Der Himmel über den Slums von CaroZ ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Wieder war ein Jahr vorüber. Der April raste auf sein Ende zu, und Cloud Strife stand erneut vor dem einen großen Problem in seinem Leben, das er nie hatte lösen können. Allen Rückschlägen hatte er getrotzt, hatte sein zerstörtes Leben irgendwie zusammengeflickt wie einen alten Teppich, den jemand aus dem Reißwolf gezerrt hatte, und während Tifa jeden Tag aufs Neue versuchte, einen sauberen Rüschenrand an diesen grauenhaft anzusehenden Teppich zu nähen, schaffte Cloud es noch nicht einmal, den einen Tag im Jahr, der ihr ganz allein gehörte, so zu würdigen, wie sie es verdiente. Es war kein Geheimnis, dass Cloud ein hoffnungsloser Fall in Sachen Geschenke war. Und wenn das einer ganz genau wusste, dann Tifa. Vier Geburtstage hatte sie seit dem Beinahe-Ende der Welt gefeiert, und zu keinem davon hatte Cloud es gewagt, einen Fuß auf unbekanntes Terrain zu setzen. In Jahr 1 und 3 hatte er ihr Blumen und ein Duschgel mit Erdbeer-Aroma geschenkt; in Jahr 2 und 4 waren es Blumen und ein Duschgel mit Himbeer-Aroma gewesen. Das Alternieren zwischen den beiden Varianten, so hatte er gehofft, würde Tifa davon ablenken zu erkennen, dass sich das Schema wiederholte. Natürlich war das blanker Unsinn, denn es war völlig ausgeschlossen, dass eine intelligente Frau wie Tifa sich derart plump hereinlegen ließ. Das wusste Cloud bereits in Jahr 2, doch es hielt ihn nicht davon ab, in Jahr 3 und 4 dieselbe Taktik anzuwenden. Der Grund dafür war, dass es in Jahr 1 funktioniert hatte. Und weil Cloud das Schenken ein Gräuel war – besonders für diejenigen Menschen, die ihm etwas bedeuteten –, wagte er es nicht, von einem Manöver, das funktioniert hatte, abzuweichen. Experimente wären in dieser Angelegenheit einfach zu heikel. Es gab nicht mehr viel auf der Welt, das Cloud Angst einflößte, doch das Schenken mit seiner zwischenmenschlichen Bedeutung und Tragweite blieb ein unheimliches Mysterium für ihn, eine Black Box, in die man entweder mehr oder weniger geistigen und praktischen Aufwand investierte und an deren Ende irgendeine unvorhersehbare Reaktion wartete, die zum anfänglichen Aufwand in überhaupt keiner Relation stand. Er wusste, dass Tifa wusste, dass seine Geschenke armselig waren. Aber. Tifa. Sagte. Nichts. Jedes Jahr tat sie überrascht und erfreut, wenn sie Blumen und duftendes Duschgel fand. Bis heute wusste Cloud nicht, ob sie Erdbeer- und Himbeer-Duft überhaupt mochte. Ob sie überhaupt Duschgel mit Duft mochte. Ob sie überhaupt duschte. Bei Letzterem war er sich allerdings ziemlich sicher. Tifa hatte sich von Jahr 1 bis 4 durchgehend über die Gaben gefreut; noch nie hatte sie etwas gesagt wie: »Oh, ist schon wieder ein Himbeer-Jahr? Wie die Zeit vergeht!«, nicht einmal etwas Subtileres wie: »Der Duft wird jedes Jahr besser.« Nein, tatsächlich schien Tifa es aufrichtig zu wertschätzen, dass er ihr überhaupt etwas schenkte. Dass er loszog und diese beiden Dinge für sie besorgte, wie einfallslos auch immer sie sein mochten. Sie wusste, dass er es für sie tat, und deswegen freute sie sich. Aber dieses Jahr war das Jahr, in dem Cloud sich plötzlich noch erbärmlicher damit fühlte als sonst. Unerträglich erbärmlich. Er hatte sich genau zweimal, oder eher anderthalbmal Gedanken darüber gemacht, was ihr gefallen könnte, und sich nach dem initialen Erfolg um keine Haaresbreite von dem Ergebnis wegbewegt. Er klammerte sich an diese zwei Sicherheit bedeutenden, wenig differenzierten Optionen wie an eine gelungene militärische Strategie, die nie versagt. Nur dass alle militärischen Strategien irgendwann versagten, und wenn man das begriff, war es in der Regel zu spät; um das zu wissen, musste man nicht die von Sephiroth simplifizierte Ausgabe von Prinzipien der Offensive gelesen haben. Für Cloud stand fest, dass sich dieses Jahr etwas ändern würde. Ändern musste. *** Edge-Stadt hatte sich besonders in den vergangenen beiden Jahren, nach dem letzten erbärmlichen Aufbäumen von Sephiroths geradezu zeckenartig hartnäckiger Restpräsenz, ziemlich herausgemacht. Die Geometrie der Planstadt mit ihren geraden Straßen und rechtwinkligen Ecken wurde durch die völlig uneinheitlich zusammengewürfelten Bauwerke wohltuend aufgeweicht. Wo das Baumaterial zu fast hundert Prozent aus dem zerbröckelnden Midgar herangeschafft worden war, hatten Anordnung und ästhetische Gleichartigkeit der Häuser bei den obdachlosen Flüchtligen wenig Priorität gehabt. Besonders Edges Zentrum glich einer Anhäufung phantasievoller Bauklötzchenstapel. Doch auf seine Art war das … angenehm; es war etwas, das, im Unterschied zur Straßenplanung, ohne Ordnung entstanden war, unter einer Vielzahl von Einflüssen, guten wie schlechten. Der Bezirk Arraeva, in dem Cloud und Tifa mitsamt der Kneipe und den Kindern wohnten, besaß etwas, das man eine Flaniermeile nennen könnte. Eine Allee aus noch jungen, halbwegs kräftigen Laubbäumen (Cloud kannte sich mit Bäumen nicht aus, aber diese hatten jedenfalls Blätter) führte durch eine Anreihung größerer und kleinerer Läden mit mehr oder weniger nützlichen Beständen. Zwischen ihnen standen Kübel mit Frühlingsblumen. Echten Blumen, die Wasser tranken und Sauerstoff produzierten. Bis heute erschien dies Cloud wie ein Wunder. Er hatte begonnen, Blumen zu mögen – jetzt, da sie ihn nicht mehr nur an Aerith erinnerten, sondern mehr Raum in seinem Alltagsleben einnahmen –, und kannte inzwischen sogar viele ihrer Namen. Diesem Umstand verdankte er es, dass er in den vergangenen vier Jahren imstande gewesen war, Tifas Geburtstagsstrauß exakt zu reproduzieren. Rosen waren nicht darunter; Cloud hatte sehr früh beschlossen, kein Typ für Rosen zu sein. Gelbe Lilien verboten sich irgendwie auch, er hatte seine Gedanken dazu gar nicht erst näher erforscht. Bunt war der Strauß, dafür hatte er gesorgt, bunt und ein Verbote auf den viel zu heißen, stickigen Sommer. Auch daran würde er dieses Jahr etwas ändern. Noch wusste er nicht, wie sich bunt wohl steigern ließ, doch er hatte noch etwas Zeit. *** Clouds Instinkt führte ihn als erstes in Nelles Laden Gedrucktes. Cloud glaubte, dass selbst er mit einem kreativeren Namen für einen Buchladen als Gedrucktes hätte aufwarten können, aber wenn man Nelle sah, erkannte man sofort, dass sie mit den Romanautoren, deren Werke sie vertrieb, nicht viel gemein hatte. Tifa las eigentlich gern, sofern ihre wenige Freizeit es hergab. Besonders aufmerksam hatte er die Titel ihrer Bücher, die sie hinter der Theke verschwinden ließ, sobald ein Gast hereinkam, allerdings nicht studiert. Offensichtlich war Tifa keine Eskapistin – die Märchenbücher lagen im Kinderzimmer – und allzu blutrünstig sahen die Titelbilder auch nie aus. Alles, was übrig blieb, war für Cloud so ziemlich dasselbe. Er schlenderte zum Büchertisch mit den Neuerscheinungen, einladend platziert und darauf wartend, in die Hand genommen und aufgeschlagen zu werden. Ja, er wurde sich immer sicherer, dass man mit einem Buch für einen klugen Menschen nichts schmählich falsch machen konnte. Interessiert begann er, die Titel einen nach dem anderen zu begutachten. Vielleicht sollte er auch selbst mal wieder etwas lesen … Es schien ihm plötzlich eine Ewigkeit her zu sein, ein Buch in der Hand gehalten zu haben; das Rascheln der Seiten klang ebenso fremd wie die Druckerschwärze roch. Seltsam … »Cloud!!« Das war sein Name. Er hob den Kopf. Was er sah, war die eine Person, die er als letztes in einem Buchladen diesseits des Ozeans erwartet hätte. Yuffie stürmte um den Tisch mit den Reiseführern (Midgar war dort nicht mehr vertreten) herum, schlug einen Haken um das Kinderbuchregal, das in den Gang hineinragte, und stand dann vor ihm, mit all ihrer Präsenz, die jeden anderen im Raum an die Wand drückte. Cloud klappte Die schönsten Zimmerpflanzen für dunkle Räume zu und legte es zurück auf den Stapel. »Schön dich zu sehen, Yuffie«, log er. »Mann! Wann haben wir uns zuletzt gesehen?« »An meinem Geburtstag.« Er hatte sie nicht eingeladen. »Passt ja super! Ich bin geschäftlich in der Nähe, weißt du. Und Teef hat ja in fünf Tagen.« »Vier.« »Oh, genau. Na dann beeil dich besser, für planloses Suchen ist es ein bisschen spät, findest du nicht?« Verdrossen fragte sich Cloud, was an seiner Tätigkeit planlos gewirkt haben mochte. War es dieser Fotoband eines midgardischen Künstlers, der einzelne Pommes fotografiert hatte? »Hör mal, Cloud. Tifa wird fünfundzwanzig. Das ist ein großes Ding im Leben. Du kannst ihr kein Buch namens Die Chronik des Artensterbens schenken.« Ah, das war es also gewesen. Yuffie beugte sich verschwörerisch zu ihm vor, die mandelförmigen Augen noch unheilvoller funkelnd als die Schwarze Materia. »Willst du einen kostenlosen Ratschlag von mir, was sie von dir braucht?« Cloud zögerte. Der erste Teil des Satzes klang okay, der zweite nicht. Yuffie wartete nicht auf seine Antwort, sondern deutete sein Schweigen als Zustimmung (ein Fehler, den fast alle machten), ergriff sein Handgelenk und zog ihn hinter sich her zum Ausgang. »Keine Bange«, trällerte sie, »Yuffie weiß, was ihr zwei braucht!« *** Clouds Beziehung zu Yuffie war kompliziert. Im Grunde hatte er nichts gegen sie, nur gegen ihren Charakter. Und ihre Art. Und ihr Wesen. Nein, das stimmte wirklich nicht. Yuffie hatte auf ihrer gemeinsamen Odyssee zur Rettung der Welt bewiesen, dass sie wider Erwarten Verantwortung übernehmen konnte und vertrauenswürdig war … zumindest in einem gewissen Rahmen. Viel näher hatte er ihre Loyalität jedoch nie erforscht, denn seit dem Ende der erwähnten Odyssee beschränkte sich der Kontakt zwischen ihnen auf sporadische Besuche. Sicher, sie sahen sich, aber nie lange genug, um die Basis ihrer Freundschaft zu prüfen. Womöglich waren sie bis heute eine reine Zweckgemeinschaft und hielten den Kontakt aus einer Art Pflichtgefühl heraus. Yuffie war in den vergangenen Jahren etwas weniger anstrengend geworden – Erwachsenwerden nannte man das wohl –, aber gewisse Ecken und Kanten ihrer Persönlichkeit erwiesen sich als resistent gegen den Schleifstein des Lebens. Eine davon war, dass sie Dinge zu wissen glaubte, die sie nicht wissen konnte. Und deshalb war Yuffies Urteil, worüber auch immer, stets mit Vorsicht zu genießen. Cloud hatte erwartet, dass sie ihn zu irgendeinem Laden schleifen würde. Einem für Heimeinrichtung oder, noch schlimmer, für Dessous. In seinem Kopf kam bereits ein programmierter Abwehrmechanismus in Gang, der klarstellen würde, dass diese Dinge nicht in Frage kamen. Doch Yuffie schleifte ihn lediglich zu einem Café im Nachbarbezirk. Im hellblau tapezierten, altmodisch eingerichteten Blumengarten (es hatte tatsächlich eine Blume im Garten) bestellte die Ninja für sich eine Eisschokolade und für Cloud einen Cappuccino mit Schuss; offenbar glaubte sie, dass er für das, was sie vorhatte, Alkohol brauchte. Sie schwiegen, bis die Getränke kamen, und Yuffie fuhr fort, ihn verschwörerisch anzufunkeln, bis es aussah, als hätte sie etwas im Auge. Als die Schokolade vor ihr stand, saugte sie eine halbe Minute geräuschvoll am Strohhalm und lehnte sich dann zufrieden zurück. Cloud nippte an seiner Tasse und fand, dass der Schuss im Cappuccino einen Großteil der Rezeptur auszumachen schien. Ein energisches »Also!« ließ ihn aufsehen. »… Ja?« »Was eure Beziehung dringend braucht«, eröffnete ihm Yuffie feierlich, »ist Romantik.« Cloud schloss einen Moment erschöpft die Augen. Das Lemma Romantik war in seinem Wortschatz zwar hinterlegt, die Bedeutung jedoch variabel und flüchtig wie das Aroma einer Tasse Instant-Kaffee. Sie bereitete ihm Unbehagen. »Da du nicht viele weibliche Freunde hast …« »Wieso denkst du –« »… bin ich wohl diejenige, die den Input liefern muss. Tifa und ich quatschen ja viel, weißt du. Deshalb weiß ich, dass eure zaghafte, steife …« Sie hüstelte in die Faust. »… oder oft auch nicht so steife Beziehung dringend Fahrt aufnehmen muss, sonst krepiert sie wie ein überfahrener Igel am Straßenrand.« »Ich glaube nicht, dass –« Ihre Hand patschte auf sein Gesicht. »Fall mir nicht ins Wort, das ist so nicht Nibel-like. Tifa steht auf deinen traditionellen Charakter, und wenn sie das sagt, kriegt sie rote Ohren. Also, es wird höchste Zeit für Kuscheln auf dem Sofa und schnulziges Zeugs, klar? Das bringt wieder Leben in die Bude, wo eure Kids doch den Sommer über aus dem Haus sind.« Cloud zog ihre klebrigen Finger von seinem Mund. Sie hatte Recht: Marlene und Denzel waren vor einer knappen Woche begeistert in ein Sommercamp nach Mideel aufgebrochen, irgendwo in der Pampa, damit sie Dinge kennenlernten, die auf natürliche Weise grün waren. Auch wenn ihren Zieheltern versichert worden war, dass der Reitunterricht nur auf den bravsten aller Chocobos stattfand, war Tifa den ganzen Abend hinter der Bar hin und her getigert und hatte Bestellungen durcheinandergebracht. Cloud hatte gehofft, die Planungen für ihre Geburtstagsfeier würden sie von der plötzlichen Leere im Haus ablenken. »Schnulziges Zeugs?«, wiederholte er lahm und mochte den Geschmack dieser beiden Wörter gar nicht. Sie schmeckten wie Yuffies Finger. »Na klar! Und hier ist die Lösung: Es gibt einen sensationellen neuen Film im Kino, Der Himmel über den Slums. Hast bestimmt schon Rezensionen gesehen. Tifa und ich haben kurz drüber geredet, hast du vielleicht mitgekriegt.« Als Cloud ihr jede Bestätigung dieses Verdachts schuldig blieb, fuhr Yuffie unbeirrt fort: »Es ist ein preisgekrönter Midgar-Heimatfilm, Nostalgie ohne Ende. Geht um ein Paar, das sich über alle Grenzen hinweg liebt und allen Widereien trotzt.« »Du meinst Widernissen.« »Sie ist aus den Slums, er aus der Oberstadt. Herzschmerz ohne Ende, Cloud. Und später wird es richtig dramatisch, als ein Teil der Platte abstürzt. Ich glaub, am Ende liegt sie auf einer Tür und pfeift in eine Trillerpfeife, damit sie gerettet wird. Großartig. Wie kommt man nur auf so was? Jedenfalls hat der Film elf DIOs* abgeräumt. Elf, Mann! Wenn’s da nicht knistert zwischen euch, dann weiß ich auch nicht!« Cloud stützte das Kinn auf die Faust. Von Filmbewertungen bekam er üblicherweise nichts mit. Sicher, Tifa sprach gelegentlich darüber, während sie die Tische abwischte, nannte den einen oder anderen Film, der interessant sein könnte; doch Derartiges, wie so vieles andere auch, glitt in Clouds Ohr hinein, durchwanderte sein Gehirn, ohne dort eine Resonanz zu bewirken, und schwebte zum anderen wieder hinaus. Innerlich seufzte er und beschloss, dass er sich mit Tifa einen Liebesfilm ansehen würde. Ja, für Tifa würde er das tun. »Ich soll sie also ins Kino einladen«, folgerte er. Irgendwie hatte er gedacht, dass ihre Beziehung dieses Stadium lange überwunden hätte. Yuffie sah ihn vorwurfsvoll an. »Neeeeein. Hast du nicht zugehört? Ich hab Sofa gesagt. Wer bitte kuschelt denn im Kino?« »Moment«, erinnerte sie Cloud, der sicher war, nicht alles verpasst zu haben, »du hast gesagt, der Film sei gerade im –« »Ja, na klar! Und? Hält mich das auf? Neeeeeeeein.« Yuffie grinste fast im Kreis. »Hier greife ich dir freundschaftlich unter die Arme, Cloud. Ich besorg dir den Film. Ihr werdet ihn schön zu Hause gucken – in trauter Zweisamkeit!« Aller Redeschwung lag auf Zweisamkeit, doch Clouds Hirn bremste, ehe es dort ankam. »Moment. Du besorgst ihn mir … wie?« »Och, ich kenn Leute. Weißt du doch.« Stimmt, Yuffie kannte Leute. Die Frage war völlig unnötig gewesen. Ohne den Schuss im Capuccino hätte er sie nie gestellt. »Also abgemacht. Ich schick dir den Treffpunkt und eine Parole und da holst du den Film übermorgen ab. Keine Sorge, kann nix passieren.« »Es ist eine Raubkopie.« Genauso unnötige Feststellung. »Sicherheitskopie! Ich kann sie später wieder mitnehmen, wenn du dich damit nicht wohlfühlst.« Yuffie hatte wirklich keine Ahnung, wie sein Leben aussah. »Also gut«, fügte Cloud sich in sein Schicksal und leerte die Tasse. Sicherheitshalber würde er vor dem Film etwas ähnlich Betäubendes zu sich nehmen. Bestimmte Szenen wollte er lieber verschlafen. Nein, meldete sich sein Gewissen, du ziehst das durch. Es geht um Tifa. Und um dich. Und irgendwie um euch beide. »Du bezahlst«, sagte Yuffie und stellte ihr Glas mit einem Rest Schokoladenschaum wieder hin. »Sag mir hinterher, wie’s war.« Sie zwinkerte ihm zu, das verschwörerischste Zwinkern, das man mit einem Eisschokoladen-Milchbart zuwege bringen kann, und trollte sich davon. *** Anderthalb Tage später schlenderte Cloud um sieben Uhr früh mit bemüht lässigen Schritten in Richtung eines betonierten Platzes zwischen Bahnhof und Supermarkt. Ein halb verborgener Durchgang führte auf die versiegelte Fläche, eingefasst von fensterlosen Gebäudefassaden. Mindestens eins davon war eine Lagerhalle, in dem anderen warteten Güterzüge auf ihren nächsten Auftrag. Es nieselte, doch das war nicht der einzige Grund, aus dem Cloud seine Kapuze hochgezogen hatte. Dieser Ort hatte einen gewissen Ruf. Genaugenommen einen sehr präzisen Ruf, nämlich den, dass hier sehr erfolgreich Drogen verkauft wurden, Gehirnschmelzer und wie die alle hießen, neben Hehlerware und anderem illegalen Zeug. Bezeichnenderweise war auch Cloud wegen illegalem Zeug hier und hätte andernfalls nie einen Fuß in dieses Viertel gesetzt. Ratten so groß wie Hunde erinnerten ihn einfach zu sehr an Hojos Labor; nach solchen Begegnungen schlief er oft schlecht. Die Hände in den Taschen vergraben, wanderte er auf und ab und versuchte, zufällig auszusehen. Nein, er hatte hier keine Geschäfte, er war nur hier, weil er eben zufällig hier war. Die anderen zwielichtigen Gestalten, deren Camouflage-Level genauso zu wünschen übrig ließ, sahen auf ihre Uhren, schnäuzten sich in stockfleckige Taschentücher, verdrückten sich und tauchten etwas später mit anderer Perücke wieder auf. Cloud beschloss, genau fünf Minuten zu warten. Dann würde er unverrichteter Dinge verschwinden und sich etwas anderes überlegen. Was sprach eigentlich dagegen, ins Kino zu gehen? Dort hätte der Film vermutlich eine bessere Qualität, und wenn das Pärchen in der Reihe hinter ihnen zu laut Popcorn kaute, würde es genügen, wenn Cloud sich zu ihnen umdrehte und sie anfunkelte. Im Halbdunkel machten seine Augen am meisten Eindruck, wenn das Licht schräg auf sie fiel. Nach viereinhalb Minuten näherte sich ihm eine leicht gekrümmte Gestalt in offenen Sandalen und einem gestreiften Poncho. Cloud setzte sich in Bewegung. Yuffie hatte den Wutainesen haarklein beschrieben, als würden sich Dutzende ähnlich aussehende Männer hier herumtreiben, wovon keine Rede sein konnte. Als Cloud die Parole abrief, die Yuffie ihm eingebläut hatte, hoffte er, gleich würde ihn der Nervenkitzel packen, der angeblich damit einhergeht, etwas Verbotenes zu tun. »Wird ein langer Abend heute«, murmelte er. Der Wutainese blieb stehen und sah an ihm vorbei. »Was hast du denn vor?«, raunte er zurück, ebenso geheimnisvoll. Nicht dazu passen wollte der typische Singsang seiner Muttersprache, der die Worte auf und ab bewegte wie ein Kraftsportler seine Hanteln: »Was hast du denn vor?« »Einen Filmabend«, drückte Cloud zwischen den Zähnen heraus, so leise, dass die Bedeutung kaum noch zu erahnen war. Der Mittelsmann verstand genau. »Und was wird angeschaut?« Cloud beugte sich noch näher zu ihm und hauchte ihm den Titel ins Ohr: »Der Himmel über den Slums.« »Aaah.« Der Mann sah ihn an, ein breites Grinsen im Gesicht, und nickte wissend. Seine dürre Hand glitt unter den Poncho und zog eine weiße Filmhülle hervor, die mit wenigen Schriftzeichen versehen war, deren Bedeutung Cloud nicht kannte, von denen er aber vermutete, dass sie den Titel abbildeten. »Gut das, seeeehr gut das«, bestätigte der Wutainese, während er Cloud den Film in die Hand drückte. Dazu wieder dieses gönnerhafte Grinsen. Kam man in Wutai damit auf die Welt? »Ähm. Danke.« »Spaaaaß machen!«, versicherte Yuffies Kumpane (dessen Kenntnisse des Midgardischen abgesehen von der Parole offenbar nur sehr rudimentär waren), tätschelte kurz Clouds Arm (Lassdasichwarnedich!) und schlenderte dann in seinen schlapp-schlapp-Sandalen über den Asphalt davon. Cloud erholte sich von der Begegnung, besann sich wieder auf seine zufällige Erscheinung und schob die Hände in die Taschen. Na bitte, dieser Teil war erledigt. Gut versteckt lag die Filmhülle in der Innentasche seiner Regenjacke. Sobald er diesen armseligen Platz verlassen hatte, würde er einen Blick hinein werfen, ob auch wirklich ein Film darin war. Seltsam. Er fühlte sich nicht besonders wild oder verwegen. Ihm kam der Gedanke, dass vielleicht auch Verbrecher ihren Beruf manchmal langweilig fanden. Nun gut, er würde noch nebenan in den Supermarkt gehen und Tifa wie beauftragt eine Packung Toast mitbringen. *** Vier Tage später, am dritten Tag des Wonnemonats Mai – dessen Wonne in Edge vor allem darin bestand, dass aus den Fugen der Gehwegplatten ein paar grüne Halme quollen, etwas, das in Midgar undenkbar gewesen wäre –, begann Cloud endlich damit, sich wegen des Bevorstehenden unbehaglich zu fühlen. Er verdiente ein Diplom in Verdrängung (das auszustellen vor allem Tifa berechtigt gewesen wäre) und kümmerte sich nicht um bevorstehendes Unheil, solange dieses Bevorstehen nicht unmittelbar war. Jetzt aber hatte Tifa seit fünf Stunden Geburtstag, lag neben ihm und schlummerte immer weniger tief, und viel unmittelbarer ging es nicht. Er hatte Yuffies Vorschlag zugestimmt, aber hundertprozentig wohl fühlte er sich nicht damit. Er wusste nicht, wie man einen romantischen Abend plante. Von der Durchführung ganz zu schweigen. Bisher war er davon ausgegangen, dass er und Tifa so etwas schlicht nicht nötig hatten. Doch wenn Yuffie (ihre Referenz mochte begrenzt sein, aber nicht so begrenzt wie seine) darauf bestand, dass Frauen sich so etwas wünschten und dass dieser romantische Abend Tifas Lebensqualität dramatisch steigern würde, dann … nun, dann würde er sich an den Plan halten. Er würde versuchen, diesen Abend lang ganz für sie da zu sein und ihr seine Zuneigung so sehr zu zeigen, wie seine Fähigkeiten es zuließen. Ein Film war doch eigentlich eine gute Möglichkeit dazu, sagte er sich. Ein gut gemachter Film transportierte eine Botschaft, in diesem Fall jene, die er nicht selbst kommunizieren konnte. Er schluckte sein Unbehagen hinunter. Dieser neue, hochgelobte Film konnte nicht so schlecht sein – er würde Tifa mitteilen, was er für sie empfand. Würde sein Unvermögen, seine Gefühle in Worte zu fassen, überbrücken. Tifa regte sich und brummelte irgendwas. Cloud schaltete in den Aktivmodus. Bevor sie aufstand, würde er wie üblich das Haus verlassen haben, um seine Aufträge zu erledigen, doch sie sollte die Wohnung ihrem Ehrentag entsprechend hergerichtet vorfinden. Hatte er die Blumen in eine sicher passende Vase gestellt? Check. Hatte er sie hinter der Theke platziert, sodass Tifa sie gleich finden würde? Check. Hatte er die abgeschnittenen Blumenstengel in den Müll geworfen und das verschüttete Wasser aufgewischt? Ch– … Mist. Er war sehr schnell, sehr leise und sehr effizient an diesem Morgen. Ninja-Style, oder eher Schatten-von-einem-Ninja-Style. Er konnte guten Gewissens aus der Tür treten, seine Sonnenbrille gegen die Frühsommersonne auf die Nase schieben und sich aufs Motorrad schwingen. Bis zum Abend waren es noch etliche Stunden – eine Schonfrist, die er genießen würde. Dann, so sagte er sich zum wiederholten Male, würde er ein Mann sein, die Sache durchziehen und mit Tifa diesen Film schauen. Er hatte alles vorbereitet. Er würde ihr die Taschentücher reichen. Und sie mit Schokonüssen füttern. Und mit ihr kuscheln, wenn sie wollte. Und sie küssen, wenn sie wollte. Und mit ihr schnulziges – Puh, nicht schon vorher durchdrehen. Bis zum Abend dauerte es noch. Er gab Gas und rauschte durch die noch leeren Straßen davon. Die ›30 / 22–6 Uhr Nachtruhe‹-Schilder waren an diesem Morgen irgendwie besonders schlecht zu sehen. -- *Dio hatte unlängst seine eigene Filmbewertungs-Jury ins Leben gerufen, seit sein neu installiertes Kino in der Gold Saucer sich in null komma nichts zum angesagtesten des Planeten gemausert hatte. Kapitel 2: ----------- Tifa betrachtete den Blumenstrauß in der etwas unpassend gewählten Vase, zupfte hier und da eine Blume zurecht, bis jede von ihnen voll zur Geltung kam. Dann seufzte sie in einer Mischung aus Erleichterung, Wehmut und nebulöser Beunruhigung. Dieses Jahr war Cloud erstaunlich weit vom bewährten Schema abgewichen. In den letzten Jahren hatte ihr Geburtstagsstrauß aus exakt vier orangefarbenen Gerbera, drei violetten Gladiolen, fünf gelben Fluff-Galaphonen und sechs pinkfarbenen Bartnelken bestanden. Eine bunte, aber eher unverbindliche Mischung. Heute hatten sich nicht nur die Zahlen der Blumen verändert – es war jeweils genau ein weiteres Exemplar hinzugekommen, wie ein rasches Nachzählen ergab –, nein, diesmal beherrschte sogar ein Kronjuwel die vorsommerliche Pracht, und das war (Tifas Augen trauten sich kaum hinzusehen) eine gefüllte, tiefrote Rose. Eine Rose. Verdammt, wer hätte sich nach Clouds Aufbruch in die Wohnung schleichen und eine Rose in den Strauß einarbeiten können? Vor allem so meisterlich? Wie viele Floristen zählten zu ihrem Bekanntenkreis? Cloud war kein Typ für Rosen. Nie gewesen. Und das beunruhigte Tifa. Er war generell kein Typ für romantische Dinge, zu denen rote Rosen ganz sicher zählten; er machte einen großen Bogen um sie, ebenso wie um Händchenhalten. Und zweisame Spaziergänge. Und Kerzen am Badewannenrand. Und Sonnenuntergänge. Und außerdem konnte sie das Duschgel nicht finden. Es lag doch sonst immer unter dem Strauß. Wo war das verdammte Duschgel? Es war ein Erdbeer-Jahr! Nun gut, sie würde dieser Sache später auf den Grund gehen. Jetzt hatte sie keine Zeit, sich zu wundern. Als erstes schaute sie in den Briefkasten, ob Denzel und Marlene aus dem Feriencamp geschrieben hatten – natürlich nicht, diese undankbaren Jugendlichen, wahrscheinlich waren sie zu faul, eine 5-Gil-Postkarte mit mideelischem Palmenpanorama und einem schnellen Gruß in den Postkasten zu werfen. Pffft. Sie begann die Bar für den Abend herzurichten. Der Tresen war auffällig sauber, was sie vermuten ließ, dass Cloud beim Herrichten der Blumen wie immer Wasser verschüttet hatte. Wenn sie ihn doch nur öfter zum Putzen einbinden könnte, er war wirklich brauchbar darin. Die ersten Gäste würden um vier kommen, wie an jedem Wochentag. Nicht ihre Gäste natürlich, sondern die des Siebten Himmels. Ihre Geburtstagsgäste waren für morgen einbestellt: Barret, Cid, Yuffie, Vincent (falls er sich herabließ zu kommen), Nanaki (hoffentlich hatte die Einladung ihn erreicht) und Reeve (hoffentlich hatte die Einladung ihn nicht erreicht). Außerdem hatte sie ein paar losere Bekanntschaften aus Edge eingeladen. Um enge Freundschaften zu pflegen, fehlte Tifa die Zeit, aber oft auch die Energie. Sie wischte alle Tische, Stühle und Wandbilder ab, fegte den Raum aus und füllte zuletzt, etwas verschämt wie immer, das kleine Gläschen auf dem schwarz betuchten Brett mit dem besten Schnaps des Hauses – ihr Mini-Schrein für ein gutes Gefühl. Während sie alsdann noch unangetastete Lebensmittel aus ihren Verpackungen schälte, um ihre spätere Verarbeitung schon vorzubereiten, schielte sie immer wieder zu dem herrlichen Strauß, der nun den Tresen schmückte und allen Gästen den Eindruck vermitteln würde, sie hätte einen heimlichen Verehrer. Niemand würde Cloud hinter dieser Pracht vermuten. Tja, da sie keinen anderen Anhaltspunkt hatte, musste sie von ihm als Verursacher ausgehen; könnte es nicht einfach sein, dass er sich zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag besonders ins Zeug legte? Sich endlich einmal darauf besann, was sie aneinander hatten? Seufz. Ja, sicher, sie hatte Mühe mit ihm, immer. Doch er hatte Fortschritte gemacht. Auch wenn manche Dinge sich nie ändern würden, sie hatte längst gelernt, damit zu leben. Cloud würde nie auf dieselbe Weise liebevoll und unterstützend sein wie andere Männer, sie nie mit Emotionen und sentimentalen Liebesbeweisen überhäufen – die sie auch nicht brauchte, nein nein, aber manchmal, nur manchmal … … Andererseits, wie als Ausgleich, war Cloud jedes Bocken, Schmollen oder sonstige infantil-männliche Verhalten fremd. Er würde immer sagen, was er dachte (sofern sie ihn danach fragte), ohne passive Aggressivität oder undurchsichtige Botschaften. Nur darüber, was in seinen Gefühlen vorging, musste sie rätselraten. Und wenn sie Körperkontakt wollte, musste sie die Heizung herunterdrehen. Gutes Stichwort. Daran musste sie denken. Cloud kuschelte nur, wenn ihm kalt war. *** Um vier kamen die ersten Besucher. Viele Gesichter wiederholten sich täglich, und Tifa vermutete hinter ihnen allen Alkoholiker, die pünktlich zur Ladenöffnung das erste Bier vor sich stehen haben wollten. In einer Bar fühlte man sich weniger schuldig und problembehaftet als allein auf einer Parkbank, auch wenn die Getränke teurer waren. Tifa grüßte und räumte und zapfte, und die Zeit flog vorbei, wie immer, und sie schlüpfte in die Küche und wieder heraus, rührte hier und wendete dort, räumte noch mehr, zapfte noch mehr, sortierte Geld in die Kasse. Keine Probleme heute. Keine Raufer, keine Trunkenbolde, keine Für-die-Pisse-zahl-ich-doch-nicht-zehn-Gil. Als wüsste die ganze Welt, dass sie Geburtstag hatte. Um acht Uhr abends war Cloud noch nicht zurück, und um neun auch nicht. Das war nicht ungewöhnlich, aber sie hatte gehofft, dass er sich heute beeilen würde, früher wieder bei ihr zu sein. Ihr vielleicht ein wenig zur Hand zu gehen … nein, wohl kaum, aber er könnte sie wenigstens einen Teil des Tages mit seiner schweigsamen Präsenz erfreuen, ihr das Gefühl geben, der zweite Teil eines Paares zu sein, das diesen Ort sein Heim nannte. Cloud kam um halb zehn. Und er sah ein klein wenig … nervös aus. Er grüßte die Gäste, die er kannte, und zog an der Garderobe seine Windjacke aus. Tifa betrachtete ihn, während sie ein Glas abtrocknete; niemand würde es sehen außer ihr, die minimalen, kaum wahrnehmbaren Stresssymptome, seine etwas zu weiten Pupillen, den nur neunundneunzigprozentig sicheren Griff um den Jackenkragen. Sie fragte sich, was ihm passiert sein mochte. Hoffentlich brachte er keine schlechten Nachrichten mit: wertvolle Fracht verloren, wichtigen Kunden verärgert, ausversehen jemanden umgebracht, schlimme Entdeckung irgendwo ge– »Hey.« Er kam zu ihr und küsste sie auf die Wange. Ihre Stirn legte sich in Furchen, ehe sie etwas dagegen tun konnte. »Bitte was?« »Alles Gute zum Geburtstag.« »Cloud …« »Wann schließt du heute?« Er nahm ihr das Glas aus der Hand, mit unerwarteter Behutsamkeit, zupfte das Handtuch aus ihrer anderen und begann das bereits trockene Gefäß noch trockener zu trocknen. »Ich schließe um elf, Cloud. Ich schließe immer um elf …« »Schließ um zehn.« »Um zehn ist in zwanzig Minuten.« »Genug Zeit, um auszutrinken.« Sie klappte den Mund zu. Irgendwas stimmte hier nicht, und was es war, das würde sie offenbar erst herausfinden, wenn sie mit ihm allein war. Also gut. Alles stehen lassen. Letzte Runde ankündigen. Trödler zur Tür rausschieben. *** Das Erste, was sie zu Gesicht bekam, war die kleine Sahnetorte. Sie war wirklich niedlich, gedacht für zwei Esser, vierschichtig, mit Biskuitboden, gefüllt mit Sahnecreme und Blaubeeren. Noch hübscher wäre sie wohl gewesen, hätte sie nicht irgendwo entlang der Strecke den Asphalt geküsst – mit der Oberseite voran natürlich, wie es sich für liebevoll dekorierte Torten gehört. »Ich hab sie am Lenker gehalten«, sagte Cloud entschuldigend. »Der Behälter ist aufgegangen. Aber ich hab die oberste Cremeschicht abgenommen.« Oh ja. Tifa sah im Geiste vor sich, wie er im Straßengraben kniete, mit dem Schwert die Torte skalpierte und Sahne und Dreck von der Klinge wedelte. »Kann sein, dass am Rand noch etwas Sand ist.« »Sie wird trotzdem schmecken«, beschloss Tifa schnell und suchte das Kuchenmesser. Sie freute sich ehrlich, doch das Gefühl der Unbehaglichkeit war noch da. Die letzten fünf Jahre lang hatte sie sich gewünscht, Cloud würde ihr diese Art von Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, und jetzt, wo es passierte, fragte sie sich nur, was er wohl ausgefressen hatte. … Aber he, war das nicht typisch Ehe? Das Kuchenmesser hatte sie seit Jahren nicht in der Hand gehalten, wie sie nun feststellte. Wann hatte sie zuletzt außerhalb eines Cafés ein Stück Kuchen gegessen? Es gab nie Anlass, welchen zu backen. Nicht mal zu den Geburtstagen der Kinder, den die wollten immer den farbstoffbunten aus der Tiefkühltruhe, der fertig geschnitten aus der Packung kam. Sie seufzte. Plötzlich fühlte sie sich irgendwie alt, irgendwie abgenutzt. Wie das Geschirrtuch, das immer noch nutzlos aus Clouds Faust baumelte, während er sie erwartungsvoll ansah. »Okay«, sagte sie und schnitt. Jeder bekam eine Hälfte der Torte; sie erlaubte sich, auf ihrem Teller mehr Sahne zu verteilen und auf Clouds mehr Boden. Sie aßen an einem der leeren Tische, auf dem noch die feuchte Ringe von Limogläsern klebten. Der Raum war still. Ihr kam der absurde Gedanke, Cloud würde gleich einen Walzer auflegen und sie raunend fragen, ob sie tanzen wollte. Schnell schob sie sich mehr Torte in den Mund. »Und?«, fragte Cloud. »Knirscht fast gar nicht.« »Wie war dein Tag?« »Wie immer. Und deiner?« »Wie immer.« Wieder schweigendes Kauen. Diese Art der einträchtigen Stille zwischen ihnen war zu lange vertraut, um noch unangenehm zu sein. Obwohl es so wenige Momente gab, in denen sie miteinander allein waren, fühlte es sich nicht fremd an, sondern eher … wie früher. Tifa sah aus dem Augenwinkel, wie Clouds Hand über den Tisch auf ihre zukroch. Sie spürte die fast zaghafte Berührung seiner Fingerspitzen, unerwartet wie ein Sonnenstrahl zwischen dunklen Wolken, und schloss automatisch ihre Hand um seine. Ganz kurz flackerte der Impuls auf, fest zuzudrücken, ihn wie ein Schraubstock festzuhalten und nicht loszulassen; doch sie widerstand, hielt seine Finger locker und beinahe unverbindlich, während sich ihre andere Hand mit der Kuchengabel verkrampfte. Clouds Blick ruhte sekundenlang nachdenklich auf ihren verschlungenen Fingern. Dann endlich hob er den Kopf, setzte ein Lächeln auf, das mutig, fast verwegen aussah, und sagte: »Wir haben den Abend ganz für uns, Tifa. Hast du Lust, einen Film zu schauen?« *** Ihr Kopf schwirrte immer noch davon, ihren Namen so weich aus seinem Mund gehört zu haben, weich wie ein Kissen, obwohl ihre gemeinsame Muttersprache sowieso schon wie warme Butter klang … na gut, warme Butter mit etwas Kies drin. Wann, verdammt, hatte er sie zuletzt auf Nibel angesprochen? Sie waren ständig von Leuten umgeben, die die Sprache nicht verstanden, was es äußerst unhöflich machte, sie zu benutzen. Nun aber waren sie allein, und Cloud (Was hat er angestellt?) grub vergessene Schätze aus. Tifa schmolz wie ein Eis, während er sie die Treppe hinauf in ihr kleines Wohnzimmer schob, das mit dem etwas abgewetzten Sofa und den etwas zerfaserten Kissen, das sie seit Urzeiten nicht betreten hatte. Ja, sie hatte erwartet, dass er sich an ihrem Geburtstag besondere Mühe geben würde. Ja, sie kannte es von früheren Geburtstagen, dass er bemüht fröhlich war und ihr etwas linkisch Zärtlichkeiten anbot, ihre Hand nahm oder ihr im Vorbeigehen die Schulter streichelte; lauter kleine, wirksame Gesten, die er – das wusste sie – erst von Aerith neu erlernt hatte und die er deshalb so sparsam einsetzte, weil der Schmerz auch nach fünf Jahren in ihnen beiden nicht verstummt war. Aber heute war da noch etwas anderes. »Wir haben den Abend ganz für uns, Tifa.« Oho. »Hast du Lust, einen Film zu schauen?« Einen … Film? Das war nicht nur neu, das war außerirdisch. Seit wann hatte Cloud auch nur das geringste Interesse an Filmen? Er war nie mit ihr ins Kino gegangen, nicht einmal zur DIO-Verleihung vor zwei Jahren, wozu der Namenspate sie höchstpersönlich eingeladen hatte. Dass Cloud den Besuch nicht einmal in Erwägung gezogen hatte, lag nicht nur daran, dass er die Gold Saucer hasste (oder dass er Dio hasste), sondern daran, dass er Filmen schlicht nichts abgewinnen konnte. Wenn Tifa früher in genau diesem Zimmer gesessen hatte, um ihre Lieblingsserien Fäuste im Sturm und In Sachen Hiebe zu schauen, hatte Cloud nichts als eine despektierliche Bemerkung dafür übrig gehabt. Warum sollte man sich in seiner Freizeit Dingen widmen, die mit dem wahren Leben nichts zu tun hatten? Wahrscheinlich würde er einfach einschlafen. Und sie auch, sollte Cloud, der ihren Filmgeschmack überhaupt nicht kannte, aus falsch verstandener Opferbereitschaft eine Romanze ausgewählt haben. Denn in Filmen musste es Action geben, sonst langweilte sie sich. Ein Liebesfilm … gähn. Aber das war ja auch bestimmt nicht passiert, oder? Cloud würde nicht so weit gehen für einen Geburtstag. Für einen Geburtstag oder für mich? Würde er für MICH so weit gehen, wenn er denkt, es könnte mir gefallen? Nein. Pfffft, natürlich nicht. Tifa sank immer tiefer in das durchgesessene Polster, während Cloud mit seinem antiquierten technischen Verstand endlich herausfand, wie der DVD-Player funktionierte. Der Fernsehbildschirm ging an, und ein verheißungsvoller Schriftzug erschien auf dem dunklen Grund: Wall Market Productions Presents Cloud stoppte die Wiedergabe und ließ leise und offenbar erleichtert den Atem entweichen. »Was ist das für ein Film?«, fragte Tifa neugierig. Sie wollte ihm ehrlich zeigen, dass sie seine Mühen wertschätzte. »Ich dachte, du magst Filme nicht.« Cloud kratzte sich am Kopf, eine typische Verlegenheitsgeste. »Ich weiß. Aber ich möchte, dass dein fünfundzwanzigster Geburtstag ein besonderer für dich wird.« Da, tatsächlich! Er sprach es aus! »Ich bin nicht gut darin, dir etwas zu schenken, Tifa. Und auch nicht darin, dir zu sagen …« Oh Gott, was für eine Tortur musste das gerade für ihn sein! Tifa wurde ganz warm und flatterig zumute. Cloud sprach wirklich über seine Gefühle! Mit ihr! Für sie! Cloud holte noch einmal aus, unbeholfen wie jemand, der im Dunkeln ein Puzzle zusammensetzt. »… dir zu sagen, was … in mir vorgeht, wenn … Ich sollte mehr für dich da sein, und … heute wollte ich … Sonst ist es ja immer …« Das genügte; Tifa wollte nicht, dass er sich weiter quälte. Sie hatte verstanden. »Komm schon her«, lud sie ihn ein, mit der Hand auf die Sitzfläche neben sich klopfend. »Es wird bestimmt super, ich kann’s nicht erwarten.« Cloud schien enttäuscht zu sein, dass er den Satz nicht beenden durfte. Fast trotzig schob er nach: »Ich wollte dir mit diesem Film das sagen, was ich mit Worten nicht hinkriege. Du kennst mich, ich muss eigentlich gar nichts sagen. Aber heute will ich, okay? Ich bin … Du bist … Wir sind …« Es half nichts, er war wieder abgestürzt. Seufzend drückte er auf die Fernbedienung. »Der Film ist frisch im Kino, hat elf DIOs gewonnen und du hast bestimmt von ihm gehört. Lass ihn uns einfach genießen.« Und er kam zu ihr aufs Sofa. Sofort rückte sie an ihn heran, schmiegte sich an seine Seite und schnupperte an seinem Haar. »Mmmmh.« Da musste er jetzt durch. »Du hast ja mein Shampoo benutzt.« »Was? Hab ich nicht.« »Hast du wohl. Du greifst immer nach irgendeinem …« »Tifa, der Film fängt an.« Ihr war nach Kichern zumute. Sie nahm seine Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen, und dann blickten sie gebannt auf den heller werdenden Bildschirm. *** Während auf weißem Grund stilisierte Rosen vorüberschwebten, wurde ein Darsteller nach dem anderen genannt. Tifa kannte keinen davon. Egal – es schien tatsächlich ein Liebesfilm zu sein, was ihr zwar nicht ganz behagte, was sie aber so unglaublich (und so süß!) fand, dass es ihr gerade herzlich egal war. Cloud hatte für sie einen Film beschafft, und wenn es stimmte, dass dieser gerade im Kino lief, dann hatte er dafür offenbar sogar den Pfad der Legalität verlassen. Nicht dass sein Gewissen allzu sehr darunter leiden würde; Cloud war in jeder Hinsicht Pragmatiker. Und er war. So. Süß. Tifa musste sich zusammenreißen, nicht noch mehr auf ihn zu krabbeln und ihn zu umschlingen wie ein schlecht sitzendes Regencape. Contenance! Zum Kuscheln war die Gelegenheit zwar günstig, doch Cloud sollte nicht den Eindruck haben, dass die Handlung des mühsam und kriminell organisierten Streifens sie nicht interessierte. Als endlich das Intro begann, erschienen Kulissen im Bild, die Tifa sofort erkannte: Das sollten die Slums des alten Midgar sein – rostig, müllig, abstoßend, unverkennbar, während ein dunkler Schatten, der zweifellos die Platte darstellen sollte, das Tageslicht verdeckte. Tifa ahnte, welcher Film sich hier soeben zu entfalten begann. Alle ihre Freundinnen hatten von ihm geschwärmt! Welch großartige Liebesgeschichte! Welch umwerfender Hauptdarsteller! Welch gefühlvolle Inszenierung! Sie lächelte. Romanze hin oder der, dieser Film sollte erste Sahne sein. … Nun gut, ein wenig künstlich sahen die Kulissen schon aus, das musste man leider sagen. Genaugenommen wirkten sie sogar etwas … billig. Wenn Sektor 7 als Hauptschauplatz diente, wieso hatte der Regisseur sich dann unverkennbar mit einer Pappkulisse zufrieden gegeben? Hmmm. Cloud, der keinen einzigen modernen Film gesehen hatte, wurde nicht stutzig. Er hielt ihre Hand, sein Daumen streichelte sogar ihre Finger. Tifa musste wieder lächeln. Was soll’s, alles war prima. Bestimmt wurde der Film gleich besser. Irgendetwas musste die elf DIOs schließlich rechtfertigen – und sei es nur der erwähnte schmucke Hauptdarsteller. Da, endlich: Eine blonde junge Frau erschien inmitten des Gewusels aus Statisten. Aus letzteren stach sie sofort hervor, da sie in löchrige Netzstrümpfe und zerfetzte Seide gekleidet war. Sie sollte offenbar nach bitterer Armut aussehen, doch ihr aufwendig frisiertes Haar und ihr perfektes, stark betonendes Make-up machten diesen Eindruck leider zunichte. Außerdem hatte sie gigantische … Nun ja, Tifa selbst war auch nicht schlecht bestückt, aber das da sah aus, als hätte man Mutter Natur etwas unter die Arme gegriffen. »Wow«, rutschte es Tifa heraus. »Hmmm«, machte Cloud, hörte aber nicht auf, ihre Hand zu streicheln. »Ich meine, was für …« »Ja.« »Ich hab diese hässlichen Slums so satt«, beklagte sich die Protagonistin bei allen, die es hören konnten. »Hätte ich doch bloß ’nen reichen Boy von der Platte. So ’n sexy Bonzensöhnchen mit eigener Villa wär schon geil.« »Glaubst du wirklich, für dich bettelarme Mieze interessiert sich da oben jemand?«, brummte ein fies aussehender Mann im schäbigen Mantel, aus der nächsten dunklen Ecke hervorschlendernd. »Wenn du so einen willst, musst du erst mal zeigen, was du drauf hast. Dann kann ich vielleicht was machen … Na?« Tifa zog unwillkürlich die Stirn kraus. »Wenn du mich zu den reichen Boys bringst, Alter, dann mach ich, was du willst«, raunte die Blondine. »Na dann los, Schnecke. Wenn du gut blasen kannst, hast du den Platz in der nächsten Chocobo-Kutsche nach oben.« Tifa hüstelte lauter, als sie wollte. Cloud seufzte. »Das waren schon harte Zeiten in den Slums damals.« »Cloud, ich glaube irgendwie …«, setzte Tifa an, wurde jedoch vom ekstatischen Ausruf des Mannes übertönt: »Jaaaaah, Mäuschen! Gib mir alles!« Müsste die Szene jetzt nicht ausblenden? Umschwenken? Die Zuschauer mit den implizierten Liebesdiensten verschonen? Nein. Ihrer beiden Hände hörten abrupt auf zu streicheln. »Oh«, sagte Cloud. »Das ist …« »Ich hab’s geahnt«, murmelte Tifa. »… aber wie kann sie denn …« Cloud schloss den Mund wieder. Sie musste ihm zustimmen: Das Teil war so riesig, das konnte nicht angenehm sein. »Jaaaaah, schluck ihn runter, du kleine Muschi! Da oben regiert das Gesetz des Schwanzes, hörst du? Je dicker der Schwanz, desto reicher der Kerl! Lutsch sie alle, vom kleinsten bis zum größten!« Tifas Gesicht wurde heiß, doch sie konnte noch immer nicht wegsehen. Es war wie ein Unfall. Sekundenlang starrten sie einfach nur auf die hör- und sichtbaren Obszönitäten. Schließlich befand Cloud nüchtern: »Irgendwas stimmt damit nicht.« *** Tifa wusste nicht recht, welchen Muskel sie zuerst bewegen sollte, um sie beide aus dieser Situation zu befreien. Cloud machte nämlich ebenfalls keine Anstalten dazu. Seine Miene war gewohnt leer, doch hinter seiner Stirn schien es zu arbeiten, so als schaute er einen nachdenklich stimmenden Beitrag in den Acht-Uhr-Nachrichten. »Ähmmmm, Cloud. Das ist der falsche Film.« »Es kann nicht der falsche Film sein.« »Aber man bekommt doch keine elf DIOs fürs … was machen die da gerade?« Cloud schüttelte langsam den Kopf. »Aber es geht doch um eine Liebe in Sektor 7 …« »Das da ist keine Liebe.« »… mit einem reichen jungen Mann von der Platte …« »Der kommt wahrscheinlich noch, und seiner wird noch größer sein. Cloud …« »Ich verstehe das einfach nicht«, schloss Cloud ratlos. »Das sollte Der Himmel über den Slums sein!« In diesem Moment entfernte sich die Kamera dankenswerter Weise von der Protagonistin und ihrem neuen … Wohltäter, und das Intro endete. Der Titel wurde eingeblendet, schwebte in dicken, erdbeerfarben Buchstaben über dem ganzen Bildschirm. Und Cloud und Tifa bekamen ihre Antwort. »Oh«, machte Cloud. »Hmmja.« »Das … ist der falsche Film.« Cloud schaffte es, seine Hand ganz nebensächlich aus ihrer zu lösen. Die Heldin kam wieder ins Bild, diesmal wartend im luxuriösen Vorraum eines Büros, mit nichts am Leib als einem Tigerhöschen und goldenen Sternchen auf ihren Nippeln. Tifa ahnte Schlimmes. Cloud schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich wusste nicht, dass die Leute für so was ins Kino gehen.« »Tun sie auch nicht«, sagte Tifa. Bei Wall Market Productions hätte ich stutzig werden müssen, dachte sie. »Wo hast du den Film her? Sei ehrlich.« Cloud murmelte ein zweisilbiges Wort. »Was? Ich hab’s nicht verstanden.« »Fräulein Rosie aus Sektor 7? Mr. Hayes wird Sie nun empfangen.« – »Reinkommen, Süße. Ich hab auf dich gewartet … mein Fötzchen.« »Cloud?« »Yuffie.« In diesem Moment hörten sie die Stimmen. Nicht die aus dem Fernseher, sondern die von unten aus dem Schankraum. *** »Klopfen, Mann! Nicht reinschleichen. Es is’ ihr Geburtstag, wer weiß, was die gerade machen. Sollen sich wenigstens noch was anziehen und den Schweinkram wegräumen können.« Schritte auf der Treppe. Dann setzte das Sturmklopfen ein. Es klang, als schlüge jemand mit einem Spaten gegen die Wohnzimmertür. »Du hast nicht abgeschlossen«, stellte Cloud fest. »Ich dachte, du hast abgeschlossen.« Cloud erhob sich wortlos vom Sofa und ging zur Tür. Den verdammten Film ließ er natürlich einfach weiterlaufen. Tifa griff nach der Fernbedienung und patschte darauf herum. Nichts tat sich. Okay, dann einfach lächeln und so tun, als wäre nichts … Schon an den Stimmen war unverkennbar gewesen, dass es sich um Barret und Cid handelte, die einzigen beiden Menschen (außer Cloud), die eine offizielle Einladung ignorieren und einfach spontan hereinplatzen würden, egal wie beschäftigt der Gastgeber war. Barret, der menschliche Kampfpanzer, schob Cid vor sich her, der im selben Moment, als seine Sohlen über die Schwelle befördert wurden, die Zigarette aus dem Mund nahm, sie mit Spucke löschte und hinters Ohr klemmte. Regel war Regel. »N’Abend!«, brüllte Barret. »Wir stören doch nich’, oder?« »Ich hab ihm gesagt, wir stören«, erklärte Cid, »aber er wollte unbedingt vorbeikommen und dir schon heute dieses Kackding schenken.« Barret trug einen Pappkarton unter dem Arm, in den ein mittelgroßer Hund passte, und sah sehr zufrieden aus. »Na klar, man kann ja auch nich’ vernünftig feiern ohne das Kack- … das Ding! Hier!« Er lud Tifa den Karton auf die Arme, und sie ging kurz in die Knie. Kein Training der Welt wappnete einen gegen Barrets Geschenke. »Danke … Setzt euch …« Der Schaden war sowieso nicht mehr abzuwenden, und Cloud stand nur nutzlos in der Gegend herum. Während Tifa umständlich den Karton abstellte, wurde ihr klar, dass sie die Fernbedienung falsch herum hielt, was wohl der Grund für ihr früheres Versagen gewesen war. »Na, was guckt ihr denn Schönes?«, fragte Barret und wandte sich neugierig dem Fernseher zu. Die Frage beantwortete sich natürlich just in diesem Moment selbst, als Fräulein Rosie im Tonumfang einer Operndiva Tonleitern zu stöhnen begann. Jedes andere Geräusch im Raum verstummte. Prompt klebten alle Blicke am Bildschirm, wo der reiche Mr. Hayes sein mit rosa Luftschlangen gefesseltes Sektor-7-Mädchen gegen die Wand drückte, die Zunge so tief in ihrem Ohr vergraben, dass sie aus dem anderen wieder herauskommen müsste. »Wir gucken Der Himmel über den Slums«, erklärte Cloud ungerührt. »Der soll sehr gut sein.« Barret räusperte sich. »Yo, Cloud … Ich glaub, das is’ nich …’« »Klingt wie ’ne andere Art von Film«, befand Cid im Tonfall des Experten, kam einen Schritt näher, wartete die nächsten beiden Stöhner ab und nickte. »Der ist das. Hab ich gesehen. Ist ganz okay. Die Möpse sind jedenfalls recht ordentl–« Barret zog ihn am Kragen zurück. »Hey, Cloud, ich weiß ja, dassde dich mit Filmen verdammt schlecht auskennst. Aber wie bitte kann man Der Himmel über den Slums verwechseln mit Der P… … argh, Der P…‹« »Sprich’s schon aus«, brummte Cid und rieb sich den Nacken, »die Blagen sind doch im Blagencamp.« Tifa wusste, dass sie selten in ihrem Leben so rot gewesen war, und fragte sich, warum es ausgerechnet vor ihren ältesten Freunden passieren musste. »Cloud hat ihn von Yuffie«, hörte sie sich sagen. Der Gedanke, Barret und Cid könnten glauben, dass sie und Cloud an ihrem Geburtstag Erotikfilme schauten, war unerträglich. Warum eigentlich?, fragte sich ein trotzig schnaubender Teil von ihr. Wäre das nicht verdammt normal? Wären wir dann nicht ein GANZ NORMALES PAAR? Barret rieb sich die Schläfe, als wüsste er nicht, wohin mit seiner Hand, und vermied es, zum Fernsehschirm zu sehen, während Cid mit unverhohlenem Interesse die drei nackten Mädchen betrachtete, die sich mit nichts weiter am Körper als Mogry-Hütchen daran machten, Fräulein Rosie und Mr. Hayes mit braunem Rohrzucker einzuseifen. Endlich fand Tifa sich in der Lage, angemessen zu reagieren, drehte die Fernbedienung in den schwitzigen Fingern herum und setzte den Peinlichkeiten ein jähes Ende. »Schade«, murmelte Cid. Barret seufzte erleichtert. »Cloud, hörma … Wenn du dir ’nen Film aus Wutai besorgst, da kannste einen drauf lassen, dass die dir nich’ Der Himmel über den Slums brennen, sondern Der P…« Die Luft strömte aus ihm wie aus einem leeren Luftballon, ohne dass der begonnene Satz Vollendung erfuhr. Tapfer setzte er erneut an: »Du weißt schon, dass P… P … dass solche –« »Pornos«, half Cid aus. »… Danke …« »Immer gern.« »… das solche Filme verdammt oft an berühmte richtige Filme angelehnt sind? Und dass P…« »Pornos.« »… oft ganz ähnliche Namen haben, damit man die Anlehnung gleich erkennt?« Cloud schaffte es wieder einmal, jeden Muskel in seinem eigenen Gesicht derart einzuschüchtern, dass keiner eine Regung wagte. »Nein«, erklärte er. »Ich hab den richtigen Film genannt, und der Typ hat mir diesen gegeben.« Seine Wangen blieben weiß. Cloud errötete nie. Wer als Mann in einem Frauenkleid zu Don Corneos Brautschau antrat und sich die ausgestopften Brüste mit Hupgeräuschen drücken ließ, errötete nie wieder. Tifa schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich versteh trotzdem nicht, wie das passieren konnte.« »Aaaach.« Barret machte eine wegwerfende Geste mit dem Gewehrarm. »Gibt tausend Ursachen für so’n Missverständnis. Der Typ is’ Ausländer, hat die Parole nur auswendig gelernt, und seine Filmtitel auch. Und ihr Nibel nuschelt sowieso. Überall hs, wo keine hingehören.« »Ich kann wohl ein p und ein h korrekt aussprechen«, behauptete Cloud, und der Cloud’sche Das-war-sicher-nicht-meine-Schuld-Blick™ ging in die Produktion. Cid schnaubte und nahm die Pause zum Anlass, sich ungerührt seine für später zurückgelegte Zigarette hinter dem Ohr hervorzupflücken und anzuzünden. »Im Wutai gibt’s kein h, soweit ich weiß«, murmelte er. »Was?«, rutschte es Tifa heraus. »Ich sagte: Im Wutai gibt’s kein h. Weiß ich zufällig, war da ja schon öfter, geschäftlich und so. Darum verstehen die da manchmal was anderes, wenn man h spricht. Ganz klar, was hier passiert is, oder?« Das peinliche Schweigen, das sich anschloss, wollte lange kein Ende nehmen. *** Barrets riesiger Geschenkkarton enthielt eine nicht minder riesige Weinkaraffe, in Corel mundgeblasen (Sicher nicht von Rosie – Tifa versuchte, solche Gedanken beiseite zu schieben), aus schwerem Bleiglas und dazu bestimmt, nur den besten Wein aus Barrets Heimat einzuschenken. Tifa hätte das wertvolle Stück an sich gedrückt, wäre es nicht fast so schwer wie sie selbst. Vor drei Jahren, als sie hier in Edge das neue Siebter Himmel eröffnet hatte, war es Barrets Heimatwein gewesen, der ihnen diesen Neuanfang ermöglicht hatte. Seit es Tifa gelungen war, diesen Wein selbst anzubauen, versprach er ihr, das dazugehörige Ausschankutensil zu besorgen, hatte es aber nie geschafft, eins aufzutreiben; schließlich hatten sie beide die Karaffe vergessen. Oder zumindest hatte Tifa das gedacht. Eine Flasche Wein später bugsierte Cid Barret zur Tür hinaus, mit dem Hinweis, er müsse noch fliegen und sie kämen ja morgen zur Party wieder und dann könnten sie Yuffie als Strafe für ihre grottenschlechte Geschenkberatung unter den Tisch trinken. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, lehnte Tifa sich erschöpft dagegen und blies eine dunkle Haarsträhne beiseite, die ihre Wange kitzelte. Puh, selten war ein Geburtstag so anstrengend gewesen. »Cloud?«, sprach sie ihren Partner an, der mit verschränkten Armen neben dem Türrahmen stand und über Sinn und Unsinn des vergangenen Abends nachzudenken schien. »Hm?« »Wir müssen reden.« Seine Augen flackerten kurz. Sie machten das manchmal, als huschte ein Schatten der Unsicherheit quer über das Mako-Feld und tat dann so, als wäre er nie da gewesen. »In Ordnung«, sagte er widerwillig. Ist ja dein Geburtstag, fügte sein Blick ergeben hinzu. »Und wo reden wir?« »Gleich hier.« Sie nahm seine Hand, zog ihn zum nächsten Tisch, und dann setzten sie sich einfach Hintern an Hintern auf die klebrige Tischplatte. Ihre Finger hielten seine weiter fest, und er unternahm nichts dagegen. ************************************************************************ Er hätte es ahnen müssen. Seine Instinkte täuschten ihn selten, vor allem wenn es um Yuffie und ihre Ideen ging. Dennoch hatte er nicht erwartet, dass es derart schiefgehen würde. Ein Porno mit einem fast identischen Titel? Ein p statt einem h? So was passierte nur anderen Leuten. In einem anderen Universum. Ich wollte dir mit diesem Film das sagen, was ich mit Worten nicht hinkriege. Na prima. Sicher war die Botschaft angekommen. Tifas Fuß stupste gegen seinen. »Was hattest du vor?« Er wusste nicht, was die Frage sollte. »Was schon? Ich wollte, dass du einen schönen Abend hast.« Mit mir, dachte er, und da das eine Rolle spielte, fügte er es noch etwas lahm hinzu: »Mit mir.« »Soso.« Er hörte ihr belustigtes Lächeln, dafür brauchte er sie nicht anzusehen. »Und warum gerade ein Liebesfilm?« »Das war Yuffies Idee. Ich wollte dir nicht das gleiche schenken wie jedes Jahr.« Oder jedes zweite Jahr. »Sie … sagte, wir bräuchten mehr Romantik.« »Also?« Er seufzte. »Yuffie sagt, alle Frauen wünschen sich das. Alle Frauen wünschen sich, dass ihr Partner mit ihnen …« »… einen Liebesfilm schaut?« »Ja.« Das Streicheln ihres Daumens kitzelte seinen Handrücken. »Stimmt das denn?« »Kann sein.« Tifa schwieg einen langen Moment. Dann sagte sie: »Ich bin aber nicht alle Frauen, Cloud.« Wie so oft dachte Cloud über eine schlagfertige Antwort nach, und wie so oft endete dieser Vorgang in einer Vollbremsung, wenn ihm einfiel, dass ›nachdenken‹ und ›schlagfertig‹ nicht harmonierten. »Heißt das, du würdest dir was anderes wünschen?« »Romantik heißt doch nicht, dass alles mit Liebe zu tun haben muss. Du könntest einfach mit mir ins Kino gehen. Ganz klassisch.« »Aber nicht in einen Liebesfilm«, folgerte er. »Ich mag keine Liebesfilme, Cloud. Ich mochte sie noch nie. Todlangweilig.« Er ließ das Kinn auf die Brust sinken. Nein, Tifa war nicht alle Frauen. Er hätte ihr zuhören müssen. Wenigstens hin und wieder. Das hätte ihnen beiden eine unangenehme Erfahrung erspart. »Ich mag Prügelfilme«, gestand Tifa mit kleinem Kichern. »So richtig übertrieben. Es knallt laut und Leute krachen durch Wände. Am Ende liegen alle auf dem Boden und der Held hat keinen Kratzer. Das mag ich.« Sie drückte verspielt seine Hand. »Und zufällig läuft so einer gerade im Kino, weißt du, unten in der Südstadt. Er heißt Die Prügelprinzessinnen. Meinst du, wir könnten hingehen?« »Absolut«, stimmte er zu, seltsam erleichtert. Sie in einen Film einzuladen, den sie wirklich sehen wollte, schien ihm eine elegante Rettung zu sein. »Übermorgen?« »Okay.« »Du verschiebst deine Aufträge.« »Klar.« »Von Mittag bis Morgen.« »Mache ich.« Jetzt spürte er, dass sie glücklich war. Seltsam, wie dieses Gefühl an jemandem fast greifbar wurde, wenn man dieser Person körperlich nahe war. Er würde an diesem Abend alles möglich machen. *** Am nächsten Morgen fanden sie im Briefkasten die zerknirschten Grüße von Marlene und Denzel, die sich mit der kaum überwindbaren Entfernung des öffentlichen Briefkastens (im nächsten Ort, eine Viertelstunde Fußmarsch) herausredeten und Tifa wünschten, dass die Party großartig wurde. Am Abend wurde die Party großartig. Keine Tränen flossen, nur Bier, und Cloud konnte sehen, wie Tifa es genoss, so viele alte und neue Freunde um sich zu haben. Er begriff, wie wenig Zeit sie sich für ihre eigenen Bedürfnisse einräumte, weil die Arbeit nie ein Ende nahm. Tifa wollte unter lieben Menschen sein, nicht unter Kunden – unter Leuten, die sie mochten, nicht ihre Cocktails oder ihre Brüste oder, noch schlimmer, beides. Er verstand, wie viel Abende wie dieser ihr bedeuteten und wie glücklich sie sie machten. Es musste wirklich mehr von diesen Abenden geben. Einer im Jahr war nicht genug. Er würde daran arbeiten. Als Yuffie irgendwann – viel zu spät, wie immer – ebenfalls auf der Feier eintraf, verlor niemand ein Wort darüber, wie die romantische Überraschung verlaufen war. Yuffie indes schien damit gerechnet zu haben, dass man sich bei ihr bedankte, sie mit Lob überschüttete oder sie heilig sprach, und als weder Tifa noch Cloud den Film erwähnten, wurde sie immer hibbeliger. Während ein Ljeccá nach dem anderen den Weg in ihre Kehle fand, wuchs in Cloud die zarte Hoffnung, die Ninja würde schon bald zu betrunken und zu erbärmlich sein, um ihren Hochmut abzuwerfen und ihm die entscheidende Frage zu stellen. Doch schließlich, nach einem großzügig gemixten Green Mage on top, passierte es doch: Der Stolz fiel, und natürlich traf er das Pflänzchen, das Clouds keimende Hoffnung war, und rammte es in den Dreck. »Verdammmd Cloud, wie isses dennjetz gelaufn?«, lallte sie und fiel ihm dabei fast auf den Schoß. Ihr verzweifeltes Gesicht umgab der alarmierende grünliche Schimmer, der nichts Gutes versprach. »Wie fannntifa dennnnehn Film? Jetschpann mich dochnich so auffie Folda, Mannn!« Er schob sie vorsichtshalber eine Armeslänge von sich. Dieses Stadium der Trunkenheit erreichte Yuffie nur selten, bevor sie abstürzte, was ein Zeichen für ihre Aufgewühltheit war. Die Sache mit dem Film beschäftigte sie wirklich. »Großartig«, log er ihr ins Gesicht. »Ehhhr…elch?« »Ja.« Es hatte zwar nicht wirklich einen Sinn zu lügen, die Geschichte würde sich herumsprechen; doch jetzt gönnte er ihr den Lachanfall noch nicht. Sie würde ihn sowieso nicht genießen können. Yuffie sah ehrlich erstaunt aus. »Öh. Dasssssja toll. Ich hab irntwie gedachtassu das voll verkacksddd. Aba …« Sie zuckte die Schultern, und diese labberige Bewegung beförderte sie beinahe von ihrem Barhocker. »… ichab ebm doch die bestnideen. Wenn’s umfraun geht, frag michma. Schbin eine.« Sie prostete ihm zu, dann rülpste sie, und dann kroch sie plötzlich auf allen Vieren davon. Ein bekanntes Phänomen setzte ein: Jeder im Raum sah sich nach dem Eimer um, Barret sah ihn, schnappte ihn und warf ihn zu Cid, dieser schubste ihn über den Tisch zu Nanaki, der ihn mit der Nase zu Cloud stieß. Somit schaffte Cloud es, dem frisch renovierten Parkett das Leben zu retten. Erstaunlich, wie manche einstudierten Manöver auch nach Jahren noch tadellos funktionierten. *** Einen Abend später saß er neben Tifa in Saal 4 des Kinos in der Südstadt. Links und rechts von ihnen wurde laut gegiggelt, in der Reihe hinter ihnen erklangen Geräusche gefräßigen Popcornvertilgens, vor ihnen saßen zwei Riesen mit Sombreros, doch Tifas Hand lag in seiner, warm und vertraut. Der Film war laut, brutal und abgedroschen. Ständig krachte es, Stühle, Zähne und Ohren flogen durchs Bild, übermenschliche Manöver wurden vollführt, Gelenke knirschten, Jauchzer und Jubelstürme wogten durch den Kinosaal. Tifa war glücklich. Das hier war ihre Vorstellung von Unterhaltung. Auch Cloud spürte, wie das Bumm, Peng, Aaarrgh ihn angenehm entspannte. Das war nun mal die Welt, in die sie beide gehörten. Luftschlangen und Rohrzucker hatten dort genauso wenig zu suchen wie lose Türen und Trillerpfeifen. Cloud gab gerne zu, dass Blütenblätter und Kerzenlicht ihn nervös machten, dass er bei fingierten Schmerzensschreien jedoch bestens abschalten konnte. Vielleicht sollten sie öfters zusammen ins Kino gehen. Als schließlich der Abspann sich über die dunkel gewordene Leinwand wälzte, ließ Tifa seine Hand los und beugte sich ganz dicht an sein Ohr. »Hey, Cloud«, flüsterte sie, »was hältst du jetzt von Dessous und Spitzenhöschen?« Cloud zögerte nur einen Moment. Na gut, dachte er. Ich hab schon Schlimmeres angehabt. »Alles, was du willst«, versprach er ihr, und der Duft ihres Haars umwehte kurz seine Nase. Es roch nach Erdbeere. ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)