Adventskalender 2020 von tobiiieee (All I Want For Christmas ...) ================================================================================ Kapitel 6: Türchen 6: What Child Is This? (Genesis) --------------------------------------------------- „Seph?“, fragte Genesis in die abendliche Stille hinein. Mit einem dicken Buch in der Hand kam er die Treppe in seinem Elternhaus herunter. Die Sonne war schon längst untergegangen und obwohl er selbst ganz gut in der Dunkelheit sehen konnte, schaltete er eine Wandlampe ein, die ähnlich einer Kerze ein angenehm warmes Licht über den weiten, offenen Wohn- und Essbereich verteilte. Genesis ließ den Blick wandern und schaute sich um, während er langsam auf den großen hölzernen Esstisch zuging, der gegenüber der Treppe vor großen geschmückten Fenstern stand. Es sah nicht aus, als ob jemand hier gewesen wäre, nicht eine Tasse oder Schüssel stand auf dem Tisch. Überrascht legte Genesis sein Buch dort ab. Seltsam, so ein verwaister Tisch, dachte er sich, in Gedanken bei dem geselligen Essen, das sie zuvor dort eingenommen hatten, seine Eltern, Sephiroth, Ergin und er selbst. Der Tag war hell und fröhlich, kalt zwar, doch klar und schön; die Sonne strahlte durch die großen Fenster hinein. Der Tisch hatte beinahe geächzt vor der Fülle an Speisen und Getränken, Besteck und Geschirr hatten geklirrt, er hatte über Sephiroths schlechte Witze gelacht. Nun war die Tafel verlassen, die Kerzen darauf waren nicht entzündet, doch immerhin waren ein paar dekorative Mandarinen und Nüsse darauf verteilt. „Hm, warum nicht“, murmelte Genesis und bediente sich verstohlen. Zwischen zwei Bissen kam ihm der Gedanke, dass Sephiroth möglicherweise in der Küche sein konnte, um abzuwaschen oder um sich einen Tee aufzubrühen. Nun gestärkt, durchschritt Genesis den Wohnbereich in Richtung des Ausgangs und suchte über den Flur die Küche auf; doch auch dort war niemand anzutreffen. Genesis schaltete in der Tür stehend das Licht an. „Hm“, machte er. Der Abwasch schien schon gemacht. Alles war ordentlich und weggeräumt. Genesis suchte die Küche mit den Augen ab, um ganz sicherzugehen, dass er nichts übersah; da fiel sein Blick auf die Kaffeekanne. Neugierig ging er darauf zu, um zu überprüfen, ob darin noch etwas Kaffee war. Als er den Deckel öffnete, wurde er nicht enttäuscht. Glücklich nahm er eine Tasse aus dem Regal und genehmigte sich etwas von dem Kaffee, der gerade noch warm genug war. Er zuckte mit den Schultern. Dann konnte er auch gleich den gesamten Rest nehmen. Er würde sonst sowieso nur weggeschüttet. Während er den Kaffee in großen Schlucken herunterstürzte, ehe er zu kalt zum Trinken wurde, schaute er sich auch in der Küche um. Sephiroth verbrachte jede Woche viel Zeit in der Küche seiner Schwiegereltern, wo er alles Mögliche lernte, was ein guter Hausmann beherrschen sollte. Meist suchte er Ergin schon früh morgens auf, wenn die Sonne gerade aufgegangen und Ergin mit seinem Gebet fertig war und Genesis noch schlief. Nach einem Imbiss erhielt Sephiroth eine um die andere Lektion: wie man Fenster putzte, dass sie das gleißende Tageslicht hindurchließen, wie Laken immer schön weich und weiß blieben, wie man welche Oberfläche putzte und dergleichen mehr. Genesis musste zugeben, dass er nicht erwartet hatte, dass Sephiroth so großen Gefallen finden würde an allem, was mit Haushaltsführung zu tun hatte; Talent hatte er auch noch. Er hatte entschieden zum Familienessen des Tages beigetragen, was mehrere Stunden an Vorbereitung erfordert hatte. Genesis schmunzelte. Mit Sephiroth hatte er schon eine gute Partie abbekommen. Die leere Kaffeetasse stellte er in die Spüle. Wenn das Haus bis auf ihn recht verlassen schien, konnte er es ja auch draußen probieren. Er verließ die Küche, schaltete das Licht aus und durchquerte erneut Flur und Wohnbereich, diesmal auf dem Weg zur Terrasse. Er öffnete die Glastür und augenblicklich schlug ihm die kalte Winterluft entgegen. Es fröstelte ihn kurz, dann tat er einen Schritt nach draußen und ließ die Tür hinter sich ordentlich zugleiten. Das automatische Terrassenlicht ging an, als er einen weiteren Schritt in die Dunkelheit tat. Hier war sein Mann wohl auch nicht. „Seph?“, rief er trotzdem vorsichtshalber. Eine Antwort bekam er nicht, doch ein Rascheln an der Ecke des Hauses verkündete die Ankunft des Schäferhunds seiner Eltern, Paul Anka. Freudig lief er Genesis bis direkt vor die Füße, der, ebenfalls erfreut, Paul Anka ein Zeichen gab, woraufhin der große Schäferhund sich ordentlich aufs Hinterteil setzte. „Guter Hund“, lobte Genesis und hockte sich hin, um besagtem guten Hund über den Kopf zu streicheln. Ohren, Gesicht und Rücken waren schwarz, dazwischen aber war das dichte Fell hellgrau; doch so dicht das Fell auch sein mochte, es würde zu kalt werden, also führte Genesis Paul Anka nach drinnen, wo er sich auf die ihm zugewiesene Matte legte. Genesis, der seinen Mann immer noch nicht gefunden hatte, ging zurück in die Küche und wusch sich kurz die Hände. Als er erneut die Küche verließ, nahm er einen ihm wohlvertrauten Geruch wahr, dem er zurück zum Esstisch folgte. Dort studierte im Licht einer eben entzündeten Kerze sein Vater das Buch, das er zuvor auf dem Tisch zurückgelassen hatte. Genesis steuerte den Tisch an. „Na, alter Mann“, sagte er liebevoll, „sind wir wieder ins Rasierwasser gefallen?“ „Gar nicht!“, entrüstete sich sein Vater scherzhaft. „Du solltest netter zu deinem alten Vater sein, sonst kannst du das mit dem Erbe vergessen!“ Sie lächelten sich verstehend an. Dann nickte sein Vater in Richtung des Buches, das er zur Hand genommen hatte. „Ein ziemlicher Klassiker.“ „Die Nächte werden länger“, erklärte Genesis, „da dachte ich, es wäre passend, die Erzählungen aus 1001 Nacht zu lesen.“ „Zweifellos.“ „Sag, Papa“, fiel Genesis dann ein, „hast du Seph gesehen?“ „Ich war in der Bibliothek“, erwiderte sein Vater und hob ahnungslos die Hände, „ich hab nichts gesehen. Eigentlich auch nichts gehört.“ „Dann scheint ja in diesem Haus wenigstens nichts Böses vor sich zu gehen“, scherzte Genesis wieder. „Trotzdem, ich suche meinen Mann.“ „Irgendwo wird er schon sein“, beschwichtigte ihn sein Vater mit einem aufmunternden Lächeln. Er drückte ihm sein Buch in die Hand. „Wenn du zufällig auch noch Mama finden solltest, kannst du ihr sagen, dass ich ihr den Brief rausgelegt hab, nach dem sie gestern gefragt hat.“ „Klar“, sagte Genesis, auch wenn er keine Ahnung hatte, worum es ging. Er verließ den Wohnbereich ein weiteres Mal, diesmal in Richtung der Waschküche, die er für einen weiteren möglichen Aufenthaltsort seines Mannes hielt; vielleicht war er wieder einmal dabei, mit Ergin über die Vor- und Nachteile von Weichspüler zu fachsimpeln. Als er den Flur durchquerte, fiel ihm aus dem Augenwinkel von links schwaches Kerzenlicht aus dem Fernsehzimmer auf. Fast unbewusst wandte er den Kopf. Er blieb stehen. Ein seliges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Papa!“, rief er so leise wie möglich in Richtung des Wohnzimmers. Kurz darauf tauchte sein Vater an seiner Seite auf. Gemeinsam schauten sie gerührt lächelnd von der Tür aus auf die Szene im Fernsehzimmer. Über den Fernseher flimmerten bei leisem Ton irgendwelche Bilder, auf dem Tisch standen in einer Schale große Kerzen, die warmes flackerndes Licht über die Wände tanzen ließen und das Gesicht seiner Mutter wärmten, die, einen Ellbogen auf die Sofalehne gestützt, im Sitzen eingeschlafen war, ein Kissen auf ihrem Schoß; daran angelehnt, die Augen friedlich geschlossen, ruhig atmend und mit seinem langen Silberhaar einem Engel nicht unähnlich, lag sein Seph, der Länge nach auf dem Sofa ausgestreckt und nach den Anstrengungen des Tages offensichtlich vollkommen erschöpft. Beide mussten beim Filmeschauen irgendwann weggenickt sein. Genesis schlich zur Couch und hockte sich davor hin, das Gesicht nah an Sephiroths. Vorsichtig streichelte er seinem Mann über den Arm. „Seph?“ Angesprochen blinzelte der ein paar Mal im Schlaf, ehe er müde langsam die Augen öffnete. Genesis lächelte. „Gefunden“, flüsterte er. ~ What child is this Who laid to rest On Mary’s lap is sleeping? ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)