Dead End von Lichtregen (Endeavor x Hawks) ================================================================================ Kapitel 15: Bad Ending ---------------------- „Und du bist dir sicher?“ „Ja.“ Enji erwiderte Yagis Blick mit solch fester Entschlossenheit, dass der Blonde schließlich nachgab und mit den Schultern zuckte. „Wie du meinst, Todoroki-san. Ich kann deine Beweggründe natürlich verstehen, als Vater nicht den Anschein von Voreingenommenheit zu erwecken. Aber als derjenige, der den Fall leitet und die Festnahme vollzogen hat, würde eigentlich dir das Fragerecht zustehen…“ „Schon gut“, wiegelte Enji mit einer schroffen Handbewegung ab. „Solange ich mir selbst nicht sicher bin, ob ich meinem abtrünnigen Sohn für seine Taten lieber den Hals umdrehen oder mich für das, was aus ihm geworden ist, ständig entschuldigen möchte, ist es besser, wenn du die Vernehmung durchführst.“ „Hawks-kun hat in der Sache selbstverständlich ebenso seinen Beitrag geleistet. Es könnte auch er –“ „Nein!“, unterbrach Enji ihn barsch, was Yagi mit einem verdutzten Blick quittierte. „Ich verstehe schon, dass Dabi gegenüber demjenigen, der seine Festnahme herbeigeführt hat, möglicherweise weniger gesprächsbereit ist“, lenkte Yagi ein. „Aber bei der Vernehmung Musculars hat Hawks-kun seine Fertigkeiten bewiesen. Meinst du nicht, er könnte diesmal nicht ebenso Erfolg haben?“ „Nein“, widersprach Enji kopfschüttelnd und diesmal in weniger aggressivem Ton. „Ich halte es für das Beste, wenn die Vernehmung durch eine neutrale Person durchgeführt wird.“ Dass es nicht sonderlich klug wäre, Hawks aufgrund von Dabis Rachsucht wegen seines Verrats bei der Vernehmung die Leitrolle zu überlassen, musste Yagi an dieser Stelle nicht wissen. Vorerst zumindest. Zudem befürchtete er, dass Hawks’ Vergangenheit bei der Yakuza eher Dabi in die Hände spielen und dieser Hawks hinterher doch wieder die Seiten wechseln lassen würde. Seine Zweifel an Hawks’ Aufrichtigkeit hatte er nämlich trotz aller Geschehnisse im Park nicht gänzlich ablegen können. Yagi schloss für einen kurzen Moment resigniert die Augen und nickte schließlich. „Wie du meinst. Ich werde die Vernehmung Dabis übernehmen. Hoffen wir, dass ich brauchbare Hinweise zur Rettung deines jüngsten Sohnes aus ihm herausbekommen kann.“ „Sicher“, brummte Enji lediglich kurz angebunden, hasste er es doch, wenn sein Chef und ewiger Rivale mit falscher Bescheidenheit sein polizeiliches Können derart unter den Scheffel stellte. Immerhin war Yagi, so ungern er es auch zugab, ein Meister seines Fachs und hatte bisher noch jede Information aus den Befragten herausquetschen können, so verbissen sich diese auch dagegen sträubten. Andernfalls hätte er eine so wichtige Aufgabe auch nicht Yagi überlassen, wenn er nicht wüsste, dass sein Chef ihre beste Chance war, seinen jüngsten Sohn wohlbehalten wiederzubekommen. Mit Ausnahme seiner selbst natürlich, aber er hatte nicht untertrieben, als er Yagi von seinen widersprüchlichen Gefühlen berichtet hatte. Der Schock, seinen verschollenen Sohn nach all den Jahren wiederzusehen und zu erkennen, was aus ihm geworden war, saß noch tief, die Wunden zu frisch, als dass er sich sicher sein konnte, seine Beherrschung bewahren zu können. Bereits auf dem Weg hierher, auf dem sich Dabi trotz seiner Fesselung mit Händen und Füßen gewehrt hatte, hatte er es lieber Hawks überlassen, diesen in seine Schranken zu weisen. Er selbst hatte in der Zeit, die sie durch den Wald zurück zum Eingang brauchten, die Kollegen verständigt, die Dabi in Empfang genommen und auf der Wache in eine Zelle gesperrt hatten, in der er seitdem wütete und tobte. Selbst jetzt und fünf Zimmer weiter, am anderen Ende des Ganges, hörte man das unablässige Gebrüll des Schwarzhaarigen, der sich offensichtlich nicht zu beruhigen gedachte. Ein schwieriger Fall, selbst für jemand Geübten wie Yagi. „Viel Erfolg“, fügte Enji noch hinzu und signalisierte dem anderen dadurch das Ende des Gesprächs. Ehe er sich abwenden und den Raum verlassen konnte, überraschte Yagi ihn, indem dieser ihm väterlich seine Hand auf die Schulter legte und sein für ihn typisches siegessicheres, zähneblitzendes Lächeln aufsetzte. „Das wird schon“, meinte er mit solch überzeugender Zuversicht in der Stimme, als ob er selbst keinen Zweifel daran hatte. Dass Yagi ihn dabei förmlich anstrahlte, ließ Enji sich nicht gerade wohler fühlen, sodass er lediglich ein unbestimmtes Brummen von sich gab und sich dann abwandte. Nicht jedoch, ohne sich zu fragen, wen bzw. was genau Yagi mit seiner Aussage überhaupt meinte. Auch wenn Enji die Befragung seines Sohnes weder selbst durchführen noch in Hawks’ Hände geben wollte, wollte er dieser dennoch beiwohnen. Immerhin war es sein Fall und sein Sohn, der von der Yakuza entführt worden war. Als er den Raum, der durch eine verspiegelte Scheibe mit dem Vernehmungszimmer verbunden war, betrat, wunderte es ihn daher nicht, dass er nicht der Einzige war, der sich für den Ausgang der Vernehmung interessierte. „Morgen, Endeavor-san!“, begrüßte ihn Hawks mit erhobener Hand und zwinkerte ihm zu, bevor er ihm einen Stuhl hinschob, der direkt neben seinem und in direkter Blickrichtung zum Vernehmungsraum stand. „Ich habe dir einen Platz freigehalten.“ „Morgen“, erwiderte Enji weit weniger enthusiastisch als der Blonde, ließ sich aber dennoch auf dem ihm angebotenen Stuhl nieder. „Gut geschlafen?“, fragte Hawks, der nicht danach aussah, als hätte er überhaupt eine Mütze voll Schlaf abgekriegt, sodass Enji die Frage als rein rhetorisch abstempelte. „Wenig“, kommentierte er daher nur kurz angebunden, was Hawks mit einem schiefen Grinsen quittierte. „Ich auch gar nicht. Was nicht nur daran lag, dass sich mein Bürotisch nicht so gut für ein Nickerchen eignet – ein richtiges Bett habe ich ja nicht mehr, sondern…“ Hawks verstummte, als sich die Tür zum Vernehmungsraum öffnete und zwei bullige Wachmänner den trotz seiner Fesseln um sich schlagenden und tretenden Gefangenen hineinführten. Hawks und er beobachteten gebannt, wie die Wachen, die solches Verhalten offensichtlich gewohnt waren und sich nicht aus der Ruhe bringen ließen, Dabi mitsamt seiner Fesseln an dem Tisch befestigten und mit sanfter Gewalt auf den dahinter befindlichen Stuhl drückten. Nachdem die Wachen den Raum verlassen und Dabi allein zurückgelassen hatten, tobte dieser noch eine ganze Weile. Nach etwa zehn Minuten, in denen sich die Handfesseln immer mehr in sein Fleisch gegraben hatten, wurde er schließlich ruhiger, sah wohl ein, dass sein Verhalten ihm nur selbst Schmerzen zufügte. Völlig entspannt und mit einem Lächeln im Gesicht trat weitere fünf Minuten später Yagi ein, der sich Dabi gegenüber auf einem Stuhl niederließ. „Guten Morgen, Dabi. Oder soll ich dich lieber Touya nennen?“, begrüßte Yagi den anderen freundlich, der von dem warmherzigen Tonfall sogleich provoziert wurde. „Steck dir deinen guten Morgen sonst wohin“, fauchte er und ruckelte erneut an den Handfesseln, die sich jedoch keinen Millimeter bewegten. „Und Touya ist tot. Mein Name ist Dabi!“ „Nun gut, also Dabi“, entgegnete Yagi so ruhig wie zuvor, nickte einmal mit dem Kopf. „Mein Name ist Yagi und ich würde dir gerne ein paar Fragen stellen.“ „Stelle mir so viele Fragen, wie du willst. Antworten wirst du von mir keine erhalten“, konterte Dabi mit einem gehässigen Grinsen auf den Lippen. „Denn wenn ihr glaubt, ich würde die Yakuza so leicht verraten wie euer blonder Freund da hinter der Scheibe, dann habt ihr euch gehörig geschnitten!“ Enji sah, wie Yagi einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel in ihre Richtung warf. Yagi war jedoch professionell genug, um auf solch eine Provokation seines Gegenübers nicht einzugehen und sie vielmehr zu ignorieren. Er kannte seinen Rivalen jedoch lange genug, um zu wissen, dass er ihm im Nachgang eine Erklärung schuldig wäre. Auch Hawks zuckte kurz bei seiner Erwähnung zusammen, ließ sich ansonsten aber nichts anmerken. Da er bislang weder festgenommen noch sonst auf seine Vergangenheit angesprochen worden war, konnte er sich mittlerweile bestimmt selbst zusammenreimen, dass Enji bislang niemandem etwas von seinem doppelten Spiel erzählt hatte. Selbstredend musste Hawks jedoch bewusst sein, dass die Wahrheit früher oder später ans Licht kommen würde… kommen musste. „Andere Personen tun hier nichts zur Sache“, führte Yagi die Befragung fort, als sei es nie zu einer Unterbrechung gekommen. „Jetzt stehst allein du im Mittelpunkt. Du genießt es doch, wenn alle Aufmerksamkeit auf dir ruht, nicht wahr?“ „Ihr wisst gar nichts über mich!“, platzte es aus Dabi heraus. Doch Yagi lächelte nur unentwegt, hatte genau die Reaktion von Dabi erhalten, die man sich als Vernehmungsperson wünschte. „Dann kläre mich gerne auf. Erzähle mir etwas über dich“, forderte er den anderen aufmunternd auf. „Nichts werde ich tun!“ „Du hast einen jüngeren Bruder“, stellte Yagi in sachlich-freundlichem Tonfall fest. „Magst du mir etwas über ihn erzählen?“ „Ich sage doch, von mir erfahrt ihr gar nichts!“ Dabi wurde immer aufbrausender ob der immer noch lächelnden Miene seines Gegenübers und riss erneut an den Ketten. Dies ließ er jedoch im nächsten Moment wieder bleiben, als das Metall nur noch tiefer in seine Handgelenke schnitt. „Er ist jetzt etwas älter als du, als auch du damals von der Yakuza entführt wurdest. Wie hast du dich damals gefühlt? Würdest du an seiner Stelle nicht auch so schnell wie möglich wieder zurück nach Hause wollen? In Sicherheit?“ „Auf die Mitleidstour braucht ihr mir gar nicht zu kommen!“, spuckte Dabi aus und warf einen hasserfüllten Blick über Yagis Schulter in Richtung der verspiegelten Scheibe, hinter der, wie er offensichtlich wusste, sein Vater saß. „Mein Vater bekommt das, was er verdient hat. Und wenn das bedeutet, dass mein kleiner, ach so perfekter Bruder dran glauben muss, dann juckt mich das überhaupt nicht! Wenn mein Vater so dumm ist und der Liga in die Quere kommt, muss er auch mit den Konsequenzen leben.“ „Die da wären?“, hakte Yagi, dem Enji seinen Triumph darüber, dass er Dabi endlich zum Sprechen gebracht hatte, ansah, nach. „Was der Boss mit dem kleinen, armen Shouto vorhat, hat er mir nicht gesagt. Das interessiert mich auch nicht. Ob er nun lebt oder stirbt, ist allein die Entscheidung vom Boss. Da er aber keine halben Sachen macht, würde ich meine Hand für sein Leben nicht ins Feuer legen. Und wenn er mir den Befehl gibt, meinem Bruder das Licht auszupusten, dann werde ich diesem mit Freude nachkommen“, grinste Dabi schadenfroh und Wahnsinn trat in seine blauen Augen. „Shouto befindet sich also beim Boss der Yakuza? Das heißt, wenn wir Shouto finden, finden wir auch den Oyabun?“, fragte Yagi neugierig und lehnte sich ein wenig vor. Dabi brach ich gackerndes Gelächter aus. „Ihr wollt zum Boss?! Da wollt ihr aber hoch hinaus, wenn ihr den schnappen wollt!“ „Müssen wir denn auch hoch hinaus?“ „Wie… wie meinst du das?“, blinzelte Dabi irritiert und diese Reaktion war alles, was Yagi benötigte. „Vielen Dank, Dabi, du hast uns wirklich weitergeholfen“, schloss Yagi die Befragung mit einem Lächeln auf den Lippen ab und erhob sich. „Was… Wie…?!“, geriet Dabi ins Stottern, fasste sich aber rasch wieder. „Ich habe dir gar nichts verraten!“ „Mehr als du denkst, mein Junge“, lächelte Yagi väterlich. „Ich denke, in der forensischen Psychiatrie wirst du noch genügend Zeit haben, über unser Gespräch nachzudenken.“ Mit einem letzten Lächeln zu Dabi, auf dessen Gesicht sich eine Mischung aus Verwunderung und Wut spiegelte, stand Yagi auf, gab den Wachen ein Zeichen über einen kleinen Kommunikator und verließ freudestrahlend den Vernehmungsraum. „Das Ritz-Carlton im Midtown Tower in Roppongi.“ Es war eine Feststellung, keine Frage, die Enji just in dem Moment, in dem Yagi ihr Zimmer betrat, an diesen richtete. „Es ist die einzige logische Schlussfolgerung“, bestätigte Yagi nickend. Enjis und Yagis Blicke trafen sich für einen Moment, in dem jeder die Entschlossenheit des anderen fühlen konnte. Aufregung und Tatendrang loderten in Enjis Innerem auf. Endlich wussten sie sowohl Shoutos Aufenthaltsort als auch den des Yakuzabosses. Voller elektrisierender Anspannung stand Enji auf und wollte sich schon zusammen mit Yagi in die Arbeit stürzen, als ihn Hawks‘ Stimme zurückhielt. „Kann mich bitte mal jemand aufklären? Ich kenne mich offensichtlich in Tokyo noch längst nicht so gut aus wie ihr beide. Also woher wissen wir, dass es gerade das Ritz-Carlton ist, das wir suchen?“ Hawks warf ihnen beiden einen fragenden Blick zu und noch ehe einer von ihnen antworten konnte, fügte Hawks noch rasch hinzu: „Natürlich ist mir bewusst, dass er durch seine Reaktion auf die Frage, ob wir auch hoch hinaus müssten, verraten hat, dass es sich bei ihrem Versteck um einen hochgelegenen Ort handeln muss. Aber Wolkenkratzer hat Tokyo eine ganze Menge…“ „Natürlich hast du Recht, Hawks-kun“, erwiderte Yagi mit einer Geduld, die Enji in diesem Moment nicht imstande gewesen wäre aufzubringen. Sein Sohn wartete dort draußen auf seine Rettung und sie trödelten hier herum! „Doch du vergisst, dass Dabi uns auch einen weiteren Hinweis geliefert hat, nämlich, dass der Yakuzaboss keine halben Sachen macht. Ein solch mächtiger Mann wird sein Hauptquartier kaum in einer heruntergekommenen Spelunke aufschlagen. Nein, als Oyabun wird er seinem Rang und Namen entsprechen und eine Unterkunft wählen, die seinem Stand angemessen erscheint. Also ein Hotel, Ryokan oder andere Unterkunft, die sämtlichen Komfort, aber auch äußerste Diskretion bietet. Und wenn er, wie Dabi hat durchscheinen lassen, nur in Extremen denkt, lässt dies nur einen einzigen möglichen Schluss zu: Das Ritz-Carlton im Midtown Tower in Roppongi, das am höchsten gelegene Luxushotel Tokyos.“ Nachdem Yagi seine endlos erscheinenden Ausführungen beendet hatte, nickte Hawks nach einem kurzen Moment des Nachdenkens zustimmend und erhob sich ebenfalls. „Können wir dann gehen?“, knurrte Enji und schritt als Erster durch die Tür, der Rettung seines Sohnes und dem Fall der Yakuza entgegen. Auch wenn er seinen Sohn am liebsten so schnell wie möglich aus den Fängen der Yakuza befreien wollte, konnten sie nicht einfach und ohne jeglichen Plan das Hotel stürmen und damit womöglich die Yakuza aufschrecken, noch bevor sie überhaupt die Gelegenheit erhalten hatten, bis zum Boss vorzudringen. Nein, so schwer es Enji auch fiel, die Füße stillzuhalten, war das Gelingen ihrer Mission von solcher Wichtigkeit, dass sie einer umfassenden Vorbereitung bedurfte. Doch Enjis Team arbeitete seit Jahren reibungslos zusammen und so waren binnen eines Tages sämtliche Kräfte angefordert, der Aufbau des Hotels studiert und die erforderlichen Durchsuchungsbeschlüsse eingeholt worden. Nicht nur seiner unermüdlichen Arbeit, sondern auch der seines Teams war es zu verdanken, dass sie sich nicht einmal 24 Stunden später im Aufzug des Ritz-Carlton Hotels befanden, der Yagi, Hawks und ihn in den als Kommandozentrale ausgestatteten Raum, in dem das restliche Team bereits wartete, bringen würde. Die Zentrale, von der aus die Führung inklusive ihm agierte, hatten sie sechs Stockwerke oberhalb der Hotellobby, die sich im 45. Stock befand, aufgeschlagen. Ihr Ziel war die Suite im obersten 53. Stockwerk, zu dem sie sämtliche Ein- und Ausgänge bewachten und zu dem die Einsatzkräfte unterwegs waren. Wieso sich das gesamte Special Investigation Team in ihrer breitschultrigen Ausrüstung gerade mit ihnen zusammen in den Fahrstuhl quetschen musste, erschloss sich Enji hingegen nicht. „Ich kriege… keine… Luft“, hörte er Hawks, der zwischen ihm und dem hünenhaften Truppenführer Kan eingepfercht war, heiser röcheln. „Stell dich nicht so an, es sind nur noch wenige Stockwerke.“ „Du hast gut reden! Da oben ist die Luft bestimmt besser als hier unten“, maulte Hawks weiter und bewegte seine Schultern, um sich in dem beengten Aufzug mehr Platz zu verschaffen. Noch ehe Enji darauf etwas erwidern konnte, kam der Fahrstuhl mit einem hellen Ping zum Stehen, die Fahrstuhltüren öffneten sich und entließ sie in den Flur der 51. Etage. Bis auf zwei Mitglieder des Einsatztrupps, die mit dem Aufzug weiter nach oben fahren würden, folgten ihnen die restlichen Kräfte, da sie die letzten zwei Etagen über das Treppenhaus erklimmen würden. Mit einem knappen Nicken in Richtung Kans teilten sie sich auf und während sich die Einsatzkräfte zur Treppe begaben, betraten Yagi, Hawks und er das Hotelzimmer, das sie zu ihrer Zentrale umfunktioniert hatten. Enji hatte zwar in den letzten 24 Stunden kaum geschlafen, doch das Adrenalin, das durch seine Venen gepumpt wurde, ließ keine Müdigkeit in ihm aufkommen. Voller Anspannung ließ er sich auf einem Stuhl im Kommandoraum nieder und schnappte sich ein Headset, den Blick sogleich auf die Monitore vor ihm fixiert, auf denen er das Geschehen auf dem Dach mitsamt Heliport, im Flur des 53. Stockwerks vor den Aufzügen und anhand der Bodycams des Einsatztrupps auch unmittelbar vor Ort verfolgen konnte. In der Suite selbst hatten sie, ohne die Yakuza auf sich aufmerksam zu machen, keine Kameras installieren können, sodass sie ganz auf die Kollegen vor Ort angewiesen waren, um zu erfahren, was vor sich ging. Obwohl er, kaum dass er Platz genommen hatte, nur schwer still auf seinem Stuhl sitzen bleiben konnte, sondern vielmehr unmittelbar am Geschehen beteiligt sein wollte, wusste Enji, dass er weder die erforderliche Ausbildung dazu hatte noch den auf solche Situationen spezialisierten Einsatzkräften eine große Hilfe wäre, sondern eher im Weg stehen würde. So hieß es vorerst die Füße stillhalten, abwarten und hoffen, dass die Kollegen ihre Arbeit erfolgreich zum Abschluss bringen würden. Mit bis zum Zerreißen angespannten Nerven beobachtete er einen Monitor nach dem nächsten, sah, wie sich die verschiedenen Teile des Einsatztrupps auf den in wenigen Minuten bevorstehenden Zugriff vorbereiteten. Zwei Polizisten entfernten sich gerade vom Heliport, auf dem ein großer, im schummrigen Licht schwarz glänzender Hubschrauber stand, und stießen zu ihren zwei Kameraden an der Kante des Daches. Vier weitere Uniformierte kamen die Treppe hochgestürmt und lauerten nunmehr hinter der Eingangstür zur Suite, während zwei Männer den Fluchtweg über den Fahrstuhl sicherten. Als alle Kräfte Position bezogen hatten, bebte Yagis Stimme, verstärkt durch das Headset, durch den Raum. „Zugriff!“ Es passierte so vieles gleichzeitig, dass es Enji schwerfiel, das Gesamtgeschehen nicht aus den Augen zu verlieren. Die Männer, die vor der Tür gewartet hatten, brachen diese mit einem wuchtigen Schulterstoß Kans auf und stürmten in den sich vor ihnen erstreckenden Eingangsbereich der Suite, die Waffen im Anschlag. Zeitgleich seilten sich die vier Polizisten vom Dach von außen am Gebäude ab und brachen, mit den Füßen voran, durch die Fensterscheiben, deren millionenfache Scherben auf den grauen Teppichboden niederregneten. Da sich nunmehr sämtliche Einsatzkräfte mit Ausnahme der zwei, die den Fluchtweg über die Tür absicherten, innerhalb der Suite aufhielten, waren sie allein auf die Kameras an den Körpern ihrer Kameraden angewiesen. Enjis Blicke flogen über die Bildschirme, in der Hoffnung, auf einem von ihnen einen rot-weißen Haarschopf zu erblicken. Und tatsächlich, in einer Ecke, flankiert von zwei Wachen, saß sein Sohn, gefesselt und mit einem Knebel im Mund. Auf weiteren Kameras erkannte er das Mädchen, das ihn in der Pachinko-Halle mit dem Messer angegriffen hatte, den Mann, den er und Hawks nach dem Besuch im Ramen-ya im Auto verfolgt hatten, und etwa ein Dutzend weiterer Personen, die er zuvor noch nie gesehen hatte, darunter ein weißhaariger, kränklich aussehender junger Mann. Noch ehe er den neben diesem stehenden großen, vernarbten und kahlköpfigen Anzugträger näher in Augenschein nehmen konnte, wurde die Szene jedoch in Rauch und Kugelhagel gehüllt, als beide Seiten das Feuer aufeinander eröffneten. „Shouto!“, brüllte Enji, ungehört von den in der Suite Versammelten, und in seinen Ohren rauschte es vom ohrenbetäubenden Schusswechsel. Er schaute zur Seite, als er spürte, wie sich eine Hand auf seinen Unterarm legte. „Deinem Sohn geht es bestimmt gut. Unsere Leute wissen, was sie tun“, sagte Hawks und lächelte ihm aufmunternd zu. Enji schluckte den Kloß im Hals herunter und nickte, konnte und wollte in diesem Moment keinen Zweifel daran haben, dass Hawks mit „unseren Leuten“ die Polizei und nicht die Yakuza meinte. Schüsse und Schreie lenkten seine Aufmerksamkeit wieder zu den Bildschirmen, auf denen sich ein Bild von Chaos und Gewalt widerspiegelte. Er konnte zwischen all dem Rauch und den umgeworfenen Möbelstücken nur einzelne Fragmente ausmachen. Aber es stimmte ihn zuversichtlich, dass er bislang lediglich zwei eindeutig zur Yakuza gehörende Körper auf dem Boden liegen sah und sich sämtliche Bodycams noch in Bewegung befanden. Weitere Schüsse fielen, zwei Gestalten befanden sich in einem Handgemenge, das sie mit Schlägen und Tritten austrugen, und endlich sah er Shouto. Er schien unverletzt und bei Bewusstsein zu sein, denn er wehrte sich mit Leibeskräften gegen einen hochgewachsenen Mann in weißem Hemd und grauer Weste, dessen Gesicht im Dunklen lag und der ruppig am Arm seines Sohnes in Richtung der Fenster zog. Aus dem Winkel einer anderen Kamera sah er, dass sich der alte Glatzkopf und der weißhaarige Jüngling ebenfalls auf die Fensterfront zubewegten, dabei auf alles und jeden schossen, der ihnen dabei in die Quere kam. „Sie versuchen, über die Feuertreppe zu fliehen! Und sie haben Shouto dabei!“, brüllte Enji in sein Headset, was bei den Einsatzkräften vor Ort prompt eine Reaktion auslöste. Zwei der acht Polizisten gaben ihre Deckung auf, in die sie sich während des immer noch andauernden Schusswechsels begeben hatten, und stürmten auf die drei Flüchtenden mit ihrer Geisel zu. Doch anstatt ihren Fluchtweg weiter zu verfolgen, drehte sich der alte Mann um und hob die Waffe, während der Westenträger und der Weißhaarige mit Shouto weiterliefen und schon fast die Feuertreppe erreicht hatten. Mehrere Schüsse fielen, an deren Ende eine Person auf dem Boden lag. Enjis Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen, als sein Kamerad neben dem Gefallenen niederkniete, den regungslosen Leib in den Armen hielt. Er starrte direkt in das leblose Gesicht Kans, in dessen weit aufgerissene, jedoch erloschene Augen, die die Bodycam des anderen Polizisten auf seinen Monitor warf. „Dieser Bastard!“, rief Enji, vor Zorn bebend, und sprang mit solcher Wucht von seinem Stuhl auf, dass dieser von ihm weggeschleudert wurde. „Dafür wird er bezahlen!“ „Todoroki-san“, meinte Yagi und hob beschwichtigend die Hände. „Wenn wir uns jetzt von unseren Emotionen und unserem Wunsch nach Gerechtigkeit überwältigen lassen, ist nicht nur die Mission, sondern auch das Leben deines Sohnes in Gefahr.“ Enji wirbelte herum und setzte schon zu einem verbalen Gegenschlag an, dass es nicht um Gerechtigkeit ginge und sie jetzt nicht einfach so tatenlos herumsitzen könnten. Er besann sich jedoch, als er merkte, dass sein Drang, etwas zu tun, vorwiegend aus seinem Durst nach Rache resultierte, und atmete einmal tief durch, ehe er erneut das Wort erhob. „Sie wollen auf das Dach, Yagi! Da die anderen Einsatzkräfte noch in die Schießerei verwickelt sind, müssen wir tätig werden und ihnen den Fluchtweg abschneiden! Der Helikopter auf dem Dach dürfte zwar unschädlich gemacht worden sein, aber die Yakuza ist zu gerissen, als dass sie sich nicht doch noch eine Möglichkeit zur Flucht überlegt! Und sei es auf Kosten des Lebens meines Sohnes!!“ Yagi blieb für einen Moment stumm, schien über seine Worte nachzudenken, ehe er nickte. „Also gut. Da uns keine andere Wahl bleibt, gehen du und Hawks zum Dach, während wir hier die Stellung halten. Aber… passt auf euch auf!“ Yagis Warnung hatte Enji kaum noch vernommen, sondern war schon aus der Tür in Richtung des Treppenhauses gestürmt, bevor der andere geendet hatte. „Komm!!“, brüllte er noch über seine Schulter und obwohl das Blut in seinen Ohren rauschte, musste er sich nicht erst umdrehen, um Hawks’ Schritte hinter sich zu hören. Seine Lungen brannten, als er die letzten Treppenstufen erklomm und mit einem Ruck die Tür, die zum Dach führte, aufriss. Ihm dicht auf den Fersen, stolperte auch Hawks keuchend durch die Metalltür und kam neben ihm zum Stehen. Enji brauchte nur einen kurzen Moment, um sich zu orientieren. Das Treppenhaus hatte sie direkt zum Heliport geführt, auf dessen genau gegenüberliegender Seite die Feuertreppe lag. Enji wusste nicht, wie sie das geschafft hatten, da sie immerhin mehr Stockwerke hatten überwinden müssen als die Flüchtenden. Vielleicht hatte Shouto ihr Fortkommen lange genug behindern können… Denn als er seinen Blick an dem Hubschrauber vorbei in Richtung der Feuertreppe lenkte, waren lediglich drei schlanke Gestalten auf dem Dach, während die bullige Statur des Glatzkopfs erst just in diesem Moment am Ende der Treppe auftauchte. Da zwischen einer Flucht über das Treppenhaus Enji und Hawks und diese näher am Hubschrauber standen, gab es für die Yakuza lediglich den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie saßen in der Falle. Das schienen auch die drei Männer zu realisieren, denn sie machten Anstalten, wieder über die Feuertreppe zu verschwinden, als sie sahen, dass ihnen der Fluchtweg abgeschnitten war. Doch zur Sicherheit Shoutos galt es eine Flucht zurück mit allen Mitteln zu verhindern. Als hätte Hawks seine Gedanken gelesen, preschte er voran, die Waffe, die Enji ihm zum Zweck dieser Mission ausgehändigt hatte, im Anschlag. Enji tat es ihm gleich und setzte ihm mit großen Schritten hinterher. „Polizei! Stehenbleiben!“, bellte Enji, als sie sich bis auf etwa zehn Meter genähert hatten. „Und lassen Sie die Geisel frei!“ „Sie hätten sich nicht mit uns anlegen dürfen, Todoroki-san“, wandte sich der Glatzkopf mit diabolischem Grinsen, mit einem Fuß bereits wieder auf dem obersten Treppenabsatz, direkt ihm zu und Enji erschauderte leicht bei seiner öligen Stimme. „Und ich wüsste nicht, wieso wir Ihnen Ihren Sohn übergeben sollten. Sie befinden sich keinesfalls in einer Position, derartige Forderungen stellen zu können.“ Der alte, glatzköpfige Mann, bei dem es sich aufgrund seiner Sprechweise und der Autorität, die er ausstrahlte, unzweifelhaft um den Oyabun handelte, machte eine vage Bewegung mit dem Kopf in Richtung seines Untergebenen, der Shouto festhielt. Dieser verstand den Befehl seines Bosses sofort und zerrte Shouto mit einem Ruck mit sich, direkt auf den Abgrund zu, der am Rand des Daches lauerte. „Wie Sie sehen, haben Sie derzeit weitaus mehr zu verlieren als ich“, höhnte der andere mit boshaftem Gelächter. „Wenn Sie uns weiter in die Quere kommen, wird Kurogiri nur zu gern Ihrer Bitte nachkommen und Ihren Sohn… freilassen.“ Enji schluckte schwer. Tatsächlich hatten Hawks und er momentan schlechte Karten, wenn sie ihrer obersten Priorität, das Leben seines Sohnes zu retten, nachkommen wollten, gleichzeitig aber die Yakuza festzunehmen gedachten. Denn ob Shouto, der lediglich mit gestrecktem Arm auf der Dachkante balancierte, das Hochhaus hinabfiel oder nicht, lag allein in der Macht des Yakuzabosses und seiner Untergebenen. Einen Schusswechsel konnten aus der geringen Entfernung auch weder sie noch die Yakuza riskieren, ohne dass erhebliche Opfer auf beiden Seiten zu befürchten wären. Um Zeit zu schinden, in der er hoffte, dass entweder Hawks oder ihm ein Ausweg aus diesem Dilemma einfiel, blieb ihm also lediglich, ihre Gegner so lange hinzuhalten, wie es ging oder bis Unterstützung nahte. „Ich denke, Sie verkennen Ihre Lage“, raunte Enji ebenso bedrohlich wie sein Gegenüber. „Ihr Versteck ist gefallen, Sie haben keinen Ort mehr, an den Sie unbemerkt flüchten können. Und unten erwarten Sie zig Polizisten, die Sie mit Freude festnehmen werden.“ „Die Polizisten, die gerade von meinen Männern abgeschlachtet werden?“ Seine Stimme war fast nur ein Flüstern, doch so laut und deutlich vernehmbar, als würde er direkt neben Enji stehen. „Der Verlust Ihres Kollegen, der durch meine Hand gestorben ist, muss Sie hart getroffen haben. Doch seien Sie versichert, es wird nicht bei dem einen bleiben.“ Zorn ob der Respektlosigkeit seines Gegenübers in Anbetracht des gefallenen Kollegen flammte in Enji auf, die die Trauer über Kans Tod beinahe erstickte. Doch er musste sich beherrschen, durfte aus Wut keinen Fehler machen, beabsichtigte der andere doch nur, ihn mit seinen Worten zu einer unbedachten Reaktion zu provozieren. „Sie unterschätzen die Fähigkeiten unserer Kollegen, die – im Gegensatz zu Ihren Untergebenen – für Recht und Gerechtigkeit einstehen“, gab Enji daher in betont ruhigem Tonfall zurück. „Gerechtigkeit!“, spie der Glatzkopf aus und lachte spöttisch. „Loyalität ist das, was die Menschen antreibt! Meine Mitarbeiter… meine Familie ist ihrem Vater treu ergeben und bereit, für mich in den Tod zu gehen. Denn diejenigen schwarzen Schafe, die ihre Loyalität der Liga gegenüber mit Füßen treten, werden ihren Fehler nicht lange bereuen können…“ Sein Blick blieb an Hawks hängen, der weiterhin die Waffe auf seinen ehemaligen Boss gerichtet hatte. „Hawks, du hast mich sehr enttäuscht. Haben wir dich nicht mit offenen Armen in unserer Familie empfangen, dir ein Dach über dem Kopf gegeben, als dein nichtsnutziger Vater dich im Stich gelassen hat?“ „Einen Scheiß habt ihr!“, entfuhr es Hawks. „Wie Dreck unter euren Schuhen habt ihr mich behandelt und mich eure Drecksarbeit machen lassen! Und Sie haben sich mir gegenüber nicht ein einziges Mal zu erkennen gegeben… so sehr haben Sie mich respektiert!“ Hawks‘ Stimme und Hand, die die Waffe hielt, zitterten leicht. Enji befürchtete kurz, Hawks könnte die Beherrschung verlieren und etwas Unbedachtes tun, doch im nächsten Moment atmete er einmal tief durch und hatte sich wieder unter Kontrolle. „Ich wusste nicht einmal, für wen ich all die Jahre mein Leben aufs Spiel gesetzt habe!“, fuhr Hawks schneidend fort und hob die Waffe noch ein Stück höher. „Doch diese Zeiten sind nun vorbei.“ „Drohst du etwa unserem Vater, Hawks?“, mischte sich die schnarrende Stimme Shigarakis plötzlich ein. „Hast du keinen Anstand, dass du die Waffe gegen ihn richtest, du aasfressender kleiner Schma–“ „Schweig, Tomura.“ Der Befehl war weder laut noch herrisch erteilt worden, doch Shigaraki verstummte augenblicklich und warf seinem Boss einen zerknirschten Blick zu. „Hm. Ist doch wahr… Dieses Miststück verdient den Tod…“ „Was deine Frage angeht, Hawks…“, fuhr der Yakuzaboss fort, ohne auf Shigarakis gehässiges Gemurmel einzugehen. „Meinen Namen habe ich bereits vor langer Zeit abgelegt. Wozu brauche ich noch einen Namen, wenn die Mitglieder meiner Familie, die alles für mich tun würden, mir ihren ganz eigenen Namen gegeben haben? Ich bin ihr Vater, ihr Oyabun… ihr All For One.“ „All For One?“, platzte es aus Enji heraus, der das Pseudonym als ziemlich anmaßend empfand. „Äußerst großspurig für jemanden, der mit gerade einmal zwei Gefolgsleuten an seiner Seite der Polizei die Stirn bieten muss.“ „Großspurig?“, lachte der Oyabun, wobei Enji nicht verstand, was es zu lachen gab. „Ich denke, in Anbetracht der Umstände bin nicht ich derjenige, der große Töne spuckt, Herr Hauptkommissar.“ Ehe Enji darauf etwas entgegnen konnte, blieb ihm die auf seiner Zunge liegende Frage im Hals stecken, als er zu seinem Entsetzen ein allzu vertrautes Geräusch vernahm und im nächsten Moment hinter den Yakuza ein weiterer Helikopter emporstieg. Offenbar hatte einer der Yakuza während ihres Gesprächs unbemerkt ein weiteres Fluchtfahrzeug angefordert und der Oyabun ebenfalls auf Zeit gespielt. Während alle Augenpaare für einen Moment auf dem nunmehr über ihnen kreisenden Hubschrauber ruhten, hörte Enji inmitten des Rotorenlärms plötzlich einen Schmerzensschrei. Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf die vier Personen vor sich richtete, sah er, wie sich der schlanke Mann in der Weste seinen schmerzenden Fuß hielt, auf den Shouto, der die allseitige Ablenkung genutzt hatte, offensichtlich getreten und sich dadurch aus dessen Griff befreit hatte. Sein Sohn, immer noch gefesselt und geknebelt, stürmte los. Doch noch bevor er aus der Reichweite seines Wächters fliehen konnte, hatte sich dieser bereits von dem Schreck und Schmerz erholt und setzte Shouto nach. Wenige Meter später stolperte er jedoch abrupt und kam zu Fall, wo er, sein blutendes Knie haltend, liegen blieb. Enji, der nicht in der Lage gewesen war, so schnell zu reagieren, sah neben sich zu Hawks, die noch rauchende Pistole auf den am Boden Liegenden gerichtet, einen grimmigen Ausdruck im Gesicht. „Halte du den Boss und den anderen auf, ich kümmere mich um Shouto“, sagte Hawks mit einer derart ruhigen Stimme, die Enji, dem das Herz bis zum Hals schlug, in so einer Situation nicht erwartet hätte. Die entschlossene Art, in der der Jüngere ihm diesen Vorschlag unterbreitete, ließ in ihm auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass sein Sohn bei Hawks nicht in den besten Händen wäre. „Das musst du mir nicht zweimal sagen“, gab Enji daher nur knapp zurück. Nachdem er sich mit einem Blick zurück vergewissert hatte, dass sich Hawks Shoutos annahm und diesem entgegeneilte, um ihn in Sicherheit zu bringen, hechtete Enji auf den Helikopter zu, dessen Kufen wenige Zentimeter über dem Boden schwebten. Während Hawks und er mit der Flucht Shoutos beschäftigt gewesen waren, hatten der Boss und sein weißhaariger Untergebener ihren niedergestreckten Kameraden ohne jegliches Zögern zurückgelassen und die Gelegenheit genutzt, zu ihrem Fluchtmittel zu rennen. Es waren nur wenige Sekunden, die die beiden ihm voraushatten, doch diese hatten ausgereicht, dass die Flüchtenden den Helikopter erreichen und in die geöffnete Tür springen konnten. Kaum waren der Oyabun und der Weißhaarige sicher im Inneren des Hubschraubers, hob dieser bereits wieder ab, noch bevor Enji ihn erreichen konnte. Er fluchte laut und platzte beinahe vor überschäumender Wut, als er noch einen Blick auf das von einem selbstgefälligen Lachen verzogene Gesicht des Oyabun erhaschte. „So knapp, mein Guter, so knapp! Noch einmal werden wir uns nicht wiedersehen!“ Enji stand da wie versteinert, unfähig, die richtige Entscheidung zu treffen. So lange hatte er auf diesen Moment gewartet und nun war ihm der Yakuzaboss erneut entwischt. Ihm wieder auf die Schliche zu kommen, würde Jahre dauern, wäre er in Zukunft doch noch deutlich vorsichtiger als bisher. Um dies zu verhindern, blieb ihm nur eine Möglichkeit… Eine Möglichkeit, die mit Recht und Gesetz nicht wirklich in Einklang zu bringen war, die ihn seinen Job kosten könnte, und doch… Es blieb keine Zeit mehr für Überlegungen, er musste handeln, jetzt oder nie. Wie an unsichtbaren Fäden setzte sich sein massiger Körper in Bewegung, sprintete zur äußersten Kante des Daches, wo er zuvor etwas auf dem Boden hatte liegen sehen. Und tatsächlich, dort lag, vermutlich leichtsinnigerweise von einem der Polizisten, die vom Dach aus durch die Fensterscheiben in die Suite eingedrungen waren, zurückgelassen, eine Maschinenpistole. Ohne einen weiteren Gedanken an sein Handeln und dessen Folgen zu verschwenden, nahm Enji die Waffe vom Boden auf, entsicherte sie und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass sie geladen war. Der Helikopter hatte sich bereits ein gutes Stück vom Dach des Hotels entfernt, war aber immer noch in Reichweite. Vorausgesetzt, er traf. Hoch konzentriert hob er die Handfeuerwaffe an und führte sie so vor sein Auge, dass er sein Ziel anvisieren konnte. Es war etwas gänzlich anderes, mit einer vollautomatischen länglichen Waffe und nicht wie sonst mit seiner normalen Pistole zu schießen. Doch auch wenn er schon länger nicht mehr in der Praxis dazu gekommen war, so war er mehr als dankbar dafür, dass er sich mindestens einmal jährlich in der Handhabung sämtlicher von der Polizei verwendeten Waffen bewähren musste. Er atmete ruhig ein und etwa die Hälfte des Sauerstoffs wieder aus, hielt sein Ziel im Blick, den Finger am Abzug gekrümmt. Er musste nur die richtige Stelle treffen, dann… Für die Sekunde, in der er schoss, hielt er die Luft an, um die Kugel durch seine Atmung nicht abzulenken. Er hatte kaum den Finger am Abzug betätigt, als er bereits das ohrenbetäubende Geräusch des abgeschossenen Projektils vernahm, das sein Ziel suchte und fand. Enji blickte von seinem Visier auf und schaute hoch gen Himmel, an dem sich ihm ein Schauspiel seinesgleichen bot. Das Projektil war in dem empfindlichen Bereich der Rotorenanlage eingeschlagen, exakt dort, wo er es beabsichtigt hatte. Der Helikopter, durch die beschädigten Rotorenblätter aus dem Gleichgewicht gebracht, fing an, sich um die eigene Achse zu drehen. Der Pilot schien die Kontrolle verloren zu haben, denn anstatt sich wieder zu fangen, stürzte der Hubschrauber immer schneller gen Boden, mitten auf den kleinen Park neben dem Hotelgebäude zu. Nachdem er sich weitere Male gedreht hatte, prallte er schließlich mit dem Heck voran auf dem Boden auf. Da er zuvor mehrere Bäume und Äste mitgenommen hatte, die Motor und Tank offenbar in Mitleidenschaft gezogen hatten, ging der Helikopter sogleich in Flammen auf, worauf nach wenigen Sekunden eine gleißend helle Explosion folgte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)