Wintergeschichten von WeißeWölfinLarka (Adventskalender-Aktion des YuKa-Zirkel 2020) ================================================================================ 02.12.: Du hast MICH angelogen! - Gastbeitrag von Mitternachtsblick ------------------------------------------------------------------- Es schneite über Berlin, als Kai heimkam, winzige Flocken, die sich einfach noch nicht dazu bekennen wollten, dass sie eigentlich Regen waren. Es war Abend, und die Leute waren immer noch müde von den Silvesterfesten, die das Jahr 1922 mit Pomp und Glorie eingeläutet hatten, weshalb jene Ruhe über der Stadt lag, die man nur in den Tagen zwischen dem ersten und zweiten Januar fand. Kai hatte selbst in dem Zug, in dem er die Silvesternacht verbracht hatte, etwas davon mitbekommen. Sein Koffer war schwer, als er ihn die Treppen zu Yuriys kleiner Wohnung hinaufzerrte. All die Jahre, und er konnte sich immer noch dazu überwinden, sie ihre gemeinsame Wohnung zu nennen. Er weigerte sich auch, permanent einen Schlüssel dazu zu besitzen, also läutete er an, als er endlich im obersten Stockwerk angekommen war. Fünf Minuten vergingen, in denen Kai ungeduldig und durchgefroren wurde, denn im Treppenhaus herrschte nicht gerade wohlige Wärme. Dann, endlich, öffnete sich die Tür: Ein Schwall von Licht und Rauch, Orangenduft und Tannennadeln ergoss sich auf den kalten Stein. Kai ließ den Koffer fallen, starrte. Yuriy lehnte im Türrahmen, eine Zigarette zwischen den Lippen, die so rot waren wie trocknendes Blut, und musterte ihn aus kohlumrandeten Augen. Seine Haut, kerzenlichtgeküsst, wirkte noch blasser als sonst. Er musste Puder aufgetragen haben, überlegte Kai im Stillen. „Du bist wieder da”, sagte Yuriy ohne sichtliche Überraschung. Seine Stimme klang wie durch Schmirgelpapier aufgeraut. Er war dünner als das letzte Mal, als sie einander gesehen hatten. „Du hast mich angelogen, ich dachte, du kommst erst wieder in zwei Wochen.” „Du hast mich angelogen”, widersprach Kai und trat an ihm vorbei in die winzige Wohnung, still dankbar, als Yuriy hinter ihm die Tür schloss. Seit seinem letzten Aufenthalt hier vor etwa drei Monaten hatte sich nicht viel verändert. Die Wohnung bestand immer noch aus einer kleinen Küche, in der gleichzeitig hinter einem Vorhang auch der Waschbereich war, und einem einzelnen, großen Raum, in dessen hinterste linke Ecke ein Bett, gerade groß genug für zwei schmale Leute, geschoben worden war. Die Wände waren bedeckt von Zeichnungen - Kohleskizzen, Bleistiftskizzen, Aquarelle, Porträts, Porträts, Porträts. Augen überall, Yuriy war besessen von Augen, aus allen Ecken blinzelten sie Kai entgegen, unter ihnen nicht selten seine eigenen. Yuriy wollte Seelen fangen, machte einen guten Job damit, aber in Berlin liebte man vor allem seine abstrakten Gemälde - große, düstere Striche voller Wut und Sehnsucht, die direkt am Puls der Zeit lagen. Er hätte schon längst Ausschau nach einer größeren Wohnung offen halten können, aber aus irgendeinem Grund machte er es nur recht halbherzig. Stattdessen investierte er sein Geld in Zigaretten und Nächte im Blauen Vogel, für das er auch Bühnenbilder gestaltete. Er diskutierte endlose Nächte mit Andrej Belyj, trank teuren Whiskey mit Isherwood, dem er mit seinem neuesten Romanprojekt half, und er malte, malte malte. Sein ganzes Geld gab er lieber für Farben aus, für die besten Pigmente und anständige Leinwand, vernünftiges Papier. Kai schlief ein und Yuriy skizzierte, Kai wachte auf und Yuriy malte. So war es immer gewesen. Yuriy schlief nicht, schlief viel zu wenig, die Oktoberrevolution und der Krieg, die ihn aus seiner Heimat getrieben hatten, hatten ihre Spuren ein für allemal hinterlassen. Jetzt gab Yuriy einen fragenden Laut von sich und ließ sich auf den zerkratzten Schemel vor seinem Spiegel fallen, legte die Zigarette in einem Emaille-Aschenbecher ab und begann, sich das lange, rote Haar auszubürsten. Kai konnte die Augen nicht von dem schwarzen Chiffon nehmen, der lautlos um seine Beine spielte wie wogendes Nachtwasser. Yuriy trug keine Schuhe; unter dem Nachtwasserchiffon blitzten seine bestrumpften Knöchel auf. „Du hast gesagt, dass du keine Kleider trägst”, sagte Kai. Er traute seiner eigenen Stimme nicht, legte langsam, sehr langsam den Hut ab, dann die Lederhandschuhe. Yuriys Lächeln, das ihm mit blutroten Lippen durch das Spiegelglas zugeworfen wurde, fühlte sich an wie ein Herzinfarkt. „Das ist kein Kleid”, sagte Yuriy genüsslich, weil er sich immer schon gern an Semantiken aufgehängt hatte. „Das ist ein Rock.” Kai sagte nichts, sondern knöpfte sich den Mantel auf, schüttelte behutsam den Schnee in einer halbwegs freien Ecke aus und hängte ihn neben das Öfchen, das munter vor sich hin brannte. In der Zwischenzeit hatte Yuriy begonnen, seine Haare unter einem schwarzen Turban zu verbergen, bis nur noch zwei einzelne, sorgfältig auf seinen Schläfen zurechtgegelte Haarsträhnen wie Brandmale daraus hervorragten. Kai sah ihn an, bis es wehtat, dann wandte er sich ab, griff  nach dem Wodka auf dem Nachttisch, der eigentlich nur eine zweckentfremdete und bemalte Kiste war, und schenkte sich ein Glas ein. Der Alkohol brannte seine Kehle hinab, er fühlte sich besser, er ging mit dem Glas in der Hand hinüber und sank auf den Boden. Nachtschwarzer Chiffon, der ihm ums Kinn spülte, wo er es in die Wogen und gegen Yuriys Knie legte. Er sah auf. Die funkelnden Steine im Zentrum des Turbans blendeten ihn - es war, wie in eine ungebrochene Schneefläche in der Mittagssonne zu sehen. Yuriy legte den Kohlstift beiseite, lehnte sich zurück, griff nach der Zigarette und machte einen tiefen Zug davon, während er Kai unter schweren Augenlidern hervor betrachtete. Seine langen, weißen Finger fanden ihren Weg in Kais dunkle Haare und strichen langsam, zärtlich hindurch. „Wie lange, bis du mich wieder verlässt?”, fragte er mit rasiermesserscharfer Sanftheit. Kai machte einen tiefen Atemzug. Dann setzte er sich ein wenig aufrechter hin, trank einen Schluck Wodka, bis er Yuriy wieder ansehen konnte, ohne von Sehnsucht überwältigt zu werden. „Wirst du über diesem Rock noch etwas anderes tragen?”, fragte er. Yuriy musterte ihn lange. Dann wandte er sich ab, Zigarette fast komplett herab gebrannt in seinem Mundwinkel hängend, und griff nach einer schwarz-weißen Pelzstola, die er sich locker um den Hals drapierte. Er lehnte sich wieder zurück, drückte den Zigarettenrest aus, sah ihn an. Es dauerte einen Moment, bis Kai den Blick von der Stelle losreißen konnte, wo die Stolaenden über Yuriys Brust schmeichelten. Er trank mit einem Ruck sein Glas aus, der Alkohol stieg ihm augenblicklich zu Kopf, er rutschte vorwärts in die nachtschwarzen Chiffonfluten, die sich für ihn teilten und ihn verschluckten. Seine Hände fanden die sanften Schatten unter Yuriys Rippen, wanderten höher, höher, sein Mund folgte ihnen, fand unter der Stola eine Brustwarze, Yuriy biss sich auf die blutroten Lippen und stöhnte leise. „Wie lange?”, wisperte er dann, hartnäckig wie ein Spürhund auf der Fährte. Seine Augen waren so blau. Sie leuchteten unter dem Schwarz hervor, leuchteten mehr als die Steine auf seinem Turban, mehr als seine Lippen, Kai konnte sich nicht an ihm sattsehen. Alles davon haben, dachte er und küsste sich dabei über Yuriys Kehle hinauf, während der Pels ihn am Hals kitzelte, ja, alles davon haben - aber nur für den Moment, damit es kostbar blieb. Yuriy konnte das nicht verstehen, würde es nie verstehen können, eine Erklärung war dementsprechend sinnlos. Sie waren am besten zusammen, wenn sie miteinander schwiegen. „Wie lange?”, wisperte Yuriy, und Kai tauchte mit einer Hand unter die Chiffonfluten, fand schwarzen Nylonstrumpf und glitt daran Yuriys Bein hinauf, höher, höher, sein Mund fand Yuriys und küsste ihm das Rot von den Lippen. Er wollte keine Fragen beantworten, er wollte nicht reden. Er wollte schauen, wollte sich und Yuriy Schicht um Schicht entblättern, bis sie einander sahen, und dann wollte er das Bild mit sich nehmen, wenn er wieder ging. Es spielte keine Rolle, wie lange er blieb. Jetzt war er hier, und das war alles, was zählte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)