Adventskalender 2020 von tobiiieee (All I Want For Christmas ...) ================================================================================ Kapitel 2: Türchen 2: If One Only Remembers To Turn On The Light (Genesis) -------------------------------------------------------------------------- „Nein, nein, ich kann wirklich nicht bleiben, das ist nett. Ich ... ähm ... hab eine Katze, wenn ich die nicht füttere, läuft sie mir weg.“ Genesis setzte das bezauberndste falsche Lächeln auf, das er zustande bringen konnte. Eine derart verlogene Ausrede hatte er schon lange nicht mehr benutzt. Der gutaussehende junge Mann, an dessen Tür er gerade frisch geduscht stand, im Begriff, die bis auf sie beide im Moment leere WG zu verlassen, musterte ihn misstrauisch; er konnte wohl zwei und zwei zusammenzählen: dass der Abend eher mau gelaufen und dass Genesis wirklich nicht der Typ Katzenmensch war. Dennoch sagte er nichts dazu, fragte nicht einmal nach Genesis‘ Nummer, wohl ahnend, dass er sie nicht bekommen würde. Genesis atmete einmal tief durch, als er auf die dunklen Gassen Alfamas hinaustrat; er spürte die kühle Luft über sein Gesicht streichen; wirklich kalt wurde es nie in Lissabon. Er schaute die enge Gasse auf und ab in dem Versuch sich zu erinnern, in welche Richtung er gehen musste. Es wollte ihm beim besten Willen nicht mehr einfallen, doch bergab war sicherlich keine schlechte Idee, so würde er wenigstens zum Fluss kommen. Vorsichtig machte sich Genesis in der Dunkelheit auf den Weg; vorbei an nun grau wirkenden Häuserfassaden, die nur einen engen und gewundenen Pfad bildeten, vorbei an Gittern, hinter denen Leute Marienaltäre errichtet hatten; vorbei an den Tramschienen und einem Wasserspiel auf halber Höhe. Jetzt wusste er wenigstens wieder, wo er war. Er setzte seinen Abstieg über die unzähligen Treppen des Viertels fort; es war schade, dass er sich ausgerechnet jetzt durch Alfama schlängelte, tagsüber hätte er die schönen Kacheln begutachten können. Endlich war er den letzten Straßenabhang heruntergegangen und auf der Hauptstraße angekommen, die zur Praça do Comércio führte. Er liebte diesen Platz, besonders nachts, wenn ihn weniger Touristen bevölkerten. Wie magisch angezogen ging er hinunter zum Wasser und setzte sich auf die niedrige Mauer. Es war eine besonders finstere, bewölkte Nacht, doch der gesamte Tejo glitzerte von goldgelbem und silbernem Licht, das die nicht weit entfernte Brücke großzügig überall auf das Wasser warf; auch auf der anderen Uferseite leuchteten noch viele helle Lichter, die sich kopfüber im Fluss spiegelten. Genesis seufzte. Egal, wie oft er es beobachten würde, an dem Lichtspiel auf dem Tejo würde er sich nie sattsehen können. Die Stadt hinter ihm war ebenfalls noch immer hell erleuchtet, von einer Farbe wie Kerzenflammen fiel das Licht auf die Straßen, Häuser und die Straßenbahn, die auf der anderen Seite des Platzes fuhr. Sie rief Genesis etwas ins Gedächtnis. Er sah auf die Uhr. Wenn er noch einen Bus nach Hause erwischen wollte, musste er sich so langsam beeilen; der Bus fuhr am andern Ende der Hauptstraße ab. Vermutlich wäre es schneller, dorthin zu laufen, als erst einen Bus zu suchen, der bis zur Praça fuhr. Widerwillig stand er auf und warf einen letzten Blick auf den Fluss, eher er den Platz überquerte; er hatte den ungefähren Plan, nicht die Hauptstraße entlang zu laufen; er entschied sich stattdessen für eine Parallelstraße, in der sich, wenn er sich recht erinnerte, ein kleiner Supermarkt befand; vielleicht könnte er noch eine Kleinigkeit mitnehmen. Er lief also die Straße hinauf, auf deren beiden Seiten hell erleuchtete Fenster zu sehen waren; in das eine oder andere dieser Rechtecke warf er einen flüchtigen Blick wie in kleine fremde Welten: Hier war anscheinend eine Familie noch beim Abendessen; die Kinder im Teenageralter schienen eine lebhafte Diskussion zu führen, als die Mutter ihr Weinglas abstellte und den Streit unterbrach. Hinter einem weiteren Fenster war eine einzelne Katze zu erkennen, die auf dem Fensterbrett saß und ebenso auf die Straße hinausschaute wie Genesis in die Fenster hinein. Wieder ein paar Meter weiter entdeckte er eine Freundesgruppe, die das abendliche Trinken drinnen abhielt; vielleicht war es ihnen trotz der noch milden Temperaturen doch schon zu kalt, um sich länger draußen aufzuhalten. Und dort saß ein älteres Paar einfach zu zweit vor dem Fernseher, sie in seinem Arm. Genesis richtete den Blick wieder auf die Straße. Er wusste, dass es bei ihm zu Hause dunkel war, da er alles Licht ausgeschaltet hatte, bevor er gegangen war. Mittlerweile war er auf der Höhe der Praça Luis de Camões angekommen. Er erahnte es mehr, als dass er es sah, doch dort auf der anderen Seite des Platzes war die Manufaktur, nun natürlich geschlossen, in der er so gerne Kaffee trank und dazu die lokalen Blätterteigtörtchen verspeiste, die, verfeinert mit Zimt und Zucker, so gut schmeckten, dass sie ebenso süchtig machten wie die Küsse desjenigen, mit dem er dort für gewöhnlich hinging ... Anstatt seinen Pfad geradeaus fortzusetzen, bog Genesis an der nächsten Ecke links ab und fand gekonnt den Weg durch den Irrgarten an Straßen durch die Wohngegend. Vor einem ihm wohlbekannten Haus blieb er stehen. Wie er geahnt hatte, brannte im vierten Stock trotz später Stunde noch Licht. Er überlegte, ob er zuvor noch kurz anrufen sollte, doch das erschien ihm unsinnig. Als wäre es Schicksal, kam gerade jemand aus dem Wohnhaus, sodass Genesis nur die Tür aufzufangen brauchte, bevor sie ins Schloss fiel. Allmählich machte er sich an den Anstieg die Treppen hinauf. Am Ende des Flurs hob er eine Hand, um zu klopfen. Ramon machte zunächst einen verärgerten Eindruck, als er die Tür öffnete, doch sobald er Genesis erblickte, wandelte sich sein Gesicht in freudige Überraschung. „Was machst du denn hier? Komm rein!“, sagte er mit ungespielter Begeisterung. Genesis trat in Ramons chaotisches Wohnzimmer, das direkt an die Wohnungstür anschloss. Es war warm und die Lampen tauchten die Wände in ein Licht, als würde ein gemütliches Feuer in einem Kamin prasseln. Er spürte, wie Ramon sanft einen Arm um ihn schlang; ein zarter Kuss auf seine Wange. Genesis wandte sich ihm zu. Das Licht spiegelte sich in der großen Brille, die Ramon immer noch trug; sein Blick aus den Augen dahinter sagte Genesis, dass er diese Nacht nicht allein würde verbringen müssen. 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