Unlimited von Farbenmaedchen ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Ich schlage die Türen beiseite. Keuchend stütze ich mich auf den Knien ab und versuche zu Atem zu kommen. Von meinen Haaren tropft der Regen zu einer Pfütze am Boden, weil es draußen aus Eimern schüttet. Mit einem Seufzen richte ich mich auf und laufe weiter in den Supermarkt, der von weitem den Nachthimmel wie eine Lichterkette erleuchtet hat. Den Einkaufswagen schenke ich keine weitere Beachtung, weil ich weiß, dass ich sowieso niemals das Geld besitzen würde, ihn zu füllen. Stattdessen hole ich aus der Hosentasche einen wiederverwendbaren Beutel und streife durch die leeren Gänge.  Kaum jemand ist zu der späten Stunde noch unterwegs, weshalb ich nicht lange brauche, um bei den reduzierten Fertignudeln anzukommen. Großzügig schaufle ich ein paar der Becher hinein. Auch vom Studentenfutter kommen einige Tüten mit. Damit wäre mein Einkauf schon erledigt, doch ich kann mich nicht abhalten, an der Schokoladentheke stehenzubleiben und meinen Blick über die gute Auswahl wandern zu lassen. Schon die verblüffenden Namen der Sorten zeigen mir, dass ich keine von denen jemals probieren könnte. Mit Likör, in einer künstlerischen Form oder im Mund zerlaufend... gute Schokolade können sich eben nur gutbetuchte Menschen leisten. Mein Blick bleibt an einer Frau mittleren Alters hängen. Sie biegt gerade mit ihrem prall gefüllten Einkaufswagen an der Ecke ab und stellt sich dann neben mich. Im praktischen Sitz des Wagens späht ein kleines Mädchen mit zwei Zöpfen zu mir auf und blinzelt mich neugierig an. Der Mann von der Theke kommt aus dem Hinterzimmer und ich schenke dem Mädchen ein Lächeln zum Abschied bevor ich gehe. Ich komme am Getränkestand vorbei, an dem auch die Frau mit ihrem Kind gestanden hat. Softgetränke oder Bier kosten mehr als der gute alte Wasserhahn, deshalb will ich auch hier nicht anhalten. Trotzdem bleibe ich überrascht stehen und hocke mich hin. Denn unter dem Regal blitzt etwas hervor und als meine Finger darunter gleiten, muss ich mit großen Augen feststellen, dass es ein Geldschein ist.  Ganze Einhunter Dollar. Hastig sehe ich mich um und drücke das Geld an meine Brust, bevor ich aufstehe und gleich nochmal meinen Kopf in alle Richtungen wende. Wenn ich sicher bin, dass mich niemand gesehen hat, schaue ich schluckend auf das Stück Papier, das mir einen genauso vollen Einkaufswagen bescheren könnte, wie der Frau zuvor. Der ist ihr wahrscheinlich rausgefallen, denke ich angestrengt nach und beiße mir auf die Lippe. Aber ich kann nicht sicher sein. Wenn ich ihn zurückgebe, könnte sie mich auch einfach anlügen. Dann bin ich der Gelackmeierte. Ich öffne meine kleine Tüte und sehe mir das wenige Essen an, das für die nächste Woche reichen müsste und es doch nicht würde. Selbst wenn ich jeden Tag nur drei Portionen Fertignudeln esse, käme ich lediglich die nächsten vier Tage damit durch.  Das ist zu wenig, rasen meine Gedanken und zeitgleich grummelt mein Bauch, der mich dafür bestraft, dass ich ihn vernachlässige. Ich habe Hunger. Für diesen Monat ist das Geld schon aufgebraucht. Miete, Strom, Wasser, das musste alles irgendwie gezahlt werden. Dennoch... das geht nicht. Ich beiße mir erneut auf die Lippe, dann laufe ich zur Kasse und lege meinen Einkauf auf das Fließband. Hinter mir taucht auch die Frau auf und tut es mir gleich. Das wäre meine Möglichkeit, ihr das Geld zu geben, aber ich halte den Einhundert-Dollar-Schein lieber dem Kassierer hin, als ich fertig bin. »Den habe ich unter den Regalen gefunden.« »Unter den Regalen? So viel Geld?«, fragt der Mann misstrauisch, nimmt den Schein aber entgegen, damit er ihn begutachten kann. Plötzlich ertönt ein heller Schrei und unsere Köpfe wandern zu der Frau hinter mir, die jetzt mit ihrem Finger auf mich zeigt. »Den suche ich schon die ganze Zeit unter Tränen, du Dieb! Sowas muss man sich also bieten lassen? Erst beklaust du mich und dann kommt das schlechte Gewissen durch?« Mein Mund steht offen und meine Augen weiten sich, bevor ich realisiere, was mir vorgeworfen wird. »Was? Nein! Ich habe ihn doch nicht geklaut, der lag wirklich bei den Getränken!« »Natürlich!«, keift sie sarkastisch. Inzwischen springt der Kassierer auf, was mich einige Schritte zurückweichen lässt. Die Frau stemmt ihre Hände in die Hüfte, um noch lauter zu schreien: »Weil ich auch zu dumm bin, um auf eine solche Menge Geld aufzupassen. Die verliert man nicht einfach so!« Mit einem Mal wird die Tür am Ende des Eingangsbereichs aufgezogen und zwei bullige Männer kommen auf uns zu. Schweiß bricht mir auf der Stirn aus und ich wünsche mir, ich hätte das verdammte Geld einfach behalten. »Gibt es ein Problem?«, fragt der große, als Wachmann uniformierte Typ neben seinem Kollegen und wirft mir einen bösen Blick zu. »Dieser Bengel hat mir Geld geklaut!«, schreit die Frau. »Das stimmt doch gar nicht!«, schreie ich zurück, weil es mir reicht. »Wie kommen Sie darauf? Ich habe gar nichts getan!« »Sehen Sie ihn doch mal an! Abgenutzte Schuhe, fusselige Kleidung, tiefe Augenränder, wahrscheinlich Drogen in der Tasche... man merkt doch sofort, dass der Dreck am Stecken hat!«, keift die Frau ohne Unterbrechung, wobei sie mich nicht zu Wort kommen lässt. Doch das brauche ich auch gar nicht. Anscheinend reichen diese haltlosen Anschuldigungen, damit  die Wachmänner mich packen, gewaltsam aus dem Supermarkt zerren und vor der Tür in den Dreck werfen. Hustend richte ich meinen nassen Oberköper auf, wische mir den Matsch aus dem Gesicht und sehe zurück zum Supermarkt, in dem mein Einkauf liegt. An den komme ich allem Anschein nach nicht mehr, weil diese Hünen von Männer lässig die Arme verschränken und nicht wirken, als würden sie mich nochmal reinlassen. Ich springe zähneknirschend auf, schüttele mich wie ein nasser Pudel und stampfe dann ziellos weg. Nur weil sie sehen, dass ich arm bin, behandeln sie mich, wie einen Schwerverbrecher. Dabei bin ich so ehrlich gewesen und wollte das Geld zurückgeben...! Irgendwann laufe ich über die kleine Verbindungsstraße, welche ins Zentrum führt, bis ich vor dem Fluss stehe, auf dem in dieser Nacht viele beleuchtete Bote fahren, weil Karneval beginnt. Ich lehne mich auf das Geländer und lasse den Kopf hängen. Nur beiläufig nehme ich das nahe Sirenengeheul, das Hupen der Autos oder die blasse Musik von den Schiffen wahr. Es hört zwar auf zu regnen, aber der einzigartige Geruch danach liegt weiterhin in der Luft. Wieso haben sie mir nicht mal zugehört?, lasse ich meine Gedanken treiben, während meine Augen auf den tanzenden Gästen eines Partyschiffs liegen. Und mich so grob anzupacken ist auch nicht nötig gewesen. Ich werde niemals aus diesem elendigen Kreis ausbrechen können... Erst langsame Schritte rütteln mich vom regungslosen Starren wach. Sie werden hinter mir lauter, bis eine Gestalt auftaucht und sich ebenfalls ans Geländer stellt. Seufzend versuche ich die Person zu ignorieren, doch als Rauch an meine Nase dringt, wende ich den Kopf. Abermals wandert hartes Schlucken meine Kehle hinab. Ein kantiges Gesicht, das den kräftigen Zug von der Zigarre in den kalten Himmel pustet. Schwarze Haare, die streng nach hinten gekämmt wurden. Eine große, raue Hand, die auf dem Eisengeländer liegt. Und ein schwarzer Anzug, so dunkel wie die Nacht selbst. Sofort übermannt mich die Frage, was ein eindeutig wohlhabender Mann in dieser Gegend zu suchen hat. Für gewöhnlich irren hier nur Leute wie ich herum - Ungebildet, kriminell und bettelarm. »Sie haben anscheinend auch einen schwierigen Tag gehabt«, sagt plötzlich der fremde Mann mit so tiefer Stimme, dass sich meine Nackenhaare aufstellen. Sofort taste ich mein Gesicht nach Dreck ab, der vielleicht noch an meinen Wangen klebt. Wenn seine grünen Augen zu mir blitzen, wende ich eilig den Blick ab und lieber dem Schauspiel des Flusses zu. »Wer hat das nicht?«, meine ich, obwohl mir die Lust auf freundliche Interaktionen wirklich vergangen ist. »Was macht ein junger Mann zu später Stunde in Winkeln der Stadt wie diesem?« Der Fremde sieht mich nicht weiter an, sondern zieht genussvoll von seiner Zigarre. Aber ich linse zu ihm. Sowas sah ich bisher noch nie in Echt, sondern nur in alten Krimi-Filmen. »Haben Sie keine Angst vor der Mafia, die hier ihr Unwesen treiben soll?« Ein Schauer läuft mir den Rücken hinab. Seine klangvolle Stimme hört sich an, wie das Piano eines alten Komponisten. Die Aura des Fremden fühlt sich für mich wie ein teures Parfüm an, das sich in die Nerven seines Gegenübers schleicht und ihn erdrückt. Mir wird bewusst, dass es besser wäre, nach Hause zu gehen, bevor ich mich wieder in irgendwas verwickle. Der ist nicht ganz sauber, ich sollte mich nicht einmischen, schießt es mir durch den Kopf. Trotzdem sehe ich entgegen meines mulmigen Gefühls zur Skyline der Stadt und sage: »Ich fürchte die Mafia nicht.« »Und was fürchten Sie dann?«, fragt er dunkel.  Ich bleibe still, hole tief Luft. Dann bemerke ich, wie er die qualmende Zigarre hinunter in den Fluss wirft. Platschend kommt sie auf der Wasseroberfläche auf und vermischt sich mit den Wellen der Schiffe. Plötzlich spüre ich einen kräftigen Zug, der mich herumdreht, sodass ich mit dem Rücken gegen das kalte Geländer stoße. Erschrocken reiße ich die Augen auf. Ich sehe zum fremden Mann, der sich über mich lehnt und neben meinen Körper auf das Eisen stützt. Mein Herz beginnt zu rasen, wenn er sich noch weiter nähert, erst anhält, sobald kaum mehr ein Blatt Papier zwischen unsere Lippen passt. Dann raunt er: »Fürchten Sie den Tod?« Zittrig atmend traue ich mich kaum, die Luft auszustoßen, weil sie den fremden Mann streifen würde. Mir steht der Mund offen, kein Wort entweicht. Sein Knie findet zwischen meine Beine und der Puls erhöht sich weiter. Der große Körper drängt mich nach hinten. Obgleich meine Gedanken hilflos kreisen, schleichen sich meine Finger zur Krawatte des Fremden und ziehen sie vorsichtig fest, streifen das weiße Hemd über der warmen Brust. Meine Lippen zittern, dennoch sage ich mich fester Stimme: »Sie sitzt schief. Das wirkt unseriös.« Einen letzten Blick riskiere ich in die misstrauischen grünen Augen, dann winde ich mich mühelos aus seinen Armen, bevor ich gehe und er mich lässt. Das war so knapp, schießt es mir durch den Kopf, als ich im belebteren Gebiet der Stadt ankomme und das erste Mal anhalte, weil ich befürchtet habe, der Mann würde mir folgen. Ich habe echt gedacht, der legt mich um. Es ist so kalt, dass es bald mit schneien beginnen könnte, aber mich erfüllt eine beständige Hitze, die nicht abebben will. Der kalte Blick auf dem makaberen Gesicht - das Bild von dem Fremden über mir hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Ich ziehe die Schultern ein, weil ich mich mit einem Schlag kleiner und hilfloser als jemals zuvor fühle. Aber gleichzeitig kribbelt meine Haut wie bei einem Spiel mit Feuer, das gerade zu lodern beginnt… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)