, dass sie ihn heute nicht umarmen würde. Den leichten Stich in seiner Brust nahm er bitter zur Kenntnis, aber das hatte er wohl verdient. Seine Tochter hatte nur die eine kurze Pause in der Mittagszeit, ehe sie für den Nachmittagsunterricht zurück in die Schule musste, und er hatte die wenige Zeit, die sie ohnehin nur hatten, vergeudet, indem er auch noch zu spät kam. Aber für Groll und Selbstmitleid blieb später noch genug Zeit... „Fuyumi, ich... es...“ Er verachtete sich selbst für dieses Rumgestammel, aber eine vernünftige Entschuldigung brachte er einfach nicht über seine Lippen, sodass er nur gequält lächelte und stattdessen fragte: „Was hältst du von kalten Soba? Die magst du doch so gern. Ich lad dich ein.“ „Oh, vielen Dank.“ Seine Tochter blickte betreten zur Seite, nestelte an ihrer Tasche herum, zögerte. Hatte er was Falsches gesagt? „Tatsächlich sind Soba Shoutos Lieblingsessen, aber ich… ich mag sie auch sehr gern. Also... sollen wir?“ Enji realisierte gar nicht, dass Fuyumi bereits die Ladentür geöffnet hatte und für ihn aufhielt, stand nur wie versteinert da. Er wusste ja, dass er keinen sonderlich guten Draht zu seinen Kindern hatte, zumindest nicht seitdem... Aber dass er nicht einmal so etwas Alltägliches wie ein Lieblingsessen auf die Reihe bekam, ließ nicht nur seine Eingeweide vor Scham brennen, sondern auch die Wut auf sich selbst derart explosionsartig anschwellen, dass er befürchtete, dass sie sich bereits auf seinem Gesicht abzeichnete und er Fuyumi dadurch noch mehr abschrecken könnte. Seine Sorgen schienen jedoch unbegründet, denn seine Tochter lächelte ihn schüchtern an und hielt die Tür weiter geöffnet. Ermutigt von der kleinen Geste löste er sich aus seiner Starre, griff über ihren Kopf hinweg den Türrahmen und brummte: „Nach dir.“ Der kleine Laden war stickig und heiß und bot gerade einmal Platz für acht Personen, die sich um die Theke drängten. Nachdem sie ihr Essen am Automaten bezahlt und die von ihm ausgespuckten Zettel mit ihren ausgewählten Speisen bei der Küchenhilfe abgegeben hatten, zwängten sie sich zwischen einen beleibten Businessmann, der gerade seine zweite Schüssel mit Soba in heißer Brühe hinunterschlang, und ein Mädchen in Schuluniform. Nicht zum ersten Mal kam Enji der Gedanke, dass ein Restaurant wie dieses nicht der beste Ort war, um in gelockerter Atmosphäre private Gespräche zu führen... und damit seiner Rolle als Vater gerecht zu werden. Zumal Imbissstuben – als mehr konnte man dieses Lokal kaum bezeichnen – gerade zur Mittagszeit derart stark frequentiert wurden, dass man selbst bei zügigem Essen stets unweigerlich den Druck von den Wartenden im Nacken spürte. Doch so sehr ihn die Umstände auch ärgerten, dieses Treffen war mehr, als er sich erhoffen konnte... und vielleicht verdient hatte. Also würde er es nutzen, so gut er konnte. „Wie läuft es auf der Arbeit?“, startete er den ersten unbeholfenen Versuch einer Konversation. „Ganz gut.“ Betretendes Schweigen folgte und Enji verfluchte sich nicht das erste Mal für seine mangelnde Fähigkeit, Small Talk zu führen. Da hatte ihm Yagi, wie er ungern zugab, mit seinem Charme und seinem nicht totzukriegenden Lächeln tatsächlich einiges voraus... Sekunden später stand bereits das Essen auf dem Tisch und durchbrach zumindest für einen kurzen Moment die unangenehme Stille. Er wollte so viel sagen, hatte aber keinen blassen Schimmer, wo er anfangen sollte. Verdammt, das konnte doch nicht so schwer sein! „Wasser?“, fragte er in dem Bemühen, sein Unwohlsein zu überspielen, und schenkte ihnen beiden aus dem Krug mit eiskaltem Wasser ein, als Fuyumi nickte. Um seine Hände zu beschäftigen, schnappte er sich schließlich ein Paar Stäbchen aus dem bereit gestellten Behälter, mit denen er ein paar Frühlingszwiebeln und Nori in den Becher mit dunkler Tsuyu warf und verrührte. Mit unterschwelligem Grollen nahm er zur Kenntnis, dass Fuyumi tatsächlich nicht Zaru Soba bestellt, sondern sich für die heiße Variante in Brühe entschieden hatte. Er war auch so ein Idiot... „Fuyumi, es... es tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen“, brach es plötzlich aus ihm heraus, während er auf das Bambusgitter starrte, die Soba noch unberührt. „Ich war so mit der Arbeit beschäftigt, dass ich darüber ganz die Zeit vergessen habe.“ Er schaute auf und ihre Blicke trafen sich. Entgegen seinen Erwartungen schien Fuyumi nicht sauer, sondern – was noch schlimmer war – enttäuscht zu sein. Sie seufzte leise. „Ich würde gerne sagen, dass mich das überrascht, aber...“ Fuyumi zögerte, schien mit den nächsten Worten zu ringen. „Aber du warst nie oft zuhause... hast dich immer nur mit der Arbeit beschäftigt und darüber ganz vergessen, dass du eine Familie hast, die dich braucht. Besonders, nachdem Touya...“ Ihre Stimme brach ab. Er konnte verstehen, dass es seiner Tochter selbst nach all den Jahren schwer fiel, über ihren älteren Bruder zu reden. Denn selbst bei ihm verging kein Tag, an dem er nicht an seinen ältesten Sohn dachte... an die Schuld, die ihn seit diesem Tag vor fünfzehn Jahren innerlich zerfraß, ihn sich in die Arbeit stürzen ließ... an das Gefühl der Ohnmacht, die Schuldigen nach all den Jahren der Suche doch noch nicht gefasst zu haben... und an seinen Frust, den er an seiner Familie ausgelassen hatte. „Es ist nicht deine Schuld, Otou-san.“ Eine weiche Hand legte sich auf seine schwieligen Knöchel und er zuckte vor Überraschung zusammen. „Doch, wenn ich...“ „Niemand hätte verhindern können, was passiert ist“, entgegnete Fuyumi vehement und sah ihm durchdringend in die Augen. „Du hättest aber für uns da sein müssen... wir haben dich zuhause gebraucht, aber du hattest nur noch Interesse an deiner Arbeit...“ Der Vorwurf saß tief, aber die Wahrheit dahinter konnte er nicht leugnen. Doch auch Zorn über das fehlende Verständnis seiner Familie für seine Beweggründe flackerte in ihm auf und bahnte sich einen Weg nach draußen. „Das verstehst du nicht!“, raunzte er sie an und bereute im gleichen Moment, als er den erschrockenen Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, dass er die Beherrschung verloren hatte, sodass er in milderem Ton fortfuhr: „Ich habe mir geschworen, nicht eher zu ruhen, bis die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“ „Das bringt Touya aber auch nicht mehr zurück... Und Okaa-san...“, murmelte Fuyumi und senkte den Blick, doch Enji entging nicht der feuchte Glanz in ihren Augen. Unsicher, wie er sich verhalten sollte, wandte er sich seinem Mittagessen zu und Fuyumi tat es ihm gleich, sodass sie eine Weile in angespanntes Schweigen verfielen. „Wie geht es deiner Mutter?“, brach Enji, der die Frage nicht länger unausgesprochen lassen konnte, schließlich die Stille, und wollte die Antwort doch lieber nicht wissen. „Sie ist immer noch in Therapie... trotz ihrer Depression schafft sie es aber schon wieder, ein wenig im Haushalt mitzuhelfen. Dass... das Ganze“ – und sie machte eine undefinierbare Geste mit der Hand – „bald ein Ende hat, lässt sie etwas... befreiter wirken. Ich denke, der Neuanfang tut ihr gut.“ Enji nickte, nicht sicher, wie er sich bei diesen Worten fühlen sollte. Auch daran, was aus Rei und ihrer Ehe geworden war, trug er die Schuld und das hatte er vor langer Zeit akzeptiert. Er wusste, dass er das, was geschehen war, nicht mehr ungeschehen machen konnte. Da war nichts mehr zu retten. Nur bei seinen Kindern konnte er vielleicht noch Schadensbegrenzung betreiben. „Das ist... gut“, sagte er schließlich und widmete sich den letzten Bissen seiner Zaru Soba. „Und deine Brüder?“ „Natsu und Shouto haben sich auch damit abgefunden, aber... vielleicht solltest du sie in nächster Zeit lieber nicht sehen.“ Damit hatte er gerechnet und doch konnte er ein Gefühl der Enttäuschung nicht unterdrücken. Seine Söhne hatten ihm seine Wutanfälle, die sich vor allem nach großen Rückschlägen in ungünstiger Kombination mit einer Flasche Whiskey auch gegen seine Familie gerichtet hatten, nie verziehen. Vielleicht... irgendwann... würden sie ihm noch eine Chance geben. „Werde ich mir merken“, sagte er schließlich, goss sich das heiße Sobayu, das der Kellner soeben vorbeigebracht hatte, in den Becher mit Tsuyu und trank ihn in einem Zug aus. Auch Fuyumi hatte ihre Schüssel geleert. Er stand auf und legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. „Wir sehen uns. Pass auf dich auf.“ Und mit diesen Worten verließ er das Lokal und machte sich mit dem Gedanken, dass seine Stimmung kaum noch tiefer sinken konnte, auf den Weg zurück ins Büro. Kaum hatte er die Etage mit seinem Büro erreicht – um fit zu bleiben, benutzte er trotz 3. Obergeschosses stets die Treppe –, schallte ihm lautes Gelächter entgegen. Dies war an sich schon ungewöhnlich genug, denn normalerweise gab es im Kommissariat für organisierte Kriminalität wenig zu lachen... was – so viel Selbstreflexion besaß er schon – zum großen Teil auch an ihm als Vorgesetztem lag. Doch noch ungewöhnlicher war die Tatsache, dass die Stimmen aus seinem Büro hallten, dessen Tür sperrangelweit offen stand. Mit aufwallendem Zorn, dass es jemand wagte, sein Büro in seiner Abwesenheit zu betreten, stapfte er zum Ende des Flures, wo sich sein Büro befand, bereit, die Eindringlinge zurechtzustutzen. „Wer hat euch erlaubt, mein Büro –“, setze er polternd an und verstummte schlagartig, als er die Quelle der Ruhestörung erblickte. Rechts neben der Tür stand sein Chef, muskulös, blond und lauthals lachend. Ihm gegenüber – Enji fiel beinahe die Kinnlade herunter ob dieser Unverschämtheit – hatte es sich ein ihm unbekannter junger Mann mit blonden zerzausten Haaren, auf denen eine große Brille thronte, und raubvogelhaften Augen auf seinem Schreibtisch bequem gemacht. Der Unbekannte ließ seine Beine, als sei es das Normalste der Welt, seinen Allerwertesten auf dem Arbeitsplatz eines Fremden zu platzieren, lässig von der Tischplatte baumeln. Enji spürte, wie die Hitze in ihm hochkochte, und diesmal konnte er seine Wut nicht im Zaum halten. „Runter da, sofort!“, brüllte er und jeder, der seinen tiefen Bariton in dieser Lautstärke vernommen hätte, wäre vor Schreck zusammengefahren und hätte der Aufforderung unverzüglich Folge geleistet. Nicht so der dreiste Blonde, der keine Anstalten machte, sich von der polierten Mahagoniplatte zu erheben, nicht einmal mit der Wimper zuckte. „Ah, schön, dass du da bist, Todoroki-san!“, rief Yagi erfreut und in dem offensichtlichen Versuch, die Situation nicht eskalieren zu lassen. „Bevor du vorhin zu deinem Termin geeilt bist, wollte ich dir noch erzählt haben, dass wir spontan Verstärkung für dein Team bekommen haben... Nicht dass du zwingend Unterstützung bräuchtest“, fügte er hastig hinzu, denn er hatte wohl die immer stärker pulsierende Ader auf seiner Stirn gesehen. „Aber ein bisschen junges Blut kann bestimmt nicht schaden... nachdem uns ja letztens auch drei Mitarbeiter abgesprungen sind... Jedenfalls waren die Kollegen aus Fukuoka so freundlich, uns jemanden zu schicken, der bereits Erfahrung mit der Bekämpfung der Yakuza gesammelt hat.“ Enji war wie vor den Kopf gestoßen... Er sollte nicht Recht behalten mit seiner Annahme, dass der heutige Tag nicht noch schlimmer verlaufen konnte. Erst die Niederlage bei seinen laufenden Ermittlungen, dann das ernüchternde Gespräch mit seiner Tochter und nun setzte ihm sein Chef einen Fremden, der noch grün hinter den Ohren war, als neues Teammitglied vor. Was, obwohl Yagi etwas anderes behauptete, nur bedeuten konnte, dass die Führungsetage mit seinen Ermittlungserfolgen – oder vielmehr dem Fehlen solcher – unzufrieden war. Er spürte wieder die Hitze in sich aufsteigen, aber in so einer Situation gegenüber seinem Vorgesetzten den Kopf zu verlieren, würde nicht nur bei diesem, sondern auch bei seinen Mitarbeitern einen unprofessionellen Eindruck hinterlassen. Daher atmete er einmal tief durch, unterdrückte die Flamme der Wut, die in ihm schwelte, und presste, halb durch zusammengebissene Zähne, hervor: „Verstanden.“ Yagi lächelte, scheinbar erleichtert darüber, dass die Situation unter Kontrolle war. „Dann lasse ich euch beiden mal allein, damit du den neuen Kollegen auf den aktuellen Stand der Ermittlungen bringen kannst. Deinen Bericht erwarte ich dann in einer Woche.“ Und mit diesen Worten und einem letzten Winken in Richtung des Störenfrieds verschwand der Ältere aus dem Büro, schloss die Tür hinter sich und ließ sie beide im Stillen zurück. Enji musterte den anderen abschätzend, darauf wartend, dass, wie es üblich war, dieser als der Jüngere und Rangniedrigere zuerst das Wort ergriff und sich vorstellte. Der Blonde machte jedoch keine Anstalten, den ersten Schritt zu tun, sondern grinste ihn nur schief an, während er weiterhin seine Beine hin- und herschwingen ließ. Da er dieses unverschämte und maßlos unhöfliche Verhalten nicht länger ertragen konnte, ohne den nächsten Wutausbruch zu riskieren, funkelte er sein Gegenüber finster an, ehe er sich schließlich leicht verbeugte. „Erster Kriminalhauptkommissar Todoroki Enji.“ Unfassbarerweise ließ der andere sich immer noch nicht dazu herab, sich von seinem Schreibtisch zu erheben, geschweige denn sich vorzustellen, sondern grinste ihn weiterhin unverhohlen an. Es nervte ihn zutiefst, ließ es in ihm brodeln, dass er sich dazu herablassen musste, aber die ihm seit Kindertagen eingetrichterten Umgangsformen geboten es ihm, wenn auch zähneknirschend, zu fragen: „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Ich bin Hawks.“ Der Blonde lächelte jovial und sprang leichtfüßig vom Schreibtisch herunter, hielt ihm die Hand zum Gruß entgegengestreckt. „Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“ Enji rührte sich nicht. Nicht nur, dass „Hawks“ jegliche japanische Etikette in den Wind schlug, indem er sich nicht verbeugte, sondern ihm die Hand geben wollte – wie einer aus dem Westen. Er hatte ihn ungefragterweise auch einfach geduzt, was jeden anderen, der sich diese Anmaßung erlaubt hätte, schon seinen Job gekostet hätte. Doch der andere hatte mit seiner dreisten lockeren Art das Maß derart überschritten, dass er diesem am liebsten direkt den Hals umgedreht hätte... Da eine Leiche in der Personalakte aber seine Chancen auf weitere Beförderungen deutlich schmälern würde, zwang er sich zur Beherrschung und der Drang, seine Hände um den schlanken Hals zu legen, verebbte allmählich. Er könnte jetzt wahrlich einen Whiskey vertragen... „Hawks also“, brummte er daher nur. „Und weiter?“ „Nur Hawks.“ Enjis Augenbraue zuckte. Wollte der Bursche ihn auf den Arm nehmen? „Hast du keinen vernünftigen Namen?“ Da der Jüngere bereits mit sämtlichen Höflichkeitsregeln gebrochen und ihn geduzt hatte, konnte er sich, wenn er sein Gesicht wahren wollte, nur auf dieselbe Stufe begeben. Dieser zuckte lediglich die Achseln und verzog das Gesicht zu einer schrägen Grimasse. „Klar habe ich einen, aber der ist lahm. Für die Arbeit habe ich mir einen cooleren zugelegt... einen Decknamen, wenn du so willst. Ist echt praktisch bei dem, was wir hier tun... Hast du etwa keinen?“, fragte er überrascht. „Nein.“ „Dann sollten wir uns aber schleunigst einen ausdenken.“ „Nicht nötig. Sollte ich als verdeckter Ermittler eingesetzt werden, werde ich von der Behörde mit einer anderen Identität ausgestattet... einer mit richtigem Namen.“ Enji hatte den Eindruck, der andere hörte ihm gar nicht zu, da er angefangen hatte, im Raum auf und ab zu spazieren, hierbei zwischendurch flüchtige Blicke in seine Richtung warf und dabei vor sich hin murmelte. „Mmh, groß, muskulös, nicht gerade unansehnlich...“ Enji blinzelte irritiert. Was zur Hölle...? „Was hältst du von... mmh... All M –?“ Doch weiter kam der Blonde mit seinem Vorschlag nicht, da Enji ihn prompt unterbrach. „Nein!“ Er wollte grundsätzlich keinen merkwürdigen Decknamen, den ihm dieser Neue gab, aber ganz sicher würde er kein Alias akzeptieren, das ihn auch nur ansatzweise an den Spitznamen seines hünenhaften und dauergrinsenden Rivalen bei der Polizei erinnerte. „Okay, okay.“ Sein Gegenüber hob beschwichtigend die Hände, hatte offensichtlich das mörderische Funkeln in seinen Augen bemerkt. „Dann was anderes, warte...“ Ehe Enji erneut protestieren konnte, war der andere in eine Denkerpose verfallen, stützte sich dabei mit einer Hand auf dem Schreibtisch ab und grübelte laut vor sich hin. „Um Erster Polizeihauptkommissar zu werden, musst du bestimmt sehr ambitioniert sein... und gibst bei allem immer 100 Prozent...“ Er hielt inne, überlegte kurz, ehe er den Finger ausstreckte, hiermit auf ihn zeigte – wie viel ungehobelter konnte er eigentlich noch werden? – und ihm triumphierend das Ergebnis seiner Überlegungen mitteilte: „Wie wäre es mit... Endeavor?“ „Ich brauche keinen Decknamen“, grollte er und fühlte den unterdrückten Zorn in sich hochsteigen. Der Kerl brachte ihn langsam aber sicher gefährlich nahe an den Rand eines neuen Wutausbruchs. Und er konnte absolut nicht dafür garantieren, dass er sich diesmal würde unter Kontrolle halten können... Der Jüngere, der die veränderte Atmosphäre spüren musste, grinste jedoch nur von einem Ohr zum anderen und nickte selbstzufrieden. „Endeavor... Der gefällt mir! Auf gute Zusammenarbeit, Endeavor-san!“ Freudestrahlend reckte er Enji erneut seine rechte Hand entgegen. Enji resignierte kopfschüttelnd. Er hatte diese Nervensäge aus Fukuoka jetzt an der Backe und würde sie, wenn es nach Yagi ging, der viel von ihm zu halten schien, so schnell nicht los werden. Wenn er ehrlich war, nützte es auch keinem etwas, wenn diese Arbeitsbeziehung schon in einem so frühen Stadium dauerhaft vergiftet wäre. Mit dieser Einsicht schluckte er grollend seinen Zorn herunter und ergriff mit seiner Pranke widerwillig die deutlich kleinere Hand des anderen. „Auf gute Zusammenarbeit... Hawks.“ Kapitel 2: Bad Habits --------------------- „Fukuoka, hm?“, brummte Enji und ließ die Hand des anderen los. „Jaah, weißt du, in dieser Provinzbehörde ist mir einfach die Decke auf den Kopf gefallen... Nachdem ich zwei Jahre undercover gearbeitet hatte, wollte ich mal ein bisschen Großstadtluft schnuppern.“ Hawks machte eine Geste, als sei das soeben Gesagte nicht der Rede wert. Enji schnaubte spöttisch. Der Grünschnabel hatte echt einen komischen Sinn für Humor, wenn er die achtgrößte Stadt Japans als Provinz bezeichnete... und seine Leistungen, sollten sie der Wahrheit entsprechen, derart unter den Scheffel stellte. „Du warst als verdeckter Ermittler bei der Yakuza in Fukuoka eingesetzt?“, fragte Enji und zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Überrascht?“ Hawks‘ Zwinkern irritierte Enji, aber er überging dies gekonnt, um seine kurze Verwirrtheit zu überspielen. „Natürlich können nicht viele Polizisten in meinem Alter behaupten, die Yakuza infiltriert und ihr Vertrauen gewonnen zu haben“, plapperte Hawks weiter, zuckte hierbei mit den Schultern. „Aber... ich hab’s überlebt, also kann es nicht die schlechteste Entscheidung meiner Vorgesetzten gewesen sein.“ „In deinem Alter?“ „Will da etwa jemand wissen, wie alt ich bin?“, fragte Hawks neckisch und wackelte dabei mit seinen buschigen Augenbrauen. „Nicht unbedingt, ich habe mich nur –“ „Ich bin 23, Blutgruppe B, Sternzeichen Steinbock“, unterbrach der andere ihn jäh und zählte dabei die drei Eigenschaften an seinen Fingern ab, als ob er sich auf einer Datingplattform anmelden würde. „Und wie alt bist du?“ Enji verspürte die vertraute zornige Hitze in sich aufsteigen. Der Bursche würde es doch tatsächlich noch schaffen, ihn ins Grab zu bringen, wenn er seinen Blutdruck dauerhaft so in die Höhe trieb. „Bei deinem Rang... und den wenigen grauen Haaren in deinem Bart... wirst du wohl um die 45 sein, oder?“, fuhr Hawks, der Enjis funkensprühenden Blick zu ignorieren oder gar nicht wahrzunehmen schien, mit einem Zwinkern fort. Ehe Enji auf diese – beängstigend akkurate, aber auch unverschämte – Schätzung seines Alters eingehen konnte, sprudelte es jedoch schon weiter aus dem anderen hervor: „Ich habe die Polizeiakademie mit der Bestnote abgeschlossen; da wäre jede andere Verwendung meiner Wenigkeit doch glatte Verschwendung, oder?“ Enji, dessen Augenbrauen sich weiter zusammenzogen, blieb skeptisch. „Und was willst du dann in Tokyo?“ „Sagte ich doch bereits, ich will mal über den Tellerrand hinausschauen... und den Profis bei der Arbeit zusehen.“ Enji wusste nicht, ob der andere sich über ihn lustig machte oder dieses Lob ernst meinte. Hawks musste doch bereits über Yagi zu Ohren gekommen sein, dass ihre Ermittlungen aktuell nicht gerade auf fruchtbaren Boden stießen. Schließlich war das der offensichtliche Grund, wieso der Kollege vom weit entfernten Kyushu sie unterstützen sollte. „Bevor wir dir unsere Tricks verraten, wirst du uns erst ein paar deiner zeigen müssen“, konterte Enji grantig. Er hatte Hawks erst vor wenigen Minuten kennengelernt. Doch schon jetzt hatte er das untrügliche Gefühl, dass der andere weder auf den Mund gefallen war noch mit gänzlich offenen Karten spielte. Ob Hawks nur eine große Klappe hatte oder auch etwas dahinter steckte, würde sich erst noch zeigen müssen. Hawks lachte schallend auf und warf dabei seinen Kopf in den Nacken. „Ich sehe, du bist nicht leicht zu beeindrucken, Endeavor-san. Du machst deinem Namen alle Ehre.“ „Und du deinem?“ Hawks blinzelte. Enji hatte ihn mit dieser Frage wohl für einen Moment aus dem Konzept gebracht, aber er fing sich schnell wieder. „Hawks ist mein Spitzname aus der Grundschule“, erklärte Hawks und seine bernsteinfarbenen Augen blitzten dabei schelmisch. „Ich hatte schon immer eine Vorliebe für das Fliegen und da mich einige Klassenkameraden für meine dunklen Stellen um die Augen und meine Frisur – die laut ihren Beleidigungen wie ein gerupftes Huhn aussehe – auslachten, dachte ich... warum den Spieß nicht umdrehen und mich zu etwas Coolem... einem Falken machen?“ Enji ließ das Gefühl nicht los, dass der Jüngere nicht ganz die Wahrheit sagte. Schließlich waren besondere Namen, die an die Tierwelt angelehnt waren, auch bei der Yakuza nicht gerade unüblich und demonstrierten – neben den großflächigen Tätowierungen – Rang und Status des jeweiligen Mitglieds. Dass Hawks schon seit seiner Jugend mit einem für die Arbeit in der Unterwelt geradezu passenden Namen ausgestattet gewesen sein soll, kam ihm merkwürdig vor. „Ziemlich praktisch so ein Name, wenn man bei der Yakuza als verdeckter Ermittler einsteigt...“, forschte Enji nach und die Skepsis in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Nun, als ich undercover ging, musste ich mir einen passenden Yakuza-Namen überlegen, da kam mein alter Spitzname wie gerufen.“ Enji musterte sein grinsendes Gegenüber weiterhin kritisch, war längst nicht überzeugt. Nicht nur, dass der andere ein Geheimnis aus seinem richtigen Namen machte; die Umstände rund um seinen gewählten Namen erschienen ihm ebenso verdächtig. Doch was ersteren anging, würde er noch entsprechende Nachforschungen bei Yagi anstellen – irgendjemand musste immerhin mal ein paar offizielle Dokumente gesehen haben. Und im Übrigen würde er Hawks schon noch auf den Zahn fühlen. Nicht umsonst war er schließlich zum Leiter der Ermittlungen in diesem Kommissariat berufen worden... dessen von Yagi aufgetragenen Pflichten er allmählich auch nachkommen sollte. „Wir machen eben eine kurze Runde über die Etage, damit die anderen Mitglieder des Kommissariats wissen, dass du nicht unberechtigterweise durch unsere Flure läufst. Dein eigenes Büro kannst du dann morgen beziehen; das Büro neben meinem ist frei geworden und wird noch hergerichtet“, kündigte Enji daher nach einem kurzen Moment des Schweigens an und bedeutete mit einem Nicken in Richtung der Bürotür, dass Hawks vorangehen sollte. „Geht klar, Boss“, entgegnete Hawks heiter, machte aber zunächst keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. „Aber sollte ich nicht zuerst etwas über unsere Arbeit erfahren?“ „Über den aktuellen Stand der Ermittlungen werde ich dich später aufklären“, grollte Enji, verärgert darüber, dass der andere seine Vorgehensweise infrage stellte und sich seinem Befehl so offen widersetzte. „Jawohl, Endeavor-san“, erwiderte Hawks zu seiner Verwunderung jedoch zackig und es fehlte nur noch, dass er die Hacken zusammenschlug und salutierte. Hawks ging mit federnden Schritten voran und Enji konnte ein schweres Seufzen nicht unterdrücken, als er hinter sich die Tür schloss. Was hatte Yagi ihm da nur eingebrockt...? Nachdem sie etwa anderthalb Stunden von Büro zu Büro gegangen waren und Hawks sich bei etwa zwei Dritteln der dreißigköpfigen Belegschaft vorgestellt hatte, musste Enji sich widerwillig eingestehen, dass der Neue bei seinen Mitarbeitern deutlich besser ankam, als er erwartet hatte. Die meisten hatten ihn freundlich willkommen geheißen, manche schienen von Hawks‘ aufgeschlossener, fröhlicher Natur und seinen kleinen Späßen sogar schon völlig eingenommen zu sein, denn er hatte bereits mehrere Einladungen zu gemeinsamen Mittagessen erhalten... und das nicht nur von den weiblichen Kollegen. Enji fühlte sich mehr als überflüssig, als Hawks ein ums andere Mal selbst die Initiative ergriff und sich freudestrahlend und händeschüttelnd als neuer Kollege vorstellte. Etwas, wofür Enji, wie er zähneknirschend feststellte, fast schon hatte betteln müssen... Aber als Chef oblag es ihm, obwohl Hawks seiner Anwesenheit nicht bedurfte, um sich gut in Szene zu setzen, den neuen Kollegen herumzuführen. Also kam er, wenn auch widerstrebend, dieser Pflicht nach. Enji klopfte an die nächste Bürotür und trat ein, nachdem er nach wenigen Sekunden des Wartens keine Reaktion von der anderen Seite vernommen hatte. Hawks, der ihm unmittelbar gefolgt war, preschte an ihm vorbei und blieb erst vor dem Schreibtisch stehen, auf dem lediglich ein Berg schwarzen Gestrüpps zu sehen war. „Ich bin Hawks, der neue Kollege aus Fukuoka. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen!“ Der Mann, dem diese freudigen Worte galten, regte sich nicht. Enjis Mundwinkel zuckten ein wenig vor Genugtuung, als er bei einem Blick auf Hawks dessen verwirrten Gesichtsausdruck sah. Der Anblick, der sich ihnen bot, konnte einen beim ersten Mal durchaus überraschen. Doch in Enjis Kommissariat wunderte sich niemand mehr darüber. „Das ist Aizawa Shouta“, bemerkte Enji zu dem Mann, dessen Kopf auf der Tischplatte ruhte und der – dem leichten Schnarchen nach zu urteilen – gerade seinen Mittagsschlaf hielt. „Er kümmert sich unter anderem um die Aktenpflege, wälzt stundenlang Gutachten und Zeugenvernehmungen... Eine – wie er sagt – sehr ermüdende Tätigkeit.“ Hawks starrte Aizawa weiterhin ungläubig an, schien, als sich sein Gesicht plötzlich aufhellte, erst gerade gemerkt zu haben, dass es sich bei dem schwarzen Gestrüpp um die unordentliche Haarpracht eines Menschen handelte. „Ähm, er... schläft? Auf der Arbeit?“ „Ja, aber nicht mehr lange.“ Enji trat näher an den Schreibtisch heran und sagte in donnerndem Befehlston: „Aufwachen, Aizawa, genug geschlafen!“ Das Durcheinander schwarzer Haare bewegte sich leicht, ehe sich langsam ein verschlafenes schwarzes Auge öffnete und auf die beiden Besucher richtete, ohne dass sich der Kopf jedoch vom Schreibtisch hob. „Was gibt‘s?“, nuschelte Aizawa, dessen Wange noch an der Tischplatte klebte. „Wir haben einen neuen Kollegen aus Fukuoka bekommen“, übernahm Enji das Reden, da es Hawks unerwarteterweise noch die Sprache verschlagen zu haben schien. „Hawks hier wird ab heute unser Team verstärken.“ Aizawas sichtbares Auge huschte zu Hawks, während er leicht den Kopf hob, um diesen besser mustern zu können. „Der wird‘s nicht lange machen“, sprach Aizawa träge sein Urteil, legte seinen Kopf wieder auf dem Tisch ab und schloss die Augen. Die Angelegenheit schien damit für ihn erledigt. „Was? Moment, was soll das heißen, ich werd‘s nicht lange machen?“ „Hör nicht auf ihn“, wiegelte Enji ab. „Aizawa vertritt manchmal etwas komische Ansichten...“ „Das hab ich gehört.“ „Denk an die Auswertung der drei neuen Zeugenvernehmungen, die Yamada aufgenommen hat“, überging Enji brummend den Einwurf Aizawas, von dem er keine weitere Wortmeldung zu erwarten hatte, bevor er zu Hawks gewandt meinte: „Wir gehen.“ Mit einem halb entschuldigenden, halb amüsierten Schulterzucken bedeutete er Hawks, ihm zu folgen, und sie verließen gemeinsam das Büro. Enji bemerkte, wie Hawks einen verstohlenen Blick zurück auf Aizawa warf, der es sich erneut auf dem Tisch bequem gemacht hatte. Es war jedenfalls interessant zu sehen, dass selbst Hawks mal die Worte fehlten... Eine weitere halbe Stunde später waren sie wieder zurück in Enjis Büro, wo sich Hawks gleich auf das Sofa der Sitzecke fallen ließ und genüsslich die Beine ausstreckte. „Ich dachte schon, das ganze Händeschütteln ginge nie zu Ende“, stöhnte Hawks und rieb sich theatralisch die rechte Schulter. Enji schnaubte, schien Hawks die ganze Aufmerksamkeit während seiner Vorstellungsrunde doch eher genossen zu haben, als dass sie ihn gestört hätte. Anstatt sich zu dem anderen zu setzen, nahm er seinen Mantel vom Haken und warf ihn sich über. „Du brauchst es dir gar nicht erst bequem zu machen. Wir haben draußen noch einiges zu tun.“ Hawks sprang euphorisch auf. „Wo fahren wir hin?“ „Dir das Revier zeigen“, brummte Enji, von dem plötzlichen Eifer des Jüngeren überrascht. „Und auf dem Weg statten wir noch einem Ort einen Besuch ab, den ich schon seit längerem mal genauer unter die Lupe nehmen wollte.“ Da Hawks bereits den Mund geöffnet hatte, um die naheliegendste Frage zu stellen, kam Enji ihm zuvor und ergänzte: „Um was es sich genau handelt, erkläre ich dir unterwegs.“ Damit gab sich Hawks offenbar zufrieden, denn er schloss den Mund, nickte nur und folgte ihm, zog die Tür hinter ihnen ins Schloss. Nachdem sie die Drehtür in der Eingangshalle durchquert und eine durch Büsche abgetrennte Ecke vor dem Polizeigebäude erreicht hatten, griff Enji in seine Manteltasche, holte eine zerknautschte Schachtel und ein Feuerzeug heraus und steckte sich mit geübten Fingern eine Zigarette zwischen die Lippen. Er klickte mehrmals mit dem Feuerzeug, versuchte, gegen den Wind und Regen, die im Laufe des Nachmittags eingesetzt hatten, die Zigarette anzuzünden, als er ein missbilligendes Schnalzen hinter sich hörte. „Also echt jetzt, du rauchst, Endeavor-san?“, fragte Hawks und hätte nicht empörter klingen können. „Wo wir gerade drei Stockwerke hinabgehetzt sind? Nicht gerade gesund...“ Enjis Augenbraue zuckte gefährlich. Nicht nur, dass der Bursche ihm jegliche Höflichkeiten bei ihrem Kennenlernen verweigert hatte... nun besaß er auch noch die Unverschämtheit, ihn in Gesundheitsfragen zu belehren. Beim fünften Versuch gelang es ihm schließlich, die Zigarette zum Brennen zu bringen. Um das schwache Glimmen nicht ersterben zu lassen, nahm er – wie ein Ertrinkender, der nach Luft schnappte – einen ersten, befriedigenden Zug, inhalierte tief und stieß eine feine graue Rauchwolke aus. Schon besser. „Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten“, grollte Enji, dessen Zorn dank der wohltuenden Nikotindosis schon fast wieder verraucht war. „Du solltest eher an deiner Fitness arbeiten. Nach den paar Treppen bist du ganz schön am Keuchen.“ „Du hast doppelt so lange Beine wie ich! Um mit dir Schritt zu halten, wäre jeder am Keuchen!“, verteidigte sich Hawks beleidigt und zog eine leichte Schnute. „Gewöhn dich dran. Wer nicht mithalten kann, wird zurückgelassen.“ „Ihr habt ja echt harte Regeln hier...“, erwiderte Hawks, auf dessen Gesicht sich jedoch ein Grinsen stahl, während er die Arme hinter dem Kopf verschränkte. „Aber keine Sorge, so leicht wirst du mich nicht los.“ „Darum mache ich mir am allerwenigsten Sorgen...“ Hawks‘ Grinsen wurde noch eine Spur breiter. „Du solltest dir tatsächlich eher Gedanken darüber machen, dass du dein ungesundes Laster loswirst...“ Enji verdrehte innerlich die Augen, sagte jedoch nichts, wohl wissend, dass eine weitere Diskussion darüber nur in einer neuen Woge des Zorns enden würde. So standen sie eine Zeit in stillschweigender Übereinkunft nebeneinander, bis Enji einen letzten Zug an seiner Zigarette nahm, sie ausdrückte und in dem im Raucherbereich aufgestellten Eimer entsorgte. „Ich hole das Auto“, durchbrach Enji das Schweigen und zog den Schlüssel eines Toyota Auris aus seiner Hosentasche. Hawks‘ Blick fiel auf den Schlüssel. „Kein Toyota Crown?“ „Wir sind Kriminalbeamte, keine Streifenpolizei“, knurrte Enji mit einer Spur Arroganz, aber auch Skepsis in der Stimme. Erneut hatte er das Gefühl, dass der andere nicht ganz ehrlich mit ihm war, sich sogar absichtlich dumm stellte. Schließlich müsste jemand, der zwei Jahre unerkannt bei der Yakuza ein- und ausgegangen war, diese Basisgrundlage der Ermittlungstätigkeit mehr als nur vertraut sein. „Natürlich benutzen wir zu Ermittlungszwecken zivile Fahrzeuge. Sonst könnten wir auch direkt mit Blaulicht vorfahren und uns hierdurch zu erkennen geben... Das Gleiche, also Unauffälligkeit, gilt übrigens auch für Kleidung“, fügte Enji mit einem Blick auf Hawks hinzu, wobei er die Stirn in Falten zog. „Was hast du gegen mein Outfit?“, empörte sich Hawks und schaute an sich selbst herunter, drehte sich dabei leicht nach links und rechts, als würde er seine Kleidung das erste Mal sehen. „Sie ist für zivile Kleidung nicht gerade unauffällig.“ Tatsächlich hätte sich Hawks kaum etwas Auffälligeres für eine geheime Ermittlung aussuchen können. Während er selbst selten – so auch heute – ohne Hemd und Stoffhose außer Haus ging und sich so perfekt in die Masse aus anzugtragenden Arbeitnehmern einfügte, trug Hawks eine beige Jacke mit hohem Kragen, die mit weißem Fell an den Innenseiten gefüttert war, und dazu eine löchrige Jeans. „Ich pass schon auf, dass wir deswegen nicht auffliegen“, zwinkerte Hawks. Und für den Moment musste Enji ihm nachgeben, zumal für einen Kleidungswechsel auch keine Zeit mehr blieb, wenn sie noch rechtzeitig an ihrem heutigen Ziel ankommen wollten. „Genug geschwatzt“, brummte er daher nur und marschierte geradewegs auf einen dunkelblauen Kombi zu, der zwischen ein paar schwarz-weißen Streifenwagen geparkt war. Er schloss den Wagen mittels Fernbedienung auf, öffnete die Fahrertür auf der rechten Seite und zwängte sich hinter das Lenkrad. Da sich die Beifahrertür noch nicht geöffnet hatte, blickte sich Enji um und sah Hawks direkt neben ihm stehen. Das freche Grinsen ließ ihn nichts Gutes erahnen. „Kann ich nicht fahren?“ „Nein.“ Soweit kam es noch, dass sich der Bursche als Neuling in der Stadt sofort hinter den Fahrersitz klemmte und er selbst – als dessen Chef – auf den Beifahrersitz verbannt wurde, weshalb er jegliche Diskussion hierüber im Keim erstickte. „Man kann‘s ja mal versuchen...“ Schulterzuckend und sein Schicksal offensichtlich akzeptierend stieg Hawks schließlich auf der linken Seite ein und ließ sich neben ihn auf den Sitz fallen. „Nicht sehr geräumig...“, kommentierte Hawks, der wohl bemerkt hatte, dass Enji mit seinem Kopf bereits fast an die Decke stieß. „Es ist auskömmlich...“ Auch wenn er sich selbst oft genug darüber ärgerte, dass der japanische Fahrzeughersteller es nicht bedacht hatte, seine Autos auch für Menschen mit einer Körpergröße über 1,90 m zu bauen, wollte er dem Neuen nicht die Genugtuung gönnen, schon am ersten Tag an der Tokyoter Polizei einen Makel zu finden. Auf die würde er noch früh genug stoßen... „Und wo geht es jetzt hin?“, fragte Hawks neugierig, fast schon ein bisschen aufgeregt. Enji konnte es ihm nicht verdenken. An seinem ersten Tag bei der Kriminalpolizei im Hauptquartier war er ebenso gespannt und begierig auf das gewesen, was ihn erwarten würde. „Wir fahren zunächst am Hauptbahnhof vorbei... den solltest du kennen. Und dann über Roppongi und Ebisu nach Meguro.“ „Und was machen wir da?“ Enji zögerte kurz, während er den Motor anließ, den Scheibenwischer einstellte und anfuhr. „Während du dir die Gegend einprägst, sollte ich dir zuerst von unserem aktuellen Ermittlungsstand erzählen.“ Hawks setzte sich aufrecht hin. „Ich bin ganz Ohr.“ „Nun, die Grundinformationen über die Yakuza-Gruppierung namens „Die Liga der Schurken“, die sich hier vor einiger Zeit breit gemacht hat, solltest du bereits von Yagi erhalten haben.“ Hawks nickte und er fuhr fort: „Wir hatten bisher schon einige heiße Spuren und Kontakt zu gewissen Mitgliedern aufgenommen, andere wiederum beschattet, und dadurch schon einige Beweise gesammelt, die uns zu den Köpfen der Organisation hätten führen können. Bislang war uns“, gab Enji zähneknirschend zu, „die Liga aber immer dadurch einen Schritt voraus, dass, sobald wir etwas gegen jemanden in der Hand hatten, diese Person verschwunden, getötet oder sonst wie zum Schweigen gebracht worden ist und dadurch jede Fährte in einer Sackgasse endete.“ Enji verstummte, beobachtete Hawks aus den Augenwinkeln, um seine Reaktion zu sehen, während er in die Straße vor dem Hauptbahnhof einbog. Doch Hawks‘ Miene blieb ausdruckslos, allenfalls neugierig, weder zeigte sich Überraschung noch Missbilligung in Anbetracht dieser offenen Worte. Enji verspürte einen Anflug von Respekt dafür für den anderen in sich aufkeimen, dass dieser immerhin so viel Anstand besaß, kein schlechtes Wort über seine neue Dienststelle zu verlieren. „Selbstverständlich haben wir auch schon das ein oder andere Mitglied der Yakuza festgenommen... diese waren aber entweder nur kleine Fische oder wollten trotz einiger Überzeugungsarbeit nicht reden. Unsere letzten handfesten Beweise sind jedenfalls heute Morgen zusammen mit einer Leiche auf dem Grund des Flusses aufgefunden worden. Natürlich gibt es noch weitere Verdachtspersonen“, setzte Enji rasch hinzu, „aber bei denen stehen wir noch relativ am Anfang. Bis wir zum Oyabun vorgedrungen sind und die Yakuza zerschlagen haben, wird es wohl noch –“ Enji blinzelte gegen das Sonnenlicht, das mit einem Mal hinter den Regenwolken hervorgebrochen war. Geblendet von der vom Regenwasser spiegelnden Fahrbahn tastete er nach der Sonnenblende und riss sie mit einem Schwung nach unten. Durch den Ruck fiel ein Stück Papier, das in die Blende eingeklemmt gewesen war, heraus und segelte auf Hawks‘ Schoß. Hawks nahm das Bild in die Hand und drehte es um, betrachtete es für einen kurzen Moment scheinbar nachdenklich. „Ist das deine Familie?“ Enji reagierte blitzschnell und, ohne noch auf den Verkehr zu achten, riss Hawks das Foto aus der Hand. „Gib das her!“ Wütend, dass der andere das Foto gesehen hatte, stopfte er es in das Fach der Fahrertür und blickte starr wieder zurück auf den Verkehr. „Wow, vier Kinder, da war aber einer ganz schön fleißig“, kommentierte Hawks das Foto neckisch und wackelte mit seinen buschigen Augenbrauen. „Wo war denn deine Frau, hat sie das Foto gemacht?“ „Das geht dich nichts an!“ Enji brach der Schweiß aus und er zitterte leicht, sowohl vor Wut als auch vor Furcht. Selbst viele seiner Kollegen, die er seit Jahren kannte, wussten nicht viel über seine familiäre Situation, was auch so bleiben sollte. Da würde er den Teufel tun, einem Grünschnabel, den er erst am heutigen Tag kennengelernt hatte und der weit davon entfernt war, dass er ihm traute, zu erlauben, seine Nase in seine familiären Angelegenheiten zu stecken. Je weniger Hawks über seine Familie wusste, desto besser. Nicht nur zum Schutz seiner Familie... sondern auch zum Schutz seiner selbst. „Hast wohl ein dunkles Geheimnis, was?“, bohrte Hawks zwinkernd weiter nach. „Wenn ich eines hätte, würde ich es bestimmt nicht dir auf die Nase binden“, konterte Enji und hoffte, das unangenehme Thema damit zu beenden. „Sowas kommt selbst in den besten Familien vor“, plapperte der Jüngere jedoch einfach weiter, überging seinen Einwand völlig. „Meine Kindheit war auch nicht rosig... Meine Mutter ist schon gestorben, als ich noch ganz klein war. Und mein Vater... nun, er liebte die Spielautomaten mehr als mich. Ich konnte froh sein, wenn ich zum Geburtstag mehr bekam als ein einzelnes Papiertaschentuch.“ Hawks zuckte die Achseln und setzte eine unbekümmerte Miene auf. Enji betrachtete ihn aufmerksam aus den Augenwinkeln. Sollte das, was der andere gerade gesagt hatte, der Wahrheit entsprechen? Nicht zum ersten Mal an diesem Tag fiel ihm auf, dass er Hawks nicht durchschauen, ihm weder an Gestik noch Mimik ansehen konnte, ob er log oder die Wahrheit sagte. „Viel zu essen gab es zuhause auch nie“, fuhr Hawks fort und setzte dann ein gewinnendes Lächeln auf. „Ich schätze, das ist der Grund dafür, warum ich heute einen so gesunden Appetit habe. Hühnchen ist übrigens mein Lieblingsessen. Ich habe gehört, in Tokyo soll es einen tollen Laden geben, einen echten Geheimtipp!“ Hawks redete noch eine Weile weiter über Essen, während Enji sich allmählich entspannte, da der andere das Thema Familie endlich fallengelassen hatte. Als sie schließlich durch Roppongi fuhren, linker Hand an der weiß-roten Nachbildung des Eiffelturms vorbei, schrie Hawks plötzlich auf und drückte beinahe seine Nase an der Scheibe platt. „Wow, der Tokyo Tower! Der ist ja riesig! Von dort oben hat man bestimmt einen tollen Ausblick über die Stadt!“ „Muss ganz in Ordnung sein...“ „Nur in Ordnung?!“, entgegnete Hawks entrüstet. „Wo kann es eine bessere Aussicht als hier geben?“ „Der Skytree in Asakusa ist der höchste Fernsehturm und das zweithöchste Gebäude der Welt. Ich würde stark annehmen, dass der Ausblick von dort oben noch besser ist.“ „Annehmen? Heißt das, du wohnst hier dein ganzes Leben und warst nicht einmal oben?“ „Nein, sowas intere –“ „Dann müssen wir beide mal zusammen dort hoch! Vielleicht können wir von dort auch den Fuji sehen...“, unterbrach ihn Hawks grinsend und verfiel in schwärmerisches Schweigen. Enji sparte sich eine Antwort und sah Hawks verstohlen aus dem Augenwinkel an. Er wurde aus dem anderen wirklich nicht schlau... Kapitel 3: Bad Luck ------------------- „In zehn Minuten sind wir da“, sagte Enji schließlich und ließ das Fahrzeug an der Ampel zum Stehen kommen. „Und was genau ist unser Ziel?“, fragte Hawks mit wissbegierig funkelnden Augen. „Wir haben einen Tipp bekommen, der uns nach Meguro führt. Genauer gesagt zu einem kleinen Restaurant. Unserem Informanten sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass ein Mann, der sich selbst „Spinner“ nennt, dort regelmäßig ein- und ausgeht, ohne etwas zu bestellen.“ Hawks legte stirnrunzelnd den Kopf zur Seite und Enji fuhr rasch fort, um dessen Fragen zuvorzukommen. „Dieser Mann ist unserer Kontaktperson vom Schwarzmarkt bekannt, wo er illegal mit Reptilien handelt. Wir haben zwar noch nichts gegen ihn in der Hand, aber aufgrund seiner sonstigen Aktivitäten und Verbindungen hegen wir zumindest den Verdacht, dass er Schutzgelder für die Yakuza eintreibt... eben in diesem Restaurant in Meguro.“ „Ich verstehe“, warf Hawks nickend ein, während die Lichtanlage auf Grün wechselte und Enji das Gaspedal betätigte. „Dann werden wir diesem Spinner in dem Restaurant auflauern, um ihn auf frischer Tat zu ertappen, wie er zum Beispiel im Hinterzimmer verschwindet. Und wenn er das Restaurant mit einer Tasche, die er vorher nicht dabei hatte, verlässt, heften wir uns an seine Fersen, verpassen seinem Fahrzeug – sofern er eines benutzt – einen Peilsender und finden so heraus, ob er uns zu anderen Mitgliedern bringen oder weitere Informationen liefern kann.“ Enjis Augen weiteten sich überrascht. Er musste zugeben, dass er dem Grünschnabel solche Ausführungen nicht zugetraut hatte. Entgegen seinen Erwartungen und dem bisher flapsigen und unverschämten Verhalten des anderen schien dieser sein Handwerk doch zu beherrschen, wie er mit einem Hauch von Respekt für diesen anerkennen musste. „Korrekt“, erwiderte Enji. „Unseren Informationen nach zufolge trifft die Zielperson alle zwei Wochen entweder dienstags oder donnerstags zwischen 17 und 18 Uhr ein und hält sich dann etwa 5 bis 10 Minuten in dem Laden auf. Wir sollten uns daher –“ „Wir sollten uns am besten aufteilen“, fiel Hawks ihm ins Wort und strich sich nachdenklich mit der Hand über seinen Kinnbart. „Einer von uns sollte drinnen als vermeintlicher Kunde auf Spinner warten, während der andere draußen die Stellung hält und mitteilt, sobald sich die Zielperson nähert. Da du eher aussiehst wie ein abgekämpfter Arbeitnehmer, der sich nach einem anstrengenden Arbeitstag noch schnell was zwischen die Kiemen schiebt, schlage ich vor, dass du den wartenden Kunden mimst und ich draußen Wache schiebe.“ Enji überging den kleinen Seitenhieb auf sein Äußeres, wusste er doch selbst gut genug, dass sich seine prekäre häusliche Situation langsam auch auf seinem Gesicht abzeichnete, und knurrte: „Das wäre auch mein Vorschlag gewesen.“ „Obwohl...“, warf Hawks zögernd ein. „Gibt es in dem Laden auch Yakitori?“ „Was spielt das für eine Rolle?“ „Hast du mir vorhin nicht zugehört?“, fragte Hawks empört. „Meine Leibspeise ist Hähnchen! Und mein Magen hängt echt auf halb acht...“ Wie zum Beweis ertönte ein lautes Knurren von Hawks‘ Körpermitte, was diesen leicht beschämt grinsen ließ, während er seine Hand in den Nacken legte. „Ups...“ Enji schnaubte kurz ob des plötzlichen Wandels des Blonden zu seinem vorigen Selbst und brummte: „Zum einen steht es außer Frage, dass ich als älterer und erfahrener Polizist und zudem Leiter der Ermittlungen die wichtigere und gefahrenträchtigere Aufgabe der direkten Beschattung übernehme. Und zum anderen ist der Laden auf Ramen spezialisiert, also bezweifle ich, dass er auch Yakitori anbietet.“ „Och, schade“, resignierte Hawks leicht schmollend und ließ sich in den Beifahrersitz zurückfallen. „Aber dann bring mir wenigstens was Leckeres mit, Endeavor-san!“ „Wir werden sehen...“ Fünf Minuten später hatten sie das Auto zwei Straßen vom Restaurant entfernt geparkt und liefen durch den jetzt nunmehr nur noch leichten Regen in Richtung ihres Zielortes. Zum Glück schien das Wetter die meisten Hungrigen abgeschreckt zu haben, vor die Tür zu gehen, denn vor dem Laden wartete derzeit niemand, um eingelassen zu werden. Die Chancen, dass Enji direkt einen guten Sitzplatz bekam, von dem aus er die Machenschaften der Zielperson beobachten konnte, waren also gar nicht so schlecht. „Wie sieht dieser Spinner eigentlich aus?“, wollte Hawks wissen, zog den Kragen seiner Jacke gegen den eisigen Wind noch ein Stück höher. „Ich habe auch kein Foto, aber die Beschreibung des Informanten ist recht detailliert, also solltest du keine Probleme haben, ihn zu erkennen, sobald er sich nähert“, erklärte Enji, wich dabei mit einem großen Schritt einer Pfütze aus, in die Hawks, der einen halben Schritt hinter ihm ging, prompt hineinstolperte. „Iih! Jetzt sind meine Füße ganz nass...“ „Dann pass halt auf, wo du hintrittst“, murrte Enji, der keine Lust hatte, dem Gezeter des anderen mehr Aufmerksamkeit als nötig zu schenken. „Jedenfalls“, fuhr er fort, Hawks ignorierend, der ein angewidertes Gesicht ob seiner durchweichten Schuhe machte, „soll Spinner ca. 1,75 m groß sein, lange, violett gefärbte Haare haben und oft einen roten Schal tragen.“ Enji blieb stehen, als sie noch etwa 50 Meter vom Restaurant entfernt waren, und drehte sich zu Hawks um. „Du weißt, was du zu tun hast?“ „Klar“, entgegnete Hawks, plötzlich wieder mit einem Grinsen im Gesicht. „Ich halte mich im Hintergrund und schreibe dir eine Nachricht, sobald er sich dem Laden nähert. Deine Nummer habe ich ja jetzt“, fügte er zwinkernd hinzu. „Gut“, brummte Enji nur und sah ihn erwartungsvoll an. „Und während du das Geschehen drinnen verfolgst, schaue ich mir sein Auto näher an, sofern er mit einem ankommen sollte. Und falls nicht, warte ich darauf, bis er wieder herauskommt, und beschatte ihn weiter unauffällig, bis du zu mir stößt.“ Enji nickte und war gegen seinen Willen erneut beeindruckt von der schnellen Auffassungsgabe des Jüngeren. Vielleicht musste er sich doch eingestehen, dass Yagi mit diesem einen guten Fang gemacht hatte. Aber noch war es nicht aller Tage Abend... Schweigend gingen sie die letzten Meter nebeneinander her, ehe Hawks an einer Ecke stehen blieb, von der man den Eingang des Restaurants im Blick behalten konnte, ohne selbst von dort gesehen zu werden. Enji drehte sich nicht um, sondern hob nur kurz die rechte Hand und sagte „Bis später.“, bevor er die Eingangstür öffnete und im Inneren verschwand. Drinnen war es stickig, die warme Luft gesättigt von wohlriechenden Essensdämpfen, wie üblich in einem Ramen-ya. Enji zog den Mantel aus und hängte ihn über einen Stuhl am Tresen. Dieser stand zwar mit dem Rücken zum Gang, aber von ihm konnte er sowohl aus dem rechten Augenwinkel die Eingangstür als auch aus dem linken Augenwinkel die Tür, die offensichtlich zu den hinteren Zimmern führte, im Blick behalten. Er warf einen Blick auf die Uhr. 16:55 Uhr. Entweder sie hatten Glück oder Pech... vielleicht war Spinner auch schon am Dienstag hier gewesen. Das würde sich zeigen. Einen Versuch war es jedenfalls wert. Er nahm auf dem Barhocker Platz, studierte die kurze Karte, die auf einer Tafel über dem Tresen angebracht war, und entschied sich – um seiner Tarnung eines einfachen Gastes gerecht zu werden und, wenn nötig, einen Grund zu haben, länger zu bleiben – für Age Gyouza und eine würzige Karai Tokusei Miso mit einer extra Portion Chaashuu. Wo er so darüber nachdachte, waren seit seinem Mittagessen auch bereits einige Stunden vergangen und bei ihm meldete sich langsam der Hunger. Er gab seine Bestellung bei dem Mann Mitte Vierzig auf, der sowohl Koch als auch Kellner in einem war, und wartete, jede Faser seines Körpers angespannt, das Handy verkrampft in seiner schwitzigen Hand. Als er merkte, dass dies einen ziemlich auffälligen Eindruck machen könnte, wenn er nicht gleichzeitig darauf herumtippte – wozu er gerade wirklich nicht die Nerven hatte –, legte er es vor sich auf dem Holztresen ab und ließ stattdessen den Blick unauffällig durch den Raum schweifen. Außer ihm waren noch drei weitere Gäste anwesend, die sich auf die insgesamt zehn Sitzplätze verteilten und alle in ihre eigenen Angelegenheiten oder Schüsseln vertieft waren. Da die anderen Gäste wenig Spannendes zu bieten hatten, beobachtete er schließlich den Koch bei der Arbeit. Nach nicht einmal zehn Minuten standen eine heiße Schüssel Suppe und ein Teller mit frittierten Teigtaschen vor ihm auf dem Tisch. Das japanische Fast Food machte seinem Namen in dieser Hinsicht alle Ehre. Enji nahm sich ein Paar Einweg-Holzstäbchen und begann zu essen, das Smartphone dabei nicht aus den Augen lassend. Jeden Moment... Doch weitere fünf Minuten vergingen und nichts passierte. Enji stocherte verkrampft in seiner Suppe, stierte gebannt sein Handy an, als ihn plötzlich ein eisiger Luftzug erfasste und er hörte, wie die Tür aufging. Er hob den Blick und sah, wie eine Person den Laden betrat, den Türrahmen in der linken, ein Mobiltelefon, das laut dem kleinen Klingeln gerade eine Nachricht erhalten hatte, in der rechten Hand. Im gleichen Moment vibrierte sein eigenes Handy. Enjis Pranke griff nach dem Gerät, ehe sowohl er als auch der violetthaarige Fremde auf ihr Telefon schauten. Die Nachricht war kurz und reichlich spät: „Er kommt.“ Enji hob erneut den Kopf, der andere tat es ihm gleich und für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Er wusste sofort, dass etwas gewaltig schief gegangen war, denn der Mann namens Spinner versteifte sich, erstarrte mitten in der Bewegung und stierte ihn an. Noch ehe Enji reagieren oder überhaupt das soeben Geschehene verarbeiten konnte, hatte seine Zielperson bereits auf dem Absatz kehrt gemacht und war aus der Tür gestürmt. Enji, der sich einen Wimpernschlag später aus seiner Starre lösen konnte, sprang von seinem Stuhl auf, warf zwei 1.000 Yen-Scheine – viel zu viel, aber das war ihm in diesem Moment gleichgültig – auf den Tisch und preschte, seinen Mantel in der Hand, Spinner hinterher. Enji stolperte aus der Ladentür, suchte mit seinem Blick hektisch die Umgebung ab, bis dieser schließlich Spinner erfasste, der in etwa 20 Metern Entfernung gerade in ein kleines weißes Auto sprang. Er sprintete los, jede Vorsicht außer Acht lassend – denn was würde diese jetzt noch bringen, wo zum einen seine Tarnung aufgeflogen zu sein schien und zum anderen damit zu rechnen war, dass Spinner das Restaurant bestimmt nicht ein weiteres Mal aufsuchen, sondern seine Aufgabe an jemand anderen abgeben würde? Während er rannte, schmiss der Flüchtende die Fahrertür zu und startete den Motor. Just in dem Moment, als er das Fahrzeug erreichte, die Hand schon zum Griff der Fahrertür ausgestreckt, heulte dessen Motor auf und Spinner, auf dessen Gesicht Enji die nackte Angst sah, raste davon. „Verdammt!“, schimpfte Enji und blanker Zorn wallte in ihm auf, den er jetzt, wo ihm seine Beute so knapp vor der Nase entkommen war, nicht mehr zu zügeln vermochte. Wo war eigentlich Hawks, wenn man ihn brauchte? Sollte dieser nicht aufpassen und ihm nicht nur rechtzeitig die Ankunft der Zielperson ankündigen, sondern auch Maßnahmen ergreifen, um das Ziel weiter verfolgen zu können? Doch von dem Burschen war keine Spur zu sehen, obwohl Enji ihm doch eindrücklich klar gemacht hatte, dass er in der Nähe bleiben sollte. Spinners Auto war gerade um die nächste Ecke gebogen, als er hinter sich ein weiteres Geräusch vernahm. Immer noch vollgepumpt mit Adrenalin reagierte er blitzschnell, drehte sich um und sprang intuitiv einen Schritt zur Seite, als er den Toyota Auris mit quietschenden Reifen auf sich zufahren sah. Einen knappen Meter vor ihm kam der Wagen leicht schlitternd zum Stehen. „Spring rein, Endeavor-san!“, rief Hawks, der auf dem Fahrersitz saß und sich über den Beifahrersitz beugte, durch das geöffnete linke Fenster. Das ließ er sich nicht zweimal sagen, hechtete zur Beifahrertür und noch ehe er sich richtig hatte hinsetzen und die Tür hinter sich schließen können, drückte Hawks bereits wieder auf das Gaspedal und raste dem anderen Auto hinterher, das sie, kaum hatten sie die gleiche Kurve wie dieses zuvor genommen, in einiger Entfernung ausmachen konnten. „Wolltest du mich umbringen?“, blaffte Enji, als er wieder zu Atem gekommen war, und warf Hawks einen vernichtenden Blick aus seinen eisblauen Augen zu. „Nicht doch!“, wiegelte Hawks ab und beschleunigte vor der nächsten abknickenden Kreuzung so stark, dass Enji fürchtete, sie würden gegen die Häuserwand krachen. Instinktiv krallte er sich an dem Griff über dem Seitenfenster fest, um den Ruck, der durch das Auto ging, abzumildern. „Du hast mich gerade fast überfahren, Hawks!“, donnerte Enji, dessen Stimme sich fast überschlug, als sie die nächste Haarnadelkurve mit einer Affengeschwindigkeit nahmen. „Und mit deinem Fahrstil bringst du uns auch noch um!“ „Was denn, ist doch alles gut gegangen!“, meinte Hawks achselzuckend und lenkte, scheinbar mühelos, aber leichtsinnig, das Fahrzeug mit einer Hand. „Hände ans Lenkrad!“, bellte Enji und fürchtete das erste Mal – seitdem er sich vor so vielen Jahren die Narbe im Gesicht zugezogen hatte – um sein Leben. „Ist ja gut, Chef.“ Hawks gehorchte und nahm das Lenkrad nun in beide Hände, ohne aber seinen halsbrecherischen Fahrstil zu ändern. Entweder war Hawks ein echtes Naturtalent beim Fahren oder er hatte nicht nur – wie er behauptete – bei seiner allgemeinen Ausbildung, sondern auch beim Fahrsicherheitstraining der Polizeiakademie Bestnoten erzielt. Sie hatten die kurvenreichen, engen Gassen des vom Verkehr wenig berührten Bereichs, in dem das Restaurant lag, verlassen und steuerten gerade mitten auf die Hauptstraße zu. Diese war zur Rushhour mit Fahrzeugen überfüllt, was eine Verfolgung geradezu unmöglich machen würde. Hawks hatte zwar den Abstand zu dem weißen Kleinwagen dank seiner gewagten Fahrmanöver auf etwa 50 Meter reduzieren können. Doch wenn sie ihn in dem Getümmel auf der Hauptstraße verloren, war es vorbei. „Wo warst du, als Spinner das Restaurant fluchtartig verlassen hat? Du solltest doch Wache schieben“, grollte Enji und sein Zorn kochte wieder hoch, jetzt, wo er sich langsam an Hawks‘ Fahrstil gewöhnt hatte. „Als Spinner reingegangen ist, aber nicht die Tür hinter sich geschlossen hat, habe ich ein komisches Gefühl bekommen und bin gleich losgelaufen, um das Auto zu holen. Hätte ich das nicht getan, hätten wir ihn nie rechtzeitig einholen können.“ „Wenn du vor der Tür gewartet hättest, hättest du ihn auch ohne Auto schnappen können“, wandte Enji grimmig ein. „Und mit welcher Berechtigung?“, konterte Hawks. „Bis zu dem Zeitpunkt hatte er ja noch nichts gemacht, was eine Festnahme gerechtfertigt hätte.“ Enji brummte missgelaunt. Da musste er dem anderen Recht geben. „Hast du wenigstens einen Peilsender am Auto angebracht? Und wieso hast du mir nicht früher Bescheid gesagt?“ „Es ging alles so schnell, ich hatte nicht einmal genug Zeit, um dir die Nachricht zu schreiben. Er kam mit seinem Auto an, stieg aus und kaum war er drinnen, war er auch schon wieder draußen. Und dann hat mein Touchscreen auch nicht funktioniert, da er vom Regen nass geworden war, und ich musste ihn erst mal trocknen, um dich zu informieren.“ Enji knurrte missmutig. Nicht umsonst hegte er eine Abneigung gegen diesen neumodischen Technik-Schnickschnack. Aber Hawks‘ Erklärung konnte weder seine Wut besänftigen noch seine Skepsis mildern. „Was ist drinnen überhaupt passiert?“, fragte Hawks, als er auf seine Ausführungen nicht reagierte. „Spinner kam rein, dann haben unsere Handys gleichzeitig eine Nachricht empfangen. Als sich unsere Blicke dann gekreuzt haben, ist er in Panik geraten und getürmt“, erklärte Enji finster. „Er muss von jemandem gewarnt worden sein.“ „Mmh... ich denke, das mit den gleichzeitigen Nachrichten war eher ein Zufall“, meinte Hawks nur und setzte zu einem Überholvorgang an einem Stadtbus vorbei an, ehe er hinzufügte: „Wenn du Spinner mit so einem Blick angesehen hast, wie du mich gerade ansiehst, dann wundert es mich nicht, dass er davongelaufen ist.“ „Mein Blick? Was soll damit sein?“, blaffte Enji, dessen Augen eiskalte Funken sprühten, während sein ob dieser Anmaßung, er sei für das Scheitern ihrer Mission verantwortlich, vor Wut bebender Körper Hitzewellen auszuströmen schien. „Genau so einen!“, rief Hawks, der ihm einen flüchtigen Blick zuwarf, ehe er sich wieder dem Verkehr vor ihm widmete. „So einen durchdringenden, misstrauischen Blick mit einer gehörigen Portion Wut drin... So typisch Bulle halt... Und gerade schießen deine Augen förmlich Feuerblitze ab, Endeavor-san!“ Enji klappte kurz die Sonnenblende hinunter und schob den kleinen Spiegel auf, in dem er sich kurz betrachtete, bevor er diesen wieder schloss. „Das überzeugt mich nicht.“ „Wer sollte Spinner denn gewarnt haben?“, stellte Hawks die offensichtliche Gegenfrage, während er ihr Auto geschickt zwischen zwei Lastwagen einfädelte, den weißen Kleinwagen sich nie mehr als zwei Autolängen entfernen ließ. Enji lag ein „Du.“ auf der Zunge, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Auch wenn er Hawks erst seit wenigen Stunden kannte, hatte er keinen vernünftigen Grund – außer seinem generellen Misstrauen gegenüber jedermann –, an diesem zu zweifeln und ihm zu unterstellen, ihn und damit die Ermittlungen zu sabotieren. Hawks war ihnen immerhin von der Polizei aus Fukuoka empfohlen worden und ohne vernünftigen Hintergrundcheck hätte Yagi ihn mit Sicherheit nicht ins Team aufgenommen. Und würde er sein Leben in so einer halsbrecherischen Verfolgungsfahrt riskieren, wenn er nicht voll und ganz ihrer Mission verschworen war? Womöglich hatte Hawks sogar Recht und das Ganze war nur ein ungünstiger Zufall. Wenn er so darüber nachdachte, war es nicht das erste Mal, dass Fremde, die er gerade erst kennengelernt hatte, schnell vermutet hatten, dass er von Beruf Polizist war. So ungern er es sich eingestand, aber die Worte des Jüngeren hatten etwas Wahres an sich. „Vorsicht!“, brüllte Enji und kam somit umhin, die Frage zu beantworten, als ihr Auto dem Heck eines anderen gefährlich nahe kam. „Keine Panik, gleich habe ich ihn!“, rief Hawks zurück und wich gekonnt dem vorausfahrenden Fahrzeug aus, indem er die Spur wechselte. Hawks‘ Manöver wurden immer tollkühner, je näher sie dem weißen Kleinwagen kamen, das Ziel zum Greifen nah. Sobald sie ihn eingeholt hatten, würden sie ihn nur noch zum Stehen bringen müssen, indem sie sich vor ihn setzten oder ihn rammten und von der Fahrbahn abdrängten. Wobei dies leichter gesagt war als getan. Denn nicht nur war das andere Fahrzeug kleiner und damit wendiger, aufgrund seiner Größe und Farbe war es in dem abendlichen Verkehr und der bereits einsetzenden Dunkelheit auch nur schwer von den restlichen Fahrzeugen zu unterscheiden. Zudem waren sie auf sich allein gestellt, da selbst, wenn sie Verstärkung rufen würden, sich diese niemals rechtzeitig durch die Fahrzeugmassen zu ihnen vorkämpfen würde. Hawks setzte erneut rechts zum Überholen an, legte dazu einen niedrigeren Gang ein und zog in einer explosionsartigen Beschleunigung an dem für Tokyo so typischen, weißen Kastenwagen vorbei, der ihnen die Sicht auf ihr Ziel versperrt hatte. Sie waren nunmehr auf einer Höhe mit dem anderen Wagen, Enjis Fenster direkt neben demjenigen der Fahrerseite, als sich Enjis eisblaue Augen für einen kurzen Moment mit Spinners trafen, in denen Enji – zu seiner Verblüffung – nicht Angst, sondern Triumph aufblitzen sah. Im nächsten Moment bremste Spinner seinen Wagen so abrupt ab, dass die Fahrzeuge hinter ihm notgedrungen nach rechts ausweichen mussten, um nicht mit ihm zu kollidieren. Hawks schien von diesem Manöver so überrascht und abgelenkt, dass er bei ihrer hohen Geschwindigkeit nicht rechtzeitig abbremsen konnte und frontal auf das ihnen vorausfahrende Fahrzeug auffuhr. Es krachte und sie beide wurden in ihren Sicherheitsgurten zuerst nach hinten und dann nach vorne geschleudert. In Enjis Kopf drehte sich alles und ehe er sich orientieren, geschweige denn sie hätten weiterfahren können, hatte Spinner bereits die nächste Ausfahrt genommen und war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Kapitel 4: Bad Dance -------------------- Angestrengt blinzelte Enji gegen das grelle Sonnenlicht, das trotz der zugezogenen Vorhänge noch unangenehm durch das Fenster des Krankenzimmers schien. Ein Blick auf die Uhr neben seinem Bett verriet ihm, dass es erst 6:37 Uhr war. Er versuchte, sich aus seiner Liegeposition aufzurichten, doch ein stechender Schmerz, der ihm durch Kopf, Nacken und Schläfe fuhr, hinderte ihn daran. Er fühlte sich, als hätte ihn ein Lastwagen überfahren. Vorsichtig hob er die Hand und betastete die linke Seite seiner Stirn, um die ein Verband gewickelt war. Irritiert hielt er inne. Was war passiert? An die letzten Stunden erinnerte er sich nur schemenhaft, getrübt wie durch einen dichten Schleier. Einzelne Fragmente der Ereignisse blitzten vor seinem inneren Auge auf, verschlimmerten seine Kopfschmerzen aber nur noch. Der Unfall, Blut, unerträgliche Kopfschmerzen. Wenig später Blaulicht, Sirenen, Sanitäter, die ihn in einen Krankenwagen begleitet hatten. Vor Übelkeit und Schwindel hatte er sich im Krankenwagen übergeben. Sterile und unangenehm aufblitzende Neonleuchten, Ärzte in weißen Kitteln, die sich seiner angenommen hatten. Er kniff konzentriert die Augen zusammen, in dem Versuch, sich an weitere Einzelheiten zu erinnern, auch wenn dies einen erneuten Stich durch seinen Kopf jagte. Wie war er hier in das Krankenzimmer gekommen? Was war mit den Insassen des anderen Fahrzeugs geschehen, dem sie auf das Heck aufgefahren waren? Wo war Hawks? Übelkeit stieg in ihm hoch, als er mit Bedacht, aber wohl doch zu schnell, seinen Kopf nach rechts wandte, in der bizarren Erwartung, den Blonden in dem Bett neben ihm liegen zu sehen. Doch er war allein, das benachbarte Bett leer. Es waren inzwischen mehr als zwölf Stunden seit dem Unfall vergangen und es wurmte ihn trotz seiner zahlreichen Beschwerden am meisten, dass er hier untätig im Bett lag, nicht einmal in der Lage, ohne erneute Schwindelattacken aufzustehen, während Spinner draußen die Freiheit genoss und mit Sicherheit schon längst über alle Berge... und damit auch ihre letzte Spur im Sande verlaufen war. Wütend und frustriert mahlte er mit seinen Kiefern, ballte über der Bettdecke die Hände zu Fäusten. Sie waren so nahe dran gewesen, Spinner auf die Schliche zu kommen. Das Glück schien ihnen zunächst hold gewesen zu sein, als dieser tatsächlich zu dem vermuteten Zeitpunkt im Lokal erschienen war. Doch dann war alles schief gelaufen. Nicht nur, dass sie keine Beweise hatten sammeln können, dass Spinner tatsächlich in Schutzgelderpressungen der Yakuza verwickelt war. Er hatte sich auch entgegen seiner jahrelangen Erfahrung und jeglichen Polizeigrundsätzen zu einer von vornherein vollkommen aussichtslosen und riskanten Verfolgungsfahrt hinreißen lassen. Was hatte er sich davon erhofft, vor allem ohne jegliche Aussicht, rechtzeitig Unterstützung durch andere Einsatzkräfte zu erhalten? Sie hatten nicht nur sich, sondern auch andere Verkehrsteilnehmer durch diese waghalsige Aktion gefährdet. Aber Hawks war so plötzlich mit dem Auto angerast gekommen und er hatte derart unter Adrenalin gestanden, dass er nicht weiter darüber nachgedacht, sondern nur instinktiv gehandelt hatte. Hawks, der gefahren war wie ein Verrückter und der, obwohl er stets das Fahrzeug unter Kontrolle gehabt zu haben schien, den Unfall verursacht hatte. Hawks... Die Tür flog auf und ein Besucher betrat mit federnden Schritten den Raum. „Guten Morgen, Endeavor-san!“, rief Hawks mit einem freudestrahlenden Grinsen auf dem Gesicht. Enjis Kopf ruckte so schnell nach oben, dass er einen Moment Sterne vor seinen Augen sah. Wenn man vom Teufel sprach... „Ich wollte eigentlich gestern Abend schon vorbeikommen, aber die Ärzte haben mich nicht reingelassen, sondern meinten, du würdest erst mal etwas Ruhe brauchen“, plapperte Hawks ohne Punkt und Komma weiter und schwang sich auf den freien Stuhl neben seinem Bett. Enji musterte Hawks von oben bis unten, konnte aber außer einem kleinen Verband an dessen rechter Hand keine Verletzungen erkennen. Als dessen Vorgesetzter und für den Einsatz Verantwortlicher war er froh, dass sich Hawks nicht ernsthaft verletzt zu haben schien. Doch dass er selbst mit Beschwerden ans Bett gefesselt war, während der Blonde wie das blühende Leben wirkte, erschien ihm nicht fair. „Dich hat‘s ja ganz schön erwischt“, fuhr Hawks fort, als er nicht auf das Gesagte einging, mit einem bemitleidenden Nicken in Richtung seines Kopfes. „Die Ärzte haben mir gesagt, dass du ein HWS-Schleudertrauma 2. Grades und durch eine Platzwunde an der Schläfe auch eine leichte Gehirnerschütterung erlitten hast.“ Enji horchte auf. Daran, dass die Ärzte ihm gegenüber schon Diagnosen erwähnt hatten, konnte er sich nicht erinnern. Diese erklärten aber zumindest seine Nackensteifheit, Muskelverspannungen und das stetige Hämmern in seinem Kopf... sowie das Blut, das ihm in die Augen gelaufen war, und die Erinnerung an einen dumpfen Schlag gegen die Schläfe. Einmal mehr verfluchte er die für seine Körpergröße viel zu kleinen japanischen Autos. Obwohl er keine konkrete Erinnerung daran hatte, konnte er es sich bildlich vorstellen, wie er beim Zusammenprall mit dem vorausfahrenden Fahrzeug mit dem Kopf gegen den viel zu niedrigen linken Holm geprallt war und sich hierdurch die Platzwunde zugezogen hatte. Zum Glück hatten sie beide vorher ihre Sicherheitsgurte angelegt. Wer wusste schon, was ansonsten passiert wäre? Gedankenverloren legte er erneut seine Hand auf den Verband um seine Stirn. „Die Platzwunde haben sie kleben müssen“, erklärte Hawks weiter, der seiner Hand mit dem Blick gefolgt war. „Aber mach dir keine Sorgen, dass du deswegen jetzt entstellt wärst. So ein kleiner Cut über der Augenbraue hat was Verwegenes an sich“, zwinkerte Hawks, doch Enji war nicht zum Lachen zumute. „Du bist schon entlassen?“ „Ich wurde gar nicht stationär aufgenommen“, meinte Hawks achselzuckend. „Als die Ärzte gesehen haben, dass ich nur ein paar Prellungen und Schürfwunden davongetragen habe, haben sie mich direkt wieder nach Hause geschickt.“ Enji nickte und seine Eingeweide krümmten sich in Anbetracht der nächsten Frage, die ihm auf der Zunge brannte. „Und das andere Unfallfahrzeug?“ „Das andere Auto wurde wie durch ein Wunder nur leicht beschädigt. Dem Fahrer und Beifahrer geht es gut, sie sind auch schon aus dem Krankenhaus entlassen worden.“ Enji atmete hörbar erleichtert ein und ließ sich, ein wenig entspannter, in sein Kissen sinken. „Das Gleiche kann man allerdings nicht von unserem Wagen behaupten“, meinte Hawks nach einer kurzen Stille und – für ihn gänzlich untypisch – ein wenig kleinlaut. „Der hat einen Totalschaden...“ Enji seufzte. Er hatte es befürchtet, doch die Wahrheit jetzt zu hören, war um einiges bitterer, als er erwartet hatte. Das würde wieder einiges an Schreibkram für ihn bedeuten... und das alles nur wegen Hawks‘ riskanter Fahrweise. „Wenn du nicht mit einem Bleifuß durch die Straßen geheizt wärst, wäre es auch nicht zum Unfall gekommen“, machte er seiner aufsteigenden Wut Luft. „Und Spinner wäre uns nicht entwischt.“ „Du hättest die Verfolgungsfahrt jederzeit abbrechen können, Chef“, konterte Hawks, der diesen Vorwurf offensichtlich nicht auf sich sitzen lassen wollte. Dessen Einwand stimmte, aber im Moment war es einfacher, Hawks die Schuld an dem Misserfolg ihrer Mission zu geben, als sich sein eigenes Fehlverhalten einzugestehen. „Komisch nur, dass, kaum dass du da bist, scheinbar nichts mehr funktioniert... und wir direkt an deinem ersten Tag in einen Unfall verwickelt werden“, blaffte Enji, ließ seine schlechte Laune an dem anderen aus und warf Hawks einen finsteren Blick zu. Im gleichen Moment bereute Enji bereits seinen Ausraster, als er in Hawks‘ versteinerte Miene blickte. „Eigentlich bin ich auch nur gekommen, um zu sehen, ob es dir gut geht“, meinte Hawks tonlos, stand auf und wandte sich zum Gehen. „Warte, Hawks.“ Hawks, der schon fast die Tür erreicht hatte, hielt inne, drehte sich aber nicht zu ihm um. Enji zögerte, rang innerlich mit sich selbst, da ihm solche Worte niemals leicht fielen, ganz besonders nicht bei Personen, die er kaum kannte und ihm dazu noch im Rang untergeordnet waren. Aber aus Hawks‘ merkwürdigem Verhalten konnte er nur schließen, dass er ihn mit seinen Vorwürfen, die er lediglich im Affekt gesagt hatte, doch irgendwie... verletzt hatte. Oder zumindest wollte er so etwas nicht zwischen ihnen stehen lassen... nicht schon zu so einem frühen Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft. „Ich bin zu weit gegangen“, murmelte er leise, doch deutlich vernehmbar, woraufhin sich Hawks zu ihm umdrehte. „Ich trage die Verantwortung für das, was passiert ist.“ Auf Hawks‘ Gesicht machte sich wieder ein Grinsen breit und er trat zurück ans Bett. „Tatsächlich bin ich auch gekommen, um dir zu sagen, dass ich eine neue Spur gefunden habe.“ Enjis Eingeweide verkrampften sich und er spürte eine noch größere Schuld, Hawks‘ Absichten und Fähigkeiten infrage gestellt zu haben. Immerhin waren ihre Ermittlungen ja auch schon vor Hawks‘ Auftauchen vor die Wand gefahren worden. Was immer Hawks zu präsentieren hatte, es war ihr einziger Anhaltspunkt und er würde nach ihm greifen, wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm. Er richtete sich ein wenig in seinem Bett auf, in dem Versuch, etwas würdevoller zu wirken, als es die aktuellen Umstände und sein Gefühlsausbruch zuließen. „Eine neue Spur?“ „Wenn du wieder gesund bist...“, zwinkerte Hawks und wackelte dabei mit seinen buschigen Augenbrauen. „Was hältst du dann von einem kleinen Abstecher in einen Stripclub?“ „Todoroki-san, was machst du denn schon hier?“ Enji hatte gerade seinen Mantel an die Garderobe in seinem Büro gehängt, als sich auch schon sein Chef, mit den Händen in den Hüften und einem tadelnden Blick im Gesicht, vor ihm aufgebaut hatte. „Du solltest doch erst in anderthalb Wochen wieder zur Arbeit kommen! Seit dem Unfall sind gerade einmal fünf Tage vergangen und du solltest –“ „Die Ärzte haben mich vorgestern entlassen“, fiel Enji Yagi ins Wort und setzte sich, ohne den anderen weiter zu beachten, hinter seinen Schreibtisch, wo er den PC hochfuhr. „Das heißt aber nicht, dass du dich nicht weiter schonen sollst“, schalt ihn Yagi erneut. „Deine Krankschreibung lautete auf zwei Wochen!“ „Und in der Zwischenzeit drehe ich zuhause Däumchen?“, erwiderte Enji, dem in den letzten zwei Tagen in seinen eigenen vier Wänden die Decke auf den Kopf gefallen war, gereizt... Zumal er sein Zuhause in letzter Zeit nur umso mehr mied, jetzt, da ihn die dortige Einsamkeit jeden Tag aufs Neue an sein familiäres Versagen erinnerte. Er war zwar noch lange nicht wieder fit, hatte immer noch mit Nacken- und Kopfschmerzen zu kämpfen. Aber das sowie seine häusliche Situation würde er Yagi nicht auf die Nase binden. Er zuckte also nur mit den Schultern und sagte: „Da kann ich genauso gut auch zur Arbeit kommen.“ Enji sah, wie Yagi resigniert den Kopf schüttelte, es wohl aufgegeben hatte, seine Sturheit brechen zu wollen. „Wie läuft es mit dem neuen Kollegen?“, fragte er stattdessen. „Du meinst... Hawks?“, erwiderte Enji, obwohl er wusste, wen Yagi meinte. „Ja, genau“, strahlte Yagi. „Hat er sich schon gut eingelebt?“ „Du meinst, abgesehen davon, dass wir direkt an seinem ersten Arbeitstag verunfallt sind und ich ihn seit seinem kurzen Besuch im Krankenhaus nicht gesehen habe...?“ „Jaah, das mit dem Unfall war wirklich ein sehr unschöner Einstieg“, meinte Yagi und wedelte dabei beschwichtigend mit der Hand. „Aber zum Glück ist euch beiden und den anderen Insassen ja nichts passiert und der kleine Blechschaden war ja auch nicht der Rede wert.“ Enji stutzte. Natürlich kannte er Yagi und hatte aufgrund dessen versöhnlichen Naturells nicht mit einer großen Standpauke wegen des schrottreifen Polizeiwagens gerechnet. Doch dass dieser den finanziellen Schaden derart kleinreden würde, überraschte ihn. „Sag mal...“, schnitt Enji nach einem kurzen Schweigen ein Thema an, das ihm schon seit geraumer Zeit unter den Nägeln brannte. „Hast du den Hintergrundcheck bei dem Neuen persönlich gemacht?“ „Ja, wieso?“ Yagi blickte ihn fragend an und so fuhr er fort: „Mir hat er sich lediglich als Hawks vorgestellt, seinen richtigen Namen wollte er mir nicht verraten. Kannst du mir mehr darüber sagen? Und über seinen Background?“ „Er heißt Takami Keigo und soweit ich dies seinen Unterlagen entnommen habe, hat er bereits mit achtzehn Jahren die Polizeiausbildung abgeschlossen und ist, als er zwanzig wurde, der Spezialeinheit in Fukuoka, die sich mit der Yakuza befasst, beigetreten.“ „Takami...“, murmelte Enji nachdenklich, hatte das unterschwellige Gefühl, diesen Namen schon einmal gehört zu haben. Aber da dies ein in Japan nicht allzu seltener Familienname war, sollte er sich darüber wohl nicht allzu sehr wundern. Enji riss sich aus seinen Gedanken los und fragte: „Apropos... Wo ist er heute eigentlich? Ich dachte, er sei in seinem neuen Büro, aber da ist er nicht.“ „Er ist vor etwa einer Stunde mit den Worten davongestürmt, dass er ein wenig Feldforschung betreiben wolle. Der Spur weiter nachgehen oder so ähnlich.“ Yagi zuckte kurz mit den Schultern. „Weißt du, wohin er wollte?“ Enji konnte es sich denken, doch wollte er mit seiner Antwort keinen falschen Eindruck vermitteln, also sagte er nur: „Viel mehr kann ich dir auch noch nicht sagen. Es wird sich zeigen, wo die Spur hinführt... Wir sehen uns.“ Yagi nickte, wusste aus ihrer jahrelangen Zusammenarbeit, dass er jetzt keine weiteren Informationen von ihm erhalten würde, sodass er sich umdrehte und auf die Bürotür zusteuerte. „Pass gut auf Hawks-kun auf, Todoroki-san. So einen Mitarbeiter findet man nicht alle Tage.“ Und mit diesen Worten und – Enji meinte, sich verguckt zu haben – einem Funkeln in den Augen verließ sein Chef das Büro. Zwei Wochen später war Enji gerade in Aizawas neuste Zusammenstellung von Informationen vertieft, als, ohne Vorwarnung oder anzuklopfen, seine Tür aufflog. Schwungvoll knallte das Türblatt gegen die dahinterstehende Garderobe und Enji zuckte unwillkürlich zusammen, ließ den Bericht, den er in der Hand gehalten hatte, auf den Schreibtisch fallen. „Guten Morgen, Chef!“, flötete Hawks, der an seinem Schreibtisch vorbeisauste und sich ungefragt auf einen der Sessel fallen ließ, die Füße auf dem kleinen Couchtisch ablegte. Enji bedachte dies mit einem missbilligenden Blick, sagte aber nichts. Er hatte es in den letzten zwei Wochen, in denen dies Hawks‘ morgendliches Ritual geworden war, aufgegeben, den Blonden deswegen zurechtzuweisen, da dieser seine Beschwerden jedes Mal gekonnt ignoriert hatte... und die Aufregung darüber seinen Blutdruck nur unnötig in die Höhe trieb. „Hast du was Neues?“, stellte Enji, wie jeden Morgen, dieselbe Frage, erwartete die immer gleiche Antwort. Doch heute wurde er überrascht. „Tatsächlich habe ich heute Morgen die letzten Informationen zu dem Stripclub zusammengetragen“, erklärte Hawks und Enji, der sich interessiert vorbeugte, konnte ihm seine dabei stolzgeschwellte Brust nicht verdenken. „Es kann losgehen.“ „Gut.“ Enji nickte zufrieden, froh, dass er endlich wieder etwas zu tun bekam. Zwar war es nicht so, dass er ansonsten nicht arbeiten würde oder sie per se in den immer gleichen Teams arbeiteten. Aber er als Leiter des Kommissariats, bei dem sämtliche Fäden zusammenliefen, hatte das Privileg, über die Ermittlungen jedes Mitarbeiters informiert zu sein und sich die vielversprechendsten Spuren herausgreifen und mit dem jeweiligen Kollegen weiter verfolgen zu können. Und da Hawks derzeit der Einzige mit einer interessanten Spur war, hatte dies unweigerlich zu einer Teambildung zwischen ihnen geführt. Und er brannte darauf, nach dem Unfall vor drei Wochen endlich wieder in den Ring zu steigen und nicht nur hinter dem Schreibtisch zu sitzen und Akten zu wälzen. „Welche Informationen hast du für mich?“ „Durch meine Kontakte habe ich in Erfahrung gebracht, dass ein Mann, der Mitglieder für die Liga der Schurken angeworben haben soll, häufiger im Busty Bunny aufschlägt“, führte Hawks aus, wippte dabei mit dem Sessel nach hinten, sodass Enji ihn schon das Gleichgewicht verlieren und nach hinten fallen sah. „Und wann?“ „Meist kommt er abends gegen 22 Uhr. Wir müssen also eine Nachtschicht einlegen.“ „Hast du damit ein Problem?“, knurrte Enji und erhob sich von seinem Schreibtischstuhl, um sich Hawks gegenüber auf das Sofa zu setzen. „Ich?“, fragte Hawks entrüstet und ließ den Sessel wieder nach vorne kippen. „Ich bin 23, durchzechte Nächte in Clubs und Bars gehören in meiner Altersgruppe zur Standardbeschäftigung.“ „Auf mich machst du nicht den Eindruck, als würdest du dich jedes Wochenende in den Nachtclubs herumtreiben“, wandte Enji brummend ein, bedachte Hawks mit einem durchdringenden Blick aus seinen eisblauen Augen. „Du wärst überrascht, was du alles noch nicht über mich weißt, Endeavor-san...“, erwiderte Hawks mit einem Zwinkern. Darauf, dass der andere bislang noch nicht mit gänzlich offenen Karten gespielt hatte, musste Hawks ihn nicht erst hinweisen. Doch seine Gedanken über den neuen Kollegen mussten warten. Zuerst hatten sie einen Einsatz zu planen... Ungeduldig und mit verschränkten Armen starrte Enji auf seine Armbanduhr. Es war 21:43 Uhr und sie hatten sich bereits vor dreizehn Minuten am Hachiko-Ausgang des Bahnhofs treffen wollen. Doch so sehr Hawks offensichtlich – wie er mit einer immer stärker pulsierenden Stirnader feststellte – eine an Lebensmüdigkeit grenzende Schnelligkeit in Fahrzeugen bevorzugte, schien er auf sonstige Pünktlichkeit wenig Wert zu legen. Und so stand er hier, inmitten einer Traube von Menschen an der wohl überfülltesten Kreuzung der Welt, wie bestellt und nicht abgeholt. Die Leute, die nicht auf ihren Weg geachtet und ihn unabsichtlich angerempelt hatten, hatten diesen Fehler schnell bereut, als sie seinen mörderischen Gesichtsausdruck gesehen hatten, und hastig ein „Entschuldigung!“ gemurmelt, ehe sie davongeeilt waren. Enji betrachtete das Treiben auf Shibuyas berühmter Kreuzung, bei deren Grünphase jedes Mal, gerade an einem Freitagabend, tausende Menschen querfeldein die Straße überquerten, ehe, sobald die Ampel auf Rot sprang, die Kreuzung wie durch ein Wunder geleert war und der Verkehr ungehindert fließen konnte. Wie hypnotisiert beobachtete Enji das Spektakel eine Weile, als ihm jemand von hinten auf die Schulter tippte. „Hallo Chef, da bin ich“, keuchte Hawks und schnappte hechelnd nach Luft. „Sorry, ich bin zu spät. Die Züge waren so brechend voll, dass ich erst in die fünfte Bahn reingepasst habe. An die Verhältnisse in Tokyo muss ich mich echt noch gewöhnen.“ Er brachte ein verschmitztes Grinsen zustande und rieb sich – immerhin, wie Enji grimmig zur Kenntnis nahm – schuldbewusst den Hinterkopf. „Wir haben genug Zeit verloren, lass uns gehen“, überging Enji knurrend dessen Entschuldigung und steuerte zielsicher auf die Kreuzung zu, Hawks im Schlepptau. „Ganz schön viel los hier“, bemerkte dieser staunend und schien die Umgebung förmlich in sich aufzusaugen. „Und ganz schön laut. Bei diesen ganzen Reklametafeln kann einem ja fast schwindelig werden. Ups, sorry!“ „Augen auf die Straße“, blaffte Enji missgelaunt, als Hawks ihm in die Hacken trat. Der Abend fing ja schon wieder gut an... Schneller als gedacht erreichten sie ihr Ziel. Über dem kleinen und von außen recht unscheinbaren Lokal hing in gold-rot leuchtenden Lettern der Schriftzug „Busty Bunny“. In das Etablissement in dieser Seitenstraße verirrte man sich bestimmt auch nur, wenn man wusste, wonach man zu suchen hatte. „Nach dir“, brummte Enji und bedeutete Hawks voranzugehen. Dieser ließ sich das nicht zweimal sagen und so traten sie nacheinander durch die Eingangstür, deren Anstrich auch schon mal bessere Tage gesehen hatte. Drinnen staunte Enji nicht schlecht, als er sah, dass der Laden entgegen seinem äußeren Erscheinungsbild und seinen dementsprechenden Erwartungen gut besucht war. Er ließ, wie es ihm bereits in Fleisch und Blut übergegangen war, den Blick durch den Raum schweifen. In der Mitte zog sich ein langer Steg entlang, der zu einer kleinen Bühne führte und von einem Tresen umgeben war, an dem bereits einige Männer – und sogar ein paar Frauen – Platz genommen hatten. In der rechten Ecke war die Bar und daneben konnte er einen Gang zu den privateren Räumlichkeiten ausmachen. Um den Laufsteg positionierten sich Grüppchen kleinerer Tische und links vom Eingang befanden sich größere Sitzgruppen, die mit Tüchern und Wänden voneinander getrennt waren und auf diese Weise sowohl ein wenig mehr Privatsphäre als auch weiterhin einen guten Blick in Richtung des Laufstegs boten. „Wir sollten uns auf eines dieser Sofas setzen“, schlug Enji vor, dem Hawks nickend zustimmte. „Von dort hat man tatsächlich die beste Sicht.“ Aus seinem Mund klang es wie ein Lob, dass er diese Tatsache so schnell herausgefunden hatte... Doch ehe Enji Hawks wegen seines frechen Tonfalls zurechtweisen konnte, war dieser bereits vorgeprescht und nahm einen der separierten Sitzplätze ein. Missmutig vor sich hin brummend, folgte Enji Hawks‘ Beispiel und ließ sich neben ihm auf dem Sofa nieder. „Wie, hast du gesagt, sieht dieser Giran aus?“, fragte Enji, der die Antwort eigentlich wusste, aber noch einmal sicher gehen wollte, während er seinen Blick über die Gäste schweifen ließ. „Ein grauhaariger Mann mittleren Alters mit Brille und Ziegenbart“, antworte Hawks, folgte aber nicht seinem Beispiel und beobachtete den Raum, sondern schnappte sich die vor ihnen auf dem Tisch liegende Getränkekarte. „Was willst du trinken?“, fragte er Enji und stöberte in der Karte. „Ich denke, ich nehme einen Wodka Martini.“ „Wir sind im Dienst“, raunzte Enji, konnte nicht fassen, dass der andere jetzt tatsächlich Alkohol bestellen wollte. „Entspann dich, Endeavor-san“, wiegelte Hawks mit einer lässigen Handbewegung seinen Einwand ab. „Wir würden uns eher verdächtig machen, wenn wir keinen Alkohol trinken würden. Und ein Glas hat noch niemandem geschadet.“ Tatsächlich, so musste Enji feststellen, als er die anderen Gäste näher ins Auge fasste, hatte ausnahmslos jede Person ein alkoholisches Getränk oder mehrere vor sich stehen. Resigniert seufzte er. „Meinetwegen. Aber nur eins.“ Freudestrahlend winkte Hawks die nächste Kellnerin heran, die – für seinen Geschmack – etwas zu viel Haut und Dekolleté zeigte. „Einen Wodka Martini für mich und für meinen Freund...“ Hawks ließ den Satz unvollendet und sah ihn erwartungsvoll an. „Whiskey. Ohne Eis.“ „Oh, direkt ganz was Hartes“, kommentierte Hawks schelmisch grinsend. „Kümmere dich um deinen eigenen Kram“, murrte Enji und fügte, als die Kellnerin entschwunden war, um ihre Bestellung weiterzugeben, hinzu: „Ich werde nur unserer Rolle gerecht.“ „Wohl wahr, Endeavor-san, wohl wahr“, zwinkerte Hawks. „Um unserer Rolle als einfache Kunden gerecht zu werden, müssen wir aber auch die anderen hier angebotenen Leistungen in Anspruch nehmen.“ „Was meinst...?“ Doch Hawks hatte bereits einer Gruppe leichtbekleideter Frauen zugewunken, die, als hätten sie nur auf solch ein Zeichen gewartet, prompt zu ihnen herüber geeilt kamen. „Guten Abend, meine Herren“, übernahm eine schwarzhaarige Schönheit in Strapse und Leder das Reden. „Mein Name ist Midnight und meine Kolleginnen und ich werden Ihnen gerne einen unvergesslichen Abend bereiten.“ „Kein Interesse.“ „Jetzt sei doch nicht so, Endeavor-san“, lenkte Hawks beschwichtigend ein und stach ihm mit dem Ellenbogen in die Seite, als die drei Frauen ihn mit verwirrten Gesichtern ansahen. „Die Mädels machen auch nur ihren Job...“ Hawks schwieg kurz und Enji gefiel nicht, wie dieser ihn musterte. „Oder kannst du dich mehr für Männer begeistern? Die Chefin kann uns bestimmt welche rüber –“ „Kein Bedarf“, schnitt Enji ihm das Wort ab und Flammen loderten in seiner Brust auf. Was erdreistete sich der Bursche... „Das wäre vollkommen okay für mich“, plapperte Hawks unbeirrt weiter und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Wobei... deine Kinderschar spricht eher nicht dafür, dass du –“ „Ich sagte kein Bedarf. Weder an dem einen noch an dem anderen.“ Enji kochte innerlich vor Zorn, konnte sich nur mit Mühe und auch nur deswegen beherrschen, weil die drei Frauen bereits jetzt in Anbetracht seiner offen gezeigten Wut einen Schritt zurückgewichen waren. „Ist hier alles in Ordnung, meine Herren?“, ertönte plötzlich eine Stimme neben ihnen und entschärfte damit mit einem Schlag die angespannte Situation. Enji wandte sich um, um die Frau ansehen zu können. Ihre karamellfarbene Haut stand im starken Kontrast zu ihrem langen, weißen Haar und sie trug – als einzige in diesem Club, wie ihm nunmehr auffiel – ein Playboy-Kostüm mit Häschenohren und dazu passendem puscheligen Schwanz. Ihrem Outfit und der selbstbewussten Körperhaltung nach zu schließen, war sie wohl die Leiterin des Stripclubs. „Wie ich sehe, haben Sie bereits Bekanntschaft mit meinen Mädchen gemacht. Wenn Sie mit ihren Leistungen nicht zufrieden sind, kann ich auch gerne –“ „Nein, schon in Ordnung“, fiel Enji ihr ins Wort, um nicht den falschen Eindruck zu erwecken, die drei Frauen hätten etwas falsch gemacht, wofür ihre Chefin sie vielleicht tadeln würde. „Wir –“ „Hawks, wie schön, dich zu sehen“, unterbrach die Hasendame nunmehr ihn, als sie schließlich den Blonden neben ihm entdeckte. „Mädchen, ihr könnt gehen“, richtete sie sich noch an ihre Bediensteten, die froh über die Gelegenheit schienen, sich anderen Kunden zuzuwenden. Enji stutzte. Natürlich war ihm bewusst, dass Hawks im Rahmen seiner Ermittlungen in Vorbereitung des heutigen Einsatzes das Striplokal schon das ein oder andere Mal von innen in Augenschein genommen haben musste. Aber es irritierte ihn nicht unwesentlich, dass er sogar schon dessen Chefetage bekannt war. „Miruko-san“, erwiderte Hawks mit einem freundlichen Lächeln und ließ sich nicht anmerken, dass es ihm in irgendeiner Weise unangenehm sein könnte, dass Enji von seinen häufigen Besuchen im Striplokal erfahren hatte. „Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite.“ Noch mehr als die Tatsache, dass Hawks hier bekannt wie ein bunter Hund war, irritierte Enji das ungewohnt förmliche Verhalten des Blonden, der in seiner Rolle als einfacher Gast vollkommen aufzugehen schien. Einmal mehr beschlich ihn das Gefühl, dass Hawks ein besserer Schauspieler war, als man es ihm aufgrund seiner lockeren Art zutrauen würde. „Und wer ist dein rothaariger Begleiter?“, fragte Miruko und musterte Enji von oben bis unten. „Ein Kollege von der Arbeit“, meinte Hawks in beiläufigem Ton und ergänzte: „Apropos, wir warten hier auf einen weiteren Arbeitskollegen. Einen Mann mittleren Alters mit grauen Haaren und Ziegenbart. Hast du –?“ „Du meinst Giran? Der ist schon seit Wochen nicht mehr hier gewesen. Er hat sich wohl einem anderen Stripclub zugewandt... Er stand ja immer eher auf so junge Dinger, dass ich mich eh schon fragte, was er hier wollte. Ich denke, ihr wartet hier umsonst.“ Hawks blinzelte verwirrt und auch Enji zog verstimmt die Augenbrauen zusammen. „Was meinst du damit, er sei schon lange nicht mehr hier gewesen?“, wollte Hawks wissen. „Ich habe noch vor ein paar Tagen von Mount Lady gehört, dass er erst letzten Freitag hier gewesen sei.“ „Oh, das muss wohl ein Missverständnis gewesen sein“, meinte Miruko entschuldigend. „Mount Lady ist noch nicht so lange bei uns und kennt sich mit den Stammgästen noch nicht so gut aus. Sie muss ihn wohl mit dem alten Takada-san verwechselt haben, der ihm recht ähnlich sieht... mit dem einen Unterschied, dass dieser noch alle Finger an seiner Hand hat.“ Enji starrte wie betäubt geradeaus, hörte, wie Hawks geräuschvoll schluckte. Schon wieder waren sie in einer Sackgasse gelandet und das wussten sowohl er als auch Hawks, der seinen Fehler gerade bemerkt hatte. „Danke, Miruko-san, wir sehen uns dann!“, verabschiedete Hawks die junge Frau mit einem, wie nur Enji es erkennen konnte, erzwungenen Lächeln. Miruko verbeugte sich leicht und ließ sie allein in ihrer Sitzecke zurück. Hawks seufzte. „Das ist echt ziemlich bescheiden gelaufen...“ „Das ist noch gelinde ausgedrückt,“ brummte Enji zurück, fand in dem Moment nicht einmal den Elan, Hawks finster anzufunkeln. „Aber wo wir schon mal hier sind…“, wandte Hawks, nun wieder mit einem Grinsen im Gesicht ein. „Was hältst du von einem Lapdance auf Staatskosten?“ „Ich brauche jetzt erst mal einen Drink...“, brummte Enji und schnappte sich sein Whiskeyglas, das die Kellnerin just in diesem Moment brachte und das er mit einem Schluck hinunterkippte. Er schien momentan wahrlich vom Pech verfolgt. Kapitel 5: Bad Memory --------------------- Stöhnend und mit schmerzenden Gliedern kam Enji zu sich. Er merkte, wie er auf der Seite lag, sein Gesicht an etwas Hartem und Rauem klebte. Er versuchte vorsichtig, seinen Kopf zu heben, doch sogleich explodierte ein derartiger Schmerz in dessen Innerem, dass er ihn sogleich wieder ablegte. Stattdessen öffnete er langsam die Augen und obwohl der Raum im Halbdunkeln lag, war das einfallende Licht wie eine Tortur für ihn. Er blinzelte, um eine klare Sicht zu bekommen, und sah, dass er auf dem mit Tatami ausgelegten Boden seines Schlafzimmers lag, neben ihm der ausgerollte Futon. War er im Schlaf von seiner Schlafstätte herunter gerollt und so auf den unbequemen Matten aus Reisstroh gelandet? Aber noch viel dringender war die Frage: Was war überhaupt passiert? Mühsam und gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpfend, schaffte er es, sich auf den Bauch zu drehen und auf den Futon zu schleppen, wo er, erschöpft von der Anstrengung, mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegen blieb. Mit dem angewinkelten Arm über der oberen Gesichtshälfte versuchte er, den Schwindel und das Verlangen, sich übergeben zu müssen, in den Griff zu bekommen. Nach einigen Minuten beruhigte sich sein Magen etwas und seine Gedanken klärten sich. Mit ihnen stieg ein Gefühl der Scham dafür in ihm auf, in welch erbärmlicher Lage er gerade aufgewacht war... Ebenso kam mit ihnen die in seinem Inneren bohrende Frage, wie es so weit und wie er hierher gekommen war... so wie das bleierne Bewusstsein, dass dies wohl kaum ohne Hilfe anderer geschehen war und ihn daher jemand in diesem unzurechnungsfähigen Zustand gesehen hatte. Angestrengt und obgleich es seine hämmernden Kopfschmerzen nur noch verschlimmerte, versuchte Enji, sich die Ereignisse der vergangenen Nacht in Erinnerung zu rufen. Nicht nur, dass er jetzt innerhalb von drei Wochen zweimal einen Filmriss erlitten hatte... In beiden Fällen – und so viel wusste er, auch ohne sich an konkrete Einzelheiten erinnern zu können – war Hawks an seiner Lage nicht gerade unschuldig gewesen. Hawks, der ihn überhaupt erst überredet hatte, während des Dienstes Alkohol zu trinken. Zugegeben, der Jüngere hatte keine Ahnung davon gehabt, dass er dazu neigte, gerade in emotional angespannten Situationen, wie sie Misserfolge für ihn darstellten, dem Alkohol mehr zuzusprechen, als es seinem Gemütszustand und damit seiner Umgebung gut tat. Aber als sich dann auch noch der Einsatz als totales Fiasko herausgestellt hatte, hatte er – dies war seine letzte bewusste Erinnerung – den ihm angebotenen Whiskey so schnell heruntergestürzt, dass es in Anbetracht der Umstände zu dem Zeitpunkt unausweichlich gewesen war, dass dies nicht sein letztes Glas an diesem Abend gewesen sein sollte. Zumindest nach dem zu schließen, wie er sich jetzt fühlte. Er kniff die Augen zusammen, versetzte sich zurück zu dem Moment, in dem er mit Hawks zusammen auf dem Sofa im Stripclub gesessen hatte, ihre Spur gerade von Miruko zunichte gemacht worden war. Ihre Getränke waren angekommen und... Hawks hatte noch etwas von einem Lapdance erwähnt. Oh Gott, hoffentlich hatte er sich nicht darauf eingelassen! Enji stöhnte qualvoll ob der Vorstellung, dass sich eine halb nackte Frau auf seinem Schoß geräkelt und ihm dabei ihren üppigen Busen entgegengereckt hatte. Sollte Hawks es tatsächlich zugelassen haben, dass er sich derart erniedrigte? Von dieser Schmach, sollte dieses Ereignis – und sein Absturz als solcher – auf der Arbeit die Runde machen, würde er sich mit Sicherheit nicht erholen können. Wie könnten ihn seine Mitarbeiter nach dieser Alkoholeskapade je wieder ernst nehmen? Immerhin hatte er Familie... eine Frau... und einen Ruf zu verlieren. Doch so sehr er sich auch das Hirn zermarterte, sein Gedächtnis ließ ihn hinsichtlich der näheren Ereignisse im Busty Bunny im Stich. Er würde wohl erst am Montagmorgen im Büro erfahren, was tatsächlich dort passiert war... und ihm graute es jetzt schon vor den Reaktionen seiner Mitarbeiter. Denn Hawks, der sich ja mit Yagi und dem Rest des Kollegiums so gut verstand und sehr redselig war, würde so eine Geschichte mit Sicherheit nicht für sich behalten... oder doch? Doch damit würde er sich befassen, wenn es soweit war. Wichtiger war jetzt, herauszufinden, was ansonsten noch passiert und wie er nach Hause gekommen war. Erinnerungsfetzen blitzten vor seinem inneren Auge auf. Hawks, der lauthals lachte und ihm kumpelhaft auf den Rücken klopfte... der ihm zuprostete und dabei etwas von seinem eigenen Getränk verschüttete. Anscheinend hatten sie bis zu einem bestimmten Punkt einen... ganz netten Abend zusammen verbracht, stellte Enji verwundert über seine eigenen Erinnerungen fest. Hatte er doch Hawks bisher eher als zwar intelligenten und um keine Antwort verlegenen, aber doch auch nervigen Zeitgenossen empfunden. „Trink, trink, trink!“, hallte plötzlich der Chor aus Hawks‘ Stimme mit denen der sie umringenden leicht bekleideten Damen in seinem Kopf wider, während er bildlich vor sich sah, wie er selbst ein weiteres Glas Whiskey an seine Lippen führte. Okay, es war tatsächlich Hawks‘ Schuld, dass es... dass er derart eskaliert war. Natürlich war er erwachsen und mit seinen 45 Jahren mehr als alt genug, um für seine Entscheidungen selbst verantwortlich zu sein. Und dennoch... er war überzeugt, dass Hawks‘ schlechter Einfluss ihn – vielleicht in einem Anflug von Größenwahn und dem Bedürfnis, sich gegenüber dem Jüngeren zu beweisen – noch übermütiger hatte werden lassen und seine Leichtsinnigkeit noch befeuert hatte. Eine weitere Szene nahm vor seinen Augen Gestalt an. Er sah Hawks und sich draußen vor der Tür stehen, die Mäntel gegen die kalte Nachtluft um sich geschlungen. „Wir sollten jetzt am besten nach Hause gehen“, murmelte Enji lallend und wankte bedrohlich, was ob seiner riesigen Statur so aussah, als würde ein Baum umzufallen drohen. „Okay“, meinte Hawks, dessen Stimme ebenfalls belegt war, dessen Blick jedoch noch klarer war als sein eigener. „Wo wohnst du?“ „Was geht dich das an?“, blaffte er zurück, doch da er im selben Moment erneut fast das Gleichgewicht verlor, erzielte es nicht den gewünschten einschüchternden Effekt. „Du bist kaum noch in der Lage, geradeaus zu gehen. Ich begleite dich nach Hause, damit ich sicher sein kann, dass du dort auch ankommst.“ „Nicht nötig, ich… komme allein... zurecht.“ „Keine Widerrede. Ich rufe uns ein Taxi.“ Hawks hatte ihn nach Hause gebracht? Hatte er ihm seine Adresse verraten? Wieso hatte er das zugelassen? Aber der Zustand, in dem er sich gerade befand, sprach stark dafür, dass sein Heimweg tatsächlich mit einigen Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre, hätte sich Hawks seiner nicht angenommen. Mit einer erneuten Woge aus Scham, aber auch einer Spur Dankbarkeit für seinen Kollegen, musste er sich eingestehen, dass er ohne Hawks‘ Hilfe jetzt vielleicht nicht in seinem Schlafzimmer, sondern in einer Seitengasse auf dem Bürgersteig lag, was sein Ego noch weniger verkraftet hätte. Die Szene in seinem Kopf veränderte sich. Sie stiegen gemeinsam aus dem Taxi. Es hatte wieder begonnen zu regnen. Hawks und er torkelten – er mehr als der Blonde – Arm in Arm die Einfahrt zu seinem Anwesen entlang, vorbei an einem schön angelegten Zengarten mit akkurat geschnittenen Büschen und Bäumen und perfekt gepflegtem Rasen auf das im traditionell japanischen Stil erbaute Haus zu. Er nestelte einige Zeit an seinem Schlüsselbund herum, ehe er den richtigen Schlüssel und das entsprechende Schlüsselloch fand und sie – durchnässt bis auf die Knochen – hereinließ. Drinnen streifte er mit einem Automatismus, den er sich in seinem alkoholisierten Zustand gar nicht mehr zugetraut hätte, im Eingangsbereich die Schuhe ab und stolperte in den Wohnbereich. „Wow, hier wohnst du?“, staunte Hawks, der ihm auf Socken in das Haus gefolgt war. „Leitende Polizisten in Tokyo scheinen echt nicht schlecht zu verdienen...“ „Das ist das Haus meiner Eltern...“, murmelte Enji zurück. Er hätte sich bei den aktuellen Preisen in der Millionenmetropole dieses Haus selbst mit seinem Gehalt niemals leisten können und wollte Hawks keinen falschen Eindruck von seinen Vermögensverhältnissen vermitteln. Er ließ sich schwerfällig auf das Sofa vor dem Fernseher fallen – diesen westlichen Luxus hatte er sich trotz der sonst vorherrschenden japanischen Einrichtung gegönnt. Diese Entscheidung stellte sich jedoch schnell als Fehler heraus, da ihn, kaum dass er in der Waagerechten lag, erneut der Schwindel überkam. „Wohnst du hier allein?“, bohrte Hawks weiter nach und aus halb geöffneten Augen sah Enji, wie er neugierig seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht...“, ranzte er ihn ungehalten an, doch diese kleine Anstrengung verschlimmerte das Schwindel- und Übelkeitsgefühl nur noch, sodass er kurz würgte, als er seinen Magensaft aufsteigen spürte. „Man wird ja wohl mal fragen dürfen.“ Hawks zuckte mit den Schultern. „Für eine Person ist das Haus... jedenfalls ziemlich groß.“ „Anstatt deine Nase in... Angelegenheiten zu stecken, die dich nichts... angehen...“ Die Übelkeit ließ ihn verstummen, da er fürchtete, dass er sich, sollte er den Mund jetzt öffnen, übergeben müsste. Verdammter Alkohol! Und wieso musste es ausgerechnet ihn erwischen, während Hawks noch scheinbar munter seine Wohnräume inspizieren konnte? „... könntest du mir etwas zu... trinken bringen“, vollendete er schließlich den Satz und gestikulierte schwach in Richtung der angrenzenden Küche. „Ich denke, du hattest heute genug, Endeavor-san“, meinte Hawks in tadelndem Ton, doch Enji unterbrach ihn. „Doch keinen Alkohol! Ich meine Wasser!“ „Oh... klar“, erwiderte der Blonde langsam; ihm machte der Alkohol scheinbar doch mehr zu schaffen, als man es ihm auf den ersten Blick anmerkte. „Wo bewahrst du... die Gläser auf?“ „Im obersten Schrank, linke Tür.“ Enji vernahm Schritte, als sich Hawks auf den Weg in Richtung der Küchenzeile machte, und sah durch seine halbgeöffneten Lider, wie dieser das Licht anmachte. Er hörte, wie der andere daraufhin durch die Regale kramte, offensichtlich auf der Suche nach einem Glas. „Hier sind keine Gläser, Endeavor-san“, maulte Hawks und kaum eine Sekunde später fiel etwas mit einem lauten Scheppern zu Boden. Enji wäre beinahe von der Couch gesprungen, war dazu jedoch nicht in der Lage, sodass er seinen Kopf lediglich nach hinten über die Armlehne streckte, um zu sehen, was Hawks in der Küche trieb. Rasch verengte er seine Augen zu Schlitzen, da ihn die Lampe, die sich unmittelbar hinter Hawks befand, blendete. „Nichts passiert, nichts passiert!“, rief Hawks sofort. „War nur 'ne Metallschüssel.“ „Die Gläser sind oben –“ „Ich hab‘ sie!“, stieß Hawks triumphierend aus, als er den letzten Schrank von links öffnete und sich nach den Gläsern streckte, die im obersten Regal standen. Enji wollte seinen Blick gerade wieder abwenden, als Hawks‘ Oberteil hochrutschte und er für den Bruchteil einer Sekunde etwas Rotes aufblitzen sah. Er blinzelte und im nächsten Moment war es auch schon wieder verschwunden, sodass er sich nicht sicher war, ob er es sich alkoholbedingt nur eingebildet oder die Lampe hinter Hawks seine Netzhaut getroffen und seinen Sinnen einen Streich gespielt hatte. Hawks hatte zwischenzeitlich zwei Gläser aus dem Schrank genommen und mit Leitungswasser gefüllt, von denen er ihm nun eines hinhielt. Zögerlich, um ja keine erneute Übelkeitswelle zu provozieren, richtete sich Enji ein Stück auf und nahm das Glas entgegen. Doch anstatt es zu seinen Lippen zu führen, fragte er, da er seinen Argwohn ob seiner Wahrnehmung nicht ablegen konnte: „Was ist mit deinem Rücken, Hawks?“ „Was meinst du?“ „Ich dachte... ich hätte dort was gesehen, als du... dich nach den Gläsern gereckt hast...“ Hawks drehte sich um und blickte an sich herunter, sah ehrlich irritiert aus. „Was soll da sein?“ „Schon gut“, wiegelte Enji ab und trank einen Schluck, nach dem er sich gleich etwas besser fühlte. Er hatte sich wahrscheinlich wirklich nur verguckt und seine Augen hatten ihm einen Streich gespielt. Ohnehin hatte er gerade andere Sorgen... Enji öffnete die Augen, war sich nicht sicher, ob er dies gerade geträumt hatte, die Szene tatsächlich passiert war oder sein Gehirn die Gedächtnislücken, die er definitiv hatte, mit anderen Erinnerungen und Mutmaßungen ergänzt hatte. Schließlich hatte er in den vergangenen Wochen schon einige Male Skepsis und Argwohn hinsichtlich Hawks und seinem plötzlichen Erscheinen entwickelt. Nicht zu vergessen, dass ihm selbst seitdem auch gar nichts mehr zu gelingen schien, ganz gleich, was er angefasst hatte... und sämtliche Spuren, die Hawks aufgetan, oder Hilfen, die er beigesteuert hatte, nicht gefruchtet hatten. Doch seine vermeintlichen Erinnerungen zeigten auch, dass sich Hawks um ihn gekümmert hatte, obwohl dieser selbst dem Alkohol auch nicht abgeneigt gewesen war. Er hatte ihn nicht nur nach Hause und ihm etwas zu trinken, sondern ihn offensichtlich auch in sein Schlafzimmer gebracht und... Enji schaute an sich herunter, bemerkte erst jetzt, dass er nur noch ein T-Shirt und Boxershorts trug... Hemd und Hose lagen, fein säuberlich zusammengelegt, auf einem Stuhl neben dem Futon. Offensichtlich hatte Hawks ihm auch beim Ausziehen geholfen und ihn ins Bett verfrachtet... oder zumindest seine Kleidung entgegengenommen. Denn er bezweifelte, dass er in der gestrigen Nacht zu letztgenannter Handlung noch in der Lage gewesen war. So sehr er sich auch bemühte, er hatte keine Erinnerung an das, was zwischen der Szene im Wohnzimmer und seinem morgendlichen Erwachen passiert war. Lediglich zwei Gedanken oder vielmehr vage Gefühle, zu wenig, um sie tatsächlich greifen zu können, kreisten in seinem Kopf, wenn er sich an die letzten Stunden zu erinnern versuchte. Das erste Gefühl hatte mit seinem schalen Geschmack auf der Zunge zu tun, der ihn vermuten ließ, dass er sich doch noch erbrochen hatte. Er hoffte inständig, dass Hawks zu diesem Zeitpunkt schon gegangen war... Doch da er kein Erbrochenes in diesem Zimmer sah, gab es nur die Möglichkeit, dass er es noch rechtzeitig ins Bad geschafft oder sich in einem anderen Zimmer erleichtert hatte... oder dass Hawks die Sauerei aufgewischt hatte... was ihn noch mehr in der Schuld des anderen stehen lassen würde und seine Eingeweide vor Scham brennen ließ. Die zweite Erinnerung kam eher einem Traum gleich, ein Aufflackern seines Geistes, über das sich ein dichter Nebel gelegt hatte, das aber dennoch real schien. Er wusste nicht, ob er geschlafen hatte oder wach gewesen war, aber... Er hatte ein messerscharfes Bild von seinem ältesten Sohn vor seinem inneren Auge, gepaart mit Kummer, Schmerz und Scham, die seinen Körper durchflutet hatten... und das untrügliche Gefühl, dass er in diesem Kaleidoskop aus Emotionen Touyas Namen gemurmelt hatte. Und mehr als bei seiner Ungewissheit hinsichtlich seiner körperlichen Erleichterung hoffte er, dass Hawks zu dem Zeitpunkt, als ihm dieser Name über die Lippen gekommen war, bereits das Haus verlassen hatte. Er verfluchte sich für seine Unfähigkeit und Schwäche, die er in der gestrigen Nacht gezeigt hatte. Nicht nur, dass sein junger Kollege ihn in einer derart verletzlichen und erbärmlichen Lage gesehen und möglicherweise jeglichen Respekt vor ihm, den er sich mühsam bei diesem erarbeitet hatte, verloren hatte. Der Alkohol hatte ihm womöglich auch die Zunge gelockert und ihn Sachen sagen lassen – woran er sich nicht mehr erinnern konnte –, die er nicht einmal seinen engsten Arbeitskollegen, geschweige denn einem Fremden, den er gerade einmal drei Wochen lang kannte, anvertraut hätte. Seine familiäre Situation ging einfach niemanden etwas an... Enji schüttelte den Kopf, vertrieb die düsteren Gedanken aus diesem, auch wenn er dadurch seinen Schwindel noch verstärkte. Es brachte nichts, sich weiter über die gestrige Nacht den Kopf zu zerbrechen. Er würde das, was geschehen war, dadurch nicht ändern können. Er würde sich daher noch etwas ausruhen, später, wenn der Schwindel es zuließ, eine heiße Dusche nehmen und ansonsten das Wochenende über das Haus nicht verlassen. Am Montag auf der Arbeit würde er sich dann mit den Folgen seiner Leichtsinnigkeit beschäftigen, früher nicht. Und Montag würde, wie Montage es nun einmal so an sich hatten, gewiss schneller kommen als gedacht. Am Montagmorgen war Enji der Erste im Büro. Zum einen, weil er nach dem erneuten Rückschlag am Freitag und seinem persönlichen Tiefpunkt das Bedürfnis hatte, etwas Produktives zu tun. Zum anderen, da er kein Verlangen verspürte, seinen Mitarbeitern, wenn es sich nicht gerade vermeiden ließ, direkt bei der Ankunft über den Weg zu laufen und unangenehme Fragen nach dem Verlauf ihres Einsatzes beantworten zu müssen. Gegen Mittag merkte er jedoch, wie er nach stundenlangem Aktenwälzen allmählich die Konzentration verlor und den Drang nach einem Kaffee schließlich nicht mehr ignorieren konnte. Grimmig und schlecht gelaunt erhob er sich von seinem Schreibtisch, stapfte zur Tür, in der Hoffnung, der Gang dahinter wäre leer. Tatsächlich befand sich – wie er verwundert feststellte – trotz der späten Stunde niemand auf dem Flur, sei es, um einen Kollegen zum Mittagessen abzuholen, sei es, um Unterlagen in andere Büros zu bringen oder Informationen auszutauschen. Die meisten Mitarbeiter schienen – so folgerte er jedenfalls aus den rundherum leeren Büros, die er passierte – bereits zum auswärtigen Essen ausgeflogen zu sein. Umso besser, dann hatte er den Aufenthaltsraum, in dem sich die kleine Küchenzeile nebst Kaffeemaschine und Mikrowelle befand, hoffentlich für sich allein. Der Pausenraum lag am anderen Ende des langen und verwinkelten Korridors in der Nähe der Treppe. Gerade als er um die nächste Ecke biegen wollte, hinter der er sein Ziel erreichen würde, hörte er aus dieser Richtung Stimmen. Enji blieb stehen, hinter der Ecke verborgen. Seine Hoffnung, ungestört einen Kaffee trinken zu können, konnte er begraben. Er wollte gerade auf dem Absatz kehrt machen und zu seinem Büro zurückgehen, um es später noch einmal zu versuchen, als er die Stimme, die sprach, erkannte, sodass sie ihn innehalten ließ. „Das hättet ihr echt sehen müssen, das war wirklich eine ganz schöne Menge! Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut!“ „Ach, meinst du?“, hörte er jetzt eine andere, weibliche Stimme herausfordernd fragen. „Wenn du wüsstest, was er zuhause so alles gerissen hat, würdest du ihn noch mit ganz anderen Augen sehen!!“ „Unbelievable! Noch krasser als das, was Hawks eben erzählt hat?!?“, wandte eine exzentrische und laute Männerstimme ein. „So einen crazy Shit kann man doch gar nicht toppen... Was meinst du, Aizawa?“ „Halt mich da raus“, vernahm Enji die desinteressiert klingende Stimme des Schwarzhaarigen. „Nur weil du mich genötigt hast, dir bei deinem Mikrowellenessen Gesellschaft zu leisten, heißt das nicht, dass ich mich an eurem Tratsch beteilige.“ „Jetzt sei doch nicht so ein Spießer, Aizawa!“, beschwerte sich die Frau seufzend und Enji konnte sich ihre abwertende Handbewegung dabei fast bildlich vorstellen. „Ist doch nichts dabei, sich ein wenig auszutauschen. Außerdem ist es ja nicht so, dass er mitkriegt, was wir hier bereden. Zumal es ja nur die Wahrheit ist.“ Enji horchte auf. War er sich bis gerade nicht sicher gewesen, worüber die vier redeten, war es für ihn nun offensichtlich, dass er und seine Eskapade am Freitag das Thema des Gesprächs waren. Und da stand er, wie angewurzelt hinter der Ecke zum Pausenraum, und belauschte – unfreiwillig, aber doch nicht in der Lage wegzuhören, geschweige denn wegzugehen –, wie seine Mitarbeiter sich das Maul über ihn zerrissen. Er hatte es zwar erwartet, konnte aber nicht umhin, dass ein Gefühl von Enttäuschung in ihm aufstieg, dass Hawks den anderen von den Ereignissen am Freitagabend berichtet hatte. Denn auch wenn sie sich nicht lange kannten und längst keine Freunde, sondern allenfalls Bekannte waren, fühlte er sich doch irgendwie... verraten. Oder hatte er sich die wenigen Ereignisse, an die er sich hatte erinnern können… das Zuprosten, dass der andere ihn nach Hause begleitet und sich um ihn gekümmert hatte… nur eingebildet? „Ich frage mich wirklich, ob es irgendjemanden gibt, der in so einer Situation nicht die Reißleine gezogen hätte“, meinte Hawks, dessen Stimme er gleich erkannt hatte. „Dabei hätte ich gedacht, dass ein Mann seiner Größe noch mehr wegstecken –“ Hawks verstummte, als Enji, der es nicht mehr ausgehalten hatte, untätig zuzuhören, den Raum betrat. Für einen Moment wirkte er irritiert, fing sich im gleichen Moment aber wieder und begrüßte ihn mit einem freudestrahlenden Lächeln. „Endeavor-san! Wir machen gerade Mittagspause. Ich habe Kaffee gekocht, willst du auch einen?“ Hawks hob die Kanne mit schwarzer Flüssigkeit hoch, die neben ihm auf der Küchentheke, an die er sich locker angelehnt hatte, stand, und blickte ihn auffordernd an. Enji ließ den Blick von der Kanne über die anderen Anwesenden streifen. Aizawa saß, über eine Schüssel Instant Ramen gebeugt, am Esstisch, ihm gegenüber Yamada Hizashi, der ihm ein zahniges Grinsen schenkte. Neben Hawks stand Kamiji Moe, die gerade ihr Mittagessen aus der Mikrowelle holte. Als er nicht antwortete, sondern die vier weiterhin nur finster anstarrte, fuhr Hawks fort: „Echt schade, dass der Freitagabend so schnell vorbei war, nachdem du die verdorbene Auster im Busty Bunny gegessen hast.“ Enji blinzelte irritiert, was ihn kurz von der aufsteigenden Flamme der Wut, die in ihm zu lodern begonnen hatte, ablenkte. Verdorbene Auster? „Yeah, schade, dass ihr wegen eures Tipps in diesem Stripclub keinen Erfolg hattet und den Einsatz früher abbrechen musstet, guys“, meinte Yamada achselzuckend. „Aber da kann man nichts machen, wenn solche Meeresfrüchte nicht fangfrisch sind, oder Chef?!? Wobei man in so einem Laden wohl kaum high Quality erwarten kann.“ „Das war echt Pech“, stimmte Kamiji zu. „Dabei schien die Spur ja recht vielversprechend...“ „Jetzt ist sie trotzdem tot und wir fangen wieder bei Null an...“, gab auch Aizawa tonlos seinen Senf dazu, ohne von seiner Suppe aufzusehen. „Ist doch egal!“, wiegelte Hawks mit einem Händewinken ab. „Beim nächsten Mal läuft es bestimmt besser...“ „Den Bericht zu Freitag habe ich übrigens schon fertig und Yagi-san vorhin vorbeigebracht“, fügte Hawks an Enji gewandt hinzu. „Er war gerade beim Mittagessen und hatte sich einen Berg von 70 Onigiri mitgebracht, von denen er vor meinen Augen fast alle aufgegessen hat!“ „Wie gesagt...“, warf Kamiji ein. „Ich habe ihn mal Zuhause besucht, um ihm seine Trainingsjacke zu bringen, die er auf der Arbeit vergessen hatte. Und da hat er ein ganzes Schwein allein verdrückt!“ „Das ist echt… amazing!!“, staunte Yamada und richtete sich an Hawks. „Und beim 65. Reisball hat er schlapp gemacht?“ „Ja“, nickte Hawks. „Er schien ganz geknickt von dieser Niederlage zu sein. Dabei hatte ich ihn sogar noch angefeuert, aber die 70 hat er einfach nicht mehr geschafft.“ Enji stand immer noch in der Mitte des Raumes, blickte von einem zum anderen und plötzlich ging ihm, mit einem bohrenden schlechten Gewissen gegenüber Hawks, ein Licht auf. Hawks hatte wirklich dicht gehalten und den anderen eine Geschichte von einem verdorbenen Magen aufgetischt, um den frühen Abbruch ihrer Mission und seine... Unpässlichkeit zu erklären, sollte diese durchsickern und er heute Morgen nicht zur Arbeit erscheinen. Stattdessen hatten sich seine Mitarbeiter nicht über ihn, sondern über eine Art Kampfessen von Yagi unterhalten, das Hawks in dessen Büro beobachtet hatte. Hawks, der sogar schon den Bericht über den gescheiterten Einsatz geschrieben und abgegeben hatte... Entgegen seinen Vorbehalten und seinen – zugegeben wenig handfesten – Verdächtigungen erwies sich Hawks tatsächlich als ein... echter Kamerad. Mit vor Scham brennenden Eingeweiden, nach außen hin aber bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, brummte Enji in einem überheblicheren Ton, als es die Situation erfordert hätte, um seine wahren Gefühle zu überspielen: „Als Nummer eins kann man von Yagi tatsächlich mehr als lausige 65 Stück erwarten...“ Und mit einem Zucken seines Kopfes in Richtung der Kaffeekanne fügte er hinzu: „Du kannst die Tasse ruhig voll machen, Hawks.“ Kapitel 6: Bad Approach ----------------------- Weitere viereinhalb Wochen vergingen, in denen ihre Ermittlungen nur schleppend Fortschritte machten. Ein weiteres potentielles Mitglied der Liga der Schurken, das sie dank Aizawas Auswertung der neuesten Hinweise aus der Bevölkerung näher ins Auge gefasst hatten, war vor wenigen Tagen abgetaucht. So zogen die Tage ins Land und Enji wurde allmählich nicht nur ungeduldig, sondern auch wütend, dass sie weder Erfolge verzeichnen noch überhaupt etwas Präsentables vorzeigen konnten. Yagi machte ihm zwar keinen direkten Vorwurf, doch die wöchentlichen Besprechungen mit seinem Vorgesetzten waren noch nie so kurz und dadurch unangenehm gewesen wie jetzt. Auch spürte er den Druck und die wachsende Unzufriedenheit seiner Mitarbeiter, die sich nichts sehnlicher zu wünschen schienen, als dass ihre Arbeit endlich einmal wieder Früchte trug. Enji konnte es ihnen nicht verübeln, denn er merkte an sich selbst, wie er immer gereizter und dünnhäutiger wurde... und das sollte bei ihm schon etwas heißen. Allerdings waren die Misserfolge auf der Arbeit nicht der einzige Grund für seine schlechte Laune... Auch privat machten ihm die immer näher rückenden Ereignisse zu schaffen, selbst wenn er sie befürwortet, dem Vorschlag sogar sofort zugestimmt hatte. Denn die Veränderungen, die sie mit sich bringen würden, würden zum einen sein bisheriges Leben völlig auf den Kopf stellen und ihm zum anderen die Kontrolle über sämtliche weiteren Geschehnisse aus der Hand nehmen – und er hasste es, wenn er nicht die Zügel in der Hand hielt. Aber an seine familiären Belange wollte er gerade keine weiteren Gedanken verschwenden. Darüber zu grübeln, würde den drohenden Kontrollverlust über sein Leben auch nicht verhindern können... Tatsächlich war die Stimmung innerhalb des Kommissariats so angespannt, dass es die meisten Mitarbeiter bevorzugten, nach getaner Arbeit zügig nach Hause zu verschwinden. Kaum einer blieb länger als nötig und auch die Pausen gestalteten sich oft unpersönlich und kurz. Der Einzige, der dieser Lethargie zu trotzen schien, war Hawks, der jeden Tag gut gelaunt zur Arbeit kam und jedem ein freundliches Lächeln schenkte, dem er über den Weg lief. Hawks war fast schon zu gut gelaunt für die aktuelle Situation und Enji fragte sich nicht das erste Mal, was Hawks in so eine Hochstimmung versetzte. Doch wann immer er bei dem Jüngeren nachgebohrt hatte, hatte dieser stets grinsend mit den Schultern gezuckt und zugesichert, er sei genauso ratlos wie der Rest der Truppe, wollte sich davon nur nicht unterkriegen lassen. Hawks‘ Optimismus in allen Ehren, aber so ganz konnte Enji nicht glauben, dass dieser nicht doch noch ein paar Eisen im Feuer hatte, in die er ihn nur nicht einweihte. Schließlich war der Blonde auch schon in der Vergangenheit für Überraschungen gut gewesen; und nicht umsonst war er ihnen von der Polizei in Fukuoka so angepriesen worden, dass Yagi gar keine andere Wahl gehabt hatte, als ihn einzustellen. Als hätte jemand seine Gedanken gelesen, klopfte es plötzlich an der Tür und noch ehe Enji den Blick heben und die Person hereinbitten konnte, war die Tür bereits aufgeflogen und sein Besuch hereingeflattert. Zumindest musste dies geschehen sein, denn im nächsten Moment hatte sich Hawks schon mit einer Gesäßhälfte auf seinem Schreibtisch niedergelassen, während er ihm lässig eine Akte hinwarf. „Was ist das?“, fragte Enji, nicht ohne einen genervten Unterton in der Stimme, als er sah, dass Hawks‘ Hintern eines seiner Dokumente verknitterte. „Unser nächster Einsatz“, erwiderte Hawks mit stolzgeschwellter Brust und erwischte Enji damit auf dem falschen Fuß. „Tatsächlich?“ Skeptisch hob Enji die Akte vom Schreibtisch auf und blätterte sie durch – erst zügig, da er aufgrund ihrer aktuellen Flaute nicht mit interessanten Inhalten rechnete, mit der Zeit schließlich immer langsamer und sorgfältiger –, hielt hier und da inne, um sämtliche Informationen aufzunehmen. Begierig und doch seinen Sinnen nicht trauend, flogen seine Augen über jedes Blatt, sogen den Text in sich auf. Das war... doch nicht möglich... „Ist es das, was ich denke?“, fragte Enji schließlich, nachdem er die Akte zu Ende gelesen hatte. „Yup“, meinte Hawks nur und blickte ihn über das ganze Gesicht grinsend an. „Wo hast du das her?“, wollte Enji, in dem ob des Inhalts dieser Akte erneut Skepsis aufkeimte, wissen. „Wer ist dein Informant?“ „Das kann ich dir leider nicht sagen, da er gesagt hat, dass er mir sonst keine weiteren Informationen mehr zukommen lässt“, sagte Hawks achselzuckend. „Schwachsinn“, blaffte Enji und sein Blick verfinsterte sich. „Solche sensiblen Informationen kriegt man nicht einfach so und wenn du mir nicht sagen willst, woher du sie hast, kann ich ihnen keinen Glauben schenken... und dir auch nicht.“ „Okay, okay“, meinte Hawks und hob beschwichtigend die Hände. „Nun, ein Gast im Busty Bunny hat mir erzählt, dass die Arbeitskollegin eines Stammkunden eine Freundin hat, deren Mann wiederum mit jemandem befreundet ist, der regelmäßig ins Ausland fährt. Und dieser Freund saß mal wegen Zuhälterei für drei Jahre im Gefängnis, wo er jemanden kennengelernt haben soll, der früher für die Yakuza junge Frauen und Kinder verschleppt und an ausländische Kunden verkauft haben soll.“ Enjis Skepsis verschwand nicht, wuchs eher noch an, während in seinem Inneren die Flamme der Wut zu zünden begann. „Willst du mich auf den Arm nehmen?!“, polterte er und warf Hawks einen vor Funken sprühenden Blick aus seinen eisblauen Augen zu, vor dem wohl jeder verängstigt zurückgeschreckt wäre. Nicht so Hawks. „Was denn? Du wolltest doch wissen, wie ich an die Infos herangekommen bin! Und so... war es“, endete Hawks ziemlich lahm. „Wenn es einfach wäre, hätte es wohl auch jeder hingekriegt...“ Da musste ihm Enji wohl oder übel Recht geben. Wenn er schließlich eines aus der Zusammenarbeit mit dem Jüngeren in den letzten Wochen gelernt hatte, dann, dass er längst nicht so unerfahren war, wie es sein Alter vermuten ließ. Vielmehr hatte Hawks ihn ein ums andere Mal mit seiner Weitsicht und Intuition überrascht. Wenn es überhaupt einer seiner Mitarbeiter hinkriegen würde, solche Informationen, wie sie ihm nun vorlagen, zu beschaffen, dann war es Hawks. Die Angelegenheit war aber zu riskant... und zu wichtig, als dass er der Aktenlage ohne jede Nachfrage blind vertrauen würde. „Du bist dir sicher, dass die Informationen vertrauenswürdig sind?“ „Absolut“, bekräftigte Hawks mit einer für ihn vollkommen unüblichen ernsten Miene. „Nicht umsonst komme ich erst nach Wochen zu dir. Ich wollte erst alle Ermittlungsergebnisse zusammengetragen haben, ehe ich sie dir zeige.“ Enji konnte nicht umhin, dass ihn die Aufregung packte. Endlich... nach all der Zeit hatten sie eine Spur... eine richtig heiße Spur und das nicht nur zur Yakuza als solcher, sondern auch zu dem Tätigkeitsfeld, das er in all den Jahren am erbittertsten verfolgt hatte, das aber am schwersten zugänglich war. „Das“, sagte Enji mit bedeutungsschwerer Stimme und stach mit seinem Finger auf den Aktendeckel, „ist die wohl größte Chance, die wir in den letzten Jahren hatten. Du weißt, was das bedeutet?“ „Der Einsatz hat absolute Priorität“, antwortete Hawks wie selbstverständlich und nickte, lehnte sich dabei ein wenig über den Schreibtisch, um die Akte wieder an sich zu nehmen. „Ich werde gleich mit den Planungen beginnen.“ „Fordere bei Hakamada das SIT an. Wir werden alle zur Verfügung stehenden Kräfte brauchen, um den Drahtzieher festzusetzen und die Verschleppten in Sicherheit zu bringen. Letzteres hat oberste Priorität.“ „Verstanden, Endeavor-san.“ „Wir haben noch acht Tage bis zu der geplanten Überführung nach Übersee. Wenn alles glatt läuft, können wir nicht nur einige Frauen und Kinder retten, sondern auch der Liga der Schurken in diesem Handelszweig einen gehörigen Dämpfer verpassen. Vorausgesetzt, der Typ redet. Aber dazu werde ich ihn schon bringen...“, knurrte Enji. „Du nimmst das mit dem Menschenhandel ziemlich ernst, was?“, bemerkte Hawks und beobachtete ihn aufmerksam. „Das solltest du auch, Hawks“, brummte Enji zurück, ohne auf die unterschwellige Frage des Jüngeren einzugehen. „Kriegst du das hin?“ „Zweifelst du etwa an mir?“, konterte dieser mit einem frechen Grinsen um die Mundwinkel. „Mach einfach deine Arbeit.“ Enji musste zugeben, dass er lange nicht mehr so viel Anspannung vor einem Einsatz verspürt hatte wie jetzt. Sie hatten jede Minute, die ihnen geblieben war, genutzt und, so hoffte er, sämtliche Maßnahmen getroffen, um optimal vorbereitet zu sein. Mit Tagen der Planungen und zahlreichen Anrufe, des Anforderns von Einsatzmitteln, des Auskundschaftens der Örtlichkeit und Beschaffens von gerichtlichen Genehmigungen hatte er gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vorbeigeflogen war. Und ehe er sich versehen hatte, war der Tag der Großlage gekommen. Es war bereits 15:30 Uhr und in knapp einer Stunde würden sich Hawks und er zur Einsatzzentrale vor Ort aufmachen. Den Einsatz als solchen würde zwar Yagi als Polizeiführer leiten, doch Hawks und er waren als Mitglieder des Führungsstabs an der Besonderen Aufbauorganisation beteiligt und damit unmittelbar am Ort des Geschehens. Die eigentliche Arbeit vor Ort würde das Special Investigation Team, das speziell für solche besonderen Gefährdungslagen ausgebildet und ausgestattet war, übernehmen. Das war Enji soweit auch ganz recht. Zwar juckte es ihm unter den Fingernägeln, die Verantwortlichen selbst dingfest zu machen. Aber seine Aufgaben waren andere... und er würde schon noch die Gelegenheit bekommen, sich der Zielperson... anzunehmen; spätestens beim Verhör. Enji legte die restlichen Dokumente, die er für den Einsatz brauchen würde und noch einmal – zum wohl zehnten Mal – durchgegangen war, in seine Einsatzmappe, klemmte sie sich unter den Arm und griff nach seiner Tasche, ehe er sich auf den Weg zum Umkleideraum machte. Zwar würden sie keine Körperschutzausrüstung inklusive Helm und schwerer Bewaffnung wie die Einsatzkräfte selbst benötigen, da sie nicht an vorderster Front mitmischen würden. Auch für diejenigen, die in der Einsatzzentrale arbeiteten, war es jedoch bei derlei gefährlichen Großlagen nicht unüblich, nicht nur eine Uniform anzuziehen, sondern sich auch mit Schutzweste und Waffe auszurüsten. Nur für den Fall der Fälle. Als Enji den Umkleideraum der Männer erreichte, fand er diesen leer vor. Wohlgemerkt hatte er mit nichts anderem gerechnet, da zu dieser Uhrzeit weder ein Schichtwechsel stattfand noch andere Einsätze anstanden, die ein Auf- oder Abrüsten seiner Kollegen erfordert hätten. Auch Hawks hatte er noch nicht erwartet, da sie noch etwas mehr als eine Stunde Zeit hatten und er selbst sich lediglich deswegen so früh zum Umziehen begeben hatte, um sich die Wartezeit zu verkürzen. Er stellte die Tasche mit seinen Utensilien auf die Bank, legte die Aktenmappe darauf ab und öffnete seinen Spind, in dem sich neben seiner Uniform und Weste auch seine Waffe befand. Er griff ein weißes Shirt und Hemd sowie ein Paar dunkelblauer Hosen nebst dazu passendem Jackett und Krawatte aus dem Schrank und begann sich umzuziehen. Als er gerade den Gürtel seiner Hose geschlossen hatte, seine Hand nach dem weißen Shirt ausgestreckt, flog die Tür auf. „Hallo, Endeavor-san, wie ich sehe, bist du schon –“ Doch was er schon war, erfuhr Enji nicht, da Hawks, der durch die Tür gestürmt war, abrupt innegehalten hatte und ihn jetzt anstarrte... oder vielmehr seine nackte Brust. Da Hawks scheinbar selbst gemerkt hatte, dass er begonnen hatte zu starren, riss er seinen Blick los, als sei nichts passiert, und steuerte auf seinen eigenen Spind, der gegenüber dem Enjis lag, zu. „Gleich geht’s los, hm?“, versuchte Hawks die peinliche Stille mit einem lockeren Spruch zu durchbrechen. „Sieht so aus“, brummte er daher nur zurück und widmete sich wieder seinem Shirt. „Bist du bereit?“ „Ich? Oh... ja... klar“, nuschelte Hawks gedämpft durch seine Jacke, die er sich, anstatt sie vorne am Reißverschluss aufzumachen, gerade über den Kopf zog. Enji zog verwundert eine Augenbraue nach oben und musterte den Jüngeren aus dem Augenwinkel, während er sich selbst sein Shirt anzog. So... durcheinander hatte er Hawks noch nie erlebt. War er, der immer einen flotten Spruch auf den Lippen hatte und so immer Herr der Lage und seiner eigenen Gefühle schien, etwa aufgeregt wegen des Einsatzes? Oder lag es – auch wenn sich Enji nicht vorstellen konnte wieso – an der merkwürdigen Situation vor wenigen Augenblicken? Hawks hatte sich mittlerweile in Windeseile seiner Schuhe und Hose entledigt und nestelte jetzt, nur noch mit Boxershorts und einem schwarzen Shirt bekleidet, an dem Reißverschluss seiner Uniformhose herum, der offensichtlich klemmte. Ungewollt, aber doch fasziniert, glitt Enjis Blick über den schmalen, aber unerwartet, da stets unter weiten Jacken versteckt, austrainierten Körper des Jüngeren. Er blieb kurz an seinen sehnigen Oberarmmuskeln, die sich unter dem engen Shirt abzeichneten, hängen, ehe er weiter nach unten wanderte in Richtung – „Glotzt du mir etwa auf den Hintern, Endeavor-san?“, hörte er plötzlich Hawks‘ entrüstete Stimme wie aus weiter Ferne und schrak mit dem unerklärlichen Gefühl, ertappt worden zu sein, aus seinen Gedanken auf. „Wieso sollte ich?“, blaffte er ungehalten zurück, nachdem er einen Sekundenbruchteil später seine Fassung wiedergewonnen hatte. „Nun, ich weiß nicht...“, meinte Hawks und seine Stimme klang nun komplett verändert. Enji wusste nicht, was soeben geschah, doch er war wie erstarrt, konnte aus einem ihm unerfindlichen Grund keinen Muskel im Körper bewegen, als er sah, wie Hawks die Uniformhose, die er in der Hand gehalten hatte, auf der Bank ablegte und langsam auf ihn zukam. Die Entfernung zwischen ihnen hatte Hawks mit zwei Schritten überwunden und er stand jetzt so nah vor ihm, dass sie nur noch wenige Zentimeter voneinander trennte. Selbst wenn er sich hätte bewegen können, hätte er nicht weiter zurückweichen können, da seine Waden bereits die Bank und sein Rücken den Schrank hinter ihm berührten, sodass er in eine leichte Vorwärtshaltung verfiel. Hawks war ihm jetzt so nah, dass er dessen Atem auf seinem nackten Hals spüren konnte, und legte seine rechte Hand auf seiner breiten Brust ab, während sich dessen Gesicht dem seinen immer weiter annäherte. Sein Herz hämmerte wie wild und doch war es das Einzige, was sein Körper zustande brachte. Unfähig auszuweichen, geschweige denn die Situation zu verstehen, nahm Enji wie in Trance wahr, wie Hawks ihn sanft an seinem Shirt nach unten zog, sah Hawks‘ Lippen nur noch einen Hauch von seinen entfernt. Oh Gott, er würde doch nicht... Doch was Hawks tatsächlich tun würde, erfuhr Enji nicht, da just in dem Moment erneut die Tür aufflog und Hawks und er, wie von der Tarantel gestochen, auseinanderstoben. Dabei stieß Hawks die Aktenmappe, die auf seiner Tasche balanciert hatte, an, sodass sie mit einem lauten Klatschen zu Boden fiel. „Todoroki-san, hast du – Oh, störe ich?“ In der geöffneten Tür stand Yagi, der, so machte es zumindest den Anschein, da sich seine zunächst überraschte Miene schnell wieder glättete und von einem kurzen Funkeln seiner Augen abgelöst wurde, sehr genau zu wissen schien, was er da soeben gesehen hatte. „Nicht im Geringsten“, entgegnete Enji trotzdem so locker, wie er es mit hämmerndem Herzen in der Brust bewerkstelligen konnte, sowie bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, und zog so unauffällig wie möglich sein Shirt zurecht. „Was gibt es?“ „Ich... Ich wollte nur kurz Bescheid geben, dass wir die Besprechung eine halbe Stunde vorverlegen“, erklärte Yagi und räusperte sich dabei vernehmlich. „Ihr solltet also spätestens in fünfzehn Minuten aufbrechen. Aber wenn ihr noch andere Dinge zu tun habt...“ „Nein“, unterbrach Enji ihn schroff. „Wir kommen. Sag den anderen, wir sind rechtzeitig da.“ „Sehr schön!“, strahlte Yagi sie beide an und verschwand, jedoch nicht ohne einen letzten unangenehm wissenden Blick auf sie zu werfen, aus der Umkleide. Hinter ihm fiel die Tür in der plötzlichen Stille geräuschvoll ins Schloss und weder Enji noch Hawks wagten es, diese zu brechen oder sich anzusehen. Schweigend zogen sie sich ihre letzten Uniformteile an, wobei Enji deutlich mehr Tempo vorlegte und somit noch vor Hawks fertig angezogen war. In seinem Kopf rauschte es, während seine Gedanken wie wild rasten, er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Er musste hier raus, und zwar schnell. Kaum hatte er auch seine Weste und Waffe angelegt, schnappte er sich seine Tasche und die heruntergefallene Mappe und stürmte mit den Worten „Wir treffen uns im Auto.“ aus dem Umkleideraum, in dem er Hawks allein zurückließ. Er nahm kaum wahr, wohin seine Füße ihn trugen, bis er realisierte, dass er draußen vor dem Eingang stand. Sein Blick glitt nach rechts in Richtung der von Büschen umsäumten Ecke, in der Hawks und er vor so vielen Wochen zusammen gestanden hatten. Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. Eine Zigarette könnte er jetzt wahrlich vertragen und ein paar Minuten hatte er noch, bis sie sich auf den Weg zum Einsatzort machen mussten. Ein paar Minuten, die ausreichen mussten, um seine Gedanken zu ordnen. Denn eigentlich hatte er sich gerade voll und ganz auf das vor ihnen Liegende zu konzentrieren, was in Anbetracht seiner kreisenden Gedanken im Moment ein Ding der Unmöglichkeit schien. Enji gab es ungern zu, aber Hawks hatte ihn mit seiner Aktion ziemlich aus dem Konzept gebracht. Was hatte sich Hawks dabei überhaupt gedacht? Vielleicht ja nichts. Aber wie er den anderen kannte, musste mehr dahinter stecken. Es konnte nicht sein, dass Hawks tatsächlich etwas Derartiges von ihm wollte. Nicht nur war er nahezu doppelt so alt wie der Jüngere und Enji konnte sich keinen Grund vorstellen, warum ein Mann in Hawks‘ Alter jemandem wie ihm, der sein Vater sein könnte, derartige Avancen machen sollte. Auch war Hawks, selbst wenn er nach außen hin oft unbesonnen wirkte, zu klug, um gerade seinen Chef auf diese plumpe Art und Weise und ohne jegliche Gewissheit, dass er ihn dafür nicht einen Kopf kürzer machen würde, anzumachen. Wollte Hawks also nur seine Grenzen austesten, sehen, wie weit er bei ihm gehen konnte? Ihn aus der Reserve locken? Zorn flammte in ihm auf, dem er sich, dankbar für die Ablenkung von seinen wirren Gedanken, hingab. Wenn dies tatsächlich nur eine von Hawks‘ dreisten Anmaßungen sein sollte, hatte dieser den Bogen diesmal wahrlich überspannt. Aber hatte er das wirklich? Immerhin – so musste Enji zugegeben und seine Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war – hatte er dem anderen tatsächlich auf die Kehrseite geschaut. Sich dies einzugestehen missfiel ihm mindestens genauso sehr wie die tief vergrabenen und längst vergessenen Erinnerungen, die durch diese Szene wieder hochgekommen waren und ihn kurzzeitig paralysiert hatten. Es war eine Ewigkeit her und er hatte seit zwei Jahrzehnten nicht ein einziges Mal daran gedacht. Und doch konnte er nicht leugnen, dass die Vergangenheit in gewisser Weise seinen weiteren Lebensweg beeinflusst hatte. Zu unangenehm, zu demütigend war das Wissen darum, dass er einst, während ihrer gemeinsamen Schulzeit, ein unerwidertes Interesse an seinem heute ärgsten Rivalen entwickelt hatte. Ein Interesse, das er zunächst verdrängt, als nichtig abgetan hatte. Und kurz bevor sich ihr nicht einmal freundschaftliches Verhältnis zu mehr hätte entwickeln können, hatte das Ganze vorzeitig geendet, als sich Yagi entschieden hatte, für drei Jahre in den USA zu studieren. Er hatte das Ganze längst abgehakt, Jahre später seine Frau kennengelernt, eine Familie gegründet und keinen Gedanken mehr daran verschwendet, dass es durchaus mal eine Zeit in seinem Leben gegeben hatte, in der er... Interesse an einem Mann gezeigt hatte. Nun, bis heute. Doch selbst in seiner Ehe war er nie richtig glücklich geworden, hatte ihm doch stets das Gleichgewicht zwischen ihnen gefehlt. Aber er hatte sich damit abgefunden, da ihm nie jemand ebenbürtig schien, weder Frau noch Mann. Enji schüttelte den Kopf und nahm einen letzten Zug an der Zigarette. Das Ganze lag schon so lange zurück und er hegte deswegen keinen Groll mehr gegen den Älteren, sodass jeder weitere Gedanke daran vergeudet wäre. Ohnehin hatte er gerade wahrlich Dringenderes zu tun, als verstaubten Geistern der Vergangenheit nachzuhängen. Sorgfältig drückte er die Zigarette aus und warf sie in den Aschenbecher. Er straffte die Schultern, schaute auf die Uhr. Es war Zeit. Wenige Minuten später hatte Enji den Parkplatz mit ihrem Polizeiwagen erreicht, auf dessen Fahrersitz Hawks bereits auf ihn wartete. Obwohl sein Blick kurz wütend aufflackerte, hatte er mit dem nahenden Einsatz und den soeben erst zurückgedrängten Gedanken gerade genug zu tun, als dass er sich jetzt mit so einer Nichtigkeit wie der, wer das Fahrzeug führte, aufhalten würde. Er öffnete die Beifahrertür, ließ sich neben Hawks auf dem Sitz nieder und begegnete dessen Blick, den er nicht zu deuten vermochte. „Endeavor-san, was da eben...“ „Spar dir die Worte“, schnitt Enji dem anderen das Wort ab, wollte sich weder jetzt noch später weiter mit dem, was passiert war, beschäftigen. „Wir haben jetzt einen Einsatz zu absolvieren. Also fahr los.“ Hawks sah für einen Moment so aus, als wollte er ihm widersprechen, doch schließlich nickte er und startete den Motor. „Jawohl, Chef.“ Kapitel 7: Bad Timing --------------------- Fünfzehn Minuten voll angespannter, da erwartungsvoller Stille später hatten sie ihr Ziel erreicht. Der Hafen lag in der Bucht von Tokyo, die Heimat für die künstlich angelegte Insel Odaiba geworden war, die man über die Rainbow Bridge erreichte. Odaiba beherbergte nicht nur einen der – neben Yokohama – größten Container-Häfen Japans, sondern auch zahlreiche Freizeitangebote wie ein Riesenrad und Onsen sowie touristische Sehenswürdigkeiten wie die Nachbildung der Freiheitsstatue und eine lebensgroße Gundam Figur. Doch für diese Attraktionen hatte sich Enji noch nie begeistern können und schenkte ihnen daher erst recht in Anbetracht des nahenden Einsatzes keine Aufmerksamkeit. Selbst Hawks zeigte – anders als noch beim Tokyo Tower – keinerlei Enthusiasmus, als sie durch Odaiba zum Hafen fuhren. Da Enji nicht glaubte, dass sich Hawks’ Interesse an den Sehenswürdigkeiten Tokyos binnen der letzten Wochen einfach so in Luft aufgelöst hatte, musste dies wohl bedeuten, dass auch der Jüngere seinen Fokus gänzlich auf das vor ihnen Liegende legte. Hawks parkte den Wagen vor einem kleinen Gebäude, das zum Hafenbetrieb gehörte und sie für die heutige Mission beschlagnahmt hatten. Das Gebäude lag etwa 200 Meter vom Wasser entfernt und stellte den perfekten Ausgangspunkt dar, um von hier den Überblick über das Geschehen zu behalten und den Einsatz zu koordinieren, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit auf sie zu ziehen und die Zielperson womöglich noch zu warnen. Enji stieg aus dem Fahrzeug und Hawks tat es ihm gleich. Gemeinsam erklommen sie die Treppe an der Außenseite des Gebäudes und betraten den Einsatzraum, dessen Fenster von außen getönt waren. Auf diese Weise konnten sie zwar hinaussehen, von draußen waren jedoch weder Licht noch Personen zu erkennen. „Todoroki-san, Hawks-kun, schön, dass ihr da seid!“, wurden sie direkt freudig begrüßt und Yagi winkte sie mit einer Hand herbei. „Setzt euch, setzt euch! Da jetzt alle da sind, können wir noch einmal kurz den heutigen Ablauf besprechen.“ Enji nickte knapp und ließ kurz den Blick über die Versammelten, die nach und nach an dem elliptischen Tisch Platz nahmen, schweifen, ehe er sich ihnen zusammen mit Hawks anschloss. Yagi setzte sich als Polizeiführer an das Kopfende und darauf folgten die übrigen Mitglieder des Führungsstabs in hierarchischer Reihenfolge. Neben ihm und Hawks hatten sich Yamada, ein missmutig dreinblickender Aizawa und als einziges weibliches Mitglied Sousaki Shino eingefunden. Nachdem alle Platz gefunden hatten, erhob Yagi erneut das Wort: „Nach unseren Informationen werden die ersten Entführten ab ca. 18:30 Uhr hier eintreffen. Da sie nicht alle auf einmal ankommen können, weil sie sonst zu viel Aufmerksamkeit erregen würden, rechnen wir mit zwei bis drei Fahrzeugen mit je zwei bis drei, insgesamt also zwischen sechs und neun Personen. Bis sämtliche Geiseln eingetroffen sind, werden die übrigen in einem Lagerhaus am süd-westlichen Ende der Docks bewacht.“ Yagi zeigte mit dem Finger auf einen Punkt auf der Karte hinter sich. „Da wir nicht wissen, woher und wann genau die Fahrzeuge im Einzelnen eintreffen werden, müssen wir mit dem Zugriff warten, bis sämtliche Geiseln im Lagerhaus sind. Ansonsten wäre das Risiko zu groß, dass wir uns durch einen vorschnellen Zugriff verraten und den Drahtzieher warnen. Dies würde dazu führen, dass nicht nur dieser entkommen, sondern sich auch die Spur zu den fehlenden Geiseln verlieren könnte. Vom Lagerhaus wird die Yakuza schließlich die Entführten zu einem der Container bringen, in dem sie sie, als gegenständliche Ware getarnt, nach Übersee verschiffen wollen. Um sowohl die Zielperson festzunehmen als auch die Opfer zu retten, muss der Zugriff erfolgen, ehe sämtliche Geiseln im Transporter eingeschlossen sind und sich die Zielperson davonstehlen kann. So weit alles klar?“ „Das Ganze zum fünften Mal zu hören, macht es auch nicht spannender“, murrte Aizawa und gähnte dabei herzhaft. Yagi blinzelte kurz irritiert, hatte sich aber schnell wieder gefangen. „Todoroki-san, darf ich dich dann bitten, die jeweiligen Aufgaben zu verteilen?“, fuhr Yagi an Enji gewandt fort, als keine weiteren Einsprüche erhoben wurden. „Gleiche Aufteilung wie letztes Mal“, brummte Enji nur knapp und beendete damit die Runde. „Hawks, du kümmerst dich um die Aufklärung.“ „Wird gemacht, Chef!“, bestätigte der Jüngere und sprang auf, um sich prompt an den Schreibtisch mit den meisten Kommunikationsgeräten zu begeben, wo er seine Sonnenbrille gegen ein Headset eintauschte. „Wieso muss ich immer Protokoll schreiben?! That’s absolutely not cool!!“ „Beschwer dich nicht, Yamada. Die Ermittlungen bei neuen Erkenntnissen hast du letztens nicht ohne Grund an Aizawa verloren“, erwiderte Sousaki und erhob sich ebenfalls. „Das sagst du nur, weil du die Eingreifskräfte koordinieren darfst...“, maulte Yamada weiter. „Aizawa könnte genauso gut den shitty report schreiben!!“ „Halt mich da raus. Für deine Unfähigkeit kann ich nichts.“ „Jetzt ist aber gut!“, polterte Enji, dem das Treiben langsam auf seine ohnehin schon angespannten Nerven ging, die Hände flach auf den Tisch abgestützt. „An die Arbeit!“ Unter seinem sengenden Blick huschten alle drei an ihre Plätze und es kehrte Ruhe ein. „Wie ich sehe, hast du alles unter Kontrolle“, bemerkte Yagi, der sich neben ihn gestellt hatte und ihm lobend die Hand auf die Schulter legte, überflüssigerweise. Er zog die Hand jedoch sogleich zurück, als hätte er sich verbrannt, kaum dass er in Enjis Augen blickte, in denen Flammen zu lodern schienen. „Nun denn...“, räusperte er sich. „Gebt euer Bestes! Auf einen erfolgreichen Abend!“ Yagi wandte sich von ihm ab und stellte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor das Fenster, hinter dem es bereits allmählich dunkel wurde. Jetzt hieß es warten... „Da kommen sie!“, rief Hawks nicht einmal anderthalb Stunden später. Von einer Sekunde auf die andere war der Raum mit einer elektrisierenden Spannung erfüllt und im nächsten Augenblick stand Enji bereits hinter Hawks und starrte auf den sich nähernden schwarzen Van, der von der Kamera am Eingang des Hafengeländes eingefangen und auf Hawks‘ Bildschirm abgebildet wurde. Enji warf einen kurzen Blick auf die Uhr. 18:20 Uhr. Sein Herzschlag beschleunigte sich ins schier Unermessliche und auf seiner Stirn bildete sich ein leichter Schweißfilm. Das mussten sie sein. Sie durften jetzt keinen Fehler machen. „Auf eure Positionen!“, bellte er und Aizawa, der eben noch weggedämmert gewesen zu sein schien, schrak kurz auf, ehe er sich wieder auf die Bildschirme vor ihm konzentrierte. „Was gibt die Aufklärung durch?“, richtete Enji seine Frage direkt an Hawks, konnte seine Ungeduld kaum zügeln. Hawks gab die Frage durch das Mikrofon weiter, lauschte und erstattete sodann Bericht: „Der Van ist ohne Umwege zur Lagerhalle gefahren. Zwei Personen, vermutlich erwachsen und weiblich – weitere Einzelheiten sind nicht bekannt, da sie Stoffsäcke über ihren Köpfen trugen – sind ausgestiegen und wurden von zwei schwarz gekleideten Männern ins Lagerhaus gebracht. Der eine ist wieder eingestiegen und mit dem Fahrzeug davongefahren. Der andere wartet drinnen und bewacht die Geiseln.“ „Aussehen?“ „Der Fahrer trug eine Sturmhaube und Sonnenbrille und war von der Statur her unauffällig.“ Enji brummte verstimmt. Damit, dass sich die Entführer vermummen würden, war zu rechnen gewesen... „Der zurückgebliebene Bewacher trägt lediglich eine weiße Maske, schwarze Stiefel und Hose und unter seiner schwarzen Jacke ein rotes Tanktop. Ansonsten ist er auffällig muskulös, mehr als zwei Meter groß und hat kurze blonde Haare“, fuhr Hawks fort und Enji nickte. Damit ließ sich doch schon eher etwas anfangen... „Ich erwarte deine unverzügliche Mitteilung, sobald du etwas zu jemandem gefunden hast, der zu der Beschreibung passt, Aizawa!“, forderte Enji in Befehlston von dem Schwarzhaarigen, der sich, ungewohnt schnell, sogleich an die Recherche begab. „Was machen sie jetzt?“, richtete er das Wort wieder an Hawks. „Der Muskelprotz – nennen wir ihn Muscular – hat die zwei Geiseln an einem Pfahl festgebunden. Sie haben keine Gegenwehr gezeigt und sind derzeit ruhig, tragen aber noch die Stoffsäcke.“ „Vermutlich haben sie vorab Drogen verabreicht bekommen, die sie ruhigstellen“, sprach Enji grollend seinen Verdacht aus, mehr zu sich selbst als zu den anderen. „Gute Arbeit, Hawks“, fügte Enji, einem inneren ungewohnten Drang folgend, ein Lob auszusprechen, hinzu und klopfte dem Jüngeren flüchtig von hinten auf die Schulter. Noch ehe er wahrnehmen konnte, wie sich Hawks ob dieser unerwarteten Geste kurz versteifte, hatte er sich bereits wieder abgewandt und an seinen eigenen Schreibtisch gesetzt. Auch wenn es ihn schier wahnsinnig machte, untätig herumzusitzen, während keine 200 Meter entfernt die Geiseln nicht einmal wussten, dass noch Hoffnung und ihre Rettung kurz bevorstand, konnten sie für diese derzeit nichts tun. Denn sie mussten um der Mission Willen abwarten, bis die übrigen Fahrzeuge nebst Gefangenen ankommen würden... Zehn Minuten später bog ein weiteres Fahrzeug, diesmal ein grauer Kombi, in die Zuwegung zum Hafen ein und hielt schließlich vor der Lagerhalle an. Gespannt fixierte Enji, der erneut hinter Hawks Position bezogen hatte, die Bildschirme, auf denen jedoch nur der Außenbereich zu sehen war. Und da es bereits stockdunkel war, konnte er lediglich die schemenhaften Umrisse der Gestalten erkennen, die zwei weitere Geiseln von der Rückbank zerrten. Ihm stockte der Atem und sein Hals schnürte sich unangenehm zu. Denn obwohl er auf dem Bildschirm keine Details erfassen konnte, war es unverkennbar, dass die beiden Geiseln – „Soeben sind zwei Kinder, Junge und Mädchen, beide höchstens zehn Jahre alt, ausgestiegen!“, bestätigte Hawks im nächsten Moment seinen Verdacht, klammerte sich mit einer Hand an dem Hörer seines Headsets fest. Er wartete auf weitere Informationen, die er von dem Aufklärungstrupp, der sich vor Ort auf die Lauer gelegt hatte und das Geschehen aus unmittelbarer Nähe beobachtete, erhalten würde, und nickte. „Sie sind drin.“ „Gut“, meinte Enji und drehte sich um, um zu seinem Platz zurückzukehren. „Dann müssen wir nur noch auf das letzte Fahrzeug warten und –“ Plötzlich ertönte ein Schuss, der nicht nur Enji, sondern auch alle anderen erschrocken zusammenfahren ließ. Enji wirbelte herum, war kurz davor, Hawks, der mit weit aufgerissenen Augen den Mitteilungen am anderen Ende der Leitung lauschte, durchzuschütteln, um ihm die Informationen abzuringen. „Was ist passiert?!“ „Die Insassen des zweiten Fahrzeugs haben die Geiseln mit dem Blonden zurückgelassen“, sprudelte es aus Hawks hervor, kaum, dass die Stimme aus dem Hörer versiegt war. „Da sich die beiden Kinder nicht so wehrlos an den Pfahl fesseln ließen wie die Erwachsenen, ist es zu einem Handgemenge gekommen, an dessen Ende der Schuss gefallen ist.“ „Nach Angaben der Aufklärung ist keiner verletzt worden“, fügte Hawks rasch hinzu, als er Enjis gequälten Blick auffing. „Der Schuss war lediglich als Warnung gedacht und wurde gen Decke gerichtet. Da sie die Menschen ins Ausland verkaufen wollen, wäre es ja auch geschäftsschädigend, wenn sie die… „Ware“ vorher töten würden.“ Enji schluckte schwer. Hawks‘ Ausführungen ergaben zwar Sinn, doch der blonde Typ machte auf ihn nicht gerade einen besonders intelligenten Eindruck, sodass er sich von derlei Vorgaben seiner Bosse womöglich unbeeindruckt zeigte. Seine dunkle Vorahnung sollte sich nur wenige Augenblicke später bestätigen, als Hawks plötzlich rief: „Der Blonde hat ein Messer gezückt und geht damit auf eine der Geiseln los! Die Aufklärung kann aus ihrer Position nicht genau erkennen, was er tut, aber es sieht so aus, als würde er eine der Frauen mit dem Messer bedrohen!“ Enji war sofort alarmiert. „Haben wir keine Kameras im Innenbereich?!“, polterte er, nicht ohne einen gewissen Vorwurf in der Stimme. „Die Yakuza überprüft regelmäßig ihre Unterschlüpfe auf Wanzen und Kameras. Wir konnten nicht sicher sein, dass wir sie derart unauffällig hätten platzieren können, ohne dass die Yakuza sie mit Leichtigkeit entdeckt hätte“, erklärte Hawks knapp, hörte gleichzeitig dem Funkspruch des Kollegen aus der Aufklärungseinheit zu. „Dann sag den Pfeifen von der Aufklärung, sie sollen sich so positionieren, dass sie besser nach drinnen schauen können!“, grollte Enji, den langsam ein aufkeimendes Gefühl der Panik und Ohnmacht überkam, zornig. „Ich will wissen, was da drin passiert! Sofort!“ Hawks wandte sich an seine Verbindungsperson und gab den Befehl weiter. Es verging keine Minute, ehe er die Antwort bekam. „Die Aufklärung gibt durch, dass Muscular dazu übergegangen ist, der Frau, die er gerade noch bedroht hat, in den Unterarm zu schneiden. Die Wunde ist nicht tief, sie blutet nur leicht, aber –“ Hawks hielt inne, hörte der plötzlich wieder einsetzenden Stimme am anderen Ende der Leitung zu. Selbst durch das Headset konnte Enji die Hektik aus den gesprochenen Worten heraushören. Das war kein gutes Zeichen... „Der Junge hat sich aus seinen Fesseln befreien können und ist auf Muscular losgegangen, um die Frau zu beschützen!“, rief Hawks angestrengt, offensichtlich bemüht, in der hitzigen Situation einen kühlen Kopf zu bewahren. „Als der Junge ihn angegriffen hat, hat der Blonde ihm mit seiner tellergroßen Hand einen Schlag gegen den Kopf verpasst! Der Junge ist – scheinbar ohnmächtig – auf dem Boden aufgeschlagen, wo Muscular... weiter auf ihn eintritt!“ Enjis Herz setzte einen Schlag aus. Der blonde Aufpasser vergriff sich an den Geiseln, an einem Kind! Er konnte nicht tatenlos hier herumstehen, nicht, wenn es um die Gesundheit... das Leben dieses Jungen ging! Er musste handeln, koste es, was es wolle. „Zugriff!“, brüllte er in Richtung Sousaki, die sogleich zum Funkgerät griff. „Nein!“ Yagi war neben ihn getreten und strahlte eine derartige Autorität aus, dass alle Anwesenden augenblicklich verstummten und in ihren Tätigkeiten innehielten. „Wir werden nichts dergleichen tun“, sagte Yagi bestimmt und ließ durch seinen Befehlston keinen Zweifel an der Endgültigkeit seiner Entscheidung. „Aber Yagi, der Junge –“ „... wird den Ausbruch des Bewachers schon überleben“, schnitt Yagi ihm das Wort ab. „Momentan schwebt er nicht in Lebensgefahr. Ich kann deine Gefühle verstehen, Todoroki-san, aber wir dürfen jetzt nichts überstürzen. Wenn wir uns in diesem Moment zu erkennen geben und den Jungen und die drei weiblichen Geiseln retten, sind die Geiseln aus dem dritten Auto womöglich für immer verloren. Zudem bietet das Gebäude viele Versteckmöglichkeiten, die es uns unmöglich machen könnten, den Entführer ohne Verluste in den eigenen Reihen festzunehmen. Ganz davon abgesehen, dass er in Panik geraten und die Entführten tatsächlich als Geisel nehmen und umbringen könnte, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlt. Wir warten.“ Enjis Kiefer mahlte und er schluckte nur schwer eine Erwiderung herunter. Yagi war der Polizeiführer und als solcher traf er die Entscheidungen. Er selbst war nur der Führungsgruppenleiter, der die Aufgaben an die übrigen Anwesenden verteilte, den Einsatz überwachte und seine Ideen einbringen konnte, aber das letzte Wort hatte stets Yagi. „In Ordnung“, quetschte er mühsam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Yagi nickte, offensichtlich zufrieden, dass Enji so schnell kapituliert hatte. „Muscular hat von dem Jungen abgelassen und sämtliche Geiseln wieder an dem Pfahl festgebunden. Außer Prellungen scheint der Junge keine schwerwiegenden Verletzungen davongetragen zu haben“, schnitt Hawks‘ Stimme wenige Sekunden später durch die zum Zerreißen gespannte Stille und Enji spürte, wie sich die Anspannung in ihm ein wenig löste. Jetzt, wo die brenzlige Situation vorbei war, kochte in ihm der Ärger über sich selbst hoch. Er hätte nicht die Beherrschung und das Ziel der Mission aus den Augen verlieren dürfen. Das war mehr als unprofessionell gewesen. Er hatte sich von seinen Emotionen überwältigen lassen und eine unentschuldbare Entscheidung getroffen, die das Leben sämtlicher Geiseln gefährdet hätte. Und das nur, weil er seine Gefühle... seine Vergangenheit die Kontrolle hatte übernehmen lassen. Es war eine lahme Entschuldigung, aber als der Junge im Visier des brutalen Blonden gestanden hatte, hatte er einfach Rot gesehen. So etwas durfte ihm nicht noch einmal passieren. Verbissen, aber auch entschlossen ballte Enji seine Hand zur Faust. So etwas würde ihm nicht noch einmal passieren. Punkt 19 Uhr rollte das dritte und letzte Fahrzeug auf das Lagerhaus zu. Gebannt von den Bildern der Außenkameras und mit zum Zerreißen gespannten Nerven beobachteten Enji, Hawks und Yagi, wie drei weitere Personen – diesmal eine Frau und zwei Mädchen – von zwei Männern ins Innere gebracht wurden. Einer der Männer mit schwarzem Haar verblieb dort, während der andere wenige Minuten später mit dem Wagen davonfuhr. Sämtliche Akteure des heutigen Abends waren versammelt. Es konnte losgehen... endlich. „Sousaki-san, die Eingreifskräfte sollen sich für den Zugriff bereithalten“, sagte Yagi und wandte sich dann an Aizawa. „Haben wir schon Informationen zu unserem blonden Freund, Aizawa-san?“ „Da es nur wenige Personen mit seiner Statur und Haarfarbe gibt, habe ich eine starke Vermutung hinsichtlich seiner Identität. Er ist ein Kleinkrimineller, der häufiger mal über die Stränge schlägt. Kleinere Gewalt- und Sexualdelikte, hin und wieder Betrügereien und Kneipenschlägereien. Eigentlich nichts Besonderes“, führte Aizawa aus und klang von seinem eigenen Vortrag gelangweilt. „Was mich jedoch zum Stutzen brachte, ist, dass dieser... Muscular unter mindestens sieben verschiedenen Namen auftaucht und dadurch bislang jeder Verhaftung entgehen konnte.“ „Mmh, sehr ungewöhnlich“, stimmte Yagi nachdenklich zu. „Jedenfalls gute Arbeit in der kurzen Zeit, Aizawa-san!“ Der Schwarzhaarige schnaubte nur und wandte sich, ohne auf das gutgemeinte Lob einzugehen, wieder seinem Bildschirm zu. Yagis Blick nahm für den Bruchteil einer Sekunde einen merkwürdigen, für Enji nicht zu deutenden Ausdruck an. Im nächsten Augenblick hatte sein Chef aber wieder sein gewohntes gewinnendes Lächeln aufgesetzt und sagte in die Runde: „Wir gehen davon aus, dass einer der Entführer bei den Geiseln bleibt, während der andere die Entführten nicht zusammen, sondern in kleinen Gruppen zu dem Überseecontainer bringen wird. Auf diese Weise haben sie sämtliche Geiseln unter Kontrolle, während sie gleichzeitig weniger Aufmerksamkeit erregen, als wenn sie alle sieben Geiseln auf einmal zum Ziel überführen. Der Zugriff wird erfolgen, sobald die letzten Geiseln das Lagerhaus verlassen, aber den Container noch nicht erreicht haben. Denn zum einen kann sich der zurückbleibende Entführer dann nicht mehr im Lagerhaus verschanzen, da er seinem Kompagnon helfen wird, die letzten Geiseln zu verstauen und mit Sicherheit vor der Überfahrt noch einmal zu sedieren. Zum anderen müssen wir damit rechnen, dass sich die Entführer aus dem Staub machen werden, sobald sie ihre Aufgabe erfüllt haben; die Überwachung des Containers werden Leute aus der Ferne übernehmen.“ Nachdem alle Anwesenden zu verstehen gegeben hatten, dass sie Yagis Ausführungen verstanden hatten, kehrte für wenige Minuten Ruhe ein, in denen Hawks sie über den Fortgang vor Ort auf dem Laufenden hielt. Nachdem der zweite Entführer die ersten fünf Geiseln in insgesamt drei Durchgängen zum ca. 50 Meter entfernten Container gebracht und Muscular in der Zwischenzeit auf die übrigen zwei Personen, den Jungen und das Mädchen, aufgepasst hatte, ging alles sehr schnell. Yagi rief „Zugriff!“, als sich der zweite Entführer zusammen mit Muscular und den Kindern etwa zwanzig Meter vom Lagerhaus entfernt hatten, und Sousaki gab den Befehl prompt weiter. Sie verfolgten auf der Außenkamera, wie überfallartig und wie aus dem Nichts von allen Seiten schwer uniformierte und bewaffnete Kräfte auf die kleine Gruppe zustürmten, die Gewehre im Anschlag. Zwar konnten sie das Gesprochene nicht hören, doch anhand seiner Gestik und Mimik war zu erkennen, dass der polizeiliche Kommandoführer die Entführer zur Aufgabe und Herausgabe der Kinder aufforderte. Während der Schwarzhaarige sofort die Waffe, die er in den Händen hielt, und das Mädchen losließ, setzte Enjis Herz ein zweites Mal an diesem Abend aus, als er sah, wie Muscular den zappelnden und sich wehrenden Jungen noch näher an sich heranzog und ihm die Pistole an die Schläfe hielt. Der Kommandoführer hob beschwichtigend die Hände, doch es war offensichtlich, dass sich der Hüne nicht beruhigen, geschweige denn überzeugen lassen würde, sich friedlich zu ergeben. Das Ganze war ein Alptraum und nur wie aus weiter Ferne hörte er Yagi „Nicht schießen!“ rufen. Wie in Zeitlupe beobachtete er, wie Muscular mit dem Polizisten diskutierte, sich schließlich in der polizeilichen Umstellung eine Lücke auftat, auf die sich der blonde Riese zusammen mit dem Jungen rückwärts zu bewegte. Die Polizisten, denen er sich näherte, wichen vor den beiden zurück, als Muscular drohend mit der Pistole fuchtelte. Als sie sich etwa zwanzig Meter von dem Kreis aus Eingreifskräften entfernt hatten, stieß Muscular den Jungen, der hart auf dem Boden aufschlug, von sich, drehte sich um und verschwand hinter dem nächsten Container in der Dunkelheit. Verfluchter... „Hinterher!“, rief Yagi, der sich zuerst von dem Schock erholt hatte. „Die Truppe soll sich aufteilen und das Containerdorf absuchen, jeden Winkel! Der Rest soll sich um die Geiseln und den Schwarzhaarigen kümmern!“ Sousaki gab Yagis Anweisungen an die Kräfte vor Ort weiter, von denen ein Teil nach einem Kommando des Anführers in Kleingruppen in alle Richtungen davonstob, während sich die übrigen Polizisten der Geiseln annahmen und den zurückgebliebenen Entführer festnahmen. Fünf Minuten lang warteten sie gespannt auf die positive Meldung, dass sie Muscular geschnappt hatten, doch vergeblich. Enji wurde bereits ungeduldig, als sich plötzlich doch noch der Kommandoführer meldete. „Wir haben jeden Winkel zwischen den Containern abgesucht, doch keine Spur von dem Blonden. Das letzte Anzeichen von ihm war –“ Doch wo sie Muscular zuletzt gesehen oder vermutet hatten, drang nicht mehr zu ihnen durch. Die Leitung war tot. „Was ist los?“, blaffte Enji und trat neben Yagi, der sich hinter Sousaki aufgestellt hatte. „Warum ist der Funk weg?“ „Keine Ahnung“, erwiderte diese mit aufsteigender Verzweiflung in der Stimme, während sie hektisch mehrere Knöpfe betätigte und auch das Handy zur Hand nahm. „Das Mobilfunknetz funktioniert in dem Gebiet hier auch nicht...“ „Zum Teufel nochmal! Ausgerechnet jetzt?!“, bellte Enji und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wir können doch jetzt nicht so weit gekommen sein und diesen Typen entkommen lassen! Soll das alles umsonst gewesen sein?!“ „So schnell, wie der andere Gehilfe das Handtuch geworfen hat, wird er wohl kaum wichtig genug sein, um brauchbare Informationen zu haben...“, pflichtete ihm Aizawa bei. „Jetzt mal langsam mit den jungen Pferden“, ermahnte Yagi die beiden und versuchte sich, wenn auch etwas kläglich, an einem Grinsen. „Immerhin haben wir sämtliche Geiseln retten und die Überfahrt ins Ausland verhindern können. Ist das denn nichts?“ „Natürlich...“, gab Enji widerwillig murrend von sich. „Aber jetzt stehen wir, was unsere Ermittlungen angeht, wieder am Anfang.“ „Nicht unbedingt...“, warf Hawks gedehnt ein und sämtliche Augenpaare richteten sich schlagartig auf ihn. „Was meinst du damit?!“, polterte Enji und kämpfte nur mühsam den Drang hinunter, Hawks am Kragen zu packen. Doch er zwang sich, sich zu beruhigen. Gewalt würde den Blonden auch nicht schneller zum Reden bringen. Und wenn Hawks tatsächlich noch ein Ass im Ärmel hatte, woher auch immer, dann... „Wenn sich Muscular nicht mehr zwischen den Containern herumtreibt, wird er höchstwahrscheinlich einen Schutzort der Yakuza aufgesucht haben, in dem er warten wird, bis wir den Hafen verlassen haben und die Luft rein ist.“ „Da kannst du Gift drauf nehmen“, spuckte Enji aus und konnte den Hohn in seiner Stimme nicht verbergen. „Aber solange wir nicht wissen, wo dieser Schutzort ist, bringt uns dieses Wissen auch nichts. Denn Muscular wird sich nicht eher zeigen, sondern von dort seine Kumpanen kontaktieren, bis wir abgezogen sind. Es sei denn, du weißt, wo dieses Versteck ist, aber das –“ „Tatsächlich“, unterbrach ihn Hawks bestimmt und zuckte mit den Achseln, „habe ich eine ziemlich gute Ahnung, wo es sich befinden könnte.“ „Was? Wo? Woher?“, stammelte Enji, der seinen Ohren nicht trauen wollte. Woher hatte Hawks diese Information und, was noch viel wichtiger war, wieso hatte er sie im Zuge ihrer Vorbereitungen nicht mit ihnen geteilt? „Mein Informant – du weißt schon wer – hat beiläufig einen Schlupfwinkel in der Nähe erwähnt, der jedoch seit mehreren Jahren nicht mehr von der Yakuza genutzt wird, da er vor geraumer Zeit mal überflutet wurde. Ich weiß nicht, ob er überhaupt noch existiert oder betreten werden kann, weshalb ich ihn bisher nicht für erwähnenswert hielt. Aber einen Versuch ist es wert.“ „Wo ist dieser Ort?“ „In der Nähe vom Wasser in einem Park an der nord-östlichen Seite, aber die genaue Stelle kenne ich auch nicht, nur die ungefähre Lage. Ich müsste ihn wohl sehen, um ihn der Beschreibung nach wiedererkenn –“ „Wir gehen, du und ich!“, sagte Enji sofort. „Wenn wir die Kräfte draußen nicht erreichen können, müssen wir die Arbeit eben erledigen.“ „Aber Todoroki-san, zu zweit ist das viel zu gefährlich!“, wandte Yagi ein. „Ihr habt weder die richtige Ausrüstung noch entsprechende Bewaffnung bei euch. Ihr solltet lieber ein paar Kollegen mitnehmen, um –“ „Dafür ist keine Zeit!“, fuhr ihm Enji über den Mund. „Je länger wir warten, desto wahrscheinlicher ist es, dass er den Schutzraum verlässt, bevor wir diesen erreichen. Und die Zugriffskräfte sind über das ganze Containerdorf verstreut, das genau in der entgegengesetzten Richtung liegt. Zudem sind wir die Einzigen unter uns, die Waffen und eine Weste tragen. Wir gehen, jetzt!“ „Nun gut“, lenkte Yagi ein und nickte widerstrebend. „Wir werden hier die Stellung halten für den Fall, dass der Funk wieder funktioniert, und euch unverzüglich Verstärkung schicken. Passt auf euch auf!“ „Hawks.“ „Es kann losgehen!“, erwiderte dieser, sprang von seinem Stuhl auf und zusammen stürmten sie aus der Einsatzzentrale und die Treppe hinunter. Sie rannten, als sei der Teufel persönlich hinter ihnen her. Hawks, der den Weg kannte, gab das Tempo vor und obwohl er deutlich kürzere Schritte machte als er selbst, hatte Enji einige Mühe, mit dem Jüngeren Schritt zu halten. In wenigen Minuten hatten sie den Gebäudekomplex durchquert und einen großen Parkplatz hinter sich gelassen, waren auf ihrem Weg weder Freund noch Feind begegnet. Schließlich kamen sie am Eingang zum Akatsuki Futo Park, der direkt am Wasser lag, zum Stehen. Während Enji ein wenig nach Atem rang und sich seine stechende Seite hielt – er war auch schon einmal fitter gewesen –, schien Hawks die Anstrengung nicht im Geringsten etwas auszumachen. Die mehr als zwanzig Jahre Altersunterschied machten sich an dieser Stelle wohl tatsächlich bemerkbar... „Der Schutzort müsste hier irgendwo sein“, murmelte Hawks vor sich und ließ den Blick aufmerksam durch die Gegend schweifen. „Wonach suchen wir?“ „Nach einem unterirdischen Raum, der als nicht funktionstüchtiger Abwasserschacht getarnt ist...“ „Gut.“ Enji schritt voran und betrat den kleinen Park, der nach Tokyos Maßstäben diesen Namen im Grunde gar nicht verdient hatte. Sie wandten sich zunächst nach links und folgten dem erdigen Pfad entlang des Wassers zu ihrer rechten Hand. Hinter der nächsten Baumgruppe, versteckt durch eine Hecke, nahm Enji vage eine Bewegung zwischen den Büschen wahr und zögerte keine Sekunde. „Stehen bleiben!!“, donnerte er und sprintete gleichzeitig los, als der großgewachsene Mann ihr Erscheinen im nächsten Augenblick bemerkte und für einen Sekundenbruchteil innegehalten hatte. Diese Zeit war alles, was Enji brauchte, um die letzten Meter zu ihm aufzuschließen und den anderen mit einem gekonnten Tackle zu Boden zu werfen. „Verdammte Scheiße!!“, stieß Muscular stöhnend aus, als er auf dem Boden aufschlug. Der blonde Riese, der einen längeren Weg als sie beide aus dem Containerdorf, in dem er sich wahrscheinlich zunächst versteckt hatte, bis zum Park hatte, war wohl erst einige Augenblicke vor ihnen dort eingetroffen und hatte versucht, in den Schutzraum zu gelangen. Obwohl er offensichtlich im ersten Moment von ihrem plötzlichen Auftauchen noch überrumpelt gewesen war, fasste er sich schnell wieder und wehrte sich nach Leibeskräften. Enji spürte die Faust des anderen in seiner Magengrube und spuckte Galle. Er selbst teilte jedoch ebenso kräftig aus, verpasste Muscular einen Kinnhaken und versuchte, ihm den muskelbepackten Arm auf den Rücken zu drehen. „Endeavor-san!“, hörte er Hawks‘ Stimme wie aus weiter Ferne rufen. Er war so sehr auf den Kampf fokussiert, dass er nur am Rande wahrnahm, wie Hawks, der einige Meter hinter ihm gelaufen war, den Kampfplatz erreichte und die Waffe zog. Er selbst hatte weder die Zeit dafür gehabt noch wäre es die richtige Reaktion gewesen, als er Muscular über dem Schacht kauern gesehen hatte. Denn wenn er das Überraschungsmoment nicht genutzt und dadurch den Riesen mit körperlicher Kraft zu Fall gebracht hätte, wäre dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit geflohen; und auf einen Flüchtenden, der niemanden gefährdete, durfte nicht geschossen werden. Hawks hingegen stand, die Waffe im Anschlag, wenige Meter vom Geschehen entfernt, offensichtlich unschlüssig, ob er schießen und dabei auch seinen Kollegen gefährden oder selbst in den Kampf eingreifen sollte. Enji teilte unterdessen ebenso viele Schläge aus, wie er einsteckte, und obwohl er sämtliche Eingriffstechniken beherrschte und fast genauso groß war wie sein Gegner, gelang es ihm nicht, gegen den Hünen die Oberhand zu gewinnen. „Scheiß Bulle, krepier endlich!“, brüllte der Blonde ihm ins Ohr, als es ihm gelang, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen. Enji, dem langsam die Luft wegblieb, befürchtete, seine Rippen würden brechen, und nur mit einem geübten Griff und unter gewaltiger Kraftanstrengung konnte er sich aus der Notlage befreien. Seine Lungen brannten, seine Rippen schmerzten und er spürte, wie seine Unterlippe von einem der letzten Schläge taub wurde und seine Fingerknöchel anschwollen, doch er dachte nicht daran, jetzt aufzugeben. Nicht so kurz vor dem Ziel, endlich ein Mitglied der Yakuza festzunehmen, von dem sie sich erhofften, dass es ihnen wertvolle Informationen über die Liga der Schurken und insbesondere ihre Betätigung im Menschenhandel liefern konnte. Mit einer geschickten Drehung seiner Beine und einer letzten Kraftanstrengung schaffte es Enji schließlich, sich über den auf dem Rücken liegenden Muscular zu schwingen und dessen Beine sowie einen Arm am Boden zu fixieren. Mit der noch freien Hand schlug der Blonde abermals nach ihm, doch Enji hatte damit gerechnet und konterte mit einem gezielten Faustschlag unter dessen Kinn, durch den dem Blonden seine Maske vom Kopf flog und er ausgeknockt wurde. Enji erstarrte, als er in das Gesicht des Mannes blickte, das, genauso wie sein eigenes, von einer langen Narbe über der linken Gesichtshälfte gezeichnet war. Doch schon im nächsten Moment hatte er sich bereits wieder gefasst und griff nach hinten an seine Koppel. Er löste die Handfesseln und ließ sie mit geübten Handgriffen zuerst um das eine und, nachdem er dem kurzzeitig ohnmächtigen Hünen den Arm umgedreht und dadurch auf den Bauch gezwungen hatte, dann um das andere Handgelenk schnappen. Im nächsten Moment war Hawks an seiner Seite, stützte sich mit einem Knie auf den Rücken des Blonden, um ihn am Boden zu halten. Erschöpft, aber zufrieden mit sich selbst, und dankbar dafür, dass Hawks nun für ihn einsprang, ließ sich Enji zurückfallen und setzte sich neben die beiden ins Gras. Nach ein paar Seitenhieben von Hawks, präzise platziert auf dessen Nieren, gab Muscular schließlich seine Gegenwehr auf und erschlaffte in den Fesseln, was Hawks ein triumphierendes Grinsen entlockte. „Wir haben es geschafft!“ „Allerdings“, entgegnete Enji und er kam nicht umhin, dass auch seine Mundwinkel ein wenig nach oben zuckten. „Du solltest öfter lächeln, Endeavor-san. Steht dir“, meinte Hawks augenzwinkernd und noch ehe Enji darauf etwas Schroffes erwidern konnte, piepte sein Funkgerät. Er griff danach und nahm den Funkspruch entgegen. Nach dem schlechten Timing des ausgefallenen Funks vorhin kam dieser nun wie gerufen. Er wollte zwar nicht prahlen, aber es würde ihm schon einige Genugtuung verschaffen, Yagi ihren Erfolg unter die Nase reiben zu können... Kapitel 8: Bad History ---------------------- Die Position, in der Hawks kniend über Muscular verharrte, fing allmählich an, unangenehm zu werden, als wenige Minuten später bereits die allzu bekannte, jedoch besorgt klingende Stimme ihres Chefs ertönte. „Todoroki-san, Hawks-kun, ist bei euch alles in Ordnung?!“ Yagi ließ sich neben ihn und Endeavor, der sich nach einer sehr kurzen Erholungsphase auch an der Fixierung des Festgenommenen beteiligt hatte, fallen und fasste ihn mit seinen riesigen Pranken an den schmalen Schultern. Währenddessen nahmen sich die ebenfalls eingetroffenen SIT-Beamten dem renitenten Muskelberg an, der, kaum dass Hawks und Endeavor ihren Griff um ihn gelockert hatten, wieder um sich zu schlagen begann. „Wir leben, kein Grund zur Panik, Yagi“, grollte Endeavor, der Yagis Fürsorge offensichtlich vollkommen übertrieben fand und dessen Händen auf seinen Schultern einen grimmigen Blick zuwarf. „Was Endeavor-san eigentlich sagen wollte, ist, dass sich keiner von uns ernsthafte Verletzungen zugezogen hat“, warf Hawks, innerlich schmunzelnd, ein, um die Situation zu entschärfen; die Stirnader des Rothaarigen hatte bereits gefährlich angefangen zu pochen. „Das freut mich zu hören!“ Ihr Chef strahlte über beide Ohren und ließ seine Schultern, nachdem er sie kurz bestärkend gedrückt hatte, wieder los. „Das war übrigens hervorragende Arbeit von euch beiden! Dank eures beispiellosen Einsatzes ist die Mission ein voller Erfolg geworden!“ „Vielen Dank, Yagi-san, wir –“ „Spar dir die Lobeshymnen, Yagi. Wir haben nur unsere Pflicht getan“, fuhr Endeavor Hawks dazwischen und wiegelte das Gesagte mit einer abwertenden Handbewegung ab. Yagis vor Stolz geschwellte Brust sank ob der Wucht seiner Worte ein wenig in sich zusammen. „Es würde dir nicht schaden, ernst gemeintes Lob auch einmal anzunehmen, Todoro – Was hast du mit deinen Händen gemacht?!“ Yagi, dessen Blick bei Endeavors Handbewegung auf seine geschwollenen und blutigen Knöchel gefallen war, schnappte sich eines von seinen Handgelenken und betrachtete mit sorgenvoller Miene die aufgeplatzte Haut, ehe er Endeavors blutunterlaufenes Auge näher in Augenschein nahm. „Du solltest das untersuchen und behandeln lassen, Todoroki-san. Wenn sich das entzündet... Und dein Auge sieht auch nicht gut aus.“ Mit eindringlichem Blick fixierte er Endeavors eisblaue Augen, doch dieser löste bereits mit einem Ruck seine Hände aus dessen Griff und entfernte sie damit aus seinem Blickfeld. „Das ist nichts, nur eine Schürfwunde. Nicht der Rede wert.“ „Und ob das der Rede wert ist!“, widersprach Yagi vehement. „Die Platzwunde über deinem Auge könnte auch genäht werden müssen und –“ „Das muss warten“, schnitt Endeavor ihm ruppig das Wort ab. „Erst müssen wir den Einsatz beenden, die Geiseln versorgen lassen und... den Entführer vernehmen.“ „Du wirst heute gar nichts mehr tun. Den Einsatz werde ich allein zu Ende führen. Du ruhst dich aus.“ Yagis autoritärer Tonfall ließ keine Widerrede zu und Hawks sah, wie Endeavor grollend die Zähne zusammenbiss und eine wütende Antwort hinunterschluckte. „Wenn du schon nicht ins Krankenhaus gehst, von mir aus“, fügte Yagi, als er keinen Protest mehr zu erwarten schien, noch hinzu. „Aber dann geh wenigstens nach Hause, von hier ist es ja nicht weit. Und lass dich von jemandem begleiten.“ „Ich brauche keinen Babysitter.“ „Aber jemanden, der deine Wunden versorgt“, erklärte Yagi in einem Tonfall, der, wie Hawks mit einem Anflug von Respekt für den Älteren feststellte, trotz der vor Zorn flammenden Aura Endeavors vollkommen ruhig war. „Hawks-kun hat für heute Abend genug geleistet. Er wird freigestellt und dich begleiten. Das ist mein letztes Wort.“ Hawks spürte Endeavors finsteren Blick auf sich ruhen, ließ sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Wenn er eine Aufgabe bekam, würde er sie auch ausführen, selbst wenn er ebenfalls nicht erpicht darauf war, Endeavor so schnell wieder so nahe kommen zu müssen. Nicht, nachdem nach dem letzten Mal gerade erst ein paar Stunden vergangen waren... Doch seine Gedanken an das Geschehen in der Umkleide mussten warten. Jetzt galt es erst einmal, Befehlen zu gehorchen. Und wenn er eines konnte, dann das. „Wird erledigt, Boss“, bestätigte Hawks, dass er die Aufgabe verstanden hatte, und wandte sich an den Rothaarigen. „Wenn wir den Wagen nehmen, sind wir in einer Viertelstunde da.“ „Du kennst den Weg?“, fragte Yagi verblüfft und Hawks hätte sich für sein loses Mundwerk in diesem Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Dass Endeavor nach ihrer durchzechten Nacht im Stripclub von ihm nach Hause gebracht worden und nicht, wie er behauptet hatte, den Weg mit einer Magenverstimmung allein angetreten war, war bislang ihr im stillschweigenden gegenseitigen Einverständnis gehütetes Geheimnis geblieben. Und so sollte es auch bleiben, wenn es nach Hawks ging. Auch Endeavor schien nicht begeistert von seinem Ausrutscher zu sein, da seine Augen ihn mit eiskalten Blicken erdolchten. „Hawks hat mir nach der Arbeit vor kurzem ein paar Unterlagen nach Hause gebracht, die ich im Büro vergessen hatte“, tischte er Yagi die offensichtlich erstbeste Lüge auf, die ihm eingefallen war. Die Lüge war so simpel, dass sich Hawks zurückhalten musste, sich nicht seufzend mit der Hand durch das Gesicht zu fahren. Denn er rechnete fest damit, dass Yagi diese mit Leichtigkeit durchschauen und nachbohren würde. Doch er wurde überrascht. „So einsatzfreudige Kollegen, die einem selbst nach Feierabend unter die Arme greifen, sind ein echter Segen. Nicht wahr, Todoroki-san?“ Endeavor und er tauschten einen flüchtigen Blick, der Hawks verriet, dass der andere dasselbe dachte wie er. War diese Formulierung Yagis bloßer Zufall oder wusste er mehr von den Geschehnissen am Abend im Busty Bunny, als er zugab? Aber woher...? „Jedenfalls“, fuhr Yagi fort, als keiner von ihnen Anstalten machte, darauf zu reagieren, und zwinkerte ihnen zu, „bist du bei Hawks in guten Händen. Also husch husch, macht euch auf den Weg!“ Und mit diesen Worten und nach unten wedelnden Händen entließ er sie und machte auf dem Absatz kehrt, um sich den übrigen Einsatzmitgliedern zuzuwenden. „Dann wollen wir mal!“, sagte Hawks schließlich, als er mit Endeavor allein war, und machte eine ausladende Verbeugung. „Nach dir!“ Endeavor brummte missgelaunt, setzte sich aber in Bewegung und nahm so das Grinsen auf Hawks‘ Gesicht nicht mehr wahr. Die Fahrt zu Endeavors Residenz verlief – und das war wahrlich ein Wunder – ohne jegliche Zwischenfälle. Der Ältere hatte es sich trotz seiner Verletzungen nicht nehmen lassen, am Steuer zu sitzen, auch wenn Hawks dies nicht für die beste Idee hielt. Aber wenn sich der Rothaarige erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er trotz seiner herausragenden Überredungskünste nicht davon abzubringen. Selbst wenn dies hieß, dass Hawks bei jeder roten Ampel, der sich Endeavor, ohne in angemessenem Abstand davor abzubremsen, näherte, ihr Ende nahen sah. Denn er befürchtete, Endeavor würde aufgrund seiner Kopfwunde ohnmächtig oder aus einem anderen verletzungsbedingten Grund unaufmerksam werden. Während der Fahrt tauschten sie nur wenige Worte, hüllten sich größtenteils in Schweigen und verarbeiteten jeder für sich die Ereignisse des Tages. Hawks warf hin und wieder einen verstohlenen Blick Richtung Fahrersitz und fragte sich, ob Endeavor auch eher über den Vorfall vorher als den Einsatz selbst nachdachte. Wobei, so wie er diesen kennengelernt hatte – pragmatisch, effizient und ehrgeizig –, verschwendete Endeavor wahrscheinlich keinen zweiten Gedanken an das, was unausgesprochen seit der Umkleidekabine zwischen ihnen stand. Nein, mit Sicherheit schwelgte er gerade im Hochgefühl des erfolgreichen Einsatzes oder ärgerte sich über die kurzzeitigen Probleme, die diesen erschwert hatten, vielleicht auch über seinen emotionalen Ausbruch, als Yagi den Zugriff zur Rettung der Geiseln abgelehnt hatte. Ganz sicher aber maß Endeavor der Situation in der Umkleidekabine keine größere Bedeutung bei, tat es als einmaliges Ereignis ab, über das sich weiteres Nachdenken nicht lohnte. Denn dieser hatte ihn, obwohl er ja sonst auch nicht auf den Mund gefallen war und nicht davor zurückschreckte, andere vor den Kopf zu stoßen, bis jetzt nicht darauf angesprochen. Immerhin hatte er seinen Erklärungsversuch vorhin prompt mit der Begründung des anstehenden Einsatzes abgewürgt, der nunmehr aber längst beendet war. Wobei Hawks selbst nicht wusste, was er Endeavor eigentlich hätte sagen wollen. Er hatte schlicht keine vernünftige Erklärung für das, was passiert war. Es war einfach mit ihm durchgegangen. Aber so einfach war es dann doch nicht und auch Hawks konnte sich nicht selbst vormachen, dass die Begründung so simpel war. Auch wenn ihm so manche Lüge viel zu leicht über die Lippen kam, so war es deutlich schwieriger, sich selbst zu täuschen. Er machte keinen Hehl daraus, hing es aber auch nicht an die große Glocke, dass ihm Männer mehr zusagten als Frauen. So war es schon gewesen, seit er sich das erste Mal auf andere als bloß freundschaftliche Weise für eine andere Person interessiert hatte. Doch bisher waren es stets Kerle in seinem Alter gewesen, vielleicht fünf bis zehn Jahre älter, die sein Interesse geweckt hatten. Als er jedoch Todoroki Enji kennengelernt hatte, hatte er sich trotz des deutlichen Altersunterschiedes auf für ihn völlig überraschende Weise von diesem angezogen gefühlt. Ob es seine stechenden blauen Augen, sein durchtrainierter, muskelbepackter Körper oder einfach die Tatsache war, dass er – wie eigenartig das auch in seinen eigenen Ohren klang – in ihm eine Art Vaterfigur sah, die er nie wirklich hatte? Er wusste es nicht und hatte auch nicht die Absicht, es herauszufinden. Denn eines stand fest, und zwar, dass ihm dieses Chaos in seinem Kopf ganz und gar nicht gelegen kam. Nicht nur, dass Endeavor sein direkter Vorgesetzter bei der Polizei war und er es sich nicht mit ihm verscherzen durfte. Er hatte auch eine Aufgabe zu erfüllen, der er sich vollends verschrieben hatte und die seiner vollen Aufmerksamkeit bedurfte. Doch Todoroki Enji... Endeavor brachte seine Entschlossenheit ins Wanken. Er hatte die Anziehungskraft, die von diesem ausging, anfänglich noch ignorieren und mit lockeren Sprüchen, die dem anderen zu seiner eigenen Belustigung sichtlich unangenehm gewesen waren, überspielen können. Doch das Blatt hatte sich gewendet, als sie gemeinsam den Stripclub besucht und er den anderen nachts nach Hause gebracht hatte. Hawks hatte zunächst nur wissen wollen, was für ein Mensch der andere war. Schon bei ihren ersten Treffen hatte er den sich später bestätigenden Eindruck gewonnen, Endeavor sei ein grimmiger, zum Jähzorn neigender, alter Mann. Er hatte ihn zwar attraktiv, sogar anziehend gefunden, aber nicht mehr, sodass er es als lästige Schwärmerei hatte abtun können. Doch in dieser einen Nacht hatte er eine andere, emotionalere, gar verletzliche Seite an dem Älteren entdeckt, indem dieser im betrunkenen Zustand Dinge gesagt hatte, die Hawks dazu bewegt hatten, ihn mit anderen Augen zu sehen. Zu dem rein körperlichen war ein emotionaler Aspekt hinzugetreten, der die verfahrene Situation nur noch verkompliziert hatte. Er konnte zwar nur mutmaßen, was tatsächlich geschehen war. Doch die Bruchstücke, die Endeavor gequält von sich gegeben hatten, ließen ihn vermuten, dass dieser jemanden an die Yakuza verloren hatte... so wie er selbst. Doch als ob die Entdeckung dieser persönlichen Verbindung an diesem Abend nicht schon genug gewesen war, hatte es auch nicht gerade geholfen, dass er Endeavors Körper schließlich nur noch mit Boxershorts und Shirt bekleidet gesehen hatte... Aber noch ehe der Alkohol ihn zu etwas Törichtem hätte verleiten können, hatte er, sobald er Endeavors Kleidung entgegengenommen und zusammengelegt hatte, schnell das Anwesen verlassen. Seit dieser Nacht spielten seine Gedanken immer mehr verrückt. Es reizte ihn herauszufinden, wie weit er bei dem anderen gehen konnte, wie sehr der andere ihm vertraute... und ob – wie unwahrscheinlich dies aufgrund der Tatsache, dass Endeavor Familie hatte, auch sein mochte – dieser das Ganze auf irgendeine Weise erwiderte. Er spielte auch mit den Gedanken, dass, sollte Endeavor darauf eingehen, er daraus vielleicht auch einen Vorteil für sich herausschlagen könnte... Doch so sehr sein Hirn auch alle möglichen Pläne spann, wusste er, dass sie doch nur Hirngespinste bleiben würden... bleiben mussten. Aber als Endeavor plötzlich erneut halb nackt vor ihm gestanden hatte, war er nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen, hatte schlichtweg die Kontrolle verloren und sein Körper hatte sich verselbstständigt. Und als ob die Tatsache, dass er für seine schamlose Anmache wohl keine Repressalien zu befürchten hatte, nicht schon verblüffend genug war, überraschte es Hawks umso mehr, dass der Ältere doch nicht so... abgeneigt schien, wie er erwartet hatte. Immerhin hatte Endeavor ihn weder von sich gestoßen noch verbal zurechtgewiesen. Doch ganz gleich, wie er selbst zu dem Rothaarigen stand und in welche Richtung das Ganze gegangen wäre, wenn Yagi nicht hereingeplatzt wäre. So etwas durfte sich nicht noch einmal wiederholen. Er bereute, was er getan hatte, denn es war ein Spiel mit dem Feuer gewesen. Es stand einfach zu viel auf dem Spiel, als dass er dies durch so etwas Banales wie diese merkwürdige Anziehung zwischen ihnen leichtfertig gefährden würde. Er würde also weiterhin lächeln, seine Späße machen, ganz der Alte sein. Niemand würde Verdacht schöpfen, dass es in seinem Inneren ganz anders aussah. Denn eine Maske zu tragen, war er gewohnt. Er musste sich einfach nur beherrschen. So wie immer. „Zieh die Schuhe aus“, grollte Endeavor zehn Minuten später, als sie sein Anwesen erreicht und den Eingangsbereich betreten hatten. Hawks, der lediglich einen Schritt weiter als vielleicht allgemein üblich gegangen war und auf diese Weise womöglich den Eindruck vermittelt hatte, er wollte den Wohnbereich mit Schuhen betreten, schnaubte empört. „Das hast du das letzte Mal auch gesagt, Endeavor-san.“ Lässig schlüpfte er aus seinen Arbeitsschuhen und ließ sie halb im Gang stehen, wo er sie ausgezogen hatte. „Auch das letzte Mal brauchte ich – der gut erzogene japanische Junge, der ich bin – nicht erst deine Ermahnung, um zu wissen, was sich in einem japanischen Haus gehört.“ Endeavors Augenbraue zuckte verdächtig, als sein Blick auf die unordentliche Anordnung der Schuhe fiel, was Hawks innerlich grinsen ließ. „Dann werde deinen japanischen Manieren auch gerecht und stell die Schuhe ordentlich hin.“ „Bin ich zum Aufräumen oder dafür da, um dich zu... verarzten?“, entgegnete Hawks schelmisch und konnte es nicht lassen, bedeutungsvoll mit den Augenbrauen zu wackeln. „Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du gar nicht mitkommen müssen...“ „Wie kannst du sowas nur sagen!“, rief Hawks aus und griff sich theatralisch an die Brust. „Mein armes Herz!“ „Genug herumgealbert“, knurrte Endeavor, während er Richtung Wohnzimmer voranging. Hawks hätte schwören können, dass der andere kurz genervt die Augen verdreht hatte. Über beide Ohren grinsend folgte er dem Rothaarigen in den Wohnraum und kam dabei nicht umhin, dass ihn die Ausmaße dieses Raumes erneut erstaunten. Auch wenn Endeavor den Standard seines Hauses heruntergespielt hatte, lebte er dennoch ziemlich... protzig. „Wo finde ich die Erste-Hilfe-Box?“, fragte er Endeavor, der bereits auf dem Sofa Platz genommen hatte und dabei sein sich violett färbendes Auge betastete. „Im Bad. Letzte Tür links.“ Hawks fand das ebenfalls überdimensionierte Badezimmer an der beschriebenen Stelle und kehrte wenige Minuten später mit Desinfektionsmittel, sterilen Tüchern und Verbänden, einer Schale Wasser sowie Pflastern und Salben zurück. „Ich sollte mir zuerst deine Platzwunde an der Stirn ansehen. Das Blut ist schon überwiegend getrocknet und die Stelle sollte vorher gereinigt werden, um zu sehen, ob ein Pflaster reicht oder sie doch medizinisch versorgt werden muss“, erklärte Hawks, der sich neben Endeavor auf der Couch niederließ. Dieser brummte zustimmend, schien immer noch nicht sonderlich angetan von der Idee, sich versorgen lassen zu müssen, sich seinem Schicksal aber zu ergeben. Hawks tauchte das Tuch ins Wasser, wrang es kurz aus und setzte sich Endeavor so gegenüber, dass er dessen Stirn gut erreichen konnte. Behutsam strich Hawks über die blutigen Stellen, befreite Auge und Stirn von Blut und Schmutz. Er spürte förmlich, wie Endeavors eisblaue Augen ihn bei der Arbeit fixierten, wagte es aber nicht, den Blick zu erwidern. Er schaffte es schon kaum, seinen Herzschlag zu beruhigen, und musste all seine Konzentration darauf verwenden, seine Hände nicht zittern zu lassen, da er befürchtete, sich durch einen Blick in die Augen des anderen zu verraten. Dass ihm die körperliche Nähe zu dem Älteren so sehr zusetzte, kratzte an seinem Stolz. Und noch mehr, dass er überhaupt damit zu kämpfen hatte, die Beherrschung nicht zu verlieren. Endeavor war doch nur ein Mann, der zwar für sein Alter einen beachtlich muskulösen Körper aufwies und auch ansonsten nicht unansehnlich war. Doch er hatte schon unzählige Erfahrungen mit ebenso attraktiven Männern gemacht, von denen ihn aber keiner so sehr aus der Fassung gebracht hatte wie der Rotschopf. Vielleicht lag es gerade an dem Verbotenen, was ihn so reizvoll machte? Der Altersunterschied, der unterschiedliche Status, die Tatsache, dass Endeavor als Familienvater womöglich gar nicht auf Kerle stand? Hawks drängte seine Gedanken beiseite. Sich im Kreis zu drehen und die nicht zu klärenden Fragen immer wieder durchzukauen, würde ihn nur mürbe machen. Und er brauchte seine ganze Willenskraft, die Fassade aufrechtzuerhalten, seine Rolle zu spielen. Er durfte nicht ins Wanken geraten. Endeavor hielt die ganze Zeit über still, während er die Wunde reinigte, Salbe auftrug und schließlich mit einem wundenverklebenden Pflaster seine Arbeit beendete. Glücklicherweise war die Verletzung nicht groß gewesen und würde so mittels Pflaster von alleine abheilen. Hawks betrachtete sein Werk und stellte fest, dass Endeavor der Bluterguss unter dem Auge und das Pflaster auf der Stirn zusätzlich zu seiner Narbe ein verwegenes Aussehen verliehen, das seinen Magen sich nervös zusammenziehen ließ. Um nicht den Eindruck zu vermitteln, dass er den anderen übergebührlich anstarrte, richtete er seinen Blick stattdessen auf dessen Hände. „Ich bin hier oben fertig. Die Wunde war nicht so tief wie befürchtet, sodass ein Pflaster reichen sollte.“ „Gut“, sagte Endeavor knapp und fügte nach einer kurzen Pause, in der er offensichtlich seine nächsten Worte überlegte, hinzu: „Danke.“ „Nicht der Rede wert!“, meinte Hawks und schenkte ihm ein breites Lächeln. „Jetzt müssen wir uns aber noch um deine Hände kümmern.“ „Nicht nötig, das schaffe ich allein.“ „Keine Widerrede!“, meinte Hawks und nahm Endeavors Hände unaufgefordert in seine. „Ich bin den Weg doch nicht gefahren, um nach der Hälfte der Arbeit aufzuhören!“ Von Endeavor erntete er nur ein grimmiges Schnauben, doch da der andere ihm seine Hände nicht entzog, begann er, die dortigen Wunden näher in Augenschein zu nehmen. Die Haut an den Knöcheln war an mehreren Stellen aufgeplatzt und blutig, ansonsten wiesen die Hände jedoch keinerlei Brüche oder andere Verletzungen auf. Hawks strich sanft mit einem neuen Tuch über die rissigen Stellen, wollte die Haut nicht noch mehr strapazieren. Es würde wohl reichen, nach der Reinigung eine Salbe aufzutragen, um die Wundheilung zu unterstützen. Hawks kam nicht umhin festzustellen, wie riesig Endeavors Hände im Vergleich zu seinen eigenen waren. Sie waren hart wie Stahl, kräftig und so groß, dass sie seine eigenen Hände komplett umschließen könnten. Ihre Haut war an den meisten Stellen rau und doch nicht so grob, dass es unangenehm gewesen wäre, sie zu berühren. Es war ein faszinierendes Gefühl, die Linien an den Handinnenflächen mit seinen Fingern nachzufahren, während er die Salbe auf den Knöcheln mit dem Daumen einmassierte. Er hielt die Hände in seinen, blickte wie hypnotisiert auf diese herab und merkte gar nicht, wie sich Endeavors Falte zwischen den Augenbrauen immer mehr verstärkte. Wie aus weiter Ferne hörte er ein Räuspern. „Hawks...“ „Wa –“ Ertappt schreckte Hawks ein wenig hoch und ließ die Hände des anderen los, als hätte er sich an ihnen verbrannt. Verdammt! Er hatte sich doch trotz seiner Vorsätze irgendwie in dem Rausch, der ihn bei der Arbeit durchflutet hatte, verloren... hatte erneut die Kontrolle verloren. „’tschuldige“, murmelte er, als er sich eine Sekunde später wieder gesammelt hatte und innerlich für seine Leichtfertigkeit verfluchte. „Ich war gerade irgendwie in Gedanken.“ „Das war nicht zu übersehen“, entgegnete Endeavor gedehnt. „Ich denke, wir sind hier jetzt fertig.“ Hawks betrachtete sein Werk und tatsächlich hätte man Endeavors Hände nicht besser versorgen können. Er zuckte daher nur mit den Achseln und zwinkerte. „Ich habe mein Bestes gegeben, also will ich keine Beschwerden hören.“ „Mmpf“, machte Endeavor unbestimmt und verfiel in ein kurzes Schweigen. „Du warst wirklich... gut... heute. Ohne dich hätten wir das nicht geschafft... Danke“, quetschte Endeavor schließlich bereits zum zweiten Mal an diesem Abend zwischen halb zusammengebissenen Zähnen hervor und Hawks dachte erst, sich verhört zu haben. „Nana, Endeavor-san, solches Lob ist man von dir ja gar nicht gewohnt!“, neckte Hawks ihn mit wackelnden Augenbrauen. „Lob mich bloß nicht zu viel, sonst gewöhne ich mich noch daran.“ „Halt den Mund“, grollte der andere zurück und setzte eine finstere Miene auf. „Sonst überlege ich es mir noch und nehme es zurück.“ „Nun sei doch nicht gleich so ernst“, lachte Hawks und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Darf man hier nicht mal einen Scherz machen?“ Endeavors Ausdruck nach zu urteilen, war dieser nicht gerade zu Scherzen aufgelegt. „Schon gut“, lenkte Hawks daher ein und hob beschwichtigend die Hände, als er von dem Blick des Älteren förmlich erdolcht wurde. „Ich verstehe, dir ist das Thema ernst. Deine Reaktion, als der Geiselnehmer den Jungen misshandelt hat... Der Menschenhandel mit Kindern ist bei dir was Persönliches, stimmt’s?“, hakte Hawks vorsichtig nach, hatte er doch beim letzten Mal, als er das Thema angeschnitten hatte, eine Abfuhr erhalten. Endeavor musterte ihn scharf, schien innerlich mit sich zu ringen, ob er ihm vertrauen und dazu etwas sagen sollte oder nicht. Es war bereits so viel Zeit seit seiner Frage vergangen, dass er nicht mehr mit einer Antwort rechnete. Doch er wurde erneut überrascht. „Ist es“, bestätigte Endeavor schließlich und fixierte ihn dabei mit einem intensiven Blick. „Aber das ist eine längere Geschichte.“ „Ich hab‘ Zeit“, erwiderte Hawks prompt und lehnte sich entspannt auf dem Sofa zurück. Der andere zögerte erneut. „Dann hole ich uns was zu trinken“, sagte der Ältere schließlich, erhob sich und ging in Richtung der Bar, aus der er zwei Gläser und eine Flasche bernsteinfarbener Flüssigkeit holte. Er verschwand kurz in der Küche und kam wenig später mit zwei gefüllten Gläsern wieder, von denen eines zusätzlich mit Eiswürfeln bestückt war. „Da du ja eher dem süßen Zeug zugeneigt bist, was meine Hausbar jedoch nicht hergibt, dachte ich, du bevorzugst vielleicht eher einen Whiskey on the rocks“, kommentierte Endeavor und stellte das Glas vor ihm auf dem Couchtisch ab. „Danke, sehr aufmerksam von dir“, sagte Hawks lächelnd und nahm das Glas in die Hand. Er mochte Whiskey zwar nicht sonderlich, aber die Situation schien zu erfordern, dass sie miteinander tranken... vielleicht, damit Endeavor seine Zunge lockern konnte. Dieser nahm neben ihm auf dem Sofa Platz, sagte jedoch nichts. Mehrere Minuten des Schweigens vergingen, in denen jeder nur hin und wieder an seinem Drink nippte. Hawks würde den anderen nicht drängen, seine Geschichte zu erzählen. Wenn Endeavor bereit war, würde er von selbst beginnen. Und wenn er es sich anders überlegte, auch gut. Ganz gleich, was der andere mit sich herumtrug, es fiel ihm offensichtlich nicht leicht, darüber zu reden, und das respektierte er. Nach einer gefühlten Ewigkeit holte Endeavor schließlich tief Luft und sagte in einem bedächtigen Tonfall, der so gar nicht zu dem Älteren passen wollte: „Die wenigsten Personen, geschweige denn Arbeitskollegen, wissen davon und so soll es auch bleiben. Das Letzte, was wir in der aktuellen Situation gebrauchen könnten, wäre, dass meine Integrität oder Neutralität, was die Leitung der Ermittlungen angeht, infrage gestellt wird. Ich verlange daher absolute Diskretion von dir, Hawks.“ Endeavors eisblaue Auge bohrten sich in die seinen und jeder andere, der nicht Hawks’ Selbstbeherrschung besessen hätte, wäre unter dem intensiven Blick zusammengeschrumpft. „Ich verstehe“, erwiderte Hawks knapp und nickte. „Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.“ Auch Endeavor nickte kurz und lehnte sich etwas entspannter zurück, schwenkte das Whiskeyglas in seiner Hand. „Wie du auf dem Foto in der Sonnenblende gesehen hast, habe ich vier Kinder“, setzte der Ältere an und blickte Hawks auffordernd an, als ob er nach Bestätigung suchen würde. Hawks nickte daher und wartete geduldig, dass Endeavor fortfuhr. „Mein ältester Sohn, Touya, war ein schlauer und talentierter Junge, an den ich als Erstgeborenen hohe Erwartungen stellte. Ich hatte die Hoffnung, dass auch er die polizeiliche Laufbahn einschlagen und vielleicht in meine Fußstapfen treten würde.“ Er seufzte schwer und starrte nunmehr sein Glas statt Hawks an, als ob ihm dieser Anblick die Kraft geben würde weiterzusprechen. „Doch Touya war nicht gänzlich gesund. Er hatte eine seltene Autoimmunerkrankung, die ihn so sehr schwächte, dass seine roten Haare mit der Zeit jegliche Farbe verloren und weiß wurden, und deren Behandlung schwierig und langwierig war. Als die Krankheit diagnostiziert wurde, war er acht Jahre alt und hatte den Leistungsdruck, den ich ihm auferlegt hatte, so sehr verinnerlicht, dass er seine schulischen und sportlichen Leistungen weiterhin erbringen wollte. Ich wollte nicht wahrhaben, dass er krank war, und habe ihn, während er auf dem schmalen Grat zwischen Behandlung und Schule balancierte, in seinem Ehrgeiz gewähren lassen. Wie sich für mich erst später herausstellte, obwohl ich es schon viel früher hätte erkennen müssen, war dies ein schwerer Fehler.“ Er hielt inne und nahm einen neuerlichen Schluck aus seinem Glas. „Touya steigerte sich in den Gedanken hinein, in allem der Beste zu sein, um meine Erwartungen an ihn zu erfüllen. Doch anstatt ihn aufzufangen und bei seiner Heilung zu unterstützen, habe ich stattdessen meine Hoffnungen in seine jüngeren Geschwister gesteckt, da ich wollte, dass sich Touya mehr auf seine Behandlung als auf seine Leistungen konzentriert. Ich dachte, indem ich mich mehr der Ausbildung seiner Geschwister zuwende, würde ich ihm die Last, der Erstgeborene zu sein, abnehmen. Doch dadurch habe ich es nur schlimmer gemacht und ihn noch mehr in die Enge getrieben. Denn um weiterhin von mir anerkannt zu werden, wollte er noch mehr Leistung erbringen und vernachlässigte seine Behandlung. Damals habe ich diesen Fehler, der zu einem Teufelskreis wurde, nicht erkannt. Bis es dann zu spät war.“ „Was ist passiert?“, fragte Hawks zögerlich, aber auch neugierig, als Endeavor erneut eine Pause machte und in Gedanken zu versinken schien. „Mit 27 Jahren, Touya war gerade sieben Jahre alt, wurde ich auf eigenen Wunsch zur Kriminalpolizei versetzt. Ich wollte schnell die Karriereleiter erklimmen und habe, um dieses Ziel zu erreichen, mehr Zeit und Energie in meine Arbeit gesteckt als in meine Familie. Selbst als Touya krank wurde, habe ich die Nächte und Wochenenden im Büro verbracht. Meine Kinder tragen mir dies heute noch nach... zu Recht. Aber ändern kann ich es heute nicht mehr.“ Endeavor seufzte erneut schwer und seine Stimme klang leicht verändert, als er weitersprach. „Um Touyas zehnten Geburtstag herum gelang mir dann endlich der erste große Erfolg, der meiner Karriere enormen Auftrieb gab. Ich war einer Gruppe aus etwa einem Dutzend Männern auf der Spur, die sich im Laufe der Ermittlungen als Handlanger der Yakuza herausstellte. Dank meinen Ermittlungen konnten wir diese Männer auf einen Schlag festnehmen. Einige von ihnen hatten damals wertvolle Informationen, andere weigerten sich wiederum, mit uns zu kooperieren, und sitzen heute noch im Gefängnis oder sind dort unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen.“ Hawks, der gebannt an Endeavors Lippen gehangen hatte, zuckte kurz zusammen, doch der andere schien davon nichts mitbekommen zu haben, sondern erzählte, den Blick auf sein in der Hand schwenkendes Glas gerichtet, weiter: „Das war damals ein herber Rückschlag für die Yakuza, die für diesen Akt Vergeltung üben wollte. Natürlich wusste ich, dass der Beruf eines Polizisten Gefahren mit sich bringt, besonders, wenn man einer kriminellen Vereinigung auf den Fersen ist. Doch ich habe, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, nicht damit gerechnet, dass sie herausfinden würden, wer hinter diesem Schachzug steckte. Ich war damals nur ein kleiner Fisch im großen Teich und wiegte meine Familie und mich in Sicherheit. Doch das war ein Trugschluss. Sie kamen, als ich am wenigsten damit rechnete. Wenige Monate nach der Festnahme der zwölf Männer überredete mich meine Frau zu einem Wochenendausflug zum Berg Takao-san, dessen Wald zu dem Zeitpunkt im Herbst vor fünfzehn Jahren in seinen schönsten Farben leuchtete. Obwohl ich viel zu tun hatte, sagte ich widerwillig zu und ich übernachtete für zwei Nächte mit der Familie in einem kleinen Haus am Waldrand. Touya verhielt sich schon das ganze Wochenende über merkwürdig, was mir zwar auffiel, dem ich jedoch keine besondere Bedeutung beimaß. Am späten Nachmittag des zweiten Tages bat mich mein Sohn, mit ihm Herbstlaub für ein Kunstprojekt seiner Schule fotografieren zu gehen, doch ich lehnte ab, da ich meinen damals einjährigen jüngsten Sohn im Auge behalten wollte. So ging Touya allein los. Da er nach mehreren Stunden immer noch nicht zurückgekehrt war und es bereits dunkel wurde, machte ich mich auf die Suche nach ihm. Nach einer halben Stunde entdeckte ich seine Kamera, die achtlos auf dem Boden zurückgelassen worden war. In der Nähe hörte ich einen Schrei und rannte in die Richtung, aus der er gekommen war.“ Hawks bemerkte er jetzt, dass er den Atem angehalten und sich gespannt nach vorne gelehnt hatte. Bemüht, locker zu wirken, ließ er sich wieder nach hinten gegen die Kissen sinken. „In der Ferne erblickte ich Touya, der von zwei Männern in dunkler Kleidung zu einem Fahrzeug gezerrt wurde. Er wehrte sich mit Händen und Füßen und bei der Gelegenheit fiel einem der Männer das entzündete Feuerzeug, das er leichtfertigerweise und wohl in dem Glauben, mit dem Jungen leichtes Spiel zu haben, für eine Zigarette herausgeholt hatte, aus der Hand. Der trockene Waldboden ging, als der Wind das Feuer anfachte, sofort in Flammen auf und hatte bis zu dem Zeitpunkt, als ich den Ort erreicht hatte, bereits eine Wand aus Feuer gebildet. Ich habe nicht gesehen wie, aber Touya konnte sich zwischenzeitlich losreißen und kam mir entgegengerannt, da der Weg hinter ihm von den Männern und dem Auto versperrt war... direkt in die Flammen hinein. Ich geriet in Panik und stürmte auf meinen Sohn, dessen Oberkörper bereits Feuer gefangen hatte, zu. Dabei nahm ich nicht wahr, wie einer der Männer einen großen Ast aus den Flammen genommen hatte, mit dem er mich, kaum dass ich Touya nahe genug gekommen war, um ihn erreichen zu können, niederstreckte.“ „Hast du daher die Narbe?“, warf Hawks, der Endeavor eigentlich nicht unterbrechen wollte, seine Neugier aber nicht zurückhalten konnte, ein. „Ja, der Ast hat mich im Gesicht erwischt und mir die linke Gesichtshälfte verbrannt“, bestätigte der Rothaarige und strich sich scheinbar gedankenverloren über die Narbe, die sich von seiner Lippe bis zu seinem Haaransatz zog. „Was ist mit deinem Sohn passiert?“, fragte Hawks nach einem kurzen Moment der Stille und seine Worte blieben ihm fast in seiner ausgetrockneten Kehle stecken. „Bevor mich die Ohnmacht und die Schmerzen übermannen konnten, sah ich noch, wie der andere Mann Touya aus den Flammen zog, ihn in eine Decke hüllte und zum Auto schleppte. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Sohn gesehen habe.“ Endeavor stockte und schluckte schwer. „Weißt du, was aus ihm geworden ist?“ Ihre Augen trafen sich und Hawks hatte noch nie so viel Schmerz und Leid im Blick eines anderen Menschen gesehen. „Nein“, krächzte Endeavor heiser und räusperte sich, um hörbarer fortzufahren. „Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt oder er seinen Verbrennungen erlegen ist. Ich weiß nur, dass dies die Rache der Yakuza dafür war, dass ich ihnen Monate zuvor eins ausgewischt hatte.“ Darauf wusste Hawks nichts zu erwidern, sodass er Endeavor lediglich bestärkend die Hand auf die Schulter legte. Eine Weile lag die Stille schwer wie Blei über ihnen. „Danke, dass du mir das erzählt hast.“ Endeavor murmelte etwas Unverständliches und Hawks wandte lieber den Blick ab, wollte nicht, dass der Ältere wahrnahm, dass er dessen Tränen bemerkt hatte. Er leerte den Rest seines Glases in einem Zug, stellte es vor sich auf den Tisch und erhob sich. „Es war ein langer Tag heute,“ sagte Hawks und blickte Endeavor an, als dieser den Kopf hob. „Wir sollten unseren Erfolg später gebührlich feiern, aber für heute Abend sollten wir uns erst einmal ausruhen.“ Endeavor brummte zustimmend und Hawks schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, ehe er sich umdrehte und Richtung Ausgang ging. „Hawks“, sagte Endeavor mit leicht, aber für seine geschulten Ohren deutlich wahrnehmbar belegter Stimme, woraufhin sich Hawks noch einmal umdrehte. „Nach dem, was du heute geleistet hast... hast du dir meinen Respekt... und mein Vertrauen verdient.“ Hawks‘ Lächeln wurde breiter und er nahm die Worte schweigend entgegen, ohne diese durch eine unbedachte Äußerung womöglich ins Lächerliche zu ziehen und den Moment zu zerstören. Die Worte bedeuteten ihm etwas. Und das war das Problem. Nach einem letzten Blickkontakt wandte sich Hawks wieder um, zog im Eingangsbereich seine Schuhe an und verließ ohne ein weiteres Wort oder einen Blick zurück das Haus. „Du bist spät dran, Hawks“, ertönte eine gedehnte Stimme aus der Dunkelheit, als er eine Dreiviertelstunde später den Eingang zu einem schäbigen, unscheinbaren Gebäude erreicht hatte. „Ich hatte noch zu tun“, erwiderte Hawks, der keine Lust verspürte, sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen, knapp. Besonders nicht mit dieser Person. „Soso, hast dich wieder bei der Polizei herumgetrieben, was?“, höhnte der andere und lachte bedrohlich. „Du weißt, was ich tue“, kommentierte Hawks die offensichtliche Provokation und versuchte, an dem anderen vorbei durch die Tür zu gehen, doch sein Gegenüber trat einen Schritt vor und versperrte ihm den Weg. Ein mit von Tätowierungen kaschierten Narben übersätes und doch junges Gesicht, eingerahmt von schwarzem Haar, kam im Licht der entfernten Straßenlaterne zum Vorschein. Die türkisfarbenen Augen lodernd vor Wahnsinn und die Zähne durch ein unheilvolles Grinsen gebleckt. „Oh, ich weiß, was du tust“, gackerte dieser nur und stach ihm mit seinem ausgestreckten Zeigefinger in die Brust. „Die Frage ist nur, ob du weißt, was du tust.“ Hawks stockte kurz, hatte sich aber schnell wieder gefangen und begegnete dem wahnsinnigen Blick des anderen mit so viel Verachtung und gleichzeitig Gelassenheit, wie er in dem Moment aufbringen konnte, während er die Hand des anderen wegstieß und sich an ihm vorbeidrängte. „Kümmere dich um deinen eigenen Kram... Dabi.“ Kapitel 9: Bad Conscience ------------------------- „Ah, da ist er ja, der Mann der Stunde!“, hallte eine krächzende Stimme durch den Raum, als Hawks durch die Tür trat. Da der Raum überwiegend im Schatten lag, konnte Hawks die Person, die gesprochen hatte, am anderen Ende der großen Tafel nicht sehen. Die Stimme des Mannes war jedoch unverkennbar. Obwohl er sich verspätet hatte – er hätte bereits vor gut einer Stunde eintreffen müssen –, hatte er es nicht eilig. Ohne Hast und sich der Blicke der übrigen Anwesenden aus den Schatten bewusst, schritt er auf den Tisch zu und ließ sich am Kopfende nieder. Dabi folgte ihm wenige Augenblicke später und nahm auf dem einzigen noch freien Stuhl in der Mitte der Runde Platz. „Da wir ja jetzt vollzählig sind, können wir beginnen“, verkündete sein direktes Gegenüber den übrigen Anwesenden, schien seine Verspätung nicht näher thematisieren zu wollen. Er neigte sich ein Stück nach vorne, gerade so weit, dass sein Gesicht nunmehr von dem spärlichen Licht, das den Raum beleuchtete, erhellt wurde. In dem dämmrigen Licht beinahe blutrot leuchtende Augen fixierten ihn, während er seine Hände unter seinen spröden Lippen faltete und sein Kinn, an dem sich ein kleines Muttermal befand, darauf abstützte. Er lehnte sich noch ein Stück weiter vor, sodass ihm seine stumpf wirkenden, hellblauen Haare ins Gesicht fielen. „Warst du erfolgreich?“, fragte er gedehnt, aber doch schneidend. Hawks wusste, dass die Frage rein rhetorischer Natur war, da sie den Ausgang der Mission selbstverständlich bereits selbst in Erfahrung gebracht hatten. Die Liga hatte ihre Augen und Ohren überall... Und dennoch spielte er das Spiel mit, wie es von ihm erwartet wurde. „Es ist alles nach Plan verlaufen“, antwortete Hawks daher knapp. „Sehr schön, sehr schön!“, erwiderte der andere mit einer fast schon kindlichen Freude in der Stimme und legte die Fingerspitzen aneinander, über die er Hawks hinweg beobachtete. „Und die Polizei hat nichts gemerkt?“ „Nein, nichts“, bestätigte Hawks. „Das ist wohl untertrieben“, mischte sich plötzlich Dabi ein, der sich aufgerichtet hatte und sämtliche Blicke auf sich zog. „Huh? Inwiefern?“, hakte sein Gegenüber krächzend nach, fixierte nunmehr den Schwarzhaarigen anstelle von ihm. „Nun, Hawks scheint sich so gut bei den Bullen eingelebt zu haben, dass sie ihn sogar schon zu sich nach Hause einladen, Shigaraki“, erklärte Dabi, über dessen Mundwinkel ein bösartiges Grinsen zuckte. „Besonders der rothaarige Ermittlungsleiter scheint ihm schon förmlich aus der Hand zu fressen.“ „Na und? Umso besser für uns, wenn Hawks seine Rolle gut spielt und die Gegenseite keinen Verdacht schöpft“, entgegnete Shigaraki achselzuckend und Dabi, der sich offensichtlich eine andere Reaktion erhofft hatte, sank zurück in seinen Stuhl. „Zu gut, wie mir scheint“, erwiderte Dabi düster, konnte jedoch weder Shigaraki noch die anderen Anwesenden von seiner Meinung überzeugen. „Der Trick, der Polizei ein Bauernopfer preiszugeben, um ihr Vertrauen zu gewinnen, hat doch wunderbar funktioniert“, schaltete sich ein weiterer Mann in orangefarbenem Mantel und mit zylinderförmigem Hut ein. „Wenn Hawks uns nicht mitgeteilt hätte, dass der Polizist womöglich Verdacht schöpft, weil Hawks‘ Fährten stets ins Leere führen, wäre er vielleicht aufgeflogen und unser Plan, die Polizei von innen zu infiltrieren, zunichte gemacht worden.“ „Und wer sagt uns, dass er nicht schon längst gemeinsame Sache mit den Bullen macht, Compress?“, spuckte Dabi aus und für einen Moment hing die gravierende Anschuldigung schwer in der Luft. „Es reicht, Dabi“, wies Shigaraki den Schwarzhaarigen zurecht, der daraufhin nur mit den Schultern zuckte. „Was denn? Ich spreche nur aus, was wir hier alle denken.“ „Ich vertraue Hawks!“, setzte sich Spinner für ihn ein und klopfte ihm, da er neben ihm saß, freundschaftlich auf die Schulter. „Hawks hat mich gewarnt, als ich, nichts ahnend, vor einigen Wochen das Schutzgeld vom Ramen-ya in Meguro abholen wollte. Wenn Hawks mir nicht rechtzeitig eine Nachricht geschrieben hätte, dass der Rothaarige am Tresen ein Bulle ist, hätte er mich mit Sicherheit bei der Geldübergabe erwischt oder sogar geschnappt.“ „Er hätte dir aber auch schon Bescheid geben können, bevor du den Laden betreten hast. Dann wärst du erst gar nicht in diese missliche Lage gekommen“, konterte Dabi. „Dann wäre aber der Bulle misstrauisch gegenüber Hawks geworden, weil ich nie mehr dort aufgetaucht wäre, kaum dass er mit ihm dorthin fährt“, warf Spinner ein und die restlichen Mitglieder der Runde brummten zustimmend. „Ich vertraue Hawks auch! Er war immer gut zu mir“, meldete sich ein anderer zu Wort, nur um im nächsten Moment mit verstellter Stimme zu widersprechen. „Nein, war er nicht!!“ „War er nicht?“ „Nein!“ „Wie Twice gerade schon ausführt“, unterbrach ihn Shigaraki und versuchte damit offensichtlich ebenso, Dabi den Wind aus den Segeln zu nehmen, „hat sich Hawks schon in frühen Jahren als treues und einsatzbereites Mitglied unserer Organisation erwiesen. Wenn er sich unser Vertrauen nicht verdient hätte, hätten mein Vater und ich ihn wohl kaum ausgewählt, um ihn mit gefälschten Papieren, einer erfundenen Vergangenheit und Qualifikation bei der Polizei einzuschleusen, um diese zu unterwandern. Schließlich haben wir so auf der einen Seite nicht nur direkten Zugriff auf jegliche Ermittlungsschritte gegen uns. Nein, wir haben sogar die Möglichkeit, wenn sie uns zu nahe kommen, in die Ermittlungen einzugreifen und sie in eine andere Richtung zu lenken. Da Hawks schließlich zwar ein langjähriges, im Rang aber nicht gerade hohes Mitglied ist, müssen wir auf der anderen Seite nicht befürchten, dass er an die Polizei Informationen weiterträgt, die wir ihm nicht vorher bereitwillig gegeben haben.“ „Haben wir ihnen mit Muscular dann nicht quasi alles auf dem Silbertablett serviert?“, konterte Dabi spöttisch. „Mitnichten“, entgegnete Shigaraki und seine rissigen Lippen formten sich zu einem schiefen Lächeln. „Muscular war nur ein unbedeutender Handlanger, der allenfalls Informationen über unser Gewerbe im Hafen hat. Da wir jedoch neue Wege ins Ausland erschlossen haben und die Hafenpolizei schon länger herumgeschnüffelt und angefangen hat, unliebsame Fragen zu stellen, werden wir den Hafen als Ausfuhrort ohnehin stilllegen. Um Hawks bei der Polizei weiterhin glaubwürdig erscheinen zu lassen, war sein Opfer und das der paar Geiseln, die in die Hände der Polizei gefallen sind, ein kleiner Preis.“ „Ohnehin hat sich Muscular durch zahlreiche Eskapaden während der Arbeit zu einem erheblichen Geschäftsrisiko entwickelt, das beseitigt werden musste“, fügte die aalglatte Stimme eines Mannes hinzu, dessen Gesicht weiterhin im Schatten verborgen war. „Kurogiri hat Recht“, stimmte Shigaraki zu. „Muscular hat in letzter Zeit ziemlich über die Stränge geschlagen und sich durch Gewalttätigkeiten an der Ware vergriffen. Indem er die Menschen, die wir verkaufen wollen, schlägt und misshandelt, weil er ihnen nicht Herr wird, mindert er deren Wert und schädigt unser Geschäft.“ „Hört hört“, bestätigte Kurogiri und erntete zustimmendes Gemurmel. „Aber lassen wir doch mal Hawks selbst zu Wort kommen.“ Alle Augenpaare huschten zu ihm, wobei ihm insbesondere Dabis mörderischer Blick einen Schauder über den Rücken jagte. Nach außen hin vollkommen gelassen, ließ er sich von seinem Unbehagen jedoch nichts anmerken. „Der Oyabun und du, Shigaraki, habt mir eine Aufgabe aufgetragen. Und diese habe ich bisher stets zur Zufriedenheit der Liga ausgeführt, ohne mir etwas zu Schulden kommen zu lassen. Wenn unser Vater und sein Ziehsohn und rechte Hand an meinen Leistungen nichts zu bemängeln haben, solltest du das auch nicht, Dabi.“ Der Angesprochene warf ihm einen vernichtenden Blick zu, schwieg jedoch. „Ah, na gut“, brach Shigaraki nach einem kurzen Moment die Stille, die sich wie ein schweres Tuch über sie gelegt hatte, scheinbar kurz irritiert davon, dass Dabi keine Widerworte äußerte. „Da das ja jetzt geklärt ist, kommen wir zum nächsten Punkt, den wir besprechen sollten.“ „Hawks, du kannst jetzt gehen“, fügte er an ihn gewandt hinzu und richtete sich, als sich Hawks stumm erhob und den Tisch verließ, wieder an die übrigen Mitglieder. „Wie läuft die Eintreibung der Schutzgelder, Spinner?“ Hawks atmete kurz aus, hatte nicht bemerkt, den Atem angehalten zu haben. Mit zügigen Schritten und Dabis Blick im Nacken spürend, durchquerte er den Raum und hatte diesen verlassen, noch ehe Spinner seine Ausführungen beginnen konnte. Als er die Tür hinter sich ins Schloss fallen gelassen hatte, lehnte er sich seufzend dagegen. Der Tag war anstrengend gewesen und allmählich machte ihm die Erschöpfung durch die zahlreichen Ereignisse zu schaffen. Ihm graute daher schon davor, in wenigen Stunden bereits wieder aufstehen zu müssen... Obwohl ihm nur wenige Stunden zur Verfügung gestanden hatten, hatte er zunächst nur schlecht in den Schlaf gefunden. Als es ihm nach gefühlt stundenlangem Herumwälzen endlich gelungen war, hatten ihn Alpträume geplagt, in denen ihn abwechselnd Muscular erwürgte, Dabi höhnisch auslachte, während er an einen brennenden Pfahl gebunden war, und sich Endeavor mit enttäuschtem Blick von ihm abwandte. Er wusste nicht, welcher dieser Träume der Schlimmste gewesen war. Sie waren jedenfalls alle so realistisch gewesen, dass er aus dem Schlaf hochgeschreckt war und sie ihn mit einem flauen Gefühl in der Magengegend zurückgelassen lassen. Hawks, der sich mit einer Hand seine Hose anzog, griff mit der anderen nach einer Schachtel Cornflakes und holte eine Schüssel, einen Löffel und Milch aus dem Schrank. Gerädert und noch nicht annähernd auf der Höhe, ließ er sich auf den Stuhl an dem kleinen Tisch in seiner spärlich eingerichteten Küche fallen. Geistesabwesend füllte er die Schüssel und begann, sich Cornflakes in den Mund zu schaufeln. Wann immer ihn die Müdigkeit zu übermannen drohte und er für kurze Zeit die Augen schloss, tauchte vor seinem geistigen Auge das Bild von Dabi auf, bei dessen feindseligem Blick er unweigerlich ein wenig zusammenzuckte und schlagartig wieder wach wurde, beinahe die Schüssel umstieß. Dabi, der nur wenig später als er selbst aus der Besprechung herausgekommen war und ihn noch unmittelbar hinter der Eingangstür abgefangen hatte. Er konnte die Szene noch bildlich vor sich sehen, wie er selbst sich für den Heimweg die Kopfhörer aufgesetzt hatte und gerade die Musik hatte anschalten wollen, als er hinter sich die Tür ins Schloss fallen gehört hatte. „Noch da?“, fragte die schnarrende Stimme hinter ihm und er musste nicht erst nachschauen, um zu wissen, wer sprach. „Schon aus der Besprechung rausgeschmissen?“, konterte Hawks, machte sich nicht die Mühe sich umzudrehen. Da er noch gestanden, Dabi aber zu ihm aufgeschlossen und ihn schließlich umrundet hatte, stand dieser nunmehr unmittelbar vor ihm. Doch Hawks ließ sich von dem bedrohlichen Gesichtsausdruck des anderen nicht einschüchtern, setzte vielmehr ein Grinsen auf. „Ist noch was?“, fragte er in betont lässigem Ton, als Dabi keine Anstalten machte, das Wort zu ergreifen, sondern ihn nur weiterhin lauernd anstarrte. „Nur weil die anderen so naiv sind und dir deine Geschichte abgekauft haben, bedeutet das nicht, dass ich darauf reinfalle“, knurrte der Schwarzhaarige und in seiner Stimme schwang eine unverhohlene Drohung mit. „Und was kümmert mich deine Meinung?“, entgegnete Hawks achselzuckend und wollte sich schon abwenden, als der andere ihn mit festem Griff am Handgelenk zurückhielt. „Glaub ja nicht, dass du mir einfach so den Rücken zukehren kannst... zukehren solltest“, flüsterte Dabi, kam ihm dabei so nahe, dass sich ihre Gesichter fast berührten, durchbohrte ihn mit seinen gefährlich flackernden türkisfarbenen Augen. Doch Hawks hielt seinem Blick stand. „Soll das eine Drohung sein?“, grinste Hawks, blieb äußerlich locker, obwohl ihm die Nähe zu dem anderen nicht behagte. „Dein selbstgefälliges Grinsen werde ich dir schon noch aus dem Gesicht wischen“, drohte Dabi und auf sein Gesicht legte sich ein wahnsinniger Ausdruck. „Noch hast du beim Boss einen Stein im Brett. Aber sobald ich einen Beweis dafür habe, dass du uns hintergehst...“, raunte Dabi und seine Stimme war fast nur noch ein Wispern, schnitt jedoch durch die Stille wie Eis; er griff in seine Tasche und holte ein Feuerzeug hervor, das er in einer einzigen fließenden Bewegung vor seinen Augen entzündete. „... wirst du dir wünschen, du hättest dich nicht mit uns angelegt.“ Hawks erwiderte seinen stechenden Blick, blinzelte nicht einmal. „Werde ich mir merken.“ Und mit diesen Worten riss er sich aus dem Griff des anderen los und verschwand in der Dunkelheit, Dabis bohrenden Blick erneut im Nacken spürend. Hawks schüttelte den Kopf, vertrieb die unangenehmen Erinnerungen an die letzte Nacht aus seinen Gedanken. Zurückblieb der schale Beigeschmack und die Erkenntnis, dass er sich gegenüber Dabi beherrschter verhalten hatte, als er sich innerlich gefühlt hatte. Er war zwar Zeit seines Lebens Drohungen und Risiken gewohnt gewesen, hatte sich mit dem Gedanken, dass er jederzeit auf der Abschussliste landen konnte, arrangiert. Doch bisher hatte er sich trotz aller Gefahren, die er eingegangen war, stets sicher gefühlt, da er für die Liga wertvoll war und er wusste, dass sie ihn nicht beseitigen würden, wenn er ihnen loyal war und sich nichts zu Schulden kommen ließ. Die derart offene Drohung Dabis, der berüchtigt dafür war, seine Opfer mit Feuer zu Tode zu quälen, machte ihm daher berechtigte Sorgen. Natürlich war er sich auch bewusst darüber, dass die Yakuza jeden seiner Schritte im Auge behielt und ihn beschattete. Nicht, dass sie ihm per se misstrauten; das hatte die heutige Sitzung widerlegt. Aber es stand für die Liga zu viel auf dem Spiel, als dass sie ihr Schicksal in die Hände eines einzelnen Mannes legen würden, ohne diesen zu kontrollieren. Dass sie ihn aber bis zu Endeavors Anwesen verfolgt hatten und dies so offen ansprachen, hatte ihn doch etwas auf dem falschen Fuß erwischt. Seine Loyalität zur Liga war in den letzten Monaten auf eine harte Probe gestellt worden. Und dass Dabi die Fäulnis, die seine bedingungslose Treue befallen hatte, gerochen hatte, obwohl er selbst seine Gedanken diesbezüglich noch nicht einmal geordnet hatte, gab ihm zu denken. Anfänglich war er seiner Aufgabe vorbildlich nachgekommen, hatte falsche Fährten gelegt und die Polizei mit seinen Hinweisen bewusst in die Irre geführt. Es war seine Pflicht gewesen, Spinner zu warnen. Als dies nicht geglückt war, hatte er keinen anderen Ausweg gesehen, als die Verfolgungsfahrt in einem Unfall enden zu lassen, um Spinner das Entkommen zu ermöglichen, ohne dass es wie Absicht wirkte. Und natürlich hatte er gewusst, dass Giran bereits seit einiger Zeit nicht mehr im Busty Bunny aufgetaucht war. Gegenüber der Polizei hatte er vorgegeben, vollen Einsatz für deren Sache zu leisten, und sich so viel wie möglich eingebracht, um immer an vorderster Front mitmischen und Bericht erstatten zu können. Parallel dazu hatte er ausgetestet, wie weit ihm Endeavor schon vertraute, indem er eine kumpelhafte, freundschaftliche Beziehung zu ihm aufzubauen, sich gleichzeitig unentbehrlich zu machen versucht hatte. Seinem Charme und seiner einnehmenden Art, ständig einen flotten Spruch auf den Lippen zu haben, war er sich dabei mehr als bewusst. Der Polizei und vor allem Endeavor etwas vorzuspielen, war ein Leichtes gewesen. Er hatte sich schon so oft in seinem noch jungen Leben verstellen, seine wahren Absichten und Emotionen verstecken müssen, dass es wie Atmen für ihn war… dass ihn aber auch nicht nur einmal das Gefühl überkommen war, nicht mehr zu wissen, wer er selbst überhaupt war. Doch trotz seiner persönlichen Bedenken, die er tief in sich vergraben hatte, hatte er Befehle auszuführen und wusste, was bei Ungehorsam für ihn auf dem Spiel stand. Immerhin wollte er nicht so enden wie Bubaigawara, der aufgrund von Misserfolgen bereits mehrere Fingerglieder eingebüßt hatte. Die Situation hatte sich jedoch am selben Tag, als er seinen nächsten Schachzug, die Polizei im Stripclub in eine weitere Sackgasse zu führen, ausgespielt hatte, drastisch geändert. Denn nicht nur hatte er immer stärker gespürt, dass Endeavor ihm wegen ihrer ständigen Misserfolge stetig mehr misstraute. Dieses Gefühl hatte sich später, als er ihm etwas zu trinken geholt und Endeavor unangenehm präzise Fragen gestellt hatte, nur noch verstärkt. Er hatte, als er Endeavor nach Hause gebracht und dieser im betrunkenen Zustand vor sich hingemurmelt hatte, aber ebenso erkannt, dass es auch innerhalb der Polizei nicht nur Schwarz und Weiß gab. Auch Endeavor hatte seine Motive, die er, insbesondere nachdem dieser ihm die komplette Geschichte erzählt hatte, schmerzlich nachempfinden konnte. Diese Erkenntnis und seine wachsende Sympathie für den Rotschopf hatten seine Resolution ins Wanken, ihn zum Nachdenken gebracht, ob er tatsächlich auf der... richtigen Seite stand. Aber ganz gleich, wie schwer sein Gewissen nun auf ihm lastete, er war schon zu tief in die Sache verstrickt, dass es zu spät war, jetzt noch umzukehren. Seufzend legte Hawks den Löffel beiseite, hatte keinen Appetit mehr. Er schüttelte erneut den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben, und erhob sich. Nach einem kurzen Besuch im Bad ging er an dem kleinen verschmierten Spiegel Richtung Wohnungstür vorbei und hielt bei einem Blick auf sein Spiegelbild kurz inne. Er versuchte sich an einem Lächeln, das jedoch eher gequält wirkte. Das konnte er doch besser... Nach einigen Bemühungen wandte er sich schließlich halbwegs zufrieden ab, straffte die Schultern und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Nachdem er sich in drei verschiedene U-Bahnen gequetscht hatte und zweimal umgestiegen war, erreichte er nach etwa vierzig Minuten das Polizeipräsidium. Kaum hatten sich die Fahrstuhltüren auf ihrer Etage geöffnet – geschwitzt hatte er in der Bahn schon genug, sodass er die Treppe eher mied –, wurde er bereits lautstark begrüßt. „Guten Morgen, Hawks-kun!“, rief Yagi, der seinen Kopf aus einem Büro steckte, und winkte ihm überschwänglich zu. „Falls du Todoroki-san suchst... der ist schon runter zu den Zellen gegangen und bereitet sich auf die Vernehmung vor.“ „Oh, danke“, erwiderte Hawks, in dessen Kopf sich das Druckgefühl ob der Lautstärke am frühen Morgen noch verstärkte, knapp. Ohne den Fahrstuhl verlassen zu haben, drückte er auf die Taste für das erste Untergeschoss. „Hat gestern Abend noch alles geklappt?“, fragte Yagi jedoch noch, sodass er rasch den Knopf betätigte, der die Türen aufhielt. „Und danke, dass du dich um Todoroki-sans Verletzungen gekümmert hast. Da er sich nicht gern helfen lässt, war das bestimmt mit einigen Schwierigkeiten verbunden.“ „Kein Problem, Yagi-san. Ich hatte schon widerspenstigere Patienten“, sagte Hawks und zwinkerte kurz, was Yagi mit einem Lächeln quittierte. Er ließ den Schalter los und nachdem sich die Türen geschlossen hatten, setzte sich der Aufzug ratternd in Bewegung. Unten angekommen machte er sich zielstrebig auf den Weg zum Vernehmungsraum, der direkt um die Ecke am Anfang des Korridors, der zu den Zellen führte, lag. Das Erste, das ihm ins Auge sprang, als er den Raum betrat, war Endeavors breiter Rücken, mit dem er zur Tür gewandt und vertieft in seine Unterlagen an einem Tisch saß. „Guten Morgen!“, sagte Hawks heiter und ließ sich auf den freien Stuhl neben ihm fallen. Muscular war offensichtlich noch nicht eingetroffen. „Morgen“, brummte der Rothaarige kurz angebunden, sah aber dennoch von den Papieren auf und betätigte den Knopf an einem Lautsprecher. „Ihr könnt den Beschuldigten jetzt reinbringen.“ „Übliches Prozedere?“ fragte Hawks lässig. Er wusste in der Theorie zwar alles über die polizeilichen Vernehmungsmethoden, machte so etwas aber zum ersten Mal. Das würde er sich natürlich nicht anmerken lassen. „Wir gehen lehrbuchmäßig vor“, antwortete Endeavor und erhob sich, um den Weg für den Beschuldigten, der hinter ihnen durch die Tür kommen würde, freizumachen. „Wir können uns keine Verfahrensfehler erlauben, sonst kommt der Festgenommene schneller wieder frei, als wir gucken können.“ „Verstanden“, bestätigte Hawks und erhob sich ebenfalls. Im gleichen Moment wurde der Gefangene von zwei Wärtern in den Vernehmungsraum begleitet, warf ihnen je einen hasserfüllten Blick zu, ehe er von den Wärtern um den Tisch herum zu einem Stuhl geführt und seine Handfesseln an dem Tisch befestigt wurden. Hawks wusste, dass dies bei Verbrechern von Musculars Kaliber so üblich war, zumal er bereits bei seiner Festnahme gezeigt hatte, dass er sich zu wehren wusste. Doch er kam nicht umhin, dass sich ein beklemmendes Gefühl in ihm breit machte bei dem Gedanken, er selbst würde gefesselt auf diesem Stuhl sitzen. Doch er schüttelte diese Vorstellung ab, half sie ihm doch in der aktuellen Situation nicht, sich auf die bevorstehende Vernehmung zu konzentrieren. Positiv war immerhin, dass Muscular ihm im Rahmen seiner Tätigkeiten für die Liga noch nie begegnet war und er daher nicht befürchten musste, dass dieser ihn durch eine unbedachte Äußerung verriet. Der Blonde war, wie Shigaraki richtig ausgeführt hatte, nur ein Handlanger und kannte die wenigsten Mitglieder der Yakuza persönlich, allenfalls diejenigen, mit denen er unmittelbar zu tun hatte. Und zu denen zählte Hawks nicht. Allerdings sprach dies nicht gerade dafür, dass die heutige Vernehmung interessante Informationen ans Licht bringen würde... Endeavors Tobsuchtsanfall in Anbetracht dessen, dass mal wieder eine Spur in einer Sackgasse endete, sah er bereits jetzt vor seinem inneren Auge. Als die Wärter den Raum verlassen hatten, nahm Endeavor wieder Platz, direkt gegenüber dem Muskelprotz, der sie weiterhin mit seinen Blicken erdolchte, und die Tür in seinem Rücken. Hawks tat es ihm gleich und für einen Moment legte sich eine drückende Stille auf den spärlich eingerichteten Raum. Immerhin war er gut ausgeleuchtet und das nicht nur aus dem Grund, dass in der Ecke eine Kamera befestigt war, um das Gespräch und sämtliche Handlungen aufzuzeichnen. „Gouto Imasuji, Sie wissen, was Ihnen zur Last gelegt wird?“, schnitt Endeavors raue Stimme schließlich wie Eis durch die Stille. „Du kannst mich mal!“, brüllte dieser zurück und zog so heftig an den Ketten, dass der mit dem Boden verbundene Tisch bedrohlich wackelte. „Wie Sie wissen, steht es Ihnen natürlich frei, sich zu dem Schuldvorwurf zu äußern“, ließ sich Endeavor ob des Wutausbruchs nicht aus der Ruhe bringen, sondern fuhr mit der Belehrung fort. „Auch können Sie einen Verteidiger Ihrer Wahl konsultieren und Beweismittel vorbringen, die Sie entlasten.“ „Da scheiß ich drauf!“, spuckte er aus und tatsächlich flogen ein paar Tropfen aus dessen Mund nur wenige Zentimeter an Hawks vorbei. Endeavor hingegen blieb weiterhin ruhig, fixierte sein Gegenüber mit einem derart stechenden Blick, dass sich Hawks darüber wunderte, dass Muscular noch nicht unter ihm zusammengeschrumpft war. „Ihnen wird vorgeworfen, dass Sie sich an dem Versuch beteiligt haben, insgesamt sieben junge Frauen und Kinder vom Tokyoter Hafengelände ins Ausland zu verschiffen und dort zu Zwecken der Prostitution und Ausbeutung zu verkaufen. Was sagen Sie dazu?“ „Alles Bullshit!!“, fauchte Muscular und bewegte sich erneut gegen die Handfesseln, die dem jedoch standhielten. „Sie waren also nicht am gestrigen Abend auf dem Hafengelände?“, hakte Hawks nach und neigte sich ein wenig vor. „Nein, war ich nicht!“ „Und wo haben wir Sie dann festgenommen?“ Mit Genugtuung sah Hawks, wie Musculars Kiefer mahlte, offensichtlich unter der Anstrengung, sich eine Ausrede dafür einfallen zu lassen. „Ich sag hier gar nichts mehr!“ „Das ist natürlich Ihr gutes Recht“, erklärte Endeavor und verschränkte die Arme, während sich auf seiner Stirn eine Zornesfalte abzeichnete. „Doch auch ohne Ihre Aussage haben wir genug Beweismittel gegen Sie in der Hand, um Sie für mehrere Jahre hinter Gitter zu bringen.“ „Ihr blufft doch nur!“, schrie Muscular, dessen Stimme sich fast überschlug. „Wollen Sie es darauf ankommen lassen?“, entgegnete Endeavor, in dessen Stimme sich nun ein bedrohlicher Unterton mischte. „Wenn das so ist, können wir die Unterhaltung auch beenden. Ich habe weitaus Besseres zu tun, als meine Zeit mit Ihnen zu verschwenden.“ Bei diesen Worten schob Endeavor seinen Stuhl zurück und hatte sich bereits halb aufgerichtet, als Muscular mit aufsteigender Panik in der Stimme rief: „Ja, okay, ich war am Hafen, wo ihr mich festgenommen habt!“ Endeavor hielt inne und ließ sich wieder langsam auf seinen Stuhl zurücksinken. Was nur Hawks, aber nicht der Beschuldigte sehen konnte, da dieser genau in diesem Augenblick erleichtert die Augen geschlossen hatte, war das kurze triumphierende Zucken, das Endeavors Mundwinkel in diesem Moment umspielte. „Und weiter?“, bohrte Endeavor nach und spießte Muscular förmlich mit seinem Blick auf. „Nichts weiter, ich –“ „Verarsch mich nicht!“, polterte Endeavor, schlug auf den Tisch und Muscular, von dieser Reaktion des bisher beherrschten Rothaarigen überrascht, zuckte merklich zusammen, was bei seiner Statur und seinem Charakter äußerst befremdlich aussah. „Was mein Kollege damit sagen will, ist, dass Sie sich nur dann entlasten können, wenn Sie uns erzählen, was passiert ist“, schritt Hawks ein und Musculars Blick sprang so schnell zu ihm, dass ihm fast die Augen hervorgequollen wären. „Ihr Bullen glaubt mir ja eh nicht...“, brummte er und machte Anstalten, seine Arme überkreuzen zu wollen, was aufgrund der Handfesseln jedoch nicht gelang. „Lassen Sie es auf einen Versuch ankommen“, bot Hawks an und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, während Endeavor neben ihm weiterhin grimmig dreinblickte. „Eigentlich weiß ich gar nichts...“, wandte der Beschuldigte ein, zögerte. „Ich weiß nur, dass ein- bis zweimal im Monat eine Lieferung vom Hafen ins Ausland transportiert wird. Ich weiß nicht, woher die Ware kommt und wohin sie gebracht wird, darum kümmern sich andere. Ich hole sie nur jedes Mal ab, behalte sie im Auge, bis die Lieferung vollständig ist, und sperre sie dann in einen der Container.“ „Und verprügelst vorher noch liebend gern die Geiseln, was?“, knurrte Endeavor und klang dabei wie ein bissiger Hund. Muscular, der sich offensichtlich in die Ecke gedrängt fühlte und die Notwendigkeit sah, sich zu verteidigen, entgegnete lautstark: „Wenn die nun mal aufmucken, kriegen die halt mal ‘ne kleine Abreibung. Was ist schon dabei?“ Endeavor war aufgesprungen und streckte seine Faust aus, um Muscular am Kragen zu packen, doch Hawks hielt ihn am Arm zurück. „Wo werden die Geiseln denn abgeholt und hingebracht?“, hakte Hawks in der Absicht nach, den Redefluss des anderen, der langsam in Plauderlaune geriet, aufrechtzuerhalten. Muscular entspannte sich sichtlich, als Endeavor sich wieder hinsetzte und ihn lediglich noch mit grimmigem Blick anstarrte. „Das ist jedes Mal anders.“ Er zuckte die Achseln. „Die Route erhalte ich immer erst am selben Tag übers Handy.“ „Wo ist dieses Handy?“, brummte Endeavor scharf. „Das habe ich am Eingang des Parks ins Meer geworfen“, sagte Muscular und in seine Stimme stahl sich eine Spur von Stolz. „Ich bin nicht ganz so blöd, wie ihr vielleicht denkt.“ „Aber offensichtlich blöd genug, um uns in die Falle zu gehen“, provozierte der Rothaarige ihn. Gleichzeitig griff er nach dem Telefon, das auf dem Tisch stand, wählte eine Nummer und nahm den Hörer ans Ohr. „Ja, guten Morgen, Todoroki Enji von der Kriminalpolizei. Spreche ich mit der Hafenpolizei?“ Er wartete kurz auf die Antwort, ehe er nickte, während Musculars Augen aus ihren Höhlen zu fallen schienen, sein Mund ein stummes O formte. „Sagen Sie den Tauchern Bescheid, die sollen sich auf die Suche nach einem Handy im Hafenbecken am Eingang des Parks begeben.“ „Ihr scheiß Bullen wisst doch gar nicht, wie das ist, wenn man für die Yakuza arbeitet!“, brüllte Muscular mit vor Panik erstickter Stimme und bäumte sich auf. „Wenn die wüssten, dass der Polizei das Handy in die Finger fällt, würden die mich einen Kopf kürzer machen!“ „Keiner wird Ihnen hier etwas antun“, versprach Hawks, obwohl Endeavor nicht danach aussah, als würde er sich an dieses Versprechen halten. „Wenn du nicht noch ein paar nützliche Informationen für uns hast, kann ich für nichts garantieren...“, raunte Endeavor und die Drohung wirkte dabei so real, dass auch Hawks ihm diese abgekauft hätte. Es verwunderte ihn daher nicht, dass Muscular auf die Finte hereinfiel. „Wie ich schon sagte, ich weiß nichts! Aber ich habe... Gerüchte gehört“, sagte Muscular in bedächtigem Ton und verfiel fast schon in ein Flüstern. „Welche Gerüchte?!“, blaffte Endeavor und beugte sich wieder ein Stück vor. „Das sage ich dir Arschloch nicht!“, lehnte Muscular entschieden ab und nickte in Hawks‘ Richtung. „Nur dem Blonden da. Der ist wenigstens nett zu mir.“ „Entweder du erzählst es uns beiden oder keinem und kommst direkt zurück in deine Zelle“, bestand der Rothaarige und Hawks konnte förmlich sehen, wie es in Muscular arbeitete. „Na gut“, sagte er schließlich und blickte von einem zum anderen. „Da mich die Liga offensichtlich im Stich gelassen hat, habe ich auch keinen Grund mehr, ihre Geheimnisse zu bewahren. Aber ich will Schutz! Wenn die Liga erfährt, dass ich geplaudert habe...“ „Ist schon erledigt“, erwiderte Endeavor und, bestärkt von diesem Versprechen, fuhr Muscular fort. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass eine Pachinko-Halle in Akihabara etwas mit dem Menschenhandel der Liga zu tun haben soll. Was genau, weiß ich allerdings nicht“, fügte er rasch hinzu, da Endeavor bereits den Mund für eine Gegenfrage geöffnet hatte. „Vielleicht werden dort Schwarzgelder gelagert, Listen geführt oder die Ware zwischengelagert. Mehr kann ich dazu auch nicht sagen.“ „So, eine Pachinko-Halle“, sagte Endeavor mehr zu sich selbst als zu Muscular und Hawks und legte nachdenklich die Hand unter sein Kinn. „Wo befindet sich diese Pachinko-Halle?“ „Ich sag doch, dass ich nicht mehr weiß, Mann!“ „Dann war es das für heute“, schloss der Rothaarige die Vernehmung, drückte einen weiteren Knopf an der Lautsprecherbox und erhob sich von seinem Stuhl. Keine drei Sekunden später wurde die Tür von außen geöffnet und die zwei Wärter von vorhin traten ein. „Führt ihn ab“, befahl Endeavor mit einem Kopfnicken in Richtung des Beschuldigten. Dieser, anscheinend schockiert von dem plötzlichen Ende der Vernehmung und der Aussicht, wieder in die Zelle gesperrt zu werden, schrie auf. „Was soll das, du Scheißkerl?! Du hast versprochen, mir passiert nichts! Dreckiger Lügner!!“ „Davon, dass du freigelassen wirst, war nie die Rede“, konterte Endeavor ruhig und sah mit offensichtlicher Genugtuung die dämmernde Erkenntnis auf Musculars Gesicht. „Vor der Yakuza bist du in der Zelle und auch in dem Gefängnis, in das du verbracht wirst, sicher.“ „Ihr habt mich reingelegt!!“, schrie Muscular und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Fesseln, als er von den zwei Wächtern aus dem Raum geführt wurde. „Miese, dreckige Bullenschweine! Sobald ich im Knast bin, wird die Yakuza mit Sicherheit Wege finden, mich abstechen zu lassen! Hätte ich doch bloß nichts gesagt!“ „Die Reue kommt zu spät“, entgegnete Endeavor, auf dessen Lippen sich ein leicht süffisantes Grinsen abbildete. „Danke für den Tipp.“ Hawks merkte, wie seine Kehle ob dieses Anblicks trocken wurde und er schwer schlucken musste, sodass er seinen Blick rasch abwandte. Muscular rief ihnen noch weitere Beschimpfungen hinterher, während er von den Wärtern, die ihn fest im Griff hielten, um die Ecke geführt wurde und schließlich aus ihrem Blickfeld verschwand. Hawks drehte sich wieder zu Endeavor um, auf dessen Gesichtszügen sich ein grimmiger, aber zufriedener Ausdruck legte. „Die „good cop, bad cop“ Nummer hatten wir echt gut drauf“, meinte er lachend und verschränkte dabei die Arme hinter seinem Nacken. „Bad cop?“, brummte Endeavor und wirkte ehrlich irritiert, ehe sich sein Blick bei der Erkenntnis der Bedeutung von Hawks‘ Worten verfinsterte. „Meinst du mich?“ „Du warst voll in deiner Rolle“, bestätigte Hawks augenzwinkernd. „Und wie du ihm an den Kragen gehen wolltest, brillant! Das muss ich mir merken...“ Endeavor brummte daraufhin nur etwas Unverständliches. Wahrscheinlich hatte er tatsächlich nicht gemerkt, wie er mit seiner üblichen Art auf den Beschuldigten gewirkt hatte. Dadurch hatte er Hawks jedoch die perfekte Vorlage geliefert, Muscular die rettende Hand zu reichen, was ihn veranlasst hatte, sich ihnen anzuvertrauen. „Wie auch immer“, ließ Hawks schulterzuckend verlauten. „Jedenfalls gute Arbeit, Boss! Dann werde ich mich mal an die Recherche zu der Pachinko-Halle setzen.“ Endeavor knurrte erneut etwas vor sich hin, das verdächtig nach „bad cop“ und „vorlauter Bengel“ klang, wandte sich ab und verließ vor Hawks den Vernehmungsraum in Richtung Fahrstuhl. Hawks folgte, nunmehr deutlich besser gelaunt als noch zu Beginn des Tages, mit gebührendem Abstand. Kapitel 10: Bad Game -------------------- An einem regnerischen Mittwochmorgen etwa einen Monat später hätte Enji in seiner Hast, dem Regen draußen zu entkommen, beinahe eine zierliche Frau umgerannt, die ihm entgegenkam und das Gebäude verlassen wollte, als er durch die Eingangstür des Polizeipräsidiums stürmte. Eine knappe Entschuldigung murmelnd, eilte er an ihr vorbei in die Eingangshalle, ohne jedoch den Blick zu heben. Es goss draußen in Strömen und so hatte er keine Gelegenheit gefunden, seinen Regenschirm außerhalb des Gebäudes vom Wasser zu befreien, ohne selbst nass zu werden. Obwohl er sich dafür die finsteren Blicke passierender Kollegen einfing, schüttelte er seinen Schirm in der Lobby aus, wo er eine kleine Pfütze hinterließ, und stellte ihn erst danach zu den anderen in den abschließbaren Schirmständer. Nicht dass ihn die Meinung anderer sonst interessieren würde, aber gerade heute war er erst recht nicht in der Stimmung, sich über derlei Nichtigkeiten Gedanken zu machen. Er zuckte daher nur innerlich mit den Schultern, warf einen letzten Blick nach draußen in den regnerischen Sturm und machte sich auf den Weg zu seinem Stockwerk. Den aufkeimenden, ironischen Gedanken, dass das Wetter dieses verregneten Tages gewissermaßen seine Stimmungslage widerspiegelte, verdrängte er dabei rasch. Im Grunde gab es auch keinen Grund, Trübsal zu blasen. Er sollte und würde das Ganze als Chance, als Neuanfang sehen, was es ja auch war. Und auch wenn manche ihn dafür verurteilen, vielmehr Trauer oder Wehmut in seiner Situation von ihm erwarten würden, fühlte er sich doch eher... befreit. Keine zwei Minuten später hatte er die Treppen bis zur dritten Etage erklommen und wollte sich gerade unbemerkt in sein Büro stehlen, als er hinter sich eine vertraute Stimme hörte. „Hey, Endeavor-san, schicker Anzug! Solltest du öfter tragen!“ Hawks, der gerade um die Ecke gebogen kam, eine volle Kaffeetasse in der Hand, zwinkerte und musterte ihn ungeniert von oben bis unten. Enji, der diesen Blick weder angemessen fand noch sich generell gerne derart anstarren ließ, brummte nur verstimmt und ließ Hawks links liegen, indem er an diesem vorbeimarschierte. So sehr er sich an Hawks‘ flapsige Sprüche und heitere Art gewöhnt hatte, diese sogar auf gewisse Weise mochte, erwischte ihn dieser damit heute Morgen auf dem falschen Fuß. „Sorry, hab‘ ich was Falsches gesagt?“, plapperte der Jüngere jedoch weiter drauf los und stellte sich ihm halb in den Weg. „Schon gut“, gab Enji grollend zurück und wollte sich an dem anderen vorbeischieben, der jedoch nicht lockerließ. „War heute was Besonderes?“, hakte Hawks nach und nickte in Richtung seines Anzugs. „Kommt ja sonst nicht vor, dass du Jackett und Krawatte trägst. Ist heute ein wichtiges Meeting, von dem ich noch nichts weiß? Die Recherche zur Pachinko-Halle dauert wohl noch eine Woche, also –“ „Kein Meeting“, unterbrach ihn Enji schroff und wurde langsam ungehalten. Er wollte lediglich in sein Büro, eine oder mehrere Tassen Kaffee hinunter- und sich in die Arbeit stürzen, um sich abzulenken. Stattdessen wurde er von dem Blonden mit Fragen gelöchert, auf die er keine Antwort geben wollte. Weder Hawks noch sonst jemandem. „Was ist dann der Grund dafür, dass –?“, setzte Hawks an, doch Enji schnitt ihm erneut das Wort ab. „Das geht dich nichts an!“ Sein Tonfall war ruppiger ausgefallen, als er es beabsichtigt hatte, was er sogleich bereute, als er sah, wie sich für einen kurzen Moment ein Schatten über Hawks‘ Gesicht legte. Dieser war zwar so schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war, doch Enji war sich sicher, sich den verletzten Gesichtsausdruck des anderen nicht nur eingebildet zu haben. Dabei hatte er sich doch geschworen, nach dem heutigen Tag niemanden mehr absichtlich oder unabsichtlich zu verletzen... „Dann will ich dich mal nicht weiter aufhalten, Endeavor-san“, gab Hawks tonlos, aber mit einem versucht heiteren Lächeln zurück. „Du hast bestimmt viel zu tun und...“ „Todoroki-san, Hawks-kun, einen wunderschönen guten Morgen!“, durchbrach eine andere wohlbekannte Stimme die für eine unangenehme Sekunde lang zwischen ihnen eingetretene Stille. Enji spürte, wie seine Knie unter der Wucht des Schlages, den Yagi ihm auf die Schulter verpasst hatte, ein wenig einknickten. Das heitere Gemüt seines Chefs hatte ihm gerade noch gefehlt... „Du trägst ja Anzug, Todoroki-san“, kommentierte Yagi das Offensichtliche und nickte verständnisvoll, während er ihm kondolierend die Schulter tätschelte. „Heute war der Termin der Scheidung, nicht wahr? Schade, dass das mit Rei und dir nicht geklappt hat. Aber du weißt, wenn du etwas brauchst oder ich etwas für dich tun kann... du kannst auf mich zählen!“ Und mit diesen Worten und einem letzten aufmunternden Lächeln und Schulterdrücken ging er weiter in Richtung seines eigenen Büros. Enji fühlte sich, als hätte ihn ein Zug überrollt, und auch Hawks schien von der bizarren Szene mehr als irritiert zu sein, fing sich aber schneller wieder als er selbst. „Du... bist geschieden?“, fragte Hawks zögernd und räusperte sich, hatte wohl Bedenken, erneut seinen Zorn anzufachen. Da die Wahrheit jetzt ohnehin schon ans Licht gekommen war – woher Yagi diese auch immer kannte, war ihm schleierhaft, da er die Scheidung zuvor niemandem gegenüber erwähnt hatte –, brachte es jetzt nichts mehr, die Tatsachen zu leugnen. Er zuckte daher nur mit den Schultern. „Meine Frau und ich haben uns heute einvernehmlich scheiden lassen“, erklärte er knapp, da es dazu auch nicht mehr zu sagen gab. „Zur Abgabe der gemeinsamen Erklärung waren wir heute Morgen bei der örtlichen Behörde.“ „Für so einen Anlass ist ein Anzug nur angemessen“, pflichtete Hawks ihm nickend bei. „Tut mir leid wegen deiner Ehe“, fügte er noch mit einem aufmunternden Lächeln hinzu. In seiner Stimme schwang jedoch, wie Enji irritiert feststellte, neben dem in so einer Situation angemessen mitfühlenden Ton auch ein ganz anderer unterschwelliger Unterton mit, den er jedoch nicht definieren konnte. „Es gibt nichts, was dir leidtun müsste“, entgegnete Enji wahrheitsgemäß, nicht erpicht darauf, dieses Thema weiter zu verfolgen. „Es war unsere Entscheidung.“ Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Enji konnte erneut nicht sagen, was er in den Augen des anderen sah, doch es... ließ den bitteren Geschmack in seinem Mund, den der heutige Termin bei ihm hinterlassen hatte, ein wenig milder werden. „Genug von meinem Privatleben!“, brach Enji schließlich brummend das Schweigen. „Die Arbeit erledigt sich nicht von selbst.“ „Aye aye, Chef!“, salutierte Hawks mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen, das auch Enji ein kleines Schmunzeln entlockte, und verschwand in seinem Büro. Enji, der noch an Ort und Stelle stand, wusste nicht, wie Hawks es geschafft hatte, aber seine Stimmung war schon deutlich besser als noch vor wenigen Minuten, als er die dritte Etage betreten hatte. Ein Blick durch das Fenster nach draußen verriet ihm, dass auch der Regenschauer aufgehört hatte und die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brachen. Ein wirklich komischer Morgen... Mit diesem Gedanken und leichteren Schrittes als zuvor machte er sich auf den Weg zu seinem Büro. Es gab noch viel zu tun, bis sie der Pachinko-Halle einen Besuch abstatten könnten. Am Donnerstag der nächsten Woche stiegen Enji und Hawks aus dem vollgestopften Zug am Bahnhof in Akihabara aus, die sie vom Polizeipräsidium aus genommen hatten – ein Auto zu nehmen, wäre zu auffällig und unpraktisch gewesen. Es war Rushhour nach Arbeitsschluss, die perfekte Zeit, um sich unauffällig unter die Arbeitnehmer zu mischen, die zur Entspannung nach einem anstrengenden Arbeitstag in Massen in die Automatenhallen strömten. Enji mochte nicht ausschließen, dass manche, der Sucht des Glücksspiels verfallen, gar jeden Tag hierherkamen. Sie nahmen den Ausgang zur Electro Town und Enji, der sich trotz zahlreicher Besuche Akihabaras nie an die bunten und schrillen Farben der mehrstöckigen Gebäude, die mit blinkenden Lichtern, überlebensgroßen Darstellungen von Animefiguren und Musik um die Gunst der Kunden wetteiferten, gewöhnt hatte, blinzelte angestrengt. Hawks hingegen schien das Lichtermeer nicht im Geringsten zu stören. Vielmehr starrte er staunend hinauf zu den Reklametafeln, ließ seinen Blick neugierig hin- und herschweifen, offensichtlich unentschlossen, wo er zuerst hinschauen sollte. „Wow! Das ist also das berühmte Anime-, Elektronik- und Gaming-Mekka Tokyos!“, sagte er mit ehrwürdiger Stimme, begleitet von einem begeisterten Funkeln in seinen braunen Augen. „Du warst noch nicht hier?“, wunderte sich Enji. Da der andere offensichtlich – anders als er selbst – Interesse an den in Akihabara angebotenen Waren hatte, hätte er erwartet, dass Hawks diesem längst einen Besuch abgestattet hatte. Dieser zuckte jedoch nur die Achseln. „Zu viel zu tun... Aber wenn du mich das nächste Mal begleiten willst...“ Hawks ließ den Satz unvollendet, schaute ihn lediglich erwartungsvoll an. Doch Enji hatte für derlei gerade keinen Nerv und ignorierte ihn somit gekonnt, auch wenn er sich selbst kurz dabei ertappte, wie ein Teil von ihm auf den Vorschlag eingehen wollte. „Die Pachinko-Halle ist noch ein gutes Stück vom Bahnhof entfernt. Komm jetzt“, brummte er nur kurz angebunden und setzte sich in Bewegung. Aus den Augenwinkeln sah Enji, wie Hawks mit den Schultern zuckte und ihm dann folgte. „Drinnen wird es sehr laut sein“, fuhr Enji fort, als sie die erste Ampel überquert hatten und in eine Gasse einbogen. „Wir sollten uns daher nicht zu weit voneinander entfernen und den Blickkontakt nicht verlieren. Im Zweifel können wir uns nur auf diese Weise verständigen.“ „Ich hab‘ den Einsatz geplant, Endeavor-san. Ich weiß das alles.“ Zwischen Enjis Augenbrauen bildete sich eine Zornesfalte. Dass der Blonde sich jetzt schon herausnahm, ihm so frech zu kommen, wenn er den Einsatz noch einmal kurz zusammenfassen und auf das Wichtigste hinweisen wollte, war neu und stank ihm gewaltig. „Dann weißt du ja auch, dass du für uns gleich Geld in Metallkugeln umtauschen wirst. Wenn wir nicht selbst zwischendurch spielen, erregen wir sonst zu viel Aufmerksamkeit.“ „Ist quasi schon erledigt“, zwinkerte Hawks und raschelte mit einem kleinen Bündel Geldscheine aus insgesamt 5.000 Yen, die sie von der Behörde zu Ermittlungszwecken zur Verfügung gestellt bekommen hatten. „Und wenn wir was gewinnen?“, wollte Hawks wissen, in dessen Augen erneut ein spitzbübisches Funkeln trat. „Wenn du – was ich bezweifle – mehr Metallkugeln sammelst, als du einsetzt, kannst du den Gewinn von mir aus hinterher bei einem der Sachpreisstände eintauschen“, antwortete Enji, warf ihm aber einen strengen Blick zu. „Ich will aber nicht sehen, wie du hinterher etwaig gewonnene Feingoldbarren bei einem der zwielichtigen Händler um die Ecke zu Bargeld machst. Such dir also eher ein Parfüm, eine Sonnenbrille oder sonst etwas aus. Verstanden?“ „Ach Menno“, schmollte Hawks. Enji musste tief durchatmen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Hawks trieb es heute aber auch wirklich auf die Spitze... „Geldgewinne sind in Japan verboten!“, grollte er unheilvoll, was Hawks mit einem schiefen Grinsen erwiderte. „Weiß ich doch. Ich mach doch nur Spaß!“ „Das will ich für dich hoffen...“ knurrte Enji, der sich darüber ärgerte, dass sein finsterer Blick nicht die erhoffte Wirkung auf Hawks hatte... wobei, die hatte er leider nie. Wenige Minuten später hatten sie ihr Ziel erreicht. Hawks tauschte das Bargeld gegen Metallkugeln ein, die sie unter sich aufteilten, und betrat als Erster die Spielhalle. Eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse empfing sie, als sie durch die Tür eingetreten waren und diese hinter sich geschlossen hatten. Die Mischung aus Rattern, Klingeln und Musik, die sich zu einem undefinierbaren Krach vermengten, machte es, wie erwartet, nahezu unmöglich, miteinander zu kommunizieren. Aber auch zum perfekten Versteck für jegliche kriminellen Machenschaften, da hier weder jemand Nachfragen stellen noch genauer hinsehen würde; dafür waren die vielen Gäste, die sich bereits an den Automaten tummelten, zu sehr auf ihr Spiel fixiert. Enji blickte zu Hawks, der ihm wild gestikulierend etwas zurief, das er jedoch mit keiner Silbe verstand. Da Hawks resignierend begriff, dass verbale Kommunikation tatsächlich keinen Sinn hatte, ruckte er mit dem Kopf nach rechts und zeigte dabei auf sich, ehe er zuerst auf Enji und dann nach links deutete. Enji nickte stumm, dass er verstanden hatte. Er wandte sich nach links und trat in den zweiten Gang zu seiner Rechten ein, in dem sich etwa vierzig Automaten zu beiden Seiten aneinanderreihten. Bemüht unauffällig schlenderte er zwischen den Automaten entlang, wollte den Anschein vermitteln, als suche er nach dem perfekten Platz. Tatsächlich hätte er sich weder sonderlich um Unauffälligkeit bemühen noch so tun müssen, als suche er einen besonderen Ort. Denn sämtliche Automaten außer einem, an dem ein „außer Betrieb“-Schild hing, waren bereits von Spielern besetzt, die eifrig ihre Automaten mit Kugeln fütterten und seine Anwesenheit nicht einmal wahrnahmen. Am Ende des nächsten Ganges fand Enji schließlich einen freien Platz, der ihm – das Glück war offensichtlich auf seiner Seite – sogar einen Überblick über die kleine Bar und den rückwärtigen Bereich, von dem mehrere Türen abgingen, bescherte. Wenig erpicht darauf, Staatsgelder für dieses unsinnige Spiel zu vergeuden, sich aber gleichzeitig mahnend, dass sie ihre Tarnung aufrechterhalten mussten, warf er seine Kugeln in den passenden Behälter am Automaten. Der allgegenwärtige Lärm drückte dabei so sehr auf seine Ohren, dass er sich kaum konzentrieren konnte. Das und die Tatsache, dass er es mit seinen riesigen Pranken nicht gewohnt war, filigrane Tätigkeiten auszuüben, waren wohl der Grund dafür, dass er das Rad zu stark nach rechts drehte und die Kugeln, anstatt auf Hindernisse zu stoßen und so in die Nähe des Jackpots zu gelangen, am Spielfeld vorbeischossen und für immer verschwanden. Verärgert über sein fehlendes Geschick und den unnötigen Verlust von zwanzig Kugeln, verzog Enji das Gesicht und versuchte erneut sein Glück. Dieses Mal betätigte er den Hebel so vorsichtig, wie es ihm möglich war, und tatsächlich blieben einige Kugeln hängen, kamen dem Loch, das Gewinn verhieß, jedoch nicht näher als die von zuvor. Enji hatte schon fast die Hälfte seiner Kugeln verspielt, wobei zwischendurch durch geringe Gewinne ein paar neue hinzugekommen waren, als er aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie sich an der letzten Tür der gegenüberliegenden Wand etwas tat. Ein glatzköpfiger, gänzlich in Schwarz gekleideter Mann mit einer Körpergröße, die mit seiner eigenen mithalten konnte, nestelte an dem Schlüsselloch herum, während er sich verstohlen nach allen Seiten umschaute. Als er das Schloss schließlich geöffnet hatte, huschte er nach einem letzten Blick über die Schulter durch die Tür, die hinter ihm wieder zufiel. Enji hatte zwar nicht viel gesehen, doch sein untrügliches Ermittlungsgespür sagte ihm, dass dieser Mann nicht zum offiziellen Personal der Pachinko-Halle, das mit Getränken und anderen Serviceleistungen aufwartete, gehörte. Etwas an diesem Mann machte ihn stutzig und die einzige Möglichkeit herauszufinden, was das war, war, diesem zu folgen. Er sammelte seine restlichen Kugeln ein, stopfte sie in die Tasche und machte sich auf die Suche nach Hawks. Hawks zu finden, war leichter, als er gedacht hatte. Kaum war er um die nächsten zwei Ecken gebogen, sah er schon von Weitem den zerzausten blonden Hinterkopf, zu dessen Füßen eine Kiste voller Kugeln. „Schau dir mal diesen Gewinn an, Endeavor-san!“, wurde er freudestrahlend und, ohne dass der andere seinen Blick von dem Gerät abwandte, brüllend begrüßt. „Da staunst du, was?“ „Wir waren uns doch einig, dass wir uns unauffällig verhalten...“, murmelte Enji missgelaunt und auch mit einer Spur Neid auf das glückliche Händchen, das Hawks offensichtlich bei Glücksspiel hatte. Dass Hawks ihn bei dem ganzen Krach überhaupt verstand, grenzte an ein Wunder. Aber vielleicht konnte Hawks seine Worte auch nur anhand seines missbilligenden Gesichtsausdrucks erahnen. „Was denn? Ich mache doch nur meinen Job und spiele hier am Automaten... Ganz unauffällig“, entgegnete Hawks und zog dabei eine Grimasse, die halb schmollend, halb belustigt aussah. „Es ist nicht gerade unauffällig, innerhalb von nicht einmal zehn Minuten eine ganze Kiste voller Kugeln gewonnen zu haben“, grollte Enji zurück, was Hawks‘ Grinsen jedoch nicht zum Wanken brachte. „Zumal wir nicht hier sind, um Gewinne einzustreichen.“ „Wenn du den dubiosen Typ an der Tür vorhin meinst, den habe ich auch gesehen“, trumpfte Hawks mit beiläufigem Ton auf. Enjis Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen. Eigentlich dürfte er von Hawks, der seine Fähigkeiten nicht das erste Mal unter Beweis gestellt hatte, nicht mehr überrascht werden können. Und dennoch fragte er sich einmal mehr erstaunt, ob Hawks nicht eine Art Wunderkind oder Genie war, dass er derartig gute Resultate bei dem Spiel erbringen und gleichzeitig seine Umgebung im Auge behalten konnte. Aber sei es, wie es war. Wenn auch Hawks diesen Kerl als untypisch empfunden hatte, sollten sie dieser Spur nachgehen. „Lass deinen Gewinn hier“, forderte Enji und ruckte mit dem Kopf kurz in Richtung der Kiste. „Wir schauen uns diese Tür näher an.“ „Aber wäre das nicht auffällig, den Gewinn zurückzulassen?“ „Nimm von mir aus so viel mit, wie du in deine Taschen kriegst“, lenkte er ein. „Aber wir haben jetzt keine Zeit, deinen Gewinn vorher noch einzulösen.“ Hawks wirkte enttäuscht, zuckte schließlich aber resigniert mit den Achseln und füllte die großzügigen Seitentaschen seiner ausladenden Hose. Keiner der um sie herumsitzenden Spieler nahm von ihnen Notiz, als sie Hawks‘ restlichen Gewinn zurückließen und sich zu der Tür, die sich am Ende der letzten Automatenreihe befand, begaben. „Abgeschlossen“, stellte Enji mit einer Spur Enttäuschung fest, als er die Klinke betätigte, auch wenn er kaum damit gerechnet hatte, dass sie so viel Glück hätten und die Tür unverschlossen vorfinden würden. „Lass mich mal“, sagte Hawks, quetschte sich an ihm vorbei Richtung Tür, holte etwas aus den Untiefen seiner Hosentasche und begann, an der Tür zu werkeln. Keine fünf Sekunden später gab das Schloss ein bei dem Krach kaum wahrnehmbares klackendes Geräusch von sich und die Tür öffnete sich einen Spalt breit nach innen. Enji starrte Hawks ungläubig an. Er hatte nicht erwartet, am heutigen Abend erneut von dem Blonden überrascht zu werden, insbesondere nicht davon, dass dieser derartige Diebestricks beherrschte. „Kleiner Taschenspielertrick“, zwinkerte Hawks, der seinen ungläubigen Blick wohl gesehen hatte, und zuckte erneut mit den Schultern. „Ist immer ganz nützlich, sich die Kniffe der Kriminellen zunutze zu machen.“ „Das kann man wohl sagen...“, brummte Enji, der nicht wusste, ob er froh oder verärgert darüber sein sollte, dass sie dank Hawks‘ fragwürdigen Fingerfertigkeiten ihrem Ziel zumindest einen Schritt nähergekommen waren. Er warf noch einen Blick über die Schulter, vergewisserte sich, dass keiner der in der Nähe sitzenden Spieler sie beobachtete, und stieß die Tür auf. Dahinter kam ein kleiner Treppenabsatz zum Vorschein, von dem aus eine Steintreppe nach unten in die Dunkelheit führte. Enji tauschte einen kurzen Blick mit Hawks, der ihm bestätigend zunickte, ehe sie nacheinander in die Dunkelheit traten, die sie umfasste, als sich die Tür hinter ihnen schloss. Aus der Tiefe flackerte ein Lichtschein, der durch eine offensichtlich angelehnte Tür aus einem beleuchteten Raum ins Treppenhaus drang und ihnen zumindest so viel Licht spendete, dass sie die Treppe ohne eigene Lichtquelle hinuntergehen konnten. Langsam und bedacht darauf, keine verräterischen Geräusche zu machen, stiegen sie Stufe um Stufe die Treppe hinab, Enji voran, Hawks hinter ihm. Als sie noch etwa fünf Stufen vor dem Treppenende waren, blieb Enji stehen und hob die Hand, signalisierte Hawks, es ihm gleichzutun, damit er nicht in ihn hineinrannte. Er hatte Stimmen vernommen und wagte kaum zu atmen, um zu hören, was sie sprachen. „Wenn du weiterhin so ein ungezogenes Mädchen bist, werde ich dich erst häuten, dann ausweiden und dann deine Innereien zum Abendessen verzehren“, hörte er eine schneidende Männerstimme, die er aus dem Gefühl heraus dem dubiosen Mann im schwarzen Mantel zuordnete. Enjis Körper spannte sich automatisch an, war direkt in Alarmbereitschaft. Was hatte das zu bedeuten? War dieser Keller ein Versteck für verschleppte Frauen und Kinder und bedrohte der Glatzkopf eine der Geiseln... womöglich ein junges Mädchen? Aber wie brachte die Yakuza die Entführten, ohne Aufsehen zu erregen, durch die stets überfüllte Eingangshalle im Obergeschoss? Oder gab es noch einen zweiten Eingang? „Lass mich doch in Ruhe!“ Ein dumpfes Geräusch ertönte, das Enji nicht zuordnen konnte. Hatte der Mann das Mädchen mit dem Kopf auf einen Tisch geschlagen oder sie geschubst und sie war gefallen? Die weibliche Stimme klang jedenfalls weder sonderlich verzweifelt noch ängstlich, was er in Anbetracht der offenen Drohung als sehr untypisch empfand. „Du denkst, das ist eine leere Drohung?“, hakte der Mann nach und klang nun deutlich bedrohlicher als noch zuvor. „Du bist wertlos und es wird niemanden stören, wenn ich dir ein paar Körperteile abschneide. Lecker gebraten oder auch frisch und blutig könnte ich deinem unbedeutenden Leben noch einen Sinn geben.“ Enji hörte Schritte und eine Sekunde später einen Schrei, der ihm durch Mark und Beim fuhr. „Lass mich los, du Widerling!“ Sein Körper reagierte wie von selbst, als er die letzten Stufen der Treppe heruntersprintete und die Tür aufriss, die Waffe im Anschlag. Wie aus weiter Ferne nahm er noch wahr, wie Hawks ihm dicht auf den Fersen folgte. „Hände hoch, Polizei!“, donnerte er und richtete seine Waffe auf den einzigen Mann im Raum, der sich einem Mädchen mit seitlichen blonden Zöpfen, das auf einer Pritsche saß, genähert und es am Handgelenk gepackt hatte. Der Glatzkopf starrte ihn zwar überrascht, aber nicht schockiert an. Vielmehr fing er sich schnell wieder und grinste, zeigte dabei zwei Reihen unnatürlich scharfer Zähne. „Oh, die Polizei! Jetzt hab‘ ich aber Angst!“, höhnte er und zerrte am Handgelenk des Mädchens, das sich bei der Berührung offensichtlich unwohl fühlte, ein angewidertes Gesicht machte. „Was wollt ihr hier, Rotschopf und Blondie? Habt ihr nicht ein paar Verkehrskontrollen zu machen? Nehmt die Knarren runter und verschwindet!“ „Übergib uns erst das Mädchen, dann können wir über alles reden!“, versuchte es Enji auf diplomatischem Wege, senkte die Waffe jedoch nicht. Er hatte die Befürchtung, dass der Glatzkopf dem Mädchen womöglich ein Leid zufügen könnte, sobald er den Versuch unternahm, sich ihm zu nähern. Und wenn er auf ihn schoss, traf er womöglich noch die Geisel, die sich zu seiner Erleichterung glücklicherweise ruhig verhielt. Eine Zwickmühle. „Endeavor-san...“, setzte Hawks an, doch Enji hatte gerade kein Ohr für seine Einwände oder Vorschläge, brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er musste sich ganz auf die vor ihm liegende Aufgabe, das Mädchen aus den Klauen seines Peinigers zu befreien, konzentrieren. „Also, wird’s bald?!“, forderte er mit bellender Stimme, die von den Wänden des kahlen Raumes, in dem sich lediglich ein Schreibtisch und ein Regal mit unzähligen Ordnern sowie die Pritsche befand, widerhallte und legte den Finger auf den Abzug. „Mal langsam mit den jungen Pferden, Rotschopf!“, gackerte der Mann mit gebleckten Zähnen, hob aber beschwichtigend die Hände und löste dabei den Griff vom Handgelenk des Mädchens. „Wenn du sie unbedingt haben willst... kannst du sie gerne haben. Ich brauche sie eh nicht mehr.“ Das Mädchen, das die ganze Zeit über still gewesen war und die Szene beobachtet hatte, stand von der Pritsche auf, entfernte sich von dem Glatzkopf und kam langsam auf ihn und Hawks zu. Enji entspannte sich ein wenig, schien die Situation doch unter Kontrolle zu sein, da der Mann keine Anstalten machte, sie anzugreifen oder das Mädchen aufzuhalten. Enji spürte vielmehr, als dass er sah, wie sich Hawks neben ihm anspannte. Verwundert über diese Reaktion warf er dem Blonden einen kurzen fragenden Blick zu und genau in diesem Augenblick ging alles sehr schnell. Wie in Zeitlupe registrierte Enji, dass das blonde Mädchen plötzlich ein Messer gezückt und den Abstand zwischen ihnen binnen weniger Schritte überwunden hatte. Zu schnell und zu nah, als dass er seine Waffe rechtzeitig hätte auf sie richten und schießen können, ehe sie ihn mit dem Messer direkt in die Brust stechen würde. Ein Schleier aus blondem Haar schnellte an ihm vorbei und noch ehe er reagieren, geschweige denn eingreifen konnte, hatte sich Hawks vor ihn gestellt, zwischen ihn und das herabsausende Messer. Blut spritzte und er reagierte wie auf Autopilot, als er den Blonden auffing, das Messer bis zum Anschlag versenkt in dessen Körper sah. „Hawks!!“ Rasend vor Wut und aufkeimender Panik und Sorge um den Jüngeren riss er mit der freien Hand die Waffe hoch und feuerte blindlings in die Gegend, hörte nur aus weiter Ferne einen Schmerzensschrei des anderen Mannes. „Toga, lass mich nicht zurück!“ Doch das Mädchen, offensichtlich nicht erpicht darauf, ebenfalls von einer Kugel durchsiebt zu werden, hatte nur ein hässliches Grinsen für seinen Partner übrig, das Enji ihrem unschuldig aussehenden Gesicht gar nicht zugetraut hätte. „Mach’s gut, Moonfish! Jeder ist sich selbst der Nächste, was?“ Und mit diesen Worten verschwand sie aus dem Raum und die Treppe hoch. Kapitel 11: Bad Liar -------------------- Alles, was er sah, war Blut. Die rote Flüssigkeit floss pulsierend aus der Wunde, rann in einem schier nicht enden wollenden Strom über seine Hände und tropfte von dort auf den Boden, auf dem sich bereits eine Lache gebildet hatte. Er hatte nach einem Blick auf den glatzköpfigen Mann, der wimmernd in einer Ecke kauerte und sich den blutenden Oberschenkel hielt, seine Waffe gesichert und zurück ins Holster gesteckt und hielt Hawks nun in seinen beiden Armen. Dessen Augen flackerten leicht, doch er war bei Bewusstsein. Seine vordergründigste Aufgabe war es daher, die Blutung zu stillen. Er betrachtete das Messer, das aus Hawks‘ rechter Schulter ragte, und schluckte. Sie konnten von Glück sagen, dass keine lebenswichtigen Organe verletzt worden waren, aber wenn er nicht schnell etwas unternahm, konnte Hawks auch daran verbluten. Dass erneut jemand aufgrund seiner Untätigkeit Schaden nahm, konnte er nicht zulassen. „Ich muss das Messer herausziehen“, raunte er und eine tiefe Furche bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. „Wir brauchen einen Druckverband, um die Blutung zu stoppen.“ Hawks zuckte nur kurz mit den Lidern und gab ein kurzes Stöhnen von sich. Enji rechnete schon nicht mehr damit, dass der andere noch reagieren würde, als er schließlich ein kaum wahrnehmbares Flüstern vernahm. „Tu es…“ Hawks verstummte kurz, hustete und öffnete eines seiner glasig schimmernden Augen, mit dem er durch ihn hindurchzusehen schien. „Ich vertraue dir.“ Enji nickte, obwohl er sich längst nicht bereit fühlte, das zu tun, was getan werden musste. „Du musst dich aufrichten“, forderte er Hawks auf und half ihm unter schmerzerfülltem Stöhnen in eine aufrechte Position. Enji hob kurz den Blick, ließ ihn suchend durch den Raum wandern, bis er an der Wand neben der Tür einen kleinen mit einem Kreuz versehenen Kasten entdeckte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Hawks nicht drohte, im Sitzen umzukippen, schritt er zum Erste-Hilfe-Kasten, der zu seinem Leidwesen alles andere als gut bestückt war. Lediglich eine Kompresse und ein Wundpflaster, das kaum die ganze Einstichstelle abdecken würde, fand er dort vor. Ernüchtert nahm er alles, was er gefunden hatte, an sich, verärgert darüber, dass er ohne Desinfektionsmittel und Verbände Hawks‘ Verletzung nur sehr dürftig würde versorgen können. „Versuch stillzuhalten“, brummte Enji durch zusammengebissene Zähne und legte Hawks, so behutsam es ihm möglich war, eine Hand auf den Rücken, während die andere den Griff des Messers packte. „Das wird gleich wehtun.“ „Ich hab‘ schon… Schlimmeres erlebt“, gab Hawks gespielt fröhlich, aber in dem offensichtlichen Versuch, seine eigenen Schmerzen zu überspielen, von sich und zuckte leichthin mit den Schultern. Die Bewegung jagte ihm jedoch einen Schauder durch den Körper und ließ ihn gequält aufstöhnen. „Okay, ganz so schlimm vielleicht doch nicht“, gab er widerwillig zu. „Also lass es uns hinter uns bringen…“ „Bist du sicher?“ „Ja“, erwiderte Hawks mit einer Festigkeit in der Stimme, die ihm in dieser Situation all seine Willenskraft abverlangen musste. Enji nickte erneut, merkte, wie seine Handfläche um den Messergriff vor Aufregung feucht und rutschig wurde, sodass er sie rasch an seinem Hemd abwischte. Auch vergrößerte er das Loch, das das Messer in Hawks’ Oberteil hinterlassen hatte, zumindest so weit, um die Wunde versorgen zu können, ohne das Messer zu berühren. Das Zittern seiner Hände unterdrückend, drückte er schließlich mit der freien Hand kurz Hawks‘ andere Schulter, um ihm zu signalisieren, dass er sich bereit halten sollte. Langsam, behutsam und bemüht, das Messer gerade zu halten, um nicht weitere Bereiche zu verletzen, zog er die Schneide schließlich aus der Schulter. Sobald die Blutgefäße durch den Gegenstand nicht mehr abgeklemmt waren, trat ein frischer Schwall hellroten Blutes aus der offenen Fleischwunde, die nun Hawks‘ Haut zierte. Enji, der darauf vorbereitet war, griff prompt nach der Kompresse und drückte sie durch den Riss in Hawks’ Hemd auf den Stich, in der Hoffnung, die Blutung so stoppen zu können. Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm Enji die Kompresse herunter und als er sah, dass die Wunde nur noch ein wenig blutete, klebte er das Pflaster auf die Stelle. Hawks hatte unterdessen keinen Laut von sich gegeben und stillgehalten, entspannte sich aber merklich, als das Messer entfernt worden war, und zischte nur leicht, als Enji das Tuch auf die Wunde gepresst hatte. „Danke“, nuschelte er heiser und atmete hörbar erleichtert aus. „Ohne dich wäre ich jetzt nicht hier.“ „Ohne mich wärst du erst gar nicht in diese Lage gekommen“, knurrte Enji ungehaltener, als er es beabsichtigt hatte. „Aber das ist jetzt nicht der richtige Augenblick, um darüber zu reden. Ich habe die Blutung nur notdürftig stoppen können. Die Wunde muss ärztlich versorgt werden. Ich bringe dich ins Krankenhaus.“ „Nein“, widersprach Hawks leise röchelnd, aber bestimmt. „Nicht ins Krankenhaus.“ „Sei nicht unvernünftig“, schalt Enji ihn mit erhobener Stimme. „Das könnte sich entzünden und muss mit Sicherheit genäht werden. Wenn du keine Sepsis erleiden willst…“ „Ich brauche keinen Arzt“, beharrte Hawks und drehte sich zu ihm um, schaute ihm fest in die Augen. Enji zögerte. Ihn irritierte die Vehemenz, mit welcher der Blonde eine ärztliche Behandlung ablehnte, obwohl er doch ebenso einsehen musste, dass er dieser bedurfte. Wenn sich sein Partner jedoch etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es, so wusste er, ein Ding der Unmöglichkeit, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. So seufzte er schließlich resigniert. „Wie du meinst. Aber wenn du dich schon nicht ins Krankenhaus begeben willst, wirst du mich zu mir nach Hause begleiten, damit ich mir deine Wunde noch genauer ansehen und sie ordentlich verbinden kann.“ Enji sah Hawks an, dass dieser über sein Angebot nachdachte, innerlich mit sich zu ringen schien. Er wollte gerade den Mund öffnen, als Enji, der erwartet hatte, dass Hawks auch diesen Vorschlag ablehnte, ihm zuvorkam. „Keine Widerworte!“ Hawks schloss den Mund wieder, zögerte und nickte schlussendlich. „Gut“, kommentierte Enji zufrieden und stand auf, streckte Hawks die Hand entgegen. „Wir sollten hier verschwinden, ehe das blonde Mädchen mit Verstärkung zurückkommt. Wir zwei können es allein nicht gegen die Yakuza aufnehmen, besonders nicht in deinem Zustand.“ „Du hast Recht“, stimmte Hawks zu und ließ sich von Enji an dem gesunden Arm auf die Beine ziehen. Er zitterte und schwankte etwas, hatte sich aber schnell wieder gefangen. „Was machen wir mit unserem glatzköpfigen Freund in der Ecke?“, fragte Hawks und ruckte mit dem Daumen in die Richtung, aus der weiterhin wimmernde Geräusche kamen. „Ich benachrichtige Yagi, damit er den Rettungsdienst alarmieren und den Ort sichern kann. In den Ordnern an den Wänden befinden sich vielleicht interessante Informationen, zum Beispiel über die ausländischen Kunden oder die Zahlungswege“, erklärte Enji und deutete in Richtung der Aktenschränke. „Unser Freund hier hat lediglich einen Schuss in die Außenseite des Oberschenkels abbekommen. Er blutet und jammert zwar und kann sich kaum bewegen, da die Kugel noch in seinem Fleisch steckt, die Blutung ist aber nicht stark. Und ohne ärztliche Hilfe oder die entsprechende Ausrüstung können wir die Kugel ohnehin nicht entfernen.“ Er zuckte die Achseln und wandte sich an den wimmernden Glatzkopf, der wie ein Häufchen Elend am Boden lag. „Es kommt gleich Verstärkung. Halte dich bis dahin ruhig, dann verlierst du nicht zu viel Blut.“ „Fahrt doch zur Hölle, ihr verfickten Bullen!“, keifte der andere zurück und spuckte aus. „Ihr werdet noch sehen, was ihr davon habt, dass ihr uns in die Quere kommt! Aufschlitzen, ausweiden bis auf die Knochen werden wir euch und dann –“ „Wir gehen, Hawks“, überging Enji den Ausbruch und griff den Blonden unter der linken Achsel. Hawks hakte sich mit dankendem Kopfnicken bei ihm ein, warf noch einen letzten Blick zurück in den Raum und sie stiegen zusammen die Treppe hinauf. Die darauf folgenden Ereignisse verschwammen ineinander, sodass sich Enji später nicht mehr daran erinnern konnte, wie er es geschafft hatte, unbemerkt mit dem offensichtlich lädierten Hawks die Pachinko-Halle zu verlassen. Er wusste nur noch, dass er dem besorgt klingenden Yagi am anderen Ende der Leitung ihre Situation geschildert, Hawks irgendwie in ein Taxi gehievt und die fragenden Blicke des Taxifahrers ignoriert hatte. Es kam ihm dennoch wie eine Ewigkeit vor, bis sie das Taxi endlich vor seinem Anwesen absetzte und sie zusammen durch die Eingangstür stolperten. Drinnen angekommen ließ Enji Hawks von seiner Schulter auf das Sofa gleiten, wo dieser mit schmerzunterdrücktem Stöhnen in sich zusammengefallen liegen blieb. „Du bist sicher, dass du nicht ins Krankenhaus willst?“, schnaubte Enji skeptisch. „Jaja, ich bin sicher. Mir geht’s gut“, entgegnete der Blonde mit Tapferkeit in der Stimme, scheiterte aber bei dem Versuch sich aufzurichten kläglich. Verständnislos schüttelte Enji den Kopf, half Hawks aber dennoch dabei, sich in eine aufrechtere Position zu begeben, ehe er sich abwandte und Richtung Badezimmer schritt. „Wohin gehst du?“, krächzte Hawks mit einer Stimme wie ein Reibeisen. Er hielt inne und drehte sich noch einmal zu Hawks um, um an seinem Gesichtsausdruck beurteilen zu können, ob es diesem tatsächlich so gut ging, dass er ihn für wenige Minuten allein lassen konnte. Denn er fragte sich allmählich, ob sich Hawks nicht womöglich den Kopf angeschlagen hatte, so wirre Erklärungen, wie dieser von sich gab. „Desinfektionsmittel und Verbandszeug holen“, erklärte er das Offensichtliche und wandte sich wieder zum Gehen um. „Das ist wirklich nicht nötig!“ Fing der Jüngere jetzt tatsächlich schon wieder mit dieser Leier an? „Das hatten wir doch schon geklärt“, gab er daher nur knapp zurück. „Entweder du gehst zum Arzt oder –“ „Jaah, schon gut, ich hab’s verstanden…“, gab sich Hawks schließlich geschlagen, während über seine Miene ein Ausdruck huschte, den Enji nicht zu deuten vermochte. Er erschien ihm wie eine Mischung aus Angst und Wehmut, was so gar nicht zu der aktuellen Situation zu passen schien. Doch ohne sich über derlei Nebensächlichkeiten weiter Gedanken machen zu wollen, zuckte Enji kurz die Achseln und machte sich auf den Weg zum Arzneimittelschrank. Ausgestattet mit medizinischer Nadel und Faden, Tüchern, Desinfektionsmittel und anderen Utensilien, in deren Umgang er dank seiner Ausbildung zumindest Grundkenntnisse besaß und die wegen Hawks‘ Sturheit in den gegebenen Umständen ausreichen mussten, kehrte Enji wenig später ins Wohnzimmer zurück. Hawks hatte sich derweil kaum bewegt, sondern verharrte immer noch in der Position, in der er ihn zurückgelassen hatte. Enji desinfizierte den Couchtisch und legte sämtliche Gegenstände darauf ab, ehe er sich gegenüber von Hawks auf dem Sofa niederließ und diesen mit aufforderndem Blick ansah. „Du musst dein Shirt ausziehen, sonst kann ich die Wunde nicht versorgen.“ Hawks machte keine Anstalten, der für jedermann offensichtlich notwendigen Aufforderung Folge zu leisten, starrte nur scheinbar gedankenverloren vor sich hin. Zierte sich der andere etwa? Kaum vorstellbar, wo dieser doch sonst verbal kein Blatt vor den Mund nahm und alles andere als verklemmt zu sein schien. „Hawks“, sagte Enji noch einmal mit Nachdruck, was diesen aus seinen Gedanken zu reißen und in die Realität zurückzuholen schien. „Oh ja, klar, das Shirt…“, murmelte der Blonde, immer noch leicht geistesabwesend und offenbar bemüht darum, seinen Blick zu meiden. Doch immerhin griff er sich, wenn auch so zögerlich, dass Enji, dessen Geduldsfaden zum Reißen gespannt war, kurz davor war nachzuhelfen und ihm das verdammte Teil vom Leib zu zerren, an den Kragen. Stück für Stück, vielleicht auch, weil er dabei Schmerzen hatte, schälte sich Hawks aus seinem Oberteil, dabei bedacht, die Schulterpartie und den Rücken nicht zu sehr zu strapazieren. Als sich Hawks schließlich gänzlich von seinem Shirt befreit hatte und mit nacktem Oberkörper vor ihm saß, konnte Enji nicht umhin zu bemerken, dass der Jüngere unter seinen ganzen Kleidungsschichten tatsächlich deutlich trainierter war, als es zunächst den Anschein machte. Sein Blick blieb kurz an den gut geformten Brustmuskeln und dem flachen Bauch hängen, ehe er sich an eine ähnliche Situation in der Umkleidekabine vor nicht allzu langer Zeit erinnerte und rasch seinen Blick abwandte. Er schalt sich innerlich dafür und fragte sich zugleich erneut, wieso es scheinbar gerade Hawks‘ Körper war, der ihn derart zu fesseln schien, dass er ins Starren verfiel. Zumal er jetzt dringlichere Aufgaben zu erledigen hatte. Er räusperte sich, hoffte, dass Hawks seinen kurzen unprofessionellen Ausfall nicht bemerkt hatte. „Du musst dich umdrehen“, stellte er, so nüchtern wie es ihm mit leicht hämmerndem Herz möglich war, fest. „Muss das sein? Ich –“, versuchte es Hawks erneut, doch er fuhr ihm dazwischen. „Je weiter du es hinauszögerst, desto länger dauert es!“, grollte Enji ungeduldig, der wahrlich keine Lust mehr auf die Verzögerungstaktik des anderen hatte. „Ist ja gut, Boss“, murmelte Hawks zerknirscht und erhob sich ein wenig von der Sitzfläche, um ihm seinen Rücken zuzudrehen. Doch noch ehe Enji über die ungewohnt betonte Anrede stolpern konnte, blieb ihm jede Erwiderung im Hals stecken, als sich Hawks schließlich ganz zu ihm umgedreht hatte. Das konnte doch nicht… Sein Kopf war wie leergefegt, als sein Blick langsam über den Rücken des anderen glitt, er jeden Zentimeter der blutroten Schwingen, die sich von Schulter zu Schulter und bis hinunter zum Steißbein erstreckten, zu erfassen, das Gesehene zu begreifen versuchte. Geschockt von dem, was er sah, vergaß er sogar zu atmen. Auch Hawks war ganz still, gab nicht ein Geräusch von sich, wartete womöglich auf seine Reaktion. Was hatte das alles zu bedeuten? Seine Starre hielt jedoch nicht lange an, wurde abgelöst von einem Gefühl unbändiger Wut und Enttäuschung. Er hatte Hawks sein Vertrauen geschenkt, ihm intime Geheimnisse aus seiner Vergangenheit anvertraut und dieser spielte – nur das konnte das großflächige Tattoo auf seinem Rücken bedeuten – ein doppeltes Spiel mit ihm und der Polizei. Innerlich lodernd vor Zorn brach dieser plötzlich seinen Bann. Er konnte und wollte sich nicht mehr beherrschen und sprang auf, woraufhin sich Hawks zu ihm umdrehte. „Du!!“, entfuhr es ihm wutentbrannt und er zeigte anklagend auf den anderen. „Du bist Teil der Yakuza!“ „Es ist nicht so, wie du denkst!“, versuchte sich Hawks zu erklären und hob beschwichtigend die Hände. „Ach nein?!“, polterte er spöttisch. „Dann erkläre mir mal, was ein riesiges Tattoo, das Erkennungszeichen unter den Mitgliedern der japanischen Mafia, auf deinem Rücken zu suchen hat!“ „Ich hätte es wissen müssen“, fügte er beinahe flüsternd und mehr zu sich selbst als zu Hawks hinzu. Erinnerungsfetzen an ein rotes Aufblitzen, das er für die Reflexion der Lampe gehalten hatte, als sich Hawks in seiner Küche für ein Glas Wasser gestreckt hatte, flammten in ihm auf und ein Schmerz, den er seit Jahrzehnten nicht mehr, wenn gar noch nie, verspürt hatte, durchfuhr seine Brust. „Du hast uns… du hast mich verraten“, schloss er kalt und bedachte Hawks mit einem Blick voller Verachtung, der diesen zusammenzucken ließ. „Endeavor-san…“, begann Hawks langsam, doch Enji wollte seine lahmen Ausreden am liebsten gar nicht hören. Wie konnte er diesem Mann je wieder vertrauen, wenn er ihm so ein großes Geheimnis vorenthalten hatte? „Du hast Recht, ich hätte es dir sagen müssen“, gestand Hawks und suchte nun seinen Blick, den er jedoch nur eisig erwiderte. „Aber ich wusste nicht, wie du reagierst… beziehungsweise dachte ich mir schon, dass du so reagieren und mich verurteilen und mir nicht glauben würdest. Daher habe ich es für mich behalten, in der Hoffnung, dass –“ „Dass es nicht herauskommt?“, blaffte Enji, in dem neben Wut auch Ekel aufkam. Denn außer Verrat empfand er nichts so schlimm wie falsche Feigheit. „Nein“, widersprach Hawks ruhig. „In der Hoffnung, dass es keinen Unterschied macht.“ Enji blinzelte irritiert. Er wollte wissen, wie der andere das meinte, war aber zu wütend und zu stolz, danach zu fragen. Doch die Antwort auf seine Frage nahm Hawks ihm ab. „Wie du weißt, war ich in Fukuoka zwei Jahre lang als verdeckter Ermittler bei der Yakuza tätig“, fing Hawks an und Enji brummte nur, nicht sicher, ob er diese Geschichte nicht auch als Ammenmärchen abstempeln musste. „Ich war nicht ganz ehrlich zu dir, als ich sagte, dass ich diesen Job bekommen habe, weil ich der Beste meines Jahrgangs war. Tatsächlich war ich der Einzige, der bereit war, das zu tun, was getan werden musste, um von der Yakuza aufgenommen und als Mitglied akzeptiert zu werden. Ein Yakuzamitglied ohne Tätowierung wäre gleich am ersten Tag aufgeflogen und so musste ich, um meiner Rolle gerecht zu werden, diesen Schritt gehen. Es tut mir leid, dass ich nicht mit offenen Karten gespielt habe, aber ich fürchtete, du würdest schlecht von mir denken, wenn du wüsstest, dass ich mir ihr Erkennungszeichen habe eintätowieren lassen, nur um Karriere zu machen.“ Hawks verstummte und wartete gebannt auf seine Reaktion. Enji zögerte, war hin- und hergerissen, ob er dieser Geschichte Glauben schenken sollte. Sie erschien ihm plausibel, aber seine durch die Wut geschürten Zweifel waren längst nicht ausgeräumt. Nicht umsonst hatte er sich häufig gefragt, woher Hawks stets so viele Informationen über die Yakuza aus dem Hut hatte zaubern können. Zudem würde Hawks‘ Zugehörigkeit zur Yakuza erklären, wieso nahezu alle seine Fährten in Sackgassen endeten. Andererseits hatte sich Hawks auch sein Vertrauen verdient, ihn in Notlagen wie seiner Alkoholeskapade unterstützt… Er hatte ihm heute sogar das Leben gerettet. Und das wog mindestens genauso schwer wie sämtliches Misstrauen, das er zunächst gegenüber dem Neuen aus Fukuoka gehegt hatte. Welches Interesse hätte ein bei der Polizei eingeschleustes Mitglied der Yakuza schon, sich in ein Messer zu werfen, um Schaden von einem führenden Polizisten, der gegen diese besagte Organisation ermittelte, abzuwenden? Enji fiel kein Grund ein. „Ich weiß nicht, ob ich dir glauben kann“, gab Enji schließlich nach einiger Überlegung zu und setzte sich wieder neben Hawks auf die Couch. „Aber ich kann nicht leugnen, dass du mir heute Abend das Leben gerettet und dich dafür selbst in erhebliche Gefahr gebracht hast.“ „Das war doch selbstverständlich!“, tat Hawks das Ganze lächelnd mit einer Handbewegung ab. „Nein, war es nicht“, widersprach Enji. „Nicht jeder meiner Kollegen würde sich für mich eine Kugel oder ein Messer einfangen. Doch du hast dies, ohne mit der Wimper zu zucken, getan. Du hast mich sogar noch versucht zu warnen, da du die Gefahr, die von diesem Mädchen ausging, eher gespürt hast als ich, obwohl ich die Anzeichen hätte richtig deuten müssen. Auch wenn es mir nicht gefällt, aber… dafür stehe ich in deiner Schuld, Hawks.“ „Ich hätte dich nicht einfach sterben lassen“, murmelte Hawks und senkte den Blick, als ob ihm der Grund dafür peinlich sei. „Wie meinst du das?“, fragte Enji irritiert und in dem, auch wenn er immer noch misstrauisch war, die Wut nach seinem Ausbruch immer mehr abflaute. „Ich…“, begann Hawks, zögerte und schaute schließlich hoch und ihm direkt in die Augen, mit einem so intensiven Blick, dass er ihm fast schon unangenehm war. „Ich weiß nicht, wie ich…“ Was Hawks nicht wusste, erfuhr Enji nicht. Denn im nächsten Moment spürte er nur noch, wie ihn zwei kräftige und doch deutlich kleinere Hände als seine eigenen auf die Couch drückten. Noch ehe sich Enji darüber wundern oder dagegen protestieren konnte, überwand der andere den geringen Abstand zwischen ihnen und legte die Lippen auf die seinen. Eine Welle aus Emotionen brandete über ihn hinweg, als sein Hirn realisierte, dass Hawks ihn küsste. Er erstickte beinahe daran und schnappte kurz nach Luft, die Augen aufgerissen und nicht in der Lage zu begreifen, was da gerade passierte. Doch weder Hawks noch sein restlicher Körper schienen sich von dieser Reaktion beeindrucken zu lassen. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, reagierte sein Körper instinktiv und scheinbar so, als hätte er sich förmlich nach diesem Moment verzehrt. Wie ausgehungert nach körperlicher Nähe, reagierte sein Körper auf die einzige Weise, zu der er in dieser Situation im Stande war. Er schloss die Augen, ging den Lippen des anderen entgegen, öffnete diese einen Spalt. Der Druck auf seinen Lippen und die Hitze, die sich zwischen ihren Leibern bildete, wurden nur noch feuriger, als sein Gegenüber merkte, dass er den Kuss erwiderte. Gefangen in einer Woge aus Leidenschaft und Verlangen, nicht mehr Herr seiner Sinne und unschlüssig, wohin er mit seinen Händen sollte, schlossen sich seine Pranken um Hawks‘ Hintern, zogen den anderen noch näher an sich heran, was diesem ein leises Keuchen entlockte. Ob der Kuss eine Minute, zehn oder eine halbe Ewigkeit dauerte, konnte Enji nicht sagen. Als sich Hawks, halb über ihm liegend, wieder von ihm löste, war es jedenfalls, als würde er aus einem Traum gerissen. Einem Traum, den er schon seit ewig langer Zeit nicht mehr zu träumen gewagt hatte. Ein kleiner nagender Teil seines Verstandes sagte ihm zwar, dass das hier unangemessen war. Ihre Altersdifferenz, ihr Rang, ihr Geschlecht. Aber verdammt nochmal, hatte er sich nach der ganzen Scheiße nicht auch ein wenig Glück verdient, selbst wenn es nur für einen kurzen Moment war? Diese Gedanken beiseite drängend, um den Moment nicht zu zerstören, öffnete er die Augen und der Blick, der ihm begegnete, sagte mehr, als Worte es je vermocht hätten. Hawks sah ihn auf eine Weise an, auf die ihn schon seit langer Zeit... oder vielleicht sogar noch nie jemand angesehen hatte. Es lag so viel Wärme, Zuneigung und – was Enji verwunderte – Trauer in seinen bernsteinfarbenen Augen, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Und er merkte selbst, wie er diese Gefühle erwiderte. Verdammt, in was war er hier hineingeraten? „Entschuldige…“ brach Hawks schließlich die angenehme Stille zwischen ihnen. „Du musst dich dafür nicht entschuldigen“, erwiderte Enji sofort, der – noch berauscht von den Gefühlen, die ihn durchströmten – mit keiner einzigen Faser bereute, was geschehen war. „Das… meine ich nicht“, sagte Hawks stockend und fuhr sich mit den Fingern durch sein Haar, sich offensichtlich unschlüssig, wie er fortfahren sollte. Wenige Sekunden später seufzte er schließlich schwer und fixierte ihn erneut mit einem durchdringenden Blick, in dem neben einer Unsicherheit, die er von Hawks sonst gar nicht kannte, auch etwas Flehentliches lag. „Ich weiß, es ist viel verlangt, aber ich bitte dich, mir erst zuzuhören, bevor du dir eine abschließende Meinung bildest.“ Diese Bitte überraschte Enji, hatte er immerhin erwartet, nach der Offenbarung mit dem Tattoo heute keine weiteren Überraschungen mehr erleben zu müssen. Doch es klang ganz so, als hätte Hawks ihm noch nicht alles erzählt. Abwartend der Dinge, die da kommen würden, jedoch auch mit einer Spur Misstrauen, das er von ihrer Unterhaltung vorhin noch nicht abgelegt hatte, nickte er jedoch nur brummend. „Ich habe dir vorhin nicht ganz die Wahrheit gesagt“, rückte der Jüngere schließlich mit der Sprache heraus. „Nun, ich… ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich…“ Hawks hielt inne, um sein Gestammel zu unterbrechen, und holte tief Luft für seine weiteren Worte. „Ich habe das Gefühl, dass das zwischen uns etwas Ernstes sein kann, und ich… möchte das Ganze nicht auf einer Lüge aufbauen.“ Enji horchte auf, einerseits gespannt auf das, was der andere ihm mitteilen wollte. Ein anderer, noch viel größerer Teil von ihm wollte es jedoch am liebsten nicht wissen. Denn wie Hawks gesagt hatte, je mehr er in sich hineinhorchte, desto eher konnte auch er den Wunsch in sich spüren, einen Neuanfang zu starten. Und wenn er dieses neue Kapitel mit Hawks aufschlagen könnte, warum nicht? Die zarte Pflanze von Was-auch-immer-da-zwischen-ihnen-war eingehen zu sehen, behagte ihm daher nicht unbedingt. Da seine Ehe mit Rei jedoch auch nicht gerade auf gegenseitiger Rücksichtnahme und Vertrauen aufgebaut gewesen war, rang er sich schlussendlich dazu durch, dass er die Wahrheit erfahren musste. So unschön sie auch sein mochte. „Was meinst du?“, fragte er den anderen daher geradeheraus, um ihn dazu zu bewegen fortzufahren. Hawks atmete erneut schwer aus, wich seinem Blick jedoch nicht aus. „Ich habe das Tattoo nicht im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen bekommen. Seit ich klein war, war mein größter Traum zwar immer, Polizist zu werden. Doch mir war klar, dass mir dieser Weg versperrt ist.“ „Wie meinst du das? Du bist doch Polizist, oder etwa nicht?“, bohrte Enji nach und fixierte Hawks mit einem stechenden Blick. „Nun, technisch gesehen schon“, lenkte Hawks ein. „Zumindest auf dem Papier. Tatsächlich habe ich jedoch nie eine Ausbildung abgeschlossen, geschweige denn begonnen.“ Enji starrte Hawks ungläubig an, ahnte, in welche Richtung sich das Gespräch entwickeln würde, wollte es jedoch aus Hawks‘ eigenem Mund hören, ehe er ihm ins Wort fiel. „Vielleicht erinnerst du dich daran, wie ich dir erzählte, dass mein Vater den Spielautomaten mehr zugetan war als mir…“, fuhr Hawks nach einer Pause fort. „Nun, mein Vater war spielsüchtig und geriet, um sich für seine Sucht weiter Geld leihen zu können, schnell in die falschen Kreise. Er stand bei seinen Kreditgebern schließlich so tief in der Kreide, dass er, um seine eigene Haut zu retten, die Drecksarbeit für diese erledigen musste. Ich weiß nicht, was genau er getan hat, da ich zu dem Zeitpunkt noch zu jung war… Aber mein Vater kam nicht nur einmal mit blutiger Kleidung und einem gehetzten Blick, der mir als Kind jedes Mal eine gehörige Angst einjagte, nach Hause. Mein Vater machte letztendlich einen folgenschweren Fehler, der dafür sorgte, dass er und ein Dutzend weiterer Gefolgsleute der Polizei in die Hände fielen. Und während mein Vater seitdem womöglich irgendwo in einer Zelle verrottet, behielten sie mich als Pfand für sein Versagen.“ Enji hatte gebannt zugehört und erst gar nicht realisiert, dass Hawks zu sprechen aufgehört hatte. Seine Gedanken überschlugen sich, denn obwohl Hawks immer noch um den heißen Brei herumredete, ließ ihn eine spezielle Information nicht los. „Wie ist der Name deines Vaters?“ „Takami Hanji.“ Takami Hanji… Enji zermarterte sich das Hirn, wo er diesen Namen schon einmal gehört hatte. Der Name klang auf merkwürdige Weise vertraut und der Zusammenhang mit dem knappen Dutzend anderer Leute… Es konnte doch nicht sein, dass Hawks‘ Vater…? Und dann fiel bei ihm der Groschen. „Ich war derjenige, der deinen Vater festgenommen hat“, stellte Enji stoisch fest, während es in seinem Inneren zu brodeln begann. „Damals, bevor… und aus Rache haben sie meinen Sohn…“ Enji verstummte, konnte nicht mehr weiterreden. Zu groß war der Kloß in seinem Hals, zu rasend die in ihm aufkeimende Wut, dass er kaum noch klar denken konnte. Wenn es das bedeutete, was es den Anschein machte, dann stand Hawks‘ Vater in direkter Verbindung zu Touyas Entführung und das hieß… „Du bist Mitglied der Yakuza.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Auch wenn in ihm noch ein Funken Hoffnung aufkeimte, dass er mit seiner Aussage falsch lag, machte Hawks diesen mit einem Schlag zunichte, indem er nickte. „Ja, ich bin, nachdem mein Vater festgenommen worden war, von ihnen mitgenommen worden und bei ihnen aufgewachsen“, gestand Hawks tonlos. „So ein elternloser, achtjähriger Junge ist, musst du wissen, äußerst praktisch für die Yakuza. Sie können einen formen und einem alles beibringen, was man für die wirklich üblen Geschäfte so braucht. Da man sonst nirgendwohin kann, schaffen es die wenigsten, sich der Yakuza später zu entziehen… und wenn sie es versuchen, werden sie nicht mehr lange Gelegenheit haben, davon zu erzählen“, schloss Hawks bitter. „Da ich meinen Vater und seine Machenschaften in jungen Jahren stets offen verabscheut habe und mein Vater bei der Yakuza in Ungnade gefallen war, blieb ich jedoch immer nur ein kleines Licht. Für das Einsammeln von Schutzgeldern und das Ausspionieren anderer Organisationen war ich für sie gut genug, aber sie vertrauten mir nie so weit, dass ich Informationen aus dem inneren Kreis bekam. Ich wurde lediglich so weit von der Leine gelassen, wie sie mich noch kontrollieren konnten, ohne mir zu viel verraten zu müssen, und war für sie im Grunde nichts wert.“ Hawks zuckte die Achseln. „Bis zu dem Tag, als sie sich entschieden, jemanden, der für sie entbehrlich war und nichts Wichtiges über sie preisgeben konnte, bei der Polizei einzuschleusen, um deren Arbeit von innen zu sabotieren. Mit den Verbindungen der Liga, auch zur Polizei in Fukuoka, war es für sie ein Kinderspiel, mich mit falschen Papieren und Qualifikationen auszustatten.“ „Du hast uns also die ganze Zeit belogen“, schlussfolgerte Enji mit Bitterkeit in der Stimme, zu paralysiert, um Enttäuschung zu spüren, auch wenn in ihm innerlich statt einem „uns“ ein „mich“ widerhallte. „Kein Wunder, dass alles, was wir anpackten, keinen Erfolg hatte. Wahrscheinlich hast du sogar Spinner gewarnt, den Unfall provoziert, damit er entkommt, und gewusst, dass die Spur im Stripclub tot war… Und das Mädchen, das mich heute abstechen wollte, kanntest du mit Sicherheit auch, weshalb du schon geahnt hast, dass sie mit einem Messer angreifen könnte. Du hast von Anfang bis Ende dein doppeltes Spiel mit uns getrieben und das, ohne mit der Wimper zu zucken.“ „Das ist nicht wahr!“, protestierte Hawks, dessen Stimme sich kurz überschlug. „Ich gebe zu, zu Beginn habe ich die Anweisungen der Liga befolgt und die ein oder andere falsche Fährte gelegt… und ja, auch deine anderen Vermutungen sind richtig. Wobei ich Toga lediglich vom Sehen her kannte, sie mich aber nicht. Wie gesagt, ich bin nur ein kleiner Fisch im großen Teich…“ Enji schnaubte, doch Hawks kam ihm zuvor, bevor er etwas entgegnen konnte. „Aber ich… hatte Angst vor dem, was mir drohen würde, sollte ich Ungehorsam zeigen. Das soll jetzt nicht wie eine lahme Entschuldigung klingen, aber ich… hatte keine Wahl.“ Enji verschränkte die Arme vor der Brust, hatte im Grunde keine Lust mehr, den Lügengeschichten des anderen weiter zuzuhören. Doch dieser redete einfach weiter. „Und wie schon gesagt, wollte ich eigentlich immer zur Polizei. Denn obwohl ich noch vor Beginn meines Einsatzes erfahren habe, dass der derzeit leitende Ermittler meinen Vater überführt und damit mein Schicksal bei der Yakuza besiegelt hatte, hegte ich nie einen Groll. Ich wusste, dass mein Vater es nicht anders verdient hatte. Und als ich die Arbeit der Polizei… und dich… näher kennenlernte, wollte ich das alles nicht mehr“, schloss Hawks schließlich lahm. Es trat eine Pause ein, in der Enji Hawks musterte, dieser seinen Blick erwartungsvoll erwiderte. „Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich deiner Geschichte auch nur einen Funken Glauben schenke“, unterbrach Enji knurrend die Stille. „Dass du geläutert bist und der Yakuza den Rücken gekehrt hast. Und das nur wegen mir.“ Er spuckte das letzte Wort förmlich aus, konnte seinen brodelnden Zorn über Hawks‘ Vertrauensmissbrauch kaum noch zügeln. „Ich hätte bei deinem Namen gleich wissen müssen, dass mit dir etwas nicht stimmt. Aber die Namen derjenigen, die ich damals festgenommen hatte, habe ich erst nach Touyas Entführung erfahren, als es mir gleichgültig war, und sie nicht direkt mit dir in Verbindung gebracht. Ich hätte auf mein Gefühl hören und mein Misstrauen dir gegenüber bewahren sollen. Stattdessen lasse ich dich in mein Haus, erzähle dir von meinem Sohn und fange sogar an, ...“ Enji schüttelte den Kopf und blickte angewidert von sich selbst drein. „Und das bei einem von der Yakuza.“ „Ich kann verstehen, dass du sauer bist, aber –“ „Ich bin nicht sauer“, widersprach Enji. „Zumindest nicht auf dich, sondern auf mich. Dass ich auf dein Lügenkonstrukt hereingefallen bin… und mich auf das vorhin eingelassen habe.“ Es störte ihn, dass in seiner Stimme außer Herablassung und Bitterkeit nun auch Enttäuschung mitschwang, aber das war gerade seine geringste Sorge. „Kannst du denn nicht verstehen, dass ich nicht anders konnte… es tun musste?“, fragte Hawks, dessen flehentlicher Unterton Enji noch mehr anwiderte. „Nein, kann ich nicht“, erwiderte Enji schroff. „Einmal Yakuza, immer Yakuza.“ Hawks‘ Gesicht fiel für einen kurzen Moment in sich zusammen, doch er hatte sich schnell wieder gefangen und setzte nun eine stoische Miene auf. „Versteh mich nicht falsch“, fügte Enji noch hinzu und Hawks horchte auf. „Ich bin dir nicht undankbar, dass du dir heute Abend für mich eine Stichverletzung zugezogen hast. Aber… das ändert nichts.“ Die darauffolgende Stille zwischen ihnen wog schwer wie Blei und Enji fiel es schwer, dem Blick des anderen standzuhalten. Da war ein Ausdruck in Hawks‘ Augen, der nicht zu der emotionslosen Miene passen wollte – und sich ihm den Magen umdrehen ließ. Doch er konnte seine Worte nicht zurücknehmen. Nicht nach allem, was Hawks soeben offenbart hatte. „Wenn das so ist…“, sagte Hawks sodann tonlos und stand auf, griff sich sein Shirt und streifte es sich über, „…werde ich dann mal gehen.“ Enji widersprach nicht und ohne, dass er oder Hawks sich noch einmal zu dem anderen umdrehte, schritt Hawks zur Haustür, die schwer hinter ihm ins Schloss fiel und Enji in der Stille seiner Gedanken alleine zurückließ. Kapitel 12: Bad Company ----------------------- Das Geräusch der zufallenden Haustür hallte noch in seinen Ohren nach, als Hawks das Anwesen verließ und auf die Straße trat. Ohne dass er merkte, wohin ihn seine Schritte trugen, machte er sich auf den Weg durch die inzwischen eingetretene Dunkelheit, die nur hin und wieder von dem Schein einer Laterne durchbrochen wurde. Der Mond war von dunkelgrauen Wolken verhangen, die baldigen Regen verhießen. Doch an das nahende Unwetter verschwendete Hawks keinen Gedanken; der Sturm tobte vielmehr in ihm. Verdammt, er hatte es sowas von verkackt! In einem Anflug auflodernder Wut trat er gegen einen Laternenpfahl und atmete zischend aus, als ihm der Schmerz durch den Fuß fuhr. Auch seine verletzte rechte Schulter brannte wie Feuer. Doch diese Schmerzen waren nichts im Vergleich zu demjenigen, der seine Brust durchbohrte. Er hatte es seit dem Beginn seiner Mission befürchtet, fast schon erwartet, dass seine Tarnung früher oder später auffliegen würde. Doch nicht im Traum hatte er sich ausgemalt, dass er in diesem Szenario zum einen nicht mehr auf die Unterstützung der Yakuza zählen konnte, und zum anderen, dass ihn die Offenbarung der Wahrheit persönlich derart hart treffen würde. Die Liga, deren Aufträge er stets verabscheut, die aber trotz allem eine Art Zuhause geboten hatte, zu dem er stets hatte zurückkehren können. Zwar hätten sie ihn im Falle des Versagens nicht mit offenen Armen empfangen; doch einen derart fähigen Handlanger, der er nun einmal war, ließen sie auch nicht einfach so gehen. Diese Option hatte er sich jedoch in dem Moment verspielt, als er sich zwischen Endeavor und das Messer geworfen hatte. Denn die Yakuza duldete keine Illoyalität und hatte mit Sicherheit schon von Toga erfahren, dass er einem Polizisten das Leben gerettet und sich dadurch auf dessen Seite geschlagen hatte. Da ihr Misstrauen ihm gegenüber ohnehin schon gesät war, wie ihm bei dem letzten Treffen durch Dabis Äußerungen unmissverständlich klar gemacht worden war, würden sie diesen Akt als Bestätigung seines Verrats interpretieren. In Sorge vor einer unmittelbar auf dem Fuße folgenden Bestrafung für seine Illoyalität hatte er sich daher dagegen entschieden, seine Stichverletzung im Krankenhaus behandeln zu lassen, wäre er dort doch leichte Beute für einen spontanen Racheakt gewesen. Ein schwerwiegender Fehler, wie er sich nun schmerzlich eingestehen musste. Denn er hatte nicht mit Endeavors Beharrlichkeit, seine Wunde zu versorgen, gerechnet. Er gab es ungern zu, aber dass seine wahre Identität aufzufliegen und alles, was er sich mit Endeavor und der Polizei aufgebaut hatte, in sich zusammenzufallen gedroht hatte, hatte ihm Angst eingejagt. Die Angst, dass er an einem Tag nicht nur seinen Schutz durch die Yakuza, sondern auch Endeavors Vertrauen verlieren würde, hatte ihn förmlich gelähmt. Umso mehr hatte es ihn verwundert, dass ihm, als die Offenbarung seines Tattoos nicht mehr zu vermeiden gewesen war, die Lüge, die er für diesen Fall schon vor Monaten vorbereitet hatte, so leicht über die Lippen gekommen war. Hawks wusste, dass er ein überzeugender Lügner war, doch dass Endeavor ihm diese Geschichte so leicht abkaufen würde, schien schon fast zu viel des Guten zu sein. Doch mehr noch, als dass ihn die Reaktion des Rothaarigen überrascht hatte, war ihm mit einem Mal klar geworden, dass nicht Endeavor derjenige gewesen war, der auf seine Lüge hereingefallen war… sondern dass er sich selbst die ganze Zeit über belogen hatte. Erst in dieser Situation, als er Endeavor gegenüber seine Gründe dafür, dass er sich an seiner statt das Messer eingefangen hatte, hatte erklären müssen, hatte er seine eigenen wahren Beweggründe verstanden. Er hatte realisiert, dass er schon viel zu tief in sein doppeltes Spiel verstrickt war, um diesem noch heil entkommen zu können… dass er tief in seinem Inneren schon weit vor Endeavors Rettung am heutigen Abend seine Seite gewählt und eine Entscheidung getroffen hatte… dass er für den Rothaarigen mehr empfand, als es in seiner Situation gesund gewesen wäre… dass er ihn aus diesem Grund nicht hätte sterben lassen können… dass er seinem Verlangen, Endeavor zu küssen, einfach nachgeben musste… und dass er es leid war, sich verstellen zu müssen, er nicht länger mit dieser Lüge, die die letzten Monate über ihn bestimmt hatte, leben konnte. Das Spiel war gewagt gewesen, denn er hatte bereits die Unterstützung der Yakuza verloren. Sollte ihn die Wahrheit über seine Identität auch Endeavors Rückhalt und damit den der Polizei kosten, könnte er nirgendwo mehr hin, hätte er sich gewissermaßen selbst zum Abschuss frei gegeben. Vielleicht war er von dem Kuss noch zu berauscht gewesen, davon, wie Endeavor diesen nach anfänglichem Zögern erwidert und ihn zu sich herangezogen, ihre Körper aneinandergepresst hatte. Er hatte jedenfalls die törichte Hoffnung gehegt, dass Endeavor ihn verstehen, er ihm glauben und sich nichts zwischen ihnen ändern würde. Doch diese Hoffnung hatte der andere im Keim erstickt. Noch immer flackerte mit jedem seiner Schritte das Bild von Endeavors Gesicht vor ihm auf, wie angewidert ihn dessen stechend blaue Augen angesehen hatten. Er hatte hoch gepokert und verloren. So war das Spiel und deswegen, auch wenn ihm der Gedanke an Endeavors enttäuschtes Gesicht einen tiefen Stich versetzte, würde er keine Tränen darüber vergießen. Das Weinen hatte er ohnehin bereits vor langer Zeit verlernt. Stattdessen seufzte er nur einmal schwer, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und setzte ein schiefes Lächeln auf, das für einen Passanten eher gruselig als einladend gewirkt hätte. Das Leben musste immerhin weitergehen. Auch zehn Minuten später wusste er nicht, wohin ihn seine Schritte eigentlich trugen. Er hatte kein Ziel, konnte schließlich nirgendwo mehr hin. Seine Wohnung war sowohl der Yakuza als auch der Polizei bekannt und da beide Parteien ihn nun als Verräter betrachteten, blieb nur die Frage, welche Seite ihn zuerst in die Finger bekommen würde. Die Jagd war eröffnet. Als wäre seine Situation, ohne Ziel und ohne Dach über dem Kopf, nicht schon elend genug, fing es schließlich auch noch an zu regnen. Nach wenigen Minuten war er durchnässt bis auf die Haut, während ihm das Wasser von den Haaren tropfte und in seine Augen lief. Hawks blinzelte, wischte sich mit dem Handrücken über die Lider. Er dachte, er hätte in der Seitenstraße einen Schatten gesehen, doch seine Augen hatten ihm in der verregneten Dunkelheit wohl einen Streich gespielt. Denn als er wieder klarer sehen konnte und er erneut in die Richtung blickte, war dort nichts als Leere. Angespannt, unwissend, ob er seinen Sinnen trauen konnte, und auf jeglichen Hinterhalt bereit, marschierte er weiter durch den Wolkenbruch. Durch den dichten Regen, der auf das Pflaster trommelte, meinte er, Schritte zu hören. Doch auch als er sich umdrehte, blieb er allein, sodass er seinen Weg, wenn auch wachsam, fortsetzte. Nicht einmal fünfzig Meter weiter blieb er abrupt stehen, als er aus dem rechten Augenwinkel eine plötzliche Bewegung wahrnahm. Blitzschnell und mit einem Ruck, der ihm einen schmerzhaften Stich durch seine verletzte Schulter jagte, drehte er sich zur Seite und bückte sich gleichzeitig. Und das keine Sekunde zu früh, denn den Bruchteil einer Sekunde später sah Hawks das Projektil einer offensichtlich mit Schalldämpfer ausgestatteten Waffe vor sich auf den Boden einschlagen. Der nächste Schuss verfehlte Hawks, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte und gleichzeitig nach der Richtung, aus der der Schuss gekommen war, Ausschau hielt, ebenfalls nur knapp. Die dritte Kugel drang mit einem metallischen Geräusch in das Gehäuse des Getränkeautomaten ein, der schummriges Licht in die Gasse warf und hinter dem Hawks in letzter Sekunde Schutz gesucht hatte. Während er sich hinter dem Automaten verschanzte, seine Möglichkeiten abwog, schlugen zwei weitere Geschosse in den Automaten ein, von denen eine die Beleuchtung traf, sodass die Gasse schlagartig wieder ins Halbdunkle getaucht war. Noch eine Kugel, dann würde sein Gegenüber das Magazin wechseln müssen. Diesen Moment würde er dazu nutzen, entweder zu fliehen oder einen Gegenschlag zu setzen. Denn – und er dankte dem Schicksal dafür, dass er diesen Trumpf noch hatte – er selbst war auch nicht unbewaffnet, hatte Endeavor wohl im Moment ihres Abschieds nicht daran gedacht, ihm seine Dienstwaffe abzunehmen, die er für den Einsatz bei sich getragen hatte. Hawks, der ein scharfes Auge für solche Dinge hatte, war sich sicher, dass die Schüsse aus der Schlucht zwischen zwei Häusern schräg gegenüber gekommen waren. Er machte sich innerlich bereit, in dem Moment, in dem der sechste und letzte Schuss fallen würde, aus seinem Versteck zu sprinten und dem Angreifer mit gezogener Waffe zu kontern. Die Hand bereits auf dem regennassen Holster, wartete er auf den Schuss, der jedoch nicht kam. Stattdessen hatte wie aus dem Nichts eine dunkle Silhouette in der Mitte der Gasse Gestalt angenommen. „Ich will dir nichts tun, Hawks, bitte lass uns reden“, vernahm er die Stimme des anderen, vom Regen fast übertönt, aber dennoch laut genug, dass er sie verstehen konnte, ehe der andere schnarrend und mit verstellter Tonlage weitersprach: „Von wegen ‚nichts tun‘, er ist ein Verräter! Wir müssen ihn umlegen!“ „Aber vielleicht hatte er einen guten Grund, …“ „Bubaigawara?“ Hawks lugte vorsichtig um die Ecke und sah einen ganz in Schwarz gekleideten und maskierten Mann, der, offensichtlich mit sich selbst im Gespräch, wild mit seiner rechten Hand, an der drei Finger fehlten, gestikulierte. Ohne Zweifel, dies war Bubaigawara, der innerhalb der Yakuza wegen seiner Persönlichkeitsspaltung lediglich „Twice“ genannt wurde. Da Twice die Waffe gesenkt hatte, entschied sich Hawks, sein Versteck zu verlassen. Der andere war leichtgläubig und hatte ihm stets vertraut, vielleicht könnte er ihn ja auf seine Seite ziehen und die Yakuza überzeugen, dass er ihnen immer noch loyal war. Sollte Twice dennoch überraschend seine Pistole heben, würde der andere diese nicht so schnell hochbekommen, wie dass er seine eigene Waffe gezogen und abgefeuert hätte. Zumindest ohne seine Schulterverletzung nicht, aber er konnte ja auch schlecht einen nicht kampfbereiten Mann über den Haufen schießen, nur weil dieser ihm unbedachterweise eine Schwachstelle präsentiert hatte. „Du willst reden?“, fragte Hawks, trat aus dem Schatten des Getränkeautomaten und näherte sich dem anderen bis auf wenige Schritte, dabei jederzeit darauf bedacht, Twice keinen Anlass zum Angriff zu geben, während er selbst jederzeit die Waffe zu ziehen bereit war. Twice, der ganz überrascht, aber auch froh über sein Entgegenkommen schien – unter der Maske war dies nur anhand seiner Körpersprache zu erahnen –, nickte enthusiastisch. Doch im nächsten Moment schüttelte er den Kopf und sagte düster: „Toga hat mir erzählt, was im Keller der Pachinko-Halle passiert ist. Du hast nicht nur nichts dagegen unternommen, dass unser Unterschlupf auffliegt, du hast sogar geholfen, in den Keller einzudringen… und dem rothaarigen Polizisten das Leben gerettet, indem du dich an seiner statt in Togas Messer geworfen hast! Erkläre dich!“ „Du warst an der Pachinko-Halle?“, stellte Hawks eine Gegenfrage, ohne auf die Anschuldigung einzugehen. „Dabi hat Shigaraki überzeugt, dass es doch das Beste wäre, dich im Auge zu behalten, und hat mich dafür abgestellt“, fuhr Twice in versöhnlicherem Tonfall fort. „Ich war dagegen, dich zu bespitzeln, weil wir dir doch vertrauen, aber die anderen waren nicht umzustimmen. Nun ja, seitdem verfolge ich dich auf Schritt und Tritt. Und nachdem du zunächst im Keller verschwunden warst und wenig später Toga auftauchte, wollte ich ihr erst nicht glauben…“ Er stockte, schluckte schwer, und sprach dann weiter: „Ich sagte ihr, dass das ein Versehen gewesen sein muss, da du uns doch niemals hintergehen würdest. Dass das alles zu deiner Maskerade gehören und sie dich ja, da sie erst seit kurzem Mitglied ist, noch gar nicht kennen würde. Aber dass du zugelassen hast, dass Moonfish angeschossen wird, und ohne Not auch noch den Polizist gerettet hast, hat mich dann doch zweifeln lassen… Und als ich dir zum Haus des Polizisten gefolgt bin, hast du auch nicht den Eindruck gemacht, als hättest du Togas Werk bei ihm Zuhause vollendet. Hast du uns echt verraten, Hawks?!“, rief er den letzten Satz, bei dem sich seine belegt klingende Stimme überschlug. „Du musst mir glauben, ich wollte nicht, dass jemand verletzt wird“, meinte Hawks beschwichtigend und wischte sich mit einer Hand den Regen aus dem Gesicht. „Aber ich konnte auch nicht gefährden, dass meine Tarnung auffliegt, also musste ich den Polizisten unterstützen.“ „Du hattest also wirklich einen guten Grund“, seufzte Twice erleichtert. „Dann tut es mir leid, dass ich auf dich geschossen habe, ich dachte nämlich –“ „Alles Lügen!“, schnitt ihm die schnarrende Stimme das Wort ab. „Merkst du es nicht, er redet sich raus! Unterstützung ist ja das Eine, aber er hat sich freiwillig in Togas Messer geworfen! Selbst ein verdeckt eingeschleustes Yakuzamitglied würde nicht so weit gehen!!“ „Das stimmt, aber…“ „Nichts aber! Hawks ist ein Verräter und wir haben die Aufgabe, den Verräter zu eliminieren!“ Twice zuckte mit der Waffe und Hawks war schon im Begriff, seine eigene zu ziehen, als der andere sie wieder sinken ließ. „Aber wir sind doch Freunde… oder, Hawks?“, wandte sich Twice nunmehr flehentlich an ihn. „Du bist ein guter Kerl, Bubaigawara“, entgegnete Hawks, dessen ganzer Körper bis zum Zerreißen gespannt war. „Ich möchte dir nicht wehtun…“ „Lügner! Verräter!“, platzte es plötzlich aus dem anderen hervor, nachdem er zuvor noch freudig genickt hatte, und er riss die Waffe hoch. Hawks, dessen Bewegungsradius durch seine Verletzung doch eingeschränkter war als angenommen, reagierte, so schnell es ihm seine Schulter erlaubte. Noch ehe Twice seinen letzten Schuss abfeuern konnte, hatte Hawks den Griff um seine Waffe geschlossen, sie in einer einzigen fließenden Bewegung aus dem Holster gezogen und in seine zweite Hand vor dem Körper gebracht, sodass sie gegenseitig in die Mündung der jeweils anderen Waffe schauten. Doch Twice war den Bruchteil einer Sekunde schneller. Hawks hörte nur, wie aus weiter Ferne, ein gebrülltes „Nein!“, zielte und schoss, während er spürte, wie das Projektil des anderen knapp unterhalb seines linken Schlüsselbeins eindrang. Er stürzte zu Boden, verlor die Waffe aus den Händen und nahm nur noch am Rande wahr, wie auch der Körper des anderen auf der regennassen Straße aufschlug und die Pachinko-Kugeln, die er noch in der Hosentasche trug, aus dieser herausfielen. Ihm wurde schwarz vor Augen und er fühlte den nicht enden wollenden Blutstrom aus der Schusswunde fließen, doch er musste sich zusammenreißen. Wenn ihn die Yakuza in diesem Zustand fand, war es aus mit ihm. Doch an wen sollte er sich wenden, der ihn weder erledigen wollte noch unangenehme Fragen stellen würde? Schlussendlich blieb nur eine Option, obwohl er nicht damit rechnete, dass er von dieser Seite Hilfe erwarten konnte… Unter Schmerzen und mit zusammengebissenen Zähnen richtete er sich auf, suchte in seiner Hosentasche nach dem Handy. Dabei glitt sein Blick hinüber zu Twice, der wenige Meter weiter lag, reglos und mit einem kreisrunden Loch mitten auf der Stirn. Da Hawks den Anblick weder ertragen konnte noch wusste, wie lange er der Ohnmacht noch widerstehen konnte, wandte er den Blick von dem Toten ab und zog sein Handy heraus. Vor seinen Augen verschwammen die Buchstaben auf dem Display, als er mit letzter Kraft das Versenden-Feld betätigte. Das Letzte, an das er dachte, bevor er das Bewusstsein verlor, war der aufkeimende Zweifel, ob der Empfänger seiner Nachricht technisch überhaupt versiert genug war, um diese zu verstehen… Kapitel 13: Bad Visit --------------------- „… Hawks…“ Wie aus weiter Ferne vernahm er das tiefe Brummen der Stimme, deren Klang er nicht noch einmal zu hören erwartet hätte. Hawks wollte die Augen öffnen, um sich zu vergewissern, dass er aufgrund seines Blutverlustes nicht nur halluzinierte. Doch seine Lider zuckten nicht einmal, es war jegliche Kraft aus seinem Körper gewichen. „Hawks!“, fuhr ihn die Stimme nunmehr energischer an. Er spürte, wie sich die Pranken des anderen fest um seine Schultern schlossen, ihn in eine aufrechte Position hieven wollten. Aber sein Körper machte da nicht mit, sondern blieb schlaff und schwer in den fremden Händen hängen. „Meine Güte, Hawks, jetzt reiß dich verdammt nochmal zusammen!!“ Das Bellen des anderen konnte den verzweifelten Unterton in dessen Stimme nicht gänzlich übertönen. Hawks wusste nicht, ob es die aufkeimende Hoffnung war, dass sich sein Retter tatsächlich Sorgen um ihn machte, oder die Tatsache, dass dieser ihn nun – in seiner Situation eigentlich nicht gerade förderlich – grob schüttelte. Jedenfalls kehrte langsam wieder Leben in seinen Körper zurück und es gelang ihm, die Augen aufzuschlagen. Er blinzelte angestrengt gegen den immer noch niederprasselnden Regen und versuchte, die Person vor sich zu fokussieren. Flammend rotes Haar, von dem das Regenwasser tropfte, war das Erste, auf das sich sein schärfer werdender Blick richtete, ehe dieser auf das Stück Stoff fiel, mit dem der andere seine Blutung unterhalb des Schlüsselbeins zu stoppen versuchte. Hawks schluckte, aber da seine Kehle trocken war, fühlte es sich eher an, als würde er einen Stein hinunterwürgen. Zumindest im bildlichen Sinne… Denn obwohl er nicht damit gerechnet hatte… er war ihm tatsächlich zur Hilfe gekommen. „Endeavor-san…“, gab er röchelnd von sich und spuckte ein wenig Blut, als er sich aufzurichten versuchte, um wenigstens einen Teil seiner Würde wiederzuerlangen. „Hawks!“ Die Erleichterung war dem Rothaarigen förmlich anzusehen, doch schon im nächsten Moment verfinsterte sich seine Miene, während er ihn mit sanfter Gewalt wieder gen Boden drückte. „Bleib liegen, du hast viel Blut verloren.“ „Du bist… gekommen“, stellte Hawks mehr an sich selbst als an den anderen gewandt fest und ließ sich widerwillig wieder zu Boden sinken. „Hast du daran gezweifelt?“, gab Endeavor grimmig zurück und ein Schatten huschte über sein Gesicht, der so schnell wieder verschwunden war, dass sich Hawks fragte, ob er sich diesen nicht doch nur eingebildet hatte. „Nun…“, entgegnete Hawks zögernd. Er wusste nicht recht, ob der andere lediglich unwissend tat, um ihn zu provozieren, oder tatsächlich den Grund für seine Zweifel nicht kannte. Immerhin gab es ganze zwei Faktoren, die das Auftauchen des Älteren eher unwahrscheinlich hatten erscheinen lassen. „Zum einen sind wir vorhin nicht gerade im Guten auseinandergegangen…“, begann er schließlich, wobei dies noch harmlos ausgedrückt war. Endeavor empfand seine Beschreibung wohl ebenfalls als unpassend, denn er schnaubte gereizt. „Ganz gleich, was vorhin in meinem Haus vorgefallen ist. Wenn du mir vorwirfst, ich würde meiner Pflicht als Polizist zuwiderhandeln und einen Menschen in Not, ganz gleich, um wen es sich bei ihm handelt, im Stich lassen, dann haben wir uns tatsächlich nichts mehr zu sagen.“ „So… so meinte ich das nicht“, erwiderte Hawks beschwichtigend, auch wenn er im Grunde genau das gedacht hatte. Er war es schlicht und einfach nicht gewöhnt, dass ihm Personen uneigennützig zur Seite standen, sondern eher, dass sie einen noch von hinten erdolchten, wenn man ihnen in den Rücken gefallen war. Dass er Endeavor falsch eingeschätzt und seinen Charakter infrage gestellt hatte, war ihm mehr als unangenehm, sodass er rasch fortfuhr: „Ich hätte nur nicht erwartet, dass du dein Handy nach so einer Situation überhaupt im Auge behalten würdest… Zum anderen wusste ich nicht, ob du die Nachricht richtig zu deuten weißt.“ „Was willst du damit sagen?!“, brauste Endeavor sofort auf. „Nichts“, log Hawks, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich war mir nur nicht sicher, ob mein bloßer Standort, den ich dir geschickt habe, ausreichen würde, um…“ „Wenn du zu mehr als der Standortmitteilung in der Lage gewesen wärst, hättest du auch mehr geschrieben. Dass du in einer Notlage warst und daher keine weiteren erklärenden Nachrichten schicken konntest, war mehr als offensichtlich“, unterbrach ihn der andere barsch, offensichtlich doch ein wenig in seinem Stolz, Hawks könne denken, er sei technisch hinter dem Mond geblieben, verletzt. „Dann ist ja gut. Und ich dachte schon, ich müsste hier allein verrecken“, krächzte Hawks und setzte ein schiefes Grinsen auf, das ihm jedoch misslang, da ihn im gleichen Moment ein scharfer Schmerz durchzuckte. „Du bist noch lange nicht über den Berg“, musste er sich Endeavors Tadel anhören, dessen Tonfall im nächsten Moment jedoch schon wieder etwas versöhnlicher klang. „Die Wunde sieht übel aus.“ „Ich habe schon Schlimmeres durchgestanden“, wiegelte Hawks ab. Die Glaubhaftigkeit seiner Worte wurde jedoch durch einen erneuten Schmerzensschauder erschüttert, als er vergeblich versuchte, seine linke Hand mit einer beschwichtigenden Geste zu bewegen. Endeavor ließ sich diesmal offensichtlich nicht von seiner gespielten Unbekümmertheit täuschen. Denn als er weitersprach, bedachte er ihn mit einem strengen Blick, der keine Widerworte zuließ. „Du hast eine Schusswunde direkt unterhalb des Schlüsselbeins. Wäre die Kugel nur zehn Zentimeter weiter unten eingedrungen, könntest du jetzt nicht mehr so lockere Sprüche klopfen. Zudem ist dein Blutverlust besorgniserregend. Also sei dankbar, dass du noch am Leben bist.“ Bei seinen letzten Worten blickte Endeavor ihn aus stechend blauen Augen durchdringend an. Hawks konnte diesem Blick nicht standhalten und wandte ihn zur Seite, wo er auf seinen nur wenige Meter entfernt liegenden Kontrahenten fiel. Er schluckte und der Kloß in seinem Hals drohte ihn zu ersticken, sodass er seine Aufmerksamkeit doch wieder nach vorne richtete. „Krankenhaus?“, fragte Hawks nur, ohne dem anderen in die Augen zu sehen, spürte aber, wie dieser nickte. „Keine zehn Minuten von hier ist eines. Kannst du dich aufrichten?“ Mit Endeavors Hilfe schaffte Hawks es schließlich in eine aufrechte Position und auf die Beine. Hawks klammerte sich mit seiner weniger lädierten rechten Seite an der breiten Hüfte des anderen fest, der ihn unter der linken Achsel stützte. „Was ist mit… ihm?“, quetschte Hawks unter Schmerzen hervor, nicht dazu fähig, Bubaigawaras Namen auszusprechen. „Darum kümmern wir uns… später“, entgegnete Endeavor bloß und setzte sich zusammen mit ihm in Bewegung. Hawks konnte und wollte nicht widersprechen, auch wenn ihn der Gedanke quälte, dass die Leiche seines Gegners hier im Regen unbewacht liegen blieb. Aber er wollte nur noch hier weg. Mit einem letzten Blick zurück wandte er sich ab und folgte Endeavors Führung. Tatsächlich kamen sie nach nicht einmal einer Viertelstunde im Krankenhaus an. Nachdem Endeavor ihn in die Notaufnahme geschleppt und – wie auch immer er das geschafft hatte – vorbei an den anderen Notpatienten vorbeigeschleust hatte, wich er nicht von seiner Seite, während die Ärzte die Kugel entfernten, die Blutung stillten, ihm eine Bluttransfusion verabreichten und schließlich alles fein säuberlich vernähten. Die Stichwunde behandelten sie gleich mit und stellten zum Glück – zumindest vorläufig – keine unangenehmen Fragen. Nachdem der letzte Verband angelegt war und die Ärzte sie mit der Information, er werde gleich auf sein Stationszimmer verlegt, verlassen hatten, erhob sich Endeavor und ging auf die Tür zu. Als er die Türklinke ergriffen hatte, drehte er sich noch einmal um, sein Blick unergründlich. „Damit sind wir quitt.“ „Wie… meinst du das?“, fragte Hawks verwirrt, benommen von den Schmerzmitteln, aber auch irritiert davon, dass der andere ihn offensichtlich so plötzlich verlassen wollte. „Dein Leben für meins. Meine Schuld ist beglichen.“ Mit diesen Worten verließ er den Behandlungsraum und ließ die Tür, ohne sich noch einmal nach Hawks umzusehen, hinter sich ins Schloss fallen. Zwei Wochen vergingen, in denen Hawks weder etwas von Endeavor noch von der Yakuza hörte. Die Ärzte hatten ihm aufgrund seiner zahlreichen Verletzungen und seines hohen Blutverlustes strikte Bettruhe verordnet. Doch bei seinen gelegentlichen heimlichen Streifzügen durch das Krankenhaus bemerkte er, dass er nicht so allein war, wie man ihn glauben machen wollte. An sämtlichen Knotenpunkten, die er beim Verlassen der Klinik hätte passieren müssen, und auch im Sichtbereich seiner Tür lungerten in unregelmäßigem Rhythmus sich abwechselnde Gestalten herum. Seine Wachen waren an sich zwar unscheinbar, ihre Tarnung aber längst nicht perfekt und für Hawks‘ geübtes Auge schnell zu durchschauen gewesen. Hawks vermutete, dass die Wachen Endeavor zu verdanken waren und dass er deswegen bislang keinem Meuchelmörder der Yakuza zum Opfer gefallen war. Und dies, so schloss er aus dessen zweiwöchiger Abwesenheit, nicht aus Sorge um seine Unversehrtheit, sondern da er es nicht zulassen konnte, dass die Yakuza erneut einen wertvollen Informanten ausschaltete, bevor er diesen ausgiebig befragen konnte. Sicher konnte er sich jedoch nicht sein, denn der Rothaarige hatte sich seit seinem raschen Abgang in der Notaufnahme nicht mehr blicken lassen. Nachdem er in den ersten Tagen jedes Mal, wenn jemand vom Personal sein Zimmer betreten hatte, gehofft hatte, es sei Endeavor, war diese Hoffnung mit jedem weiteren vergangenen Tag geschrumpft, bis sich Hawks schließlich eingestand, dass er vergeblich wartete. Den Schmerz und die Enttäuschung verdrängend, hatte er schlussendlich davon abgelassen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was er hätte anders machen können und ob sie überhaupt je eine Chance auf Was-auch-immer gehabt hatten. Doch wenn er nicht über Endeavor nachdachte, übermannten ihn die Ereignisse in der verregneten Gasse, ließen ihn des Nachts schweißgebadet aus dem Schlaf hochschrecken, sofern er überhaupt in den Schlaf gefunden hatte. Wieder und immer wieder spielte sich vor seinem inneren Auge die Szene ab, wie sich er und Twice, die Waffen schussbereit aufeinander gerichtet, gegenüberstanden und schließlich abfeuerten. Schuldgefühle drohten ihn zu überwältigen, denn während er wegen eines Zögern des anderen überlebt hatte, hatte er eiskalt den Abzug gedrückt und seinem Kontrahenten ein Loch in die Stirn verpasst. Wobei, dass Twice ihn nicht im Herz getroffen, sondern sein Ziel knapp verfehlt hatte, konnte auch daran gelegen haben, dass diesem aufgrund seiner abgeschnittenen Fingerglieder die Treffsicherheit gefehlt hatte… Und auch wenn er Twice… Bubaigawara von den anderen Mitgliedern immer am meisten gemocht hatte, hatte er sicher gehen müssen und nicht lediglich einen weniger tödlichen Schuss abgeben können… oder? Zumindest wollte er das gerne glauben, um sich selbst besser zu fühlen. Während seine Gedanken erneut um Bubaigawaras Tod kreisten, öffnete sich plötzlich die Zimmertür. Hawks, der wie immer eine Pflegekraft erwartete und sich nicht die Mühe machte, dieser besondere Beachtung zu schenken, schaute doch auf, als er im Augenwinkel nicht nur die übliche weiße Pflegerkleidung, sondern auch ein Paar bekannter blauer Augen wahrnahm. Sein Herz machte einen kurzen Hüpfer, blieb im nächsten Moment jedoch beinahe stehen, als er hochblickte und sah, wer dort mitten im Zimmer stand, eine Hand lässig in der Hüfte, das Gesicht von einem breiten Grinsen verzerrt. „Lange nicht gesehen, Hawks.“ „Was willst du hier?“, entgegnete Hawks sofort, ohne die Begrüßung zu erwidern und mit einem Zittern in der Stimme, für das er sich innerlich verfluchte. „Jetzt sei doch nicht gleich so abweisend. Immerhin waren wir bis vor zwei Wochen noch… Kollegen“, schnarrte sein ungebetener Gast und trat einen Schritt auf das Bett zu. Hawks spannte sich unweigerlich an, richtete sich noch etwas gerader im Bett auf, jeden Moment einen Angriff erwartend. Doch dieser blieb aus, vorerst. „Was willst du hier, Dabi?“, wiederholte er seine Frage schneidend und war froh, dass die Unsicherheit in seiner Stimme verflogen war. „Und wie bist du hier hereingekommen?“ „Oh, das war gar nicht so schwer“, meinte Dabi amüsiert. „Deine Leibgarde mit den braunen Locken hat ein kleines Blasenproblem und verbringt mehr Zeit auf der Toilette als damit, dein Zimmer zu bewachen. Und mit ihren Klamotten gehen die Pfleger nicht gerade vorsichtig um, sodass es ein Leichtes war, ein Exemplar aus der Umkleide zu stehlen.“ Hawks ließ Dabi nicht aus den Augen, während dieser im Zimmer auf- und abspazierte und schließlich am Fenster stehen blieb, ihm den Rücken zugewandt. „Und was deine andere Frage angeht“, meinte der Schwarzhaarige gedehnt, wobei der bedrohliche Unterton nicht zu überhören war. „Ich soll dir vom Boss Folgendes ausrichten: Draußen bist du ein toter Mann.“ Hawks schluckte, ließ sich ansonsten aber nichts anmerken, da er mit solch einer Ankündigung bereits gerechnet hatte, nur viel früher. „Draußen?“, entgegnete Hawks mit einer Kühnheit in der Stimme, die er selbst gar nicht empfand. „Warum erledigst du die Drecksarbeit für Shigaraki nicht gleich, an Ort und Stelle? Dann seid ihr mich los.“ „Natürlich wäre es ein Leichtes für mich, dir jetzt gleich die Lichter auszuknipsen“, fuhr Dabi ungerührt fort und drehte sich wieder zu ihm um. „Aber wo bliebe da der Spaß? Nein, du hast es nicht verdient, so leicht mit deinem Verrat davonzukommen. Shigaraki will, dass du leidest, und diesem Wunsch werde ich nur allzu gerne nachkommen.“ „Und du bist nur gekommen, um mir das zu sagen? Wenn du nur bezweckt hast, mir mit dieser Ansage Angst einzujagen, dann hättest du dir den Weg sparen können.“ „Mitnichten“, wiegelte Dabi ab, auf dessen Mund sich ein solch gehässiges Grinsen legte, dass sein Gesicht einer Fratze glich. „Aber wenn du glaubst, wir könnten dir nichts anhaben, weil du nichts mehr zu verlieren hast, dann vergisst du die Menschen in deinem Umfeld, die durchaus noch etwas zu verlieren haben…“ Beim letzten Satz brach Dabi in gackerndes Gelächter aus, als er Hawks‘ erbleichtes Gesicht sah, und wandte sich zum Gehen. „Wir sehen uns, Hawks! Und das schneller, als du denken magst“, sagte Dabi zum Abschied, verließ das Zimmer auf dem Weg, den er gekommen war, und ließ Hawks wie versteinert zurück. Knapp eine Woche später verkündeten die Ärzte Hawks, dass er, soweit es ihnen möglich gewesen war, genesen sei und am nächsten Tag entlassen werden könne. Diese Nachricht nahm Hawks mit dem unguten Gefühl entgegen, das ihn seit Dabis unerwünschtem Besuch nicht losgelassen hatte. Von seiner Befürchtung, seinen Kollegen von der Polizei, vor allem Endeavor, könne etwas passieren, hatte er niemandem erzählen können. Sein Handy war ihm abgenommen worden und wann immer er eine seiner Wachen ansprechen wollte, machte diese sich rar. Zumal die Drohung ohnehin zu vage gewesen war, als dass man ihm geglaubt hätte oder vorab Gegenmaßnahmen hätte einleiten können. Zudem wusste er nicht, wo er nach seiner Entlassung bleiben sollte, in seine Wohnung konnte er jedenfalls nicht zurückkehren. Ein allzu leichtes Ziel wollte er der Yakuza immerhin nicht bieten. Gerade als er sich überlegte, für eine Weile vielleicht bei Miruko unterzukommen, klopfte es an seine Tür. Dies war schon verwunderlich genug, kam das Pflegepersonal doch meist unangekündigt zur Tür herein. Doch noch mehr überraschte Hawks die Person, die, mit der Klinke in der Hand, den Türrahmen beinahe komplett ausfüllte. „Endeavor-san!“ Hawks‘ Stimme, auch wenn er sich von seiner Freude nichts anmerken lassen wollte, überschlug sich beinahe, doch der andere teilte seine Euphorie nicht, blickte ihn vielmehr aus ernsten Augen an. „Ich wäre nicht hier, wenn ich eine andere Wahl hätte“, knurrte Endeavor, was Hawks‘ Erwartungen mit einem Schlag dämpfte und er sein Grinsen in sich zusammenfallen spürte. „Was kann ich für dich tun?“, erwiderte er daher mit tonloser Stimme und sah, wie sich eine tiefe Sorgenfalte zwischen Endeavors Augenbrauen bildete. „Ich brauche deine Hilfe. Shouto, mein jüngster Sohn, ist verschwunden.“ Kapitel 14: Bad Son ------------------- Stille legte sich über sie wie ein bleiernes Tuch. Enji musterte Hawks, der den Blick erwiderte, aus dessen Gesicht sich jedoch keine Gefühlsregung ablesen ließ. Es hatte Enji enorme Überwindung gekostet, trotz der Offenbarung des anderen vor drei Wochen diesen nun aufzusuchen, um ihn um Hilfe zu bitten. Er hatte Hawks gerettet, ja. Und das nicht nur aus Pflichtgefühl oder weil er sich hatte revanchieren müssen. Aber das hieß nicht, dass alles so war wie zuvor, dafür war zu viel passiert. Er hatte Hawks’ Gegenwart nicht mehr ertragen können und erst einmal seine Gedanken ordnen müssen. Schlussendlich wurde ihm die Entscheidung, ob er Hawks überhaupt besuchen würde, abgenommen. Denn es stimmte, was er soeben gesagt hatte, er hatte keine andere Wahl. Doch nur weil er jetzt einen Schritt auf Hawks zugehen musste, hatte sich das Chaos in seinem Kopf noch lange nicht gelegt. Noch immer rangen die Emotionen in ihm um die Oberhand; Zweifel, Wut und Enttäuschung auf der einen, Gewissensbisse und Trauer über den Vertrauensverlust auf der anderen Seite. Auch nachdem Hawks gegangen war und er ihn später ins Krankenhaus gebracht und sich sein Gemüt abgekühlt hatte, hatte er Hawks nicht einfach glauben, geschweige denn verzeihen können. Dass er ihn über Monate hinweg hinsichtlich seiner Herkunft belogen und ihre Arbeit sabotiert hatte, wog schwer. Das konnten ein paar nett dahergesagte Worte, selbst wenn sie der Wahrheit entsprechen sollten, nicht aufwiegen. Und daran, dass Hawks die Wahrheit gesagt hatte, hatte er nicht unberechtigte Zweifel, schien Hawks das Lügen doch so leicht zu fallen wie das Atmen. Er musste sich jedoch, wenn auch widerwillig, eingestehen, dass es keinen vernünftigen Grund für Hawks gegeben hatte, ihm doch reinen Wein hinsichtlich seiner Verbindung zur Yakuza einzuschenken, nachdem er ihm bereits eine glaubhafte Lüge zur Herkunft seines Tattoos aufgetischt hatte. Dass Hawks ihm dennoch die Wahrheit gesagt hatte, sprach trotz aller entgegenstehenden Umstände für dessen Ernsthaftigkeit. Ob er tatsächlich geläutert war und der Yakuza den Rücken gekehrt hatte – und das nicht nur, weil ihm nun keine andere Wahl mehr blieb –, würde sich aber noch zeigen müssen. Und doch, das, was sich an Vertrauen zwischen ihnen über all die Zeit hinweg aufgebaut hatte, konnte er ebenso wenig ignorieren. Selbst wenn vieles nur unter einem Deckmantel von Lügen geschehen war, so hatte sich Hawks in brenzligen Situationen doch als verlässlicher Kamerad erwiesen. Zudem konnte er ihm nicht vergessen, dass er ihm das Leben gerettet hatte, ganz gleich unter welchen Umständen. Und dann war da dieses Undefinierbare zwischen ihnen, das schließlich durch den Kuss an die Oberfläche gedrungen und zu etwas Greifbarem geworden war. Etwas, das, so egoistisch das in den Ohren mancher klingen mochte, er für sich selbst nicht so einfach aufgeben wollte… oder konnte. Diese vage Hoffnung auf etwas, das er sich selbst seit Jahren nicht mehr zugestanden hatte, war der Grund dafür, dass Enji in der Notlage, in der er sich nun befand, über seinen Schatten gesprungen und auf Hawks zugegangen war. Er würde ihm die Gelegenheit geben, seine Behauptungen zu beweisen. Ob Hawks diese zweite Chance nutzen würde, lag jedoch allein in seiner Hand. „Dein Sohn ist verschwunden?“, durchbrach Hawks schließlich die scheinbar endlos andauernde Stille, zuckte mit den Schultern. „Was habe ich damit zu tun?“ Enji konnte die Bitterkeit in den Worten des anderen und auch, dass dieser nicht sofort voller Tatendrang aufsprang und ihm seine Hilfe zusicherte, verstehen. Um den anderen zur Mithilfe zu bewegen, hatte er, das musste er einsehen, den falschen Ton gewählt, in dem er sein Anliegen unterbreitet hatte. „Shouto ist vor fünf Tagen nicht von der Schule zurückgekehrt“, erklärte Enji daher in weniger schroffem Ton als zuvor und setzte sich auf den Stuhl neben Hawks‘ Bett. „Ich habe die starke Vermutung, dass die Yakuza dahintersteckt. Denn als ich nach der Arbeit nach Hause kam, fand ich einen Zettel an meiner Haustür vor, auf dem lediglich stand ‚Du weißt wofür.‘“ „Du weißt wofür?“, hakte Hawks, immer noch wenig interessiert, nach. „Ich denke, dass die Liga – wie damals – meinen Sohn als Denkzettel für das Geschehen in und nach der Pachinko-Halle und als Warnung, ihr mit meinen Ermittlungen nicht weiter in die Quere zu kommen, entführt hat.“ „Warum kommst du deswegen zu mir?“, fragte Hawks gleichgültig und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Das klingt nach einem Fall für die Polizei.“ „Die konnte nicht helfen und hat ihre Suche mangels weiterer Spuren vorläufig eingestellt“, brummte Enji verstimmt. „Daher bin ich hier.“ „Tut mir leid, aber ich weiß auch nicht, wo dein Sohn ist“, gab Hawks so prompt zurück, als sei für ihn das Thema damit beendet. „Nun“, setzte Enji erneut an. „Ich dachte, als Mitglied der Yakuza würdest du –“ „Willst du mir unterstellen, ich hätte etwas mit der Entführung deines Sohnes zu tun?“, unterbrach Hawks ihn bissig und funkelte ihn zornig an. „Ich habe dir schon gesagt, dass ich nicht mehr für die Liga arbeite. Und glaubst du, sie würden mich weiterhin in ihre Pläne einweihen, nachdem sie mich vor nicht einmal drei Wochen zu erschießen versucht haben?!“ Enji verstummte, überrascht von dem Ausbruch des Jüngeren, wo dieser doch sonst stets beherrscht und fast schon vorwitzig war. Seine Gewissensbisse, an Hawks‘ behaupteter Kehrtwende gezweifelt zu haben, nagten an ihm. Denn es schien, als würde Hawks, wenn er derart impulsiv reagierte, sich nicht wieder hinter Lügen verstecken, sondern tatsächlich die Wahrheit sagen. Dennoch konnte er nicht leugnen, dass Hawks am Verschwinden seines Sohnes nicht ganz unschuldig war. „Um ehrlich zu sein…“, setzte er nach einer kurzen Pause langsam an. „Ich denke, dass die Yakuza sich nicht auf diese Weise hätte rächen wollen, wenn ich ihr bei ihrem Vorhaben, dich zu töten, nicht in die Quere gekommen wäre.“ „Du bereust es also, mich gerettet zu haben?“, fragte Hawks tonlos und starrte ihn mit leerem Blick an. Enji stutzte, da ihn die Frage überrumpelte. Bereute er, dass Hawks für den Preis der Freiheit seines Sohnes noch am Leben war? Natürlich würde er alles dafür geben, dass sein Sohn nicht entführt worden wäre… Aber Reue wegen eines geretteten Menschenlebens… besonders dasjenige einer Person, die ihm etwas bedeutete, war ein schwerwiegendes Wort. „Ich verstehe“, murmelte Hawks, der aus seinem Schweigen wohl entsprechende Schlüsse gezogen hatte, und senkte den Blick. „Nein, du verstehst nicht!“, widersprach Enji sofort und verfluchte sich für sein erneut mangelndes Taktgefühl. „Ich habe die Entscheidung getroffen, dir nach deinem Duell mit dem anderen Yakuzamitglied zu helfen und dich vor weiteren Zugriffen der Liga zu schützen. Wenn jemanden die Schuld an Shoutos Verschwinden trifft, dann ist es meine.“ Hawks hob den Kopf und sie schauten sich eine Weile direkt in die Augen, ehe der Jüngere die Stille brach: „Du trägst ebenso wenig die Schuld am Verschwinden Shoutos wie an der Entführung deines anderen Sohnes. Allein die Yakuza ist dafür verantwortlich und ganz gleich, was du oder ich tun oder lassen würden, sie würden doch ihren Willen durchsetzen.“ In Hawks‘ Stimme schwang so viel Bitterkeit und ehrliche Anteilnahme mit, dass es Enji schwerfiel, in Selbstmitleid zu verfallen und nicht doch ein wenig Trost in seinen Worten zu finden. „Hawks, ich…“, begann Enji und kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals an, doch Hawks unterbrach ihn. „Ich helfe dir, deinen Sohn zu finden. Ich habe auch schon eine ziemlich gute Ahnung, wer dahinterstecken könnte.“ „Hast du?“, fragte Enji und Erleichterung überkam ihn. „Und wie?“ „Dabi, ein schwarzhaariges Yakuzamitglied, hat mir wenige Tage vor Shoutos Entführung einen… nun ja, Krankenbesuch abgestattet, bei dem er meinen baldigen Tod ankündigte und eine Drohung gegenüber mir nahestehender Personen aussprach.“ „Eine Drohung?“, erwiderte Enji überrascht. „Was hat er angedroht? Und wieso hast du das niemandem gemeldet?“ „Es war ja nicht so, als hätte ich dich sonderlich gut erreichen können“, konterte Hawks und bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick, unter dem Enji beinahe zusammenschrumpfte. Okay, Punkt für Hawks. Enji grummelte daher nur etwas Unverständliches, was Hawks anscheinend als Antwort reichte, da er etwas versöhnlicher lächelte. „Jedenfalls war die Drohung nur äußerst vage, hat sich weder auf eine bestimmte Person noch Art und Weise, Zeit oder Ort bezogen.“ Enji, der sich von Hawks‘ Informationen mehr erhofft und gespannt vorgebeugt hatte, ließ sich frustriert zurück in den Stuhl sinken. „Also fangen wir bei Null an.“ „Nicht unbedingt“, widersprach Hawks und da war es wieder, sein schelmisches Lächeln, das Enji, wie er gerade erst merkte und widerwillig zugeben musste, auf gewisse Weise doch vermisst hatte. „Zumindest können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Dabi in die Entführung involviert ist. Und auch wenn er sich für besonders schlau und uns überlegen hält, so hat er uns mit seiner Drohung schon mehr verraten, als er ahnen mag.“ „Tatsächlich?“, fragte Enji skeptisch. Denn auch wenn er Hawks zweifelsohne aus dem Grund um Hilfe gebeten hatte, dass dieser Einblicke in die Gedankengänge und Planungsweisen der Yakuza hatte, die ihm verwehrt blieben, so hatte er doch nicht damit gerechnet, dass der Jüngere aus derart wenigen Anhaltspunkten wertvolle Informationen ziehen konnte. „Warte es nur ab“, zwinkerte Hawks ihm zu. „Du wirst schon sehen.“ Am nächsten Tag traf Enji am vereinbarten Treffpunkt ein und fragte sich nicht zum ersten Mal, was er hier eigentlich machte. Hawks, der am Morgen aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte ihm vor wenigen Stunden lediglich mitgeteilt, wann und wo er sich einfinden sollte. Missbilligend ließ Enji den Blick über die Umgebung schweifen. Normalerweise mied er diese Ecke Tokyos, war sie ihm doch zu laut, zu schrill und vor allem viel zu voll. Was sie also gerade nach Harajuku, dem Mekka für Tokyos Jugend und alle, die sich für Mode, Cosplay und generell Ausgefallenes interessierten, verschlug, erschloss sich ihm nicht. Er glaubte nämlich kaum, dass die Yakuza Shouto in einer der Boutiquen oder Purikura-Automaten-Läden versteckte… Aber Hawks, der auf seine Skepsis hin lediglich geheimnistuerisch gezwinkert hatte, würde sich schon etwas dabei gedacht haben… so hoffte er. Nach fünfzehn Minuten, die er am Bahnhof Harajuku, direkt gegenüber dem Eingang zur Takeshita-dōri, gewartet und bereits die ersten irritieren Blicke von Passanten geerntet hatte, tauchte endlich auch Hawks auf, ein entschuldigendes Lächeln um die Mundwinkel. „Sorry, ich bin zu spät!“, keuchte er, als er vor ihm zum Stehen kam und sich die Seite hielt. „Bin immer noch nicht so fit, wie ich gerne wäre.“ „Schon gut“, tat Enji die Entschuldigung ungeduldig ab, obwohl er lieber jetzt als gleich seinen Sohn aus den Klauen der Yakuza befreit hätte. „Wohin müssen wir?“ „Nicht so ungeduldig, Boss“, meinte Hawks schmunzelnd. Enji stolperte über die gewählte Anrede. Hawks ging doch nicht wirklich davon aus, dass er nach seiner Offenbarung so einfach bei der Polizei weitermachen könnte? Was Hawks nicht wusste und auch erst einmal nicht erfahren musste, war jedoch, dass er sein Geheimnis zunächst noch für sich behalten und nicht einmal Yagi eingeweiht hatte. Anders wäre der Schutz, der Hawks im Krankenhaus gewährt worden war, mit Sicherheit von der obersten Führung abgelehnt worden. Ein Polizeibeamter, der von der Yakuza angegriffen wird, hatte schließlich einen ganz anderen Stellenwert als ein abtrünniges Yakuzamitglied, das sich bei der Polizei eingeschleust hatte, um diese zu infiltrieren, Informant hin oder her. Davon, dass Hawks, sollte er bereits jetzt unmittelbar mit dem Tod des erschossenen Mannes in Verbindung gebracht werden, nicht im Krankenhaus, sondern direkt in Untersuchungshaft landen und ihm auf diese Weise nicht mehr nützlich sein würde, gar nicht erst angefangen… unabhängig davon, dass er höchstwahrscheinlich in Notwehr gehandelt hatte. „Unser Ziel ist auch gar nicht weit weg“, fuhr der Jüngere fort und deutete in Richtung des Waldes, der sich hinter dem Bahnhof erstreckte. „Shouto wird im Meiji Jingu Gyōen festgehalten?“, fragte Enji, der seine Skepsis nicht verbergen konnte. „So meine Vermutung, ja.“ „Vermutungen reichen uns hier nicht, Hawks“, grollte Enji und zweifelte einmal mehr an seiner Entscheidung, nicht doch die Polizei hinzuzuziehen. Aber mit den lediglich vagen Informationen, die ihnen zur Verfügung standen, hatte er von dieser keine Hilfe erwarten können. „Ich erkläre es dir, wenn wir drinnen sind“, vertröstete ihn Hawks und machte eine auffordernde Geste in Richtung des bewaldeten Parks, der Enji, weiterhin verstimmt darüber, dass er im Unklaren gelassen wurde, brummend nachkam. Der Eingang zum Park war durch ein imposantes Torii markiert, hinter dem sich ein breiter Schotterweg entfaltete, der zu beiden Seiten von Pflastersteinen eingerahmt wurde. In der nahenden Dämmerung, in der die hohen Bäume das letzte Tageslicht schnell verschluckten, war der Park glücklicherweise nicht mehr allzu gut besucht. Hawks und Enji hielten sich auf der linken Pflasterung – der Schotterweg in der Mitte war den Göttern vorbehalten – und passierten schließlich die Sammlung gespendeter Sakefässer, als Hawks wieder das Wort erhob. „Ich weiß nicht viel über Dabi“, gab er zu. „Aber er hat einen Hang zu Feuer und reißt häufiger Witze darüber, dass er gerne mal einen Stadtpark abfackeln wolle – wobei ich nicht weiß, ob er diese nicht doch ernst meint. In einem Nebensatz hat er auch einmal erwähnt, dass es in seiner Vergangenheit ein großes Feuer in einem Wald gegeben habe. Und da der Meiji Jingu Gyōen der einzige Stadtpark mit Waldcharakter im Zentrum Tokyos ist, in dem sich eine entführte Person auch gut festhalten lässt, sagt mir mein Gefühl, dass wir hier richtig sind.“ Sie durchschritten ein weiteres Torii und betraten den Hauptplatz vor dem Schrein, der bereits in die beginnende Dunkelheit gehüllt, nur von wenigen Laternen beleuchtet und menschenleer war. „Dann hoffen wir mal, dass dein… Gefühl uns nicht im Stich lässt“, knurrte Enji, dem die Begründung etwas weit hergeholt schien. „So, wie du mich im Stich gelassen hast, Vater?“ Enji und Hawks wirbelten herum, überrascht davon, dass sich ihnen jemand unbemerkt von hinten genähert hatte. Vor ihnen, halb im dämmrigen Licht verborgen, stand ein junger, schlanker Mann mit rabenschwarzem Haar, von dessen Gesicht durch sein breites Grinsen nur die weiß aufblitzenden Zähne zu erkennen waren. „Ihr seid also gekommen, sehr schön“, fuhr der Schwarzhaarige fort und jagte mit seiner schaurig klingenden Stimme Enji einen Schauer über den Rücken. War dieser Kerl etwa Dabi? „Wer bist du? Zeige dich!“, forderte Enji in Befehlston, was dem anderen jedoch nur ein gackerndes Lachen entlockte. „Wer ich bin?! Erkennst du mich etwa nicht, Vater? Ich bin es, dein verschollen geglaubter Sohn!“ Die Aussage verwirrte Enji nur noch mehr und gerade, als er ihrem Gegenüber an den Kopf werfen wollte, woher er von Touya wisse und dass er mit ihnen nicht solche Spielchen treiben solle, trat der Schwarzhaarige einen Schritt nach vorne ins Licht. Enji erschrak ob des über und über mit Tätowierungen übersäten Gesichts, jedoch noch mehr, als er dem anderen in die Augen blickte. Augen, so stechend blau wie die seinen, jedoch mit einem derart wahnsinnigen Ausdruck, dass er ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Touya?“, fragte er vorsichtig, nicht sicher, ob seine Augen ihm einen Streich spielten und ob er die Wahrheit, sollte es eine geben, überhaupt ertragen konnte. „Gut erkannt, Vater! Willst du deinen geliebten Sohn nicht in die Arme schließen?“ Enji, der wie vom Donner gerührt auf der Stelle verharrte, weder zu einem sinnvollen Gedanken noch zu einer Bewegung imstande, sah aus dem Augenwinkel, wie Hawks, der sich bisher zurückgehalten hatte, nunmehr einen Schritt vor trat. „Lass den Scheiß, Dabi“, knurrte er bedrohlich und baute sich vor ihm auf. „Gib uns den Jungen und wir überlegen vielleicht, dich unbehelligt laufen zu lassen.“ „Ich glaube kaum, dass ihr in der Position seid, um Forderungen zu stellen, Hawks“, höhnte Dabi. „Vielmehr bin ich derjenige, nach dessen Pfeife ihr tanzt, und das, seitdem ihr den Park betreten habt.“ „Wie meinst du das?“, fragte Hawks betont lässig, wollte sich seine offensichtliche Verwirrung wohl nicht anmerken lassen. „Meinst du etwa, es sei Zufall gewesen, dass ich dir im Krankenhaus den Hinweis auf ein baldiges Ereignis mit meiner Beteiligung gegeben habe? Und dass ich nicht wüsste, dass du dabei gewesen bist, als ich in der Runde von dem Waldbrand in meiner Kindheit erzählt habe, als mich Twice nach der Herkunft meiner Verbrennungsnarben gefragt hat?“ Enji blickte verwirrt von einem zum anderen, wusste schon längst nicht mehr, was er denken, geschweige denn fühlen sollte. War Dabi tatsächlich Touya, sein ältester Sohn, den er vor so langer Zeit auf tragische Weise an die Yakuza und, so glaubte er, an die Flammen, die einer der Entführer entfacht hatte, verloren hatte? Hatte er ihnen eine Falle gestellt? Wo war dann Shouto? Und was wusste Hawks, dem er immerhin die Geschichte seines verschwundenen Sohnes erzählt hatte, darüber? Unsicher, was als Nächstes geschehen würde und was er tun oder sagen sollte, starrte er in seiner Machtlosigkeit Hawks an, hoffte, dass dieser die Situation auf welche Weise auch immer, klären würde. Er sah, wie Hawks, offensichtlich ebenso irritiert wie er selbst, schwer schluckte, sich aber schließlich wieder fing. „Du hast uns also eine Falle gestellt und absichtlich hierher gelockt“, fasste der Blonde Dabis Worte zusammen, was diesem ein weiteres Grinsen entlockte. „Warum der ganze Aufwand? Und wo ist Shouto?“ „Offensichtlich nicht hier“, gackerte Dabi und machte eine ausschweifende Geste. „Aber wo, das verrate ich euch natürlich nicht. Das hier ist meine ganz persönliche Rache… an dir, Hawks, für deinen Verrat und an meinem Vater.“ „Hör auf mit den Lügengeschichten, Dabi!“, forderte Hawks und warf Enji einen – zumindest machte es den Anschein – besorgten Blick zu, als hoffe er, er würde sich von Dabi keinen Bären aufbinden lassen. „Wie soll Endeavor-san bitteschön dein Vater sein? Und was mich angeht, das klären wir wie Männer, also halt die Todorokis da raus!“ „Schon gut, Hawks“, fand Enji schließlich seine Stimme wieder, während er nicht den Blonden, sondern Dabi fixierte, eine Entscheidung getroffen hatte. „Ich glaube, er sagt die Wahrheit.“ „Hast du mich doch endlich erkannt, alter Mann? Ich weiß, unter all der Tinte bin ich vielleicht schwer zu erkennen. Aber irgendwie musste ich die Narben von den Verbrennungen, die ich wegen deines Versagens als Vater davongetragen habe, ja überdecken.“ „Touya, ich… es…“, stammelte Enji, doch Dabi unterbrach ihn mit höhnischem Gelächter. „Deine lahmen Entschuldigungen, die du wahrscheinlich nicht einmal selbst glaubst, kannst du dir sonst wohin stecken! Als die Yakuza mich vor fünfzehn Jahren entführt hat, habe ich jeden Tag gehofft, dass du doch noch kommen und mich retten wirst. Doch mit der Zeit begriff ich, dass dieser Tag nie kommen würde, du mich im Stich gelassen, vielleicht sogar schon vergessen hast… Immerhin hattest du ja noch andere Kinder, allen voran Shouto, der als einziges Kind endlich so geworden war, wie du es dir gewünscht hast. Die Yakuza hingegen hat mich mit offenen Armen aufgenommen und als sie merkten, wie viel Talent ich hatte, in ihrem Sinne ausgebildet. Aufgrund meiner Entstellungen hatten sie mich ohnehin nicht, wie die anderen entführten Kinder, gewinnbringend verkaufen können, also behielten sie mich. Solange ich gehofft hatte, dass du mich doch noch aus ihren Fängen befreist, hatte ich kein leichtes Leben bei der Liga. Doch nach ein paar Jahren und nachdem ich wusste, dass ich dir mittlerweile egal sein musste, habe ich die Arbeit für sie zu schätzen gelernt und bin freiwillig bei ihnen geblieben, als ich vor die Wahl gestellt wurde.“ „Aber… warum?“, fragte Enji, in dessen Kehle sich ein Kloß gebildet hatte, heiser. „Warum bist du nicht nach Hause zurückgekehrt, als du die Chance hattest?“ „Nach Hause?!“, blaffte Dabi. „Die Yakuza ist mein Zuhause, meine Familie, nicht der kaputte Haufen, mit dem ich zufälligerweise das Blut teile. In ihrem Namen kann ich foltern und töten, wie es mir beliebt, ohne dass ich jemandem Rechenschaft ablegen muss. Und wenn ich dir, werter Vater, damit eine Qual bereiten kann, dann ist das nur umso mehr Entlohnung für mich.“ Nach dieser Offenbarung stand Enji wie versteinert da, wusste nicht, wie er hierauf reagieren sollte. Sein ältester Sohn war, zunächst aufgrund seiner eigenen Unzulänglichkeit, ihn zu beschützen, und später aus eigenen Stücken zur Yakuza übergelaufen, hatte auf ihren Geheiß hin geplündert und gemordet, ohne mit der Wimper zu zucken. Das war schlimmer als alles, was er sich als Schicksal für seinen Sohn jemals hatte vorstellen können… schlimmer als alles, was er Hawks vorwerfen konnte, der immerhin keine Freude an dem zeigte, was er für die Yakuza hatte tun müssen. Es war alles nur so weit gekommen, weil er als Vater… als Polizist versagt hatte… Doch daran konnte er nun nichts mehr ändern. Dennoch pochte eine quälende Frage in seinem Hinterkopf, die er an Hawks richtete. „Wusstest du davon?“ „Dass er dein Sohn ist?“, wollte Hawks wissen und schüttelte den Kopf. „Als ich dich kennengelernt und von der Geschichte deines Sohnes erfahren habe, habe ich zwar schon eine gewisse Ähnlichkeit zwischen euch gesehen. Ich habe ihn aber nie konkret mit dir in Verbindung gebracht, insbesondere, da es im Grunde nie vorkommt, dass entführte Kinder bei der Yakuza selbst aufgenommen werden. Das nicht weiter zu hinterfragen, war mein Fehler. Tut mir leid.“ Hawks‘ Worte klangen so ehrlich und er schaute ihm dabei so direkt in die Augen, dass in Enji keinerlei Zweifel an seiner Aufrichtigkeit aufkamen. Er nickte daher nur und wandte sich dann wieder an Dabi, die Schultern gestrafft. „Was geschehen ist, bereue ich, kann es jedoch nicht mehr ändern, so gerne ich das auch täte. Ich kann aber deine Taten im Namen der Yakuza weder gutheißen noch kann ich dich, nur weil du mein Sohn bist, unbehelligt davonkommen lassen. Wir werden dich daher verhaften müssen. Du hast die Wahl: Entweder du stellst dich freiwillig oder es wird ungemütlich.“ „Ungemütlich?“, lachte Dabi aus vollem Halse. „Du überschätzt deine Fähigkeiten, alter Mann.“ „Vielleicht“, gab Enji zu und blickte Hawks vielsagend an. „Aber du unterschätzt seine.“ Wie auf Kommando sprintete Hawks los, doch damit schien Dabi gerechnet zu haben, denn er machte einen Schritt zur Seite und entkam so Hawks‘ direktem Angriff. Den nächsten gezielten Faustschlag konterte der Schwarzhaarige mit der Außenseite seines Unterarms und setzte gleichzeitig dazu an, Hawks‘ Beine wegzutreten. Dieser wich dem anderen jedoch aus und drehte sich zeitgleich um die eigene Achse, um Dabi von hinten in den Schwitzkasten zu nehmen. Aber auch diesem Manöver kam Dabi zuvor, indem er Hawks an beiden Handgelenken zu packen kriegte. „Mehr hast du nicht drauf?!“, höhnte Dabi und entblößte seine Zähne. Hawks antwortete nicht, sondern grinste nur und verpasste just in der Sekunde, in der Dabi nicht aufpasste, diesem einen Schlag mit der Stirn gegen den Kopf. Während Dabi zurücktaumelte und dadurch Hawks‘ Arme losließ, sah Enji, wie er etwas aus seinem Hosenbund hervorholte. Noch ehe Hawks realisieren konnte, was sein Gegner in der Hand hielt, hatte dieser die Waffe bereits entsichert und zielte damit auf den auf ihn zustürmenden Blonden, der keine Chance hatte zu reagieren. „Hawks!“, rief Enji, obwohl er wusste, dass sein Ausruf den Jüngeren auch nicht aus der Schussbahn bringen würde. Gleichzeitig riss er seine eigene Waffe, die er im Anschlag gehalten hatte – sie wollten Dabi nicht töten, lediglich festnehmen – hoch, und, innerlich mit sich ringend, schoss nach einem kurzen Moment des Zögerns. Die Kugel traf ihr Ziel und mit einem Schmerzensschrei flog Dabi die Pistole aus der Hand, in deren Handrücken nunmehr ein kreisrundes Loch klaffte. „Du schießt auf mich, Vater?!“, rief Dabi vor Überraschung und in schmerzverzerrter Wut aus und warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. Diese Sekunde war alles, was Hawks brauchte, um Dabi zu Fall zu bringen, ihn am Boden zu fixieren und seine Arme hinter den Rücken zu biegen. Enji entging dabei nicht, dass sich Hawks die Wunde in der Hand des anderen zunutze machte, indem er diese, sobald Dabi sich zu wehren begann, drückte, um den anderen unter Kontrolle zu halten. Enji eilte zügigen Schrittes hinzu und legte seinem Sohn die Handfesseln auf dem Rücken an, ehe er begann, seine Taschen nach gefährlichen Gegenständen abzusuchen. Tatsächlich wurde er schnell fündig, förderte ein Benzinfeuerwerk zu Tage, mit dem es ein Leichtes gewesen wäre, einen Waldbrand anzufachen, und hielt es Dabi unter die Nase. „Ich schätze, das hier wirst du für eine ganze Weile nicht wiedersehen“, sagte Enji an Dabi gewandt, was dieser jedoch lediglich mit einem abfälligen Schnauben und einem noch gehässigeren Blick in Hawks’ Richtung quittierte. Kapitel 15: Bad Ending ---------------------- „Und du bist dir sicher?“ „Ja.“ Enji erwiderte Yagis Blick mit solch fester Entschlossenheit, dass der Blonde schließlich nachgab und mit den Schultern zuckte. „Wie du meinst, Todoroki-san. Ich kann deine Beweggründe natürlich verstehen, als Vater nicht den Anschein von Voreingenommenheit zu erwecken. Aber als derjenige, der den Fall leitet und die Festnahme vollzogen hat, würde eigentlich dir das Fragerecht zustehen…“ „Schon gut“, wiegelte Enji mit einer schroffen Handbewegung ab. „Solange ich mir selbst nicht sicher bin, ob ich meinem abtrünnigen Sohn für seine Taten lieber den Hals umdrehen oder mich für das, was aus ihm geworden ist, ständig entschuldigen möchte, ist es besser, wenn du die Vernehmung durchführst.“ „Hawks-kun hat in der Sache selbstverständlich ebenso seinen Beitrag geleistet. Es könnte auch er –“ „Nein!“, unterbrach Enji ihn barsch, was Yagi mit einem verdutzten Blick quittierte. „Ich verstehe schon, dass Dabi gegenüber demjenigen, der seine Festnahme herbeigeführt hat, möglicherweise weniger gesprächsbereit ist“, lenkte Yagi ein. „Aber bei der Vernehmung Musculars hat Hawks-kun seine Fertigkeiten bewiesen. Meinst du nicht, er könnte diesmal nicht ebenso Erfolg haben?“ „Nein“, widersprach Enji kopfschüttelnd und diesmal in weniger aggressivem Ton. „Ich halte es für das Beste, wenn die Vernehmung durch eine neutrale Person durchgeführt wird.“ Dass es nicht sonderlich klug wäre, Hawks aufgrund von Dabis Rachsucht wegen seines Verrats bei der Vernehmung die Leitrolle zu überlassen, musste Yagi an dieser Stelle nicht wissen. Vorerst zumindest. Zudem befürchtete er, dass Hawks’ Vergangenheit bei der Yakuza eher Dabi in die Hände spielen und dieser Hawks hinterher doch wieder die Seiten wechseln lassen würde. Seine Zweifel an Hawks’ Aufrichtigkeit hatte er nämlich trotz aller Geschehnisse im Park nicht gänzlich ablegen können. Yagi schloss für einen kurzen Moment resigniert die Augen und nickte schließlich. „Wie du meinst. Ich werde die Vernehmung Dabis übernehmen. Hoffen wir, dass ich brauchbare Hinweise zur Rettung deines jüngsten Sohnes aus ihm herausbekommen kann.“ „Sicher“, brummte Enji lediglich kurz angebunden, hasste er es doch, wenn sein Chef und ewiger Rivale mit falscher Bescheidenheit sein polizeiliches Können derart unter den Scheffel stellte. Immerhin war Yagi, so ungern er es auch zugab, ein Meister seines Fachs und hatte bisher noch jede Information aus den Befragten herausquetschen können, so verbissen sich diese auch dagegen sträubten. Andernfalls hätte er eine so wichtige Aufgabe auch nicht Yagi überlassen, wenn er nicht wüsste, dass sein Chef ihre beste Chance war, seinen jüngsten Sohn wohlbehalten wiederzubekommen. Mit Ausnahme seiner selbst natürlich, aber er hatte nicht untertrieben, als er Yagi von seinen widersprüchlichen Gefühlen berichtet hatte. Der Schock, seinen verschollenen Sohn nach all den Jahren wiederzusehen und zu erkennen, was aus ihm geworden war, saß noch tief, die Wunden zu frisch, als dass er sich sicher sein konnte, seine Beherrschung bewahren zu können. Bereits auf dem Weg hierher, auf dem sich Dabi trotz seiner Fesselung mit Händen und Füßen gewehrt hatte, hatte er es lieber Hawks überlassen, diesen in seine Schranken zu weisen. Er selbst hatte in der Zeit, die sie durch den Wald zurück zum Eingang brauchten, die Kollegen verständigt, die Dabi in Empfang genommen und auf der Wache in eine Zelle gesperrt hatten, in der er seitdem wütete und tobte. Selbst jetzt und fünf Zimmer weiter, am anderen Ende des Ganges, hörte man das unablässige Gebrüll des Schwarzhaarigen, der sich offensichtlich nicht zu beruhigen gedachte. Ein schwieriger Fall, selbst für jemand Geübten wie Yagi. „Viel Erfolg“, fügte Enji noch hinzu und signalisierte dem anderen dadurch das Ende des Gesprächs. Ehe er sich abwenden und den Raum verlassen konnte, überraschte Yagi ihn, indem dieser ihm väterlich seine Hand auf die Schulter legte und sein für ihn typisches siegessicheres, zähneblitzendes Lächeln aufsetzte. „Das wird schon“, meinte er mit solch überzeugender Zuversicht in der Stimme, als ob er selbst keinen Zweifel daran hatte. Dass Yagi ihn dabei förmlich anstrahlte, ließ Enji sich nicht gerade wohler fühlen, sodass er lediglich ein unbestimmtes Brummen von sich gab und sich dann abwandte. Nicht jedoch, ohne sich zu fragen, wen bzw. was genau Yagi mit seiner Aussage überhaupt meinte. Auch wenn Enji die Befragung seines Sohnes weder selbst durchführen noch in Hawks’ Hände geben wollte, wollte er dieser dennoch beiwohnen. Immerhin war es sein Fall und sein Sohn, der von der Yakuza entführt worden war. Als er den Raum, der durch eine verspiegelte Scheibe mit dem Vernehmungszimmer verbunden war, betrat, wunderte es ihn daher nicht, dass er nicht der Einzige war, der sich für den Ausgang der Vernehmung interessierte. „Morgen, Endeavor-san!“, begrüßte ihn Hawks mit erhobener Hand und zwinkerte ihm zu, bevor er ihm einen Stuhl hinschob, der direkt neben seinem und in direkter Blickrichtung zum Vernehmungsraum stand. „Ich habe dir einen Platz freigehalten.“ „Morgen“, erwiderte Enji weit weniger enthusiastisch als der Blonde, ließ sich aber dennoch auf dem ihm angebotenen Stuhl nieder. „Gut geschlafen?“, fragte Hawks, der nicht danach aussah, als hätte er überhaupt eine Mütze voll Schlaf abgekriegt, sodass Enji die Frage als rein rhetorisch abstempelte. „Wenig“, kommentierte er daher nur kurz angebunden, was Hawks mit einem schiefen Grinsen quittierte. „Ich auch gar nicht. Was nicht nur daran lag, dass sich mein Bürotisch nicht so gut für ein Nickerchen eignet – ein richtiges Bett habe ich ja nicht mehr, sondern…“ Hawks verstummte, als sich die Tür zum Vernehmungsraum öffnete und zwei bullige Wachmänner den trotz seiner Fesseln um sich schlagenden und tretenden Gefangenen hineinführten. Hawks und er beobachteten gebannt, wie die Wachen, die solches Verhalten offensichtlich gewohnt waren und sich nicht aus der Ruhe bringen ließen, Dabi mitsamt seiner Fesseln an dem Tisch befestigten und mit sanfter Gewalt auf den dahinter befindlichen Stuhl drückten. Nachdem die Wachen den Raum verlassen und Dabi allein zurückgelassen hatten, tobte dieser noch eine ganze Weile. Nach etwa zehn Minuten, in denen sich die Handfesseln immer mehr in sein Fleisch gegraben hatten, wurde er schließlich ruhiger, sah wohl ein, dass sein Verhalten ihm nur selbst Schmerzen zufügte. Völlig entspannt und mit einem Lächeln im Gesicht trat weitere fünf Minuten später Yagi ein, der sich Dabi gegenüber auf einem Stuhl niederließ. „Guten Morgen, Dabi. Oder soll ich dich lieber Touya nennen?“, begrüßte Yagi den anderen freundlich, der von dem warmherzigen Tonfall sogleich provoziert wurde. „Steck dir deinen guten Morgen sonst wohin“, fauchte er und ruckelte erneut an den Handfesseln, die sich jedoch keinen Millimeter bewegten. „Und Touya ist tot. Mein Name ist Dabi!“ „Nun gut, also Dabi“, entgegnete Yagi so ruhig wie zuvor, nickte einmal mit dem Kopf. „Mein Name ist Yagi und ich würde dir gerne ein paar Fragen stellen.“ „Stelle mir so viele Fragen, wie du willst. Antworten wirst du von mir keine erhalten“, konterte Dabi mit einem gehässigen Grinsen auf den Lippen. „Denn wenn ihr glaubt, ich würde die Yakuza so leicht verraten wie euer blonder Freund da hinter der Scheibe, dann habt ihr euch gehörig geschnitten!“ Enji sah, wie Yagi einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel in ihre Richtung warf. Yagi war jedoch professionell genug, um auf solch eine Provokation seines Gegenübers nicht einzugehen und sie vielmehr zu ignorieren. Er kannte seinen Rivalen jedoch lange genug, um zu wissen, dass er ihm im Nachgang eine Erklärung schuldig wäre. Auch Hawks zuckte kurz bei seiner Erwähnung zusammen, ließ sich ansonsten aber nichts anmerken. Da er bislang weder festgenommen noch sonst auf seine Vergangenheit angesprochen worden war, konnte er sich mittlerweile bestimmt selbst zusammenreimen, dass Enji bislang niemandem etwas von seinem doppelten Spiel erzählt hatte. Selbstredend musste Hawks jedoch bewusst sein, dass die Wahrheit früher oder später ans Licht kommen würde… kommen musste. „Andere Personen tun hier nichts zur Sache“, führte Yagi die Befragung fort, als sei es nie zu einer Unterbrechung gekommen. „Jetzt stehst allein du im Mittelpunkt. Du genießt es doch, wenn alle Aufmerksamkeit auf dir ruht, nicht wahr?“ „Ihr wisst gar nichts über mich!“, platzte es aus Dabi heraus. Doch Yagi lächelte nur unentwegt, hatte genau die Reaktion von Dabi erhalten, die man sich als Vernehmungsperson wünschte. „Dann kläre mich gerne auf. Erzähle mir etwas über dich“, forderte er den anderen aufmunternd auf. „Nichts werde ich tun!“ „Du hast einen jüngeren Bruder“, stellte Yagi in sachlich-freundlichem Tonfall fest. „Magst du mir etwas über ihn erzählen?“ „Ich sage doch, von mir erfahrt ihr gar nichts!“ Dabi wurde immer aufbrausender ob der immer noch lächelnden Miene seines Gegenübers und riss erneut an den Ketten. Dies ließ er jedoch im nächsten Moment wieder bleiben, als das Metall nur noch tiefer in seine Handgelenke schnitt. „Er ist jetzt etwas älter als du, als auch du damals von der Yakuza entführt wurdest. Wie hast du dich damals gefühlt? Würdest du an seiner Stelle nicht auch so schnell wie möglich wieder zurück nach Hause wollen? In Sicherheit?“ „Auf die Mitleidstour braucht ihr mir gar nicht zu kommen!“, spuckte Dabi aus und warf einen hasserfüllten Blick über Yagis Schulter in Richtung der verspiegelten Scheibe, hinter der, wie er offensichtlich wusste, sein Vater saß. „Mein Vater bekommt das, was er verdient hat. Und wenn das bedeutet, dass mein kleiner, ach so perfekter Bruder dran glauben muss, dann juckt mich das überhaupt nicht! Wenn mein Vater so dumm ist und der Liga in die Quere kommt, muss er auch mit den Konsequenzen leben.“ „Die da wären?“, hakte Yagi, dem Enji seinen Triumph darüber, dass er Dabi endlich zum Sprechen gebracht hatte, ansah, nach. „Was der Boss mit dem kleinen, armen Shouto vorhat, hat er mir nicht gesagt. Das interessiert mich auch nicht. Ob er nun lebt oder stirbt, ist allein die Entscheidung vom Boss. Da er aber keine halben Sachen macht, würde ich meine Hand für sein Leben nicht ins Feuer legen. Und wenn er mir den Befehl gibt, meinem Bruder das Licht auszupusten, dann werde ich diesem mit Freude nachkommen“, grinste Dabi schadenfroh und Wahnsinn trat in seine blauen Augen. „Shouto befindet sich also beim Boss der Yakuza? Das heißt, wenn wir Shouto finden, finden wir auch den Oyabun?“, fragte Yagi neugierig und lehnte sich ein wenig vor. Dabi brach ich gackerndes Gelächter aus. „Ihr wollt zum Boss?! Da wollt ihr aber hoch hinaus, wenn ihr den schnappen wollt!“ „Müssen wir denn auch hoch hinaus?“ „Wie… wie meinst du das?“, blinzelte Dabi irritiert und diese Reaktion war alles, was Yagi benötigte. „Vielen Dank, Dabi, du hast uns wirklich weitergeholfen“, schloss Yagi die Befragung mit einem Lächeln auf den Lippen ab und erhob sich. „Was… Wie…?!“, geriet Dabi ins Stottern, fasste sich aber rasch wieder. „Ich habe dir gar nichts verraten!“ „Mehr als du denkst, mein Junge“, lächelte Yagi väterlich. „Ich denke, in der forensischen Psychiatrie wirst du noch genügend Zeit haben, über unser Gespräch nachzudenken.“ Mit einem letzten Lächeln zu Dabi, auf dessen Gesicht sich eine Mischung aus Verwunderung und Wut spiegelte, stand Yagi auf, gab den Wachen ein Zeichen über einen kleinen Kommunikator und verließ freudestrahlend den Vernehmungsraum. „Das Ritz-Carlton im Midtown Tower in Roppongi.“ Es war eine Feststellung, keine Frage, die Enji just in dem Moment, in dem Yagi ihr Zimmer betrat, an diesen richtete. „Es ist die einzige logische Schlussfolgerung“, bestätigte Yagi nickend. Enjis und Yagis Blicke trafen sich für einen Moment, in dem jeder die Entschlossenheit des anderen fühlen konnte. Aufregung und Tatendrang loderten in Enjis Innerem auf. Endlich wussten sie sowohl Shoutos Aufenthaltsort als auch den des Yakuzabosses. Voller elektrisierender Anspannung stand Enji auf und wollte sich schon zusammen mit Yagi in die Arbeit stürzen, als ihn Hawks‘ Stimme zurückhielt. „Kann mich bitte mal jemand aufklären? Ich kenne mich offensichtlich in Tokyo noch längst nicht so gut aus wie ihr beide. Also woher wissen wir, dass es gerade das Ritz-Carlton ist, das wir suchen?“ Hawks warf ihnen beiden einen fragenden Blick zu und noch ehe einer von ihnen antworten konnte, fügte Hawks noch rasch hinzu: „Natürlich ist mir bewusst, dass er durch seine Reaktion auf die Frage, ob wir auch hoch hinaus müssten, verraten hat, dass es sich bei ihrem Versteck um einen hochgelegenen Ort handeln muss. Aber Wolkenkratzer hat Tokyo eine ganze Menge…“ „Natürlich hast du Recht, Hawks-kun“, erwiderte Yagi mit einer Geduld, die Enji in diesem Moment nicht imstande gewesen wäre aufzubringen. Sein Sohn wartete dort draußen auf seine Rettung und sie trödelten hier herum! „Doch du vergisst, dass Dabi uns auch einen weiteren Hinweis geliefert hat, nämlich, dass der Yakuzaboss keine halben Sachen macht. Ein solch mächtiger Mann wird sein Hauptquartier kaum in einer heruntergekommenen Spelunke aufschlagen. Nein, als Oyabun wird er seinem Rang und Namen entsprechen und eine Unterkunft wählen, die seinem Stand angemessen erscheint. Also ein Hotel, Ryokan oder andere Unterkunft, die sämtlichen Komfort, aber auch äußerste Diskretion bietet. Und wenn er, wie Dabi hat durchscheinen lassen, nur in Extremen denkt, lässt dies nur einen einzigen möglichen Schluss zu: Das Ritz-Carlton im Midtown Tower in Roppongi, das am höchsten gelegene Luxushotel Tokyos.“ Nachdem Yagi seine endlos erscheinenden Ausführungen beendet hatte, nickte Hawks nach einem kurzen Moment des Nachdenkens zustimmend und erhob sich ebenfalls. „Können wir dann gehen?“, knurrte Enji und schritt als Erster durch die Tür, der Rettung seines Sohnes und dem Fall der Yakuza entgegen. Auch wenn er seinen Sohn am liebsten so schnell wie möglich aus den Fängen der Yakuza befreien wollte, konnten sie nicht einfach und ohne jeglichen Plan das Hotel stürmen und damit womöglich die Yakuza aufschrecken, noch bevor sie überhaupt die Gelegenheit erhalten hatten, bis zum Boss vorzudringen. Nein, so schwer es Enji auch fiel, die Füße stillzuhalten, war das Gelingen ihrer Mission von solcher Wichtigkeit, dass sie einer umfassenden Vorbereitung bedurfte. Doch Enjis Team arbeitete seit Jahren reibungslos zusammen und so waren binnen eines Tages sämtliche Kräfte angefordert, der Aufbau des Hotels studiert und die erforderlichen Durchsuchungsbeschlüsse eingeholt worden. Nicht nur seiner unermüdlichen Arbeit, sondern auch der seines Teams war es zu verdanken, dass sie sich nicht einmal 24 Stunden später im Aufzug des Ritz-Carlton Hotels befanden, der Yagi, Hawks und ihn in den als Kommandozentrale ausgestatteten Raum, in dem das restliche Team bereits wartete, bringen würde. Die Zentrale, von der aus die Führung inklusive ihm agierte, hatten sie sechs Stockwerke oberhalb der Hotellobby, die sich im 45. Stock befand, aufgeschlagen. Ihr Ziel war die Suite im obersten 53. Stockwerk, zu dem sie sämtliche Ein- und Ausgänge bewachten und zu dem die Einsatzkräfte unterwegs waren. Wieso sich das gesamte Special Investigation Team in ihrer breitschultrigen Ausrüstung gerade mit ihnen zusammen in den Fahrstuhl quetschen musste, erschloss sich Enji hingegen nicht. „Ich kriege… keine… Luft“, hörte er Hawks, der zwischen ihm und dem hünenhaften Truppenführer Kan eingepfercht war, heiser röcheln. „Stell dich nicht so an, es sind nur noch wenige Stockwerke.“ „Du hast gut reden! Da oben ist die Luft bestimmt besser als hier unten“, maulte Hawks weiter und bewegte seine Schultern, um sich in dem beengten Aufzug mehr Platz zu verschaffen. Noch ehe Enji darauf etwas erwidern konnte, kam der Fahrstuhl mit einem hellen Ping zum Stehen, die Fahrstuhltüren öffneten sich und entließ sie in den Flur der 51. Etage. Bis auf zwei Mitglieder des Einsatztrupps, die mit dem Aufzug weiter nach oben fahren würden, folgten ihnen die restlichen Kräfte, da sie die letzten zwei Etagen über das Treppenhaus erklimmen würden. Mit einem knappen Nicken in Richtung Kans teilten sie sich auf und während sich die Einsatzkräfte zur Treppe begaben, betraten Yagi, Hawks und er das Hotelzimmer, das sie zu ihrer Zentrale umfunktioniert hatten. Enji hatte zwar in den letzten 24 Stunden kaum geschlafen, doch das Adrenalin, das durch seine Venen gepumpt wurde, ließ keine Müdigkeit in ihm aufkommen. Voller Anspannung ließ er sich auf einem Stuhl im Kommandoraum nieder und schnappte sich ein Headset, den Blick sogleich auf die Monitore vor ihm fixiert, auf denen er das Geschehen auf dem Dach mitsamt Heliport, im Flur des 53. Stockwerks vor den Aufzügen und anhand der Bodycams des Einsatztrupps auch unmittelbar vor Ort verfolgen konnte. In der Suite selbst hatten sie, ohne die Yakuza auf sich aufmerksam zu machen, keine Kameras installieren können, sodass sie ganz auf die Kollegen vor Ort angewiesen waren, um zu erfahren, was vor sich ging. Obwohl er, kaum dass er Platz genommen hatte, nur schwer still auf seinem Stuhl sitzen bleiben konnte, sondern vielmehr unmittelbar am Geschehen beteiligt sein wollte, wusste Enji, dass er weder die erforderliche Ausbildung dazu hatte noch den auf solche Situationen spezialisierten Einsatzkräften eine große Hilfe wäre, sondern eher im Weg stehen würde. So hieß es vorerst die Füße stillhalten, abwarten und hoffen, dass die Kollegen ihre Arbeit erfolgreich zum Abschluss bringen würden. Mit bis zum Zerreißen angespannten Nerven beobachtete er einen Monitor nach dem nächsten, sah, wie sich die verschiedenen Teile des Einsatztrupps auf den in wenigen Minuten bevorstehenden Zugriff vorbereiteten. Zwei Polizisten entfernten sich gerade vom Heliport, auf dem ein großer, im schummrigen Licht schwarz glänzender Hubschrauber stand, und stießen zu ihren zwei Kameraden an der Kante des Daches. Vier weitere Uniformierte kamen die Treppe hochgestürmt und lauerten nunmehr hinter der Eingangstür zur Suite, während zwei Männer den Fluchtweg über den Fahrstuhl sicherten. Als alle Kräfte Position bezogen hatten, bebte Yagis Stimme, verstärkt durch das Headset, durch den Raum. „Zugriff!“ Es passierte so vieles gleichzeitig, dass es Enji schwerfiel, das Gesamtgeschehen nicht aus den Augen zu verlieren. Die Männer, die vor der Tür gewartet hatten, brachen diese mit einem wuchtigen Schulterstoß Kans auf und stürmten in den sich vor ihnen erstreckenden Eingangsbereich der Suite, die Waffen im Anschlag. Zeitgleich seilten sich die vier Polizisten vom Dach von außen am Gebäude ab und brachen, mit den Füßen voran, durch die Fensterscheiben, deren millionenfache Scherben auf den grauen Teppichboden niederregneten. Da sich nunmehr sämtliche Einsatzkräfte mit Ausnahme der zwei, die den Fluchtweg über die Tür absicherten, innerhalb der Suite aufhielten, waren sie allein auf die Kameras an den Körpern ihrer Kameraden angewiesen. Enjis Blicke flogen über die Bildschirme, in der Hoffnung, auf einem von ihnen einen rot-weißen Haarschopf zu erblicken. Und tatsächlich, in einer Ecke, flankiert von zwei Wachen, saß sein Sohn, gefesselt und mit einem Knebel im Mund. Auf weiteren Kameras erkannte er das Mädchen, das ihn in der Pachinko-Halle mit dem Messer angegriffen hatte, den Mann, den er und Hawks nach dem Besuch im Ramen-ya im Auto verfolgt hatten, und etwa ein Dutzend weiterer Personen, die er zuvor noch nie gesehen hatte, darunter ein weißhaariger, kränklich aussehender junger Mann. Noch ehe er den neben diesem stehenden großen, vernarbten und kahlköpfigen Anzugträger näher in Augenschein nehmen konnte, wurde die Szene jedoch in Rauch und Kugelhagel gehüllt, als beide Seiten das Feuer aufeinander eröffneten. „Shouto!“, brüllte Enji, ungehört von den in der Suite Versammelten, und in seinen Ohren rauschte es vom ohrenbetäubenden Schusswechsel. Er schaute zur Seite, als er spürte, wie sich eine Hand auf seinen Unterarm legte. „Deinem Sohn geht es bestimmt gut. Unsere Leute wissen, was sie tun“, sagte Hawks und lächelte ihm aufmunternd zu. Enji schluckte den Kloß im Hals herunter und nickte, konnte und wollte in diesem Moment keinen Zweifel daran haben, dass Hawks mit „unseren Leuten“ die Polizei und nicht die Yakuza meinte. Schüsse und Schreie lenkten seine Aufmerksamkeit wieder zu den Bildschirmen, auf denen sich ein Bild von Chaos und Gewalt widerspiegelte. Er konnte zwischen all dem Rauch und den umgeworfenen Möbelstücken nur einzelne Fragmente ausmachen. Aber es stimmte ihn zuversichtlich, dass er bislang lediglich zwei eindeutig zur Yakuza gehörende Körper auf dem Boden liegen sah und sich sämtliche Bodycams noch in Bewegung befanden. Weitere Schüsse fielen, zwei Gestalten befanden sich in einem Handgemenge, das sie mit Schlägen und Tritten austrugen, und endlich sah er Shouto. Er schien unverletzt und bei Bewusstsein zu sein, denn er wehrte sich mit Leibeskräften gegen einen hochgewachsenen Mann in weißem Hemd und grauer Weste, dessen Gesicht im Dunklen lag und der ruppig am Arm seines Sohnes in Richtung der Fenster zog. Aus dem Winkel einer anderen Kamera sah er, dass sich der alte Glatzkopf und der weißhaarige Jüngling ebenfalls auf die Fensterfront zubewegten, dabei auf alles und jeden schossen, der ihnen dabei in die Quere kam. „Sie versuchen, über die Feuertreppe zu fliehen! Und sie haben Shouto dabei!“, brüllte Enji in sein Headset, was bei den Einsatzkräften vor Ort prompt eine Reaktion auslöste. Zwei der acht Polizisten gaben ihre Deckung auf, in die sie sich während des immer noch andauernden Schusswechsels begeben hatten, und stürmten auf die drei Flüchtenden mit ihrer Geisel zu. Doch anstatt ihren Fluchtweg weiter zu verfolgen, drehte sich der alte Mann um und hob die Waffe, während der Westenträger und der Weißhaarige mit Shouto weiterliefen und schon fast die Feuertreppe erreicht hatten. Mehrere Schüsse fielen, an deren Ende eine Person auf dem Boden lag. Enjis Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen, als sein Kamerad neben dem Gefallenen niederkniete, den regungslosen Leib in den Armen hielt. Er starrte direkt in das leblose Gesicht Kans, in dessen weit aufgerissene, jedoch erloschene Augen, die die Bodycam des anderen Polizisten auf seinen Monitor warf. „Dieser Bastard!“, rief Enji, vor Zorn bebend, und sprang mit solcher Wucht von seinem Stuhl auf, dass dieser von ihm weggeschleudert wurde. „Dafür wird er bezahlen!“ „Todoroki-san“, meinte Yagi und hob beschwichtigend die Hände. „Wenn wir uns jetzt von unseren Emotionen und unserem Wunsch nach Gerechtigkeit überwältigen lassen, ist nicht nur die Mission, sondern auch das Leben deines Sohnes in Gefahr.“ Enji wirbelte herum und setzte schon zu einem verbalen Gegenschlag an, dass es nicht um Gerechtigkeit ginge und sie jetzt nicht einfach so tatenlos herumsitzen könnten. Er besann sich jedoch, als er merkte, dass sein Drang, etwas zu tun, vorwiegend aus seinem Durst nach Rache resultierte, und atmete einmal tief durch, ehe er erneut das Wort erhob. „Sie wollen auf das Dach, Yagi! Da die anderen Einsatzkräfte noch in die Schießerei verwickelt sind, müssen wir tätig werden und ihnen den Fluchtweg abschneiden! Der Helikopter auf dem Dach dürfte zwar unschädlich gemacht worden sein, aber die Yakuza ist zu gerissen, als dass sie sich nicht doch noch eine Möglichkeit zur Flucht überlegt! Und sei es auf Kosten des Lebens meines Sohnes!!“ Yagi blieb für einen Moment stumm, schien über seine Worte nachzudenken, ehe er nickte. „Also gut. Da uns keine andere Wahl bleibt, gehen du und Hawks zum Dach, während wir hier die Stellung halten. Aber… passt auf euch auf!“ Yagis Warnung hatte Enji kaum noch vernommen, sondern war schon aus der Tür in Richtung des Treppenhauses gestürmt, bevor der andere geendet hatte. „Komm!!“, brüllte er noch über seine Schulter und obwohl das Blut in seinen Ohren rauschte, musste er sich nicht erst umdrehen, um Hawks’ Schritte hinter sich zu hören. Seine Lungen brannten, als er die letzten Treppenstufen erklomm und mit einem Ruck die Tür, die zum Dach führte, aufriss. Ihm dicht auf den Fersen, stolperte auch Hawks keuchend durch die Metalltür und kam neben ihm zum Stehen. Enji brauchte nur einen kurzen Moment, um sich zu orientieren. Das Treppenhaus hatte sie direkt zum Heliport geführt, auf dessen genau gegenüberliegender Seite die Feuertreppe lag. Enji wusste nicht, wie sie das geschafft hatten, da sie immerhin mehr Stockwerke hatten überwinden müssen als die Flüchtenden. Vielleicht hatte Shouto ihr Fortkommen lange genug behindern können… Denn als er seinen Blick an dem Hubschrauber vorbei in Richtung der Feuertreppe lenkte, waren lediglich drei schlanke Gestalten auf dem Dach, während die bullige Statur des Glatzkopfs erst just in diesem Moment am Ende der Treppe auftauchte. Da zwischen einer Flucht über das Treppenhaus Enji und Hawks und diese näher am Hubschrauber standen, gab es für die Yakuza lediglich den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie saßen in der Falle. Das schienen auch die drei Männer zu realisieren, denn sie machten Anstalten, wieder über die Feuertreppe zu verschwinden, als sie sahen, dass ihnen der Fluchtweg abgeschnitten war. Doch zur Sicherheit Shoutos galt es eine Flucht zurück mit allen Mitteln zu verhindern. Als hätte Hawks seine Gedanken gelesen, preschte er voran, die Waffe, die Enji ihm zum Zweck dieser Mission ausgehändigt hatte, im Anschlag. Enji tat es ihm gleich und setzte ihm mit großen Schritten hinterher. „Polizei! Stehenbleiben!“, bellte Enji, als sie sich bis auf etwa zehn Meter genähert hatten. „Und lassen Sie die Geisel frei!“ „Sie hätten sich nicht mit uns anlegen dürfen, Todoroki-san“, wandte sich der Glatzkopf mit diabolischem Grinsen, mit einem Fuß bereits wieder auf dem obersten Treppenabsatz, direkt ihm zu und Enji erschauderte leicht bei seiner öligen Stimme. „Und ich wüsste nicht, wieso wir Ihnen Ihren Sohn übergeben sollten. Sie befinden sich keinesfalls in einer Position, derartige Forderungen stellen zu können.“ Der alte, glatzköpfige Mann, bei dem es sich aufgrund seiner Sprechweise und der Autorität, die er ausstrahlte, unzweifelhaft um den Oyabun handelte, machte eine vage Bewegung mit dem Kopf in Richtung seines Untergebenen, der Shouto festhielt. Dieser verstand den Befehl seines Bosses sofort und zerrte Shouto mit einem Ruck mit sich, direkt auf den Abgrund zu, der am Rand des Daches lauerte. „Wie Sie sehen, haben Sie derzeit weitaus mehr zu verlieren als ich“, höhnte der andere mit boshaftem Gelächter. „Wenn Sie uns weiter in die Quere kommen, wird Kurogiri nur zu gern Ihrer Bitte nachkommen und Ihren Sohn… freilassen.“ Enji schluckte schwer. Tatsächlich hatten Hawks und er momentan schlechte Karten, wenn sie ihrer obersten Priorität, das Leben seines Sohnes zu retten, nachkommen wollten, gleichzeitig aber die Yakuza festzunehmen gedachten. Denn ob Shouto, der lediglich mit gestrecktem Arm auf der Dachkante balancierte, das Hochhaus hinabfiel oder nicht, lag allein in der Macht des Yakuzabosses und seiner Untergebenen. Einen Schusswechsel konnten aus der geringen Entfernung auch weder sie noch die Yakuza riskieren, ohne dass erhebliche Opfer auf beiden Seiten zu befürchten wären. Um Zeit zu schinden, in der er hoffte, dass entweder Hawks oder ihm ein Ausweg aus diesem Dilemma einfiel, blieb ihm also lediglich, ihre Gegner so lange hinzuhalten, wie es ging oder bis Unterstützung nahte. „Ich denke, Sie verkennen Ihre Lage“, raunte Enji ebenso bedrohlich wie sein Gegenüber. „Ihr Versteck ist gefallen, Sie haben keinen Ort mehr, an den Sie unbemerkt flüchten können. Und unten erwarten Sie zig Polizisten, die Sie mit Freude festnehmen werden.“ „Die Polizisten, die gerade von meinen Männern abgeschlachtet werden?“ Seine Stimme war fast nur ein Flüstern, doch so laut und deutlich vernehmbar, als würde er direkt neben Enji stehen. „Der Verlust Ihres Kollegen, der durch meine Hand gestorben ist, muss Sie hart getroffen haben. Doch seien Sie versichert, es wird nicht bei dem einen bleiben.“ Zorn ob der Respektlosigkeit seines Gegenübers in Anbetracht des gefallenen Kollegen flammte in Enji auf, die die Trauer über Kans Tod beinahe erstickte. Doch er musste sich beherrschen, durfte aus Wut keinen Fehler machen, beabsichtigte der andere doch nur, ihn mit seinen Worten zu einer unbedachten Reaktion zu provozieren. „Sie unterschätzen die Fähigkeiten unserer Kollegen, die – im Gegensatz zu Ihren Untergebenen – für Recht und Gerechtigkeit einstehen“, gab Enji daher in betont ruhigem Tonfall zurück. „Gerechtigkeit!“, spie der Glatzkopf aus und lachte spöttisch. „Loyalität ist das, was die Menschen antreibt! Meine Mitarbeiter… meine Familie ist ihrem Vater treu ergeben und bereit, für mich in den Tod zu gehen. Denn diejenigen schwarzen Schafe, die ihre Loyalität der Liga gegenüber mit Füßen treten, werden ihren Fehler nicht lange bereuen können…“ Sein Blick blieb an Hawks hängen, der weiterhin die Waffe auf seinen ehemaligen Boss gerichtet hatte. „Hawks, du hast mich sehr enttäuscht. Haben wir dich nicht mit offenen Armen in unserer Familie empfangen, dir ein Dach über dem Kopf gegeben, als dein nichtsnutziger Vater dich im Stich gelassen hat?“ „Einen Scheiß habt ihr!“, entfuhr es Hawks. „Wie Dreck unter euren Schuhen habt ihr mich behandelt und mich eure Drecksarbeit machen lassen! Und Sie haben sich mir gegenüber nicht ein einziges Mal zu erkennen gegeben… so sehr haben Sie mich respektiert!“ Hawks‘ Stimme und Hand, die die Waffe hielt, zitterten leicht. Enji befürchtete kurz, Hawks könnte die Beherrschung verlieren und etwas Unbedachtes tun, doch im nächsten Moment atmete er einmal tief durch und hatte sich wieder unter Kontrolle. „Ich wusste nicht einmal, für wen ich all die Jahre mein Leben aufs Spiel gesetzt habe!“, fuhr Hawks schneidend fort und hob die Waffe noch ein Stück höher. „Doch diese Zeiten sind nun vorbei.“ „Drohst du etwa unserem Vater, Hawks?“, mischte sich die schnarrende Stimme Shigarakis plötzlich ein. „Hast du keinen Anstand, dass du die Waffe gegen ihn richtest, du aasfressender kleiner Schma–“ „Schweig, Tomura.“ Der Befehl war weder laut noch herrisch erteilt worden, doch Shigaraki verstummte augenblicklich und warf seinem Boss einen zerknirschten Blick zu. „Hm. Ist doch wahr… Dieses Miststück verdient den Tod…“ „Was deine Frage angeht, Hawks…“, fuhr der Yakuzaboss fort, ohne auf Shigarakis gehässiges Gemurmel einzugehen. „Meinen Namen habe ich bereits vor langer Zeit abgelegt. Wozu brauche ich noch einen Namen, wenn die Mitglieder meiner Familie, die alles für mich tun würden, mir ihren ganz eigenen Namen gegeben haben? Ich bin ihr Vater, ihr Oyabun… ihr All For One.“ „All For One?“, platzte es aus Enji heraus, der das Pseudonym als ziemlich anmaßend empfand. „Äußerst großspurig für jemanden, der mit gerade einmal zwei Gefolgsleuten an seiner Seite der Polizei die Stirn bieten muss.“ „Großspurig?“, lachte der Oyabun, wobei Enji nicht verstand, was es zu lachen gab. „Ich denke, in Anbetracht der Umstände bin nicht ich derjenige, der große Töne spuckt, Herr Hauptkommissar.“ Ehe Enji darauf etwas entgegnen konnte, blieb ihm die auf seiner Zunge liegende Frage im Hals stecken, als er zu seinem Entsetzen ein allzu vertrautes Geräusch vernahm und im nächsten Moment hinter den Yakuza ein weiterer Helikopter emporstieg. Offenbar hatte einer der Yakuza während ihres Gesprächs unbemerkt ein weiteres Fluchtfahrzeug angefordert und der Oyabun ebenfalls auf Zeit gespielt. Während alle Augenpaare für einen Moment auf dem nunmehr über ihnen kreisenden Hubschrauber ruhten, hörte Enji inmitten des Rotorenlärms plötzlich einen Schmerzensschrei. Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf die vier Personen vor sich richtete, sah er, wie sich der schlanke Mann in der Weste seinen schmerzenden Fuß hielt, auf den Shouto, der die allseitige Ablenkung genutzt hatte, offensichtlich getreten und sich dadurch aus dessen Griff befreit hatte. Sein Sohn, immer noch gefesselt und geknebelt, stürmte los. Doch noch bevor er aus der Reichweite seines Wächters fliehen konnte, hatte sich dieser bereits von dem Schreck und Schmerz erholt und setzte Shouto nach. Wenige Meter später stolperte er jedoch abrupt und kam zu Fall, wo er, sein blutendes Knie haltend, liegen blieb. Enji, der nicht in der Lage gewesen war, so schnell zu reagieren, sah neben sich zu Hawks, die noch rauchende Pistole auf den am Boden Liegenden gerichtet, einen grimmigen Ausdruck im Gesicht. „Halte du den Boss und den anderen auf, ich kümmere mich um Shouto“, sagte Hawks mit einer derart ruhigen Stimme, die Enji, dem das Herz bis zum Hals schlug, in so einer Situation nicht erwartet hätte. Die entschlossene Art, in der der Jüngere ihm diesen Vorschlag unterbreitete, ließ in ihm auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass sein Sohn bei Hawks nicht in den besten Händen wäre. „Das musst du mir nicht zweimal sagen“, gab Enji daher nur knapp zurück. Nachdem er sich mit einem Blick zurück vergewissert hatte, dass sich Hawks Shoutos annahm und diesem entgegeneilte, um ihn in Sicherheit zu bringen, hechtete Enji auf den Helikopter zu, dessen Kufen wenige Zentimeter über dem Boden schwebten. Während Hawks und er mit der Flucht Shoutos beschäftigt gewesen waren, hatten der Boss und sein weißhaariger Untergebener ihren niedergestreckten Kameraden ohne jegliches Zögern zurückgelassen und die Gelegenheit genutzt, zu ihrem Fluchtmittel zu rennen. Es waren nur wenige Sekunden, die die beiden ihm voraushatten, doch diese hatten ausgereicht, dass die Flüchtenden den Helikopter erreichen und in die geöffnete Tür springen konnten. Kaum waren der Oyabun und der Weißhaarige sicher im Inneren des Hubschraubers, hob dieser bereits wieder ab, noch bevor Enji ihn erreichen konnte. Er fluchte laut und platzte beinahe vor überschäumender Wut, als er noch einen Blick auf das von einem selbstgefälligen Lachen verzogene Gesicht des Oyabun erhaschte. „So knapp, mein Guter, so knapp! Noch einmal werden wir uns nicht wiedersehen!“ Enji stand da wie versteinert, unfähig, die richtige Entscheidung zu treffen. So lange hatte er auf diesen Moment gewartet und nun war ihm der Yakuzaboss erneut entwischt. Ihm wieder auf die Schliche zu kommen, würde Jahre dauern, wäre er in Zukunft doch noch deutlich vorsichtiger als bisher. Um dies zu verhindern, blieb ihm nur eine Möglichkeit… Eine Möglichkeit, die mit Recht und Gesetz nicht wirklich in Einklang zu bringen war, die ihn seinen Job kosten könnte, und doch… Es blieb keine Zeit mehr für Überlegungen, er musste handeln, jetzt oder nie. Wie an unsichtbaren Fäden setzte sich sein massiger Körper in Bewegung, sprintete zur äußersten Kante des Daches, wo er zuvor etwas auf dem Boden hatte liegen sehen. Und tatsächlich, dort lag, vermutlich leichtsinnigerweise von einem der Polizisten, die vom Dach aus durch die Fensterscheiben in die Suite eingedrungen waren, zurückgelassen, eine Maschinenpistole. Ohne einen weiteren Gedanken an sein Handeln und dessen Folgen zu verschwenden, nahm Enji die Waffe vom Boden auf, entsicherte sie und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass sie geladen war. Der Helikopter hatte sich bereits ein gutes Stück vom Dach des Hotels entfernt, war aber immer noch in Reichweite. Vorausgesetzt, er traf. Hoch konzentriert hob er die Handfeuerwaffe an und führte sie so vor sein Auge, dass er sein Ziel anvisieren konnte. Es war etwas gänzlich anderes, mit einer vollautomatischen länglichen Waffe und nicht wie sonst mit seiner normalen Pistole zu schießen. Doch auch wenn er schon länger nicht mehr in der Praxis dazu gekommen war, so war er mehr als dankbar dafür, dass er sich mindestens einmal jährlich in der Handhabung sämtlicher von der Polizei verwendeten Waffen bewähren musste. Er atmete ruhig ein und etwa die Hälfte des Sauerstoffs wieder aus, hielt sein Ziel im Blick, den Finger am Abzug gekrümmt. Er musste nur die richtige Stelle treffen, dann… Für die Sekunde, in der er schoss, hielt er die Luft an, um die Kugel durch seine Atmung nicht abzulenken. Er hatte kaum den Finger am Abzug betätigt, als er bereits das ohrenbetäubende Geräusch des abgeschossenen Projektils vernahm, das sein Ziel suchte und fand. Enji blickte von seinem Visier auf und schaute hoch gen Himmel, an dem sich ihm ein Schauspiel seinesgleichen bot. Das Projektil war in dem empfindlichen Bereich der Rotorenanlage eingeschlagen, exakt dort, wo er es beabsichtigt hatte. Der Helikopter, durch die beschädigten Rotorenblätter aus dem Gleichgewicht gebracht, fing an, sich um die eigene Achse zu drehen. Der Pilot schien die Kontrolle verloren zu haben, denn anstatt sich wieder zu fangen, stürzte der Hubschrauber immer schneller gen Boden, mitten auf den kleinen Park neben dem Hotelgebäude zu. Nachdem er sich weitere Male gedreht hatte, prallte er schließlich mit dem Heck voran auf dem Boden auf. Da er zuvor mehrere Bäume und Äste mitgenommen hatte, die Motor und Tank offenbar in Mitleidenschaft gezogen hatten, ging der Helikopter sogleich in Flammen auf, worauf nach wenigen Sekunden eine gleißend helle Explosion folgte. Kapitel 16: Good Start ---------------------- Die Nachbesprechung zog sich so zäh wie Kaugummi hin. Verstärkt wurde sein Drang, der Sitzung endlich zu entkommen, nicht nur durch seine ihn nach dem Adrenalinabfall erschlagende Müdigkeit, sondern besonders durch die gedrückte Stimmung in der Runde aufgrund von Kans Tod. Yagi fand sensible letzte Worte für ihren Kollegen, die ihnen nur umso deutlicher vor Augen führten, wie viel Glück sie gehabt hatten, dass sie keine weiteren Verluste zu beklagen hatten. Nicht ganz so gut hatte es die Yakuza getroffen. Im Feuergefecht hatten insgesamt vier Mitglieder ihr Leben gelassen, die – anders als die mit ihnen kämpfenden Polizisten – keine Schutzausrüstung getragen hatten. Doch für die Liga dramatischer war selbstverständlich der Verlust ihrer beiden Führungspersönlichkeiten, die in den Flammen des brennenden Wracks ihr Ende gefunden hatten. Enji wusste, dass es keine andere Möglichkeit gegeben hatte, den Boss und seine rechte Hand an der Flucht zu hindern, als auf den Helikopter zu schießen. Nicht gerechnet hatte er jedoch damit, dass er derart ins Trudeln geraten würde, sodass der Pilot ihn nicht noch unter Kontrolle hätte bringen und sicher landen und sie die Köpfe der Liga dort hätten festnehmen können. Er konnte jedoch auch nicht leugnen, dass ein Teil von ihm, der nach Vergeltung für alles, was ihm die Liga angetan hatte, gedürstet hatte, Genugtuung bei dem Gedanken empfand, seine Nemesis durch seine eigene Hand zur Strecke gebracht zu haben. Mit dem Tod ihrer Anführer war die Liga zerschlagen, die Yakuza endgültig zu Fall gebracht. Denn wie sie bereits innerhalb der wenigen Stunden, die seit dem Ableben des Bosses und seines möglichen Nachfolgers vergangen waren, erlebt hatten, war die so sehr beschworene Loyalität ihrer Untergebenen bei dieser Nachricht in sich zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Einige Mitglieder hatten sich aus Angst, keinen Schutz mehr zu genießen, gleich der Polizei ergeben; manch andere wie Kurogiri hatten das Vertrauen in die kopflose Yakuza verloren und angekündigt, bereitwillig mit der Polizei zusammenzuarbeiten und sämtliche Geheimnisse der Liga preiszugeben, da sie sich dadurch ihren Status, ihre Macht und ihren Einfluss zu erhalten erhofften. Die Vernehmungen und Auswertung aller Informationen würden sie jedenfalls noch eine ganze Weile beschäftigen. Wobei er selbst diesen nicht beiwohnen würde. Er konnte von Glück sagen, dass es sich bei dem Absturz des Hubschraubers um einen Unfall gehandelt hatte und Yagi Verständnis für seine Entscheidung, auf diesen zu schießen, aufbringen konnte. Seine Anstellung und Position hatte er daher entgegen seinen Befürchtungen nicht verloren. Wegen seiner persönlichen Verstrickungen mit der Yakuza, besonders der Geschichte rund um seinen ältesten Sohn, die schnell die Runde gemacht hatte, war er jedoch für die Dauer der weiteren Ermittlungen beurlaubt worden. Enji hatte die Aussicht, damit die nächsten Monate faktisch arbeitslos zu sein, zähneknirschend hingenommen, sich aber nicht dagegen zur Wehr gesetzt, hätte es ihn immerhin noch deutlich härter treffen können. Ohnehin würde er die Zeit brauchen, um über die Geschehnisse der letzten Monate und Jahre nachzudenken. Über seinen verschollen geglaubten ältesten Sohn, der als mehrfacher Mörder mit psychopathischen Zügen mit einer mehrjährigen Haftstrafe und der Einweisung in eine Psychiatrie zu rechnen hatte. Über seinen jüngsten Sohn, der glücklicherweise zwar nicht traumatisiert, aber trotz der Rettung durch seinen Vater ihm gegenüber nicht so wohlwollend und dankbar aufgetreten war, wie er es sich erhofft hatte; dafür war in der Vergangenheit leider einfach zu viel passiert, das er durch eine einzige gute Tat natürlich nicht wiedergutmachen konnte. Über die wenn auch noch so geringe Möglichkeit, ein besseres Verhältnis zu seinen Kindern aufzubauen, würde er sich daher ebenso Gedanken zu machen haben. Und schließlich über Hawks… seine Vergangenheit, seine Zeit als Spitzel bei der Polizei und seine Zukunft; und welche Rolle er selbst in dieser spielen konnte… und wollte. Wobei er Yagi hinsichtlich Hawks‘ Rolle in dem Ganzen auch noch reinen Wein einschenken musste. Denn ganz gleich, ob Enji dies selbst zur Sprache brachte oder Yagi ihn erst darum bitten müsste; die Wahrheit würde früher oder später ohnehin ans Licht kommen… und Hawks für seine Handlungen geradestehen müssen, unabhängig davon, wie er selbst zu ihm stand. Enji hörte nur noch mit einem Ohr zu, als Yagi schließlich seine Abschlussworte kundtat, sodass er ein wenig irritiert aufschrak, als sich das restliche Team erhob und einer nach dem anderen den Raum verließ. Auch Hawks folgte den anderen nach kurzem Zögern und einem Blick zu Enji, der von einer Unentschlossenheit zeugte, ob er ihn ansprechen und auf ihn warten sollte oder nicht. Als nur noch Yagi und er übrig waren, sortierte Yagi erst noch aufwändig seine Papiere, wartete offensichtlich darauf, dass Enji das Wort zuerst ergriff. Enji seufzte schwer, wusste er doch, dass er um dieses Gespräch nicht herumkam. „Yagi, auf ein Wort.“ Sein Boss, der bereits ebenfalls Anstalten gemacht hatte, den Raum zu verlassen, verharrte in der Bewegung und drehte sich mit einer Mischung aus freudlosem und aufmunterndem Lächeln Enji zu. „Todoroki-san…?“ Enji war sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Lange hatte er gezweifelt, seine Optionen abgewogen, aber schlussendlich hatte es nur diese eine Lösung gegeben. Zumindest, wenn er ohne Reue sein Spiegelbild zu ertragen gedachte. Drei Monate hatte er mit sich und den Widrigkeiten, die sich ihm in den Weg gestellt hatten, gerungen. Drei Monate, in denen er ihm nicht einen einzigen Besuch abgestattet hatte. Und gerade wegen dieser drei Monate hatte der andere es verdient, dass er es ihm von Angesicht zu Angesicht mitteilte. Hohe, mit Stacheldraht versehene Mauern schluckten einen Großteil des Sonnenlichts und hüllten den Innenhof in dämmriges Licht. Mit zum Gruß erhobener Hand, die mit einem Kopfnicken seitens des uniformierten Wärters quittiert wurde, durchschritt Enji die letzte Schleuse, die ihn von dem vor ihm liegenden Gefängnistrakt trennte. Als er eintrat, wehte ihm gleich ein von feuchten Wänden herrührender modriger Geruch entgegen, gepaart mit einer unangenehm intensiven Mischung aus Urin und Männerschweiß. Er folgte dem Gang, der von Backsteinmauern gesäumt war, und gelangte schließlich zu der unscheinbaren Tür, die ihn in den Besucherraum führen würde. Nachdem ein weiteres Mal ein Signal ertönt war, dass die Tür nunmehr geöffnet werden konnte, drückte er die Klinke und trat ein. Der dahinterliegende Raum war heller als gedacht, hatte sogar ein hochgelegenes Fenster, durch das das trübe Sonnenlicht fiel. Doch die Einrichtung interessierte Enji wenig, hatte doch die Person, die an einem der Tische saß, sogleich seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Zeit in Untersuchungshaft hatte ihm nicht gutgetan. Seine blonden Haare waren noch zerzauster als sonst und sein Kinnbart nicht annähernd so gepflegt, wie man es von ihm gewöhnt war. Zudem zeichneten tiefe Augenringe sein Gesicht, dessen Wangenknochen leicht eingefallen waren. Doch all das schienen nur optische Veränderungen zu sein. Denn als sich ihre Blicke begegneten, schaute der andere ihn mit gewohnt stechend scharfen und spitzbübisch aufblitzenden Augen an. „Wird auch mal Zeit, dass du dich hier blicken lässt, Endeavor-san“, sagte Hawks in bissigem Ton und machte eine ausholende Geste. „Ich würde dir ja etwas zu trinken anbieten, aber… Meine Mittel sind hier leider begrenzt.“ „Hawks…“, begann Enji, ohne zu wissen, was er eigentlich sagen wollte. Er wusste, weswegen er hier war, und hatte sich seine Worte vorab auch schon zurechtgelegt. Aber als ihn Hawks nunmehr so vorwurfsvoll anschaute, realisierte er, dass er es sich nicht so einfach machte konnte, wie er gedacht hatte. Immerhin war auch für Hawks eine lange Zeit vergangen. „Drei Monate!“, rief Hawks aus und funkelte ihn finster an. „Ich weiß ja, dass du Yagi die Wahrheit sagen musstest… und auch, dass meine Vergangenheit bei der Yakuza eine Menge Fragen aufwirft, die erst einmal geklärt werden müssen. Aber verdammt! Nicht ein Lebenszeichen von draußen habe ich gehört, seit sie mich ein paar Stunden nach der Besprechung festgenommen und nach der richterlichen Vorführung in Untersuchungshaft gesteckt haben!“ „Du hast auch Bubaigawara getötet“, korrigierte Enji ihn und fuhr rasch fort, um den Widerworten des anderen zuvorzukommen, als Hawks erbost den Mund öffnete. „Ich weiß, dass er dich auch angegriffen hat. Aber um die Umstände seines Todes aufzuklären und ob du tatsächlich in rechtfertigender Notwehr gehandelt hast, bedurfte es einer gewissen Zeit.“ Hawks schloss den Mund wieder und bedachte Enji eine Zeit lang nur schweigend mit einem stechenden Blick. Schließlich nickte er stumm und signalisierte Enji mit einer Handbewegung, dass er sich hinsetzen könne. Dieser Aufforderung kam Enji nach und nahm Hawks gegenüber an dem Tisch Platz. „Und?“, fragte Hawks mit gedrückter Stimme in die zum Zerreißen gespannte Stille hinein. Sein aggressiver Ton war verschwunden und von einer Resignation abgelöst worden, die es ihm offensichtlich schwer machte, Enji anzuschauen. „Du wirst dich vor Gericht verantworten müssen. Der Gerichtstermin ist in einem Monat angesetzt“, erklärte Enji und sah, wie Hawks‘ Schultern ein Stück zusammenfielen. „Aber…“, fügte er hinzu und machte eine kurze Pause, in der Hawks den Kopf hob und endlich seinem Blick begegnete. „Die Beweislage sieht gut aus, dass du wegen Notwehr freigesprochen wirst. Aufgrund des medialen Interesses wegen deiner Verbindung zur Yakuza war es jedoch nicht möglich, die Sache vorher einzustellen. Da jedoch keine weitere Fluchtgefahr oder ein anderer Haftgrund besteht, wirst du morgen aus der Untersuchungshaft entlassen werden können.“ Hawks war die Erleichterung anzusehen, auch wenn natürlich noch nichts gewonnen war. „Ich muss also voraussichtlich nicht langfristig in den Knast?“, fragte Hawks noch einmal nach und als Enji nickte, bildete sich ein schmales Lächeln auf den Lippen des Blonden. „Immerhin…“, seufzte er, ließ sich etwas entspannter nach hinten fallen und grinste schief. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie es hier ist. Nicht aus Versehen die Seife fallen zu lassen, ist hier noch das geringste Problem...“ „Da wäre noch etwas…“, meinte Enji langsam, woraufhin Hawks‘ Grinsen in sich zusammenfiel und er sich anspannte. „Es war nicht leicht… Gerade wegen deiner Arbeit für die Yakuza und das laufende Verfahren, dessen Ende natürlich erst noch abzuwarten ist, bevor es eine endgültige Entscheidung geben kann…“, begann Enji und wollte Hawks gar nicht so sehr auf die Folter spannen. Aber der andere sollte auch die Tragweite seiner Entscheidung und die Mühen, die sie gekostet hatte, zu würdigen wissen. Und dadurch, dass es… dass er ihm wichtig war. „Es geht um deine Zukunft“, rückte er schließlich mit der Sprache heraus. Hawks, sichtlich hin- und hergerissen zwischen Nervosität und Anspannung, grub die Nägel in seine Hände, die er auf dem Tisch abgelegt hatte, und verkrampfte sich. „Da du trotz all deiner… Verfehlungen ein Mann mit vielen Fähigkeiten und Talenten bist, die du in den letzten Monaten mehrmals unter Beweis gestellt hast… halten ich und auch Yagi es für eine Schande, diese ungenutzt zu lassen…“ Er ließ seine Worte im Raum schweben, wollte nicht zu früh mit der Tür ins Haus fallen, sondern Hawks‘ Reaktion abwarten. Und wie er bereits erwartet hatte, dauerte es nur wenige Sekunden, bis der andere begriff, was seine Worte bedeuteten. „Ich darf weiterhin für die Polizei arbeiten?“, fragte Hawks ungläubig und bedachte ihn mit einem mehr als skeptischen Blick, unter dem Enji die schwelende Freude erkennen konnte, die er jedoch noch zurückhielt. „Natürlich musst du zuerst die Prüfung bestehen, also die richtige“, wandte Enji ein, nickte aber. „Aber wenn es weiterhin dein Wunsch ist, Polizist zu werden, könntest du in ein paar Monaten entweder in der Gefahrenabwehr oder wieder bei der Kriminalpolizei anfangen.“ „Die Polizei, oh Mann“, murmelte Hawks mehr zu sich selbst als zu Enji, ehe er zwinkernd fortfuhr: „Dabei habe ich doch schon meine Bewerbung bei einer anderen Yakuza eingereicht. Die werde ich dann wohl zurücknehmen müssen.“ „Treib es nicht auf die Spitze, Hawks“, tadelte Enji ihn brummend, konnte ein leichtes Zucken seiner Mundwinkel aber nicht verbergen. „Wenn du morgen aus der Untersuchungshaft entlassen wirst, stehst du noch unter Bewährung und Auflagen. Und wenn du unter meiner Aufsicht Unfug anstellst, kriegst du es mit mir zu tun.“ „Ganz locker, Boss, ich mache doch nur Spaß“, flötete Hawks, sichtlich besser gelaunt als noch Minuten zuvor. „Wenn wir ja jetzt meine Zukunft geklärt haben… Was ist mit unserer?“ „Unserer?“ „Na, unserer Zukunft“, meinte Hawks beiläufig, doch auf sein Gesicht stahl sich ein neckisches Grinsen. Enji erwiderte nichts, wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Selbstredend hatte er sich auch über das, was zwischen ihnen persönlich vorgefallen war, Gedanken gemacht. Und so sehr es ihm auf widerstrebte, es sich einzugestehen, weil es mit Sicherheit zu weiteren Problemen führen würde… angefangen mit ihrem Altersunterschied, ihren Positionen und nicht zuletzt mit ihrem Geschlecht und dass er sich nicht sicher war, so kurze Zeit nach der Scheidung wieder so etwas wie eine Aussicht auf Glück zu verdienen… Er konnte nicht leugnen, dass ihm etwas an Hawks lag, sogar mehr als das. Aber das konnte er ihm natürlich so nicht sagen. Weder ließ dies sein Stolz zu noch würde er die richtigen Worte finden… Er konnte zwar ebenso wenig ignorieren, wer Hawks war und woher er kam. Wie sein ältester Sohn war Hawks jedoch, so musste er ebenso einsehen, unfreiwillig allein aufgrund der Verfehlungen ihrer Väter zur Yakuza gekommen. Aber anders als Touya war Hawks nie von seinem Weg abgekommen oder hatte es gar genossen, im Namen der Yakuza Verbrechen zu verüben. Er konnte Hawks also seinen Lebensweg kaum vorwerfen, wenn er doch selbst so große Schuld an dem Werdegang seines Sohnes trug. Vielleicht wollte er seine Schuld gegenüber seinem Sohn schmälern, indem er Hawks diese zweite Chance gab. Vielleicht wollte er nur ein wenig Glück für sich. Vielleicht würde sich das Ganze aber auch als Fehler herausstellen. Doch ganz gleich, was daraus werden würde und welche Gründe ihn dazu bewogen: Er musste herausfinden, wo das mit ihnen hinführen konnte. Wortlos stand Enji auf und schob den Stuhl zurück unter den Tisch. Hawks starrte ihn verwirrt an, wartete noch auf seine Antwort. „Da es ein arges Versäumnis ist, dass du Tokyo noch nicht von oben gesehen hast, werden wir morgen nach deiner Entlassung dem Skytree einen Besuch abstatten“, brummte Enji jedoch nur. Als Hawks ihn weiterhin irritiert ansah, ergänzte er noch: „Empfehlung von Yagi. Er meinte, selbst Aizawa habe der Ausblick beeindruckt.“ Hawks blinzelte erneut, bevor sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht stahl und seine Augen blitzten. „Ist das etwa ein Date?“ „16 Uhr vor Ort. Sei pünktlich“, erwiderte er nur kurz angebunden, war ihm die direkte Frage doch deutlich unangenehmer, als er es sich in seinem Alter eingestehen wollte. Ehe er sich endgültig von dem anderen abwandte und in Richtung der Tür schritt, sah er noch aus dem Augenwinkel, wie sich Hawks grinsend nach hinten lehnte, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. „Dann bis morgen, Endeavor-san!“ – The End – Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)