Herzschlag von QueenLuna ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Herzschlag Schmerzhaft verkrampft sich seine Hand um meine, während die letzten Töne verklingen. Für einen kurzen Moment scheint die Zeit still zu stehen, dann bricht der Applaus los. Einer unbändigen Woge gleich. Ein Schmunzeln huscht über meine Lippen, während ich beobachte, wie sich die drei Musiker, trotz der erneuten ‚Encore‘-Rufe, winkend von ihrem Publikum verabschieden und hinter die Bühne verschwinden. Unmittelbar vor mir sacken Tsukasas Schultern ein wenig nach unten, als würde alle Anspannung mit einem Schlag aus ihm weichen. Als er sich herumdreht, wirkt er ähnlich entrückt, wie ich mich fühle. Dennoch ziert ein Lächeln seine Lippen, bei dem ich nicht anders kann, als es zu erwidern. Mein Blick schweift abermals zur Bühne, auf der die Techniker bereits mit dem Abbau begonnen haben, das letzte Zeichen, dass es wirklich keine weitere Zugabe geben wird. Ich kann ein leises Seufzen nicht unterdrücken, versuche mich zu sammeln. Ein ungewohntes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus. Nein, eigentlich ist es schon die ganze Zeit da gewesen, nur konnte ich es gut verdrängen. Doch nun – ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, während die Bilder des Konzerts vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen. Seine Stimme, die Songs. Es war… intensiv. Anders. Ich kann es nicht beschreiben. Vielleicht auch ein Stück weit befreiend. Der feste Druck um meine Finger holt mich aus den Gedanken und lenkt meine Aufmerksamkeit auf den Mann neben mir. Augenblicklich krampft sich mein Herz ein wenig zusammen, als ich den leeren Ausdruck in seinem Gesicht wahrnehme. Er wirkt so verloren, wie er auf die Bühne starrt. Als würde er die anderen damit zurückbringen können. Oder etwas anderes. Behutsam fahre ich mit dem Daumen über seinen Handrücken. „Karyu?“ Er blinzelt kurz, als würde er erst den Weg ins Hier und Jetzt suchen müssen. Sein Blick trifft meinen, dennoch scheint er durch mich hindurchzusehen. „Alles gut.“ Seine Stimme klingt belegt. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Er sieht fertig aus. Was habe ich eigentlich erwartet? Vermutlich genau das und trotzdem tut es weh, ihn so zu sehen. Ich suche nach den passenden Worten, um ihm irgendwie helfen zu können, doch ich finde keine. Ich kann nur sanft über seinen Handrücken streichen und lege gleichzeitig all mein Mitgefühl in meinen Blick. „Komm, lass uns zu den anderen gehen.“ Obwohl ich ihn eher mit mir ziehe, kommen wir recht zügig am Bühnenaufgang an, wo wir schon von einem der Staffs empfangen werden. Ich werfe einen schnellen Blick über die Schulter zu Tsukasa, der uns gefolgt ist und uns nun mit einem wissenden Ausdruck in den Augen betrachtet. „Geh schon mal vor, wir kommen gleich nach.“ Ohne auf seine Antwort zu warten, lotse ich Karyu ein paar Schritte zur Seite, in eine weniger gut einsehbare Ecke der Bühne. Sobald uns das Halbdunkel umhüllt lege ich meine Arme um seine Mitte und lehne mich an ihn. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen, genieße die vertraute Wärme, die mich umfängt, und lausche dem überraschend langsamen Herzschlag in seiner Brust. Ich spüre, wie seine Finger sich in mein Shirt krallen und er sein Gesicht in meinem Haar vergräbt. Der unangenehme Kloß in meinem Hals will nicht weichen. Es ist, wie ich befürchtet hatte. Weder besser noch schlechter. Dennoch lähmt die ganze Situation mein Denken. Ich finde einfach keine passenden Worte, um Karyu auf irgendeine Art und Weise aus diesem beinahe beängstigenden Zustand zu holen. Mir bleibt nur der Versuch, ihn irgendwie zu halten und aufzufangen. Als Hizumi uns vor etwas mehr als einem Jahr freudestrahlend von den Plänen zu seinem neuen Projekt erzählt hatte, war es eine Achterbahn der Gefühle gewesen, die uns wohl alle gleichermaßen überrollt hatte. Aufregung, Neugier und natürlich die Freude darüber, dass es Hizumi besser ging. Keiner hatte damit gerechnet, dass er überhaupt in greifbarer Zukunft wieder so singen könnte, wie er es wollte. Dennoch hatte auch damals die altbekannte Wehmut mein Herz zusammengedrückt, während ich Hizumis enthusiastischem Bericht gelauscht hatte. Ich glaube, es ging uns allen ähnlich. Was würde sich ändern? Würde sich überhaupt etwas ändern – für uns? Als dann vor einigen Monaten die Einladung zum Konzert ins Haus gesegelt kam, war mir das Herz sogar kurzzeitig in die Hose gerutscht. In erster Linie war ich froh darüber gewesen, dass Hizumi es endgültig geschafft hatte, aber auch besorgt. Wie würde es Karyu aufnehmen? Doch mein Großer hatte mich überrascht. Obwohl sein Lächeln etwas verkrampft und wackelig gewirkt hatte, während er die Konzertkarten an unseren Kühlschrank heftete, war er mir in diesem Moment recht gefasst erschienen. Ich weiß, dass er sich in diesem Moment durchaus für Hizumi gefreut hatte, ihn glücklich sehen wollte, jedoch kenne ich ebenso den anderen Teil seines Herzens. Und der hängt damals wie heute an der Vergangenheit und sehnt sich zurück. Eine Sehnsucht, die vielleicht niemals vollständig vergehen wird. Während bei mir schließlich in den vergangenen Tagen die Vorfreude die Oberhand gewonnen hatte, war es bei Karyu anders gewesen. Ich weiß nicht, was ich genau gedacht hatte – vielleicht, dass Karyu irgendwann während des Konzerts wie einige der Fans in Tränen ausbrechen würde oder sich doch von der allgegenwärtigen Euphorie anstecken ließe. Doch nichts dergleichen geschah, auch nicht während der gesamten letzten Stunden, als Hizumis Stimme die Bilder der Vergangenheit stärker zurückbrachte als jemals zuvor. Die Gänsehaut an meinem gesamten Körper zeugte davon, wie sehr er mich immer noch in seinen Bann ziehen konnte. Und Karyu – er war die ganze Zeit ruhig gewesen, zu ruhig. Beinahe erstarrt. Nur seine Hand, die sich ab und zu schmerzhaft fest um meine verkrampfte, ließ erahnen, was in ihm vorging. Ich merke, wie er ein paar Mal tief ein- und ausatmet, ehe er langsam seinen Kopf hebt. Sein warmer Atem kitzelt leicht an meinem Ohr, als er einen flüchtigen Kuss darunter haucht. „Danke, Zero. Du kannst mich jetzt loslassen.“ Aufmerksam und zugleich ein wenig misstrauisch schaue ich zu ihm auf, allerdings ohne die Arme von ihm zunehmen. Würde ich ihn nicht schon seit so vielen Jahren kennen, hätte ich seinen Gesichtsausdruck vielleicht als gelassen interpretiert. Doch er ist weit davon entfernt. Dafür ist das halbe Lächeln zu erzwungen und seine Augen… Sie haben ihren Glanz verloren. Dennoch löse ich mich schweren Herzens von ihm. Es hilft nichts. Ich trete einen Schritt zurück und greife nach seiner Hand. Wir sollten die anderen nicht zu lange warten lassen, denn gratulieren wollte ich ihnen zu ihrem Auftakt auf jeden Fall. Und Karyu sicher ebenfalls. * Seufzend lasse ich mich auf die Couch fallen, ziehe Karyu einfach neben mich. Für einen Moment schließe ich die Augen und versuche gleichzeitig das bleierne Gefühl in meinen Gliedmaßen zu ignorieren. Mit einem Mal fühle ich mich unglaublich erschöpft. Ich bekomme eine leichte Gänsehaut, als mich der kühle Luftstrom der Klimaanlage streift. Ich kann mich kaum erinnern, wie wir den Heimweg bewältigt haben. Irgendwie ist alles an mir vorbeigezogen, vielleicht war ich auch noch zu beschäftigt damit gewesen, die letzten Stunden zu verarbeiten. So viele Eindrücke, so viele unterschiedliche Emotionen und gleichzeitig hatte es etwas angenehm Erfrischendes an sich gehabt. Kurzzeitig hatten meine Wangen sogar ein wenig wehgetan von meinem Dauerlächeln. Es war einfach schön gewesen, Hizumi so gelöst zu erleben, wie er mit den anderen scherzte und die Nachwehen seines ersten Konzerts genoss. Wer konnte es ihm verdenken? Auch an ihm waren die letzten Jahre nicht spurlos vorbeigegangen. Etwas hatte ihm die gesamte Zeit über gefehlt und nun war es zum Teil wieder da. Als wir schließlich backstage angekommen waren, war Hizumis Gesichtsausdruck unbezahlbar gewesen. Seine Freude war echt und absolut ansteckend. Man konnte sich ihr nicht entziehen. Gedanklich gratulierte ich mich zu der Entscheidung, ihm im Vorfeld nicht Bescheid gesagt zu haben, dass wir wirklich kommen würden. Masato und Toshiyuki hatten es gewusst, aber glücklicherweise dichtgehalten, denn so war die Überraschung definitiv gelungen, wie mir Hizumis schimmernde Augen bestätigten. Der Erfolg der neuen Ära wurde gemeinsam mit reichlich Bier begossen und zwischendurch wirkte alles normal. Wie früher. Nur eben mit mehr Leuten. Dennoch hatte ich die ganze Zeit befürchtet, Karyus Lethargie würde sich weiter halten, doch das schien zunächst unbegründet. Er beteiligte sich zwar nicht allzu lebhaft an den Gesprächen, aber er beteiligte sich wenigstens und rang sich sogar hin und wieder ein Lächeln ab. Ich wusste, er wollte den anderen nicht die Stimmung vermiesen und das rechnete ich ihm hoch an. Und Hizumi vermutlich auch. Ähnlich wie ich selbst litt unser ehemaliger Sänger wohl ebenso mit Karyu. Vielleicht war ich deshalb auch der Einzige, der Hizumis besorgte Blicke bemerkte, die Karyu zeitweise streiften. Nicht nur besorgt, beinahe schuldbewusst. Auch etwas, dass wir Hizumi nie ganz hatten ausreden können. Es ging sogar soweit, dass er wirklich unsicher gewesen war, ob wir die Einladung überhaupt annehmen würden, wie er mir während des Abends zu raunte. Das überraschte mich dann doch. Dass ich vorher nicht Bescheid gesagt hatte, sei mal dahingestellt, aber er hätte es sich doch denken können. So viel Vertrauen in unsere Freundschaft sollte er nach all der Zeit haben. Deshalb empfand ich den daraufhin folgenden Klaps auf den Hinterkopf als durchaus gerechtfertigt. Wie hatte er nur glauben können, wir würden ihn seinen großen Tag allein begehen lassen? Dabei hatte keiner ihm je die Schuld dafür gegeben, was geschehen war. Außer er sich selbst. Die Zeit vor dem endgültigen Aus von D‘espairsRay war zermürbend gewesen. Die Ungewissheit, der Verlust, die Angst, vor dem, was kommen würde. Dazwischen Hizumi, der in einem Strudel aus Schuldgefühlen versank und sich innerlich zerfleischte. Es war schwer gewesen, ihn davon zu überzeugen, dass Fragen nach dem „Was wäre, wenn“ und eventuellen Fehlern der Vergangenheit, nichts brachten. Es war nun einmal so und es war harte Arbeit gewesen, ihn wenigstens ein Stück weit wieder aus diesem Gefühlssumpf herauszuholen. Vielleicht hatte es erst die Tatsache, dass wir übrigen Drei schließlich neue musikalische Chancen ergriffen, für ihn erträglicher gemacht. Und Karyu… er litt. Meist schweigend, dennoch offensichtlich. Die wenigen, richtigen Zusammenbrüche versuchte ich in unseren privaten, vier Wänden aufzufangen. Es war schlimm, ich fühlte mit ihm. Alles, wofür er damals wirklich gelebt hatte, war die Band gewesen. Unsere Band. Die nun in dieser Art nicht mehr zu retten war. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Mit den Jahren waren die Wunden, die der ungewollte Verlust ihm zugefügt hatte, kleiner geworden, wenn auch nie gänzlich verheilt. Und nun hatte sich plötzlich erneut etwas verändert, brachte so all die mühsam verdrängten Gefühle zurück. Hatten wir uns irgendwann damit abgefunden, dass mit Hizumis Stimme nicht mehr zu rechnen sein würde, so hatte er uns heute das Gegenteil bewiesen. Die Karten schienen neu gemischt und mit einem Mal war da dieser kleine Funken Hoffnung. Nur hatte dieser Funke da keinen Platz mehr. Keiner von uns würde unsere aktuellen Projekte von jetzt auf gleich hinschmeißen können. Das ging einfach nicht. Wir alle hatten uns verändert. Wir wussten das. Auch Karyu. Doch manchmal kann man die Gedanken, um andere Möglichkeiten doch nicht einfach so verhindern. Müde reibe ich mir über die Augenlider, ehe ich einen Seitenblick auf Karyu riskiere. Er starrt an die Decke und wirkt völlig in sich gekehrt. In meinem Herzen zwackt es leicht und nur mit Mühe kann ich ein Seufzen unterdrücken, während ich sein Profil betrachte. Man muss wirklich auf ihn aufpassen. Ich muss auf ihn aufpassen. Sein Hang dazu, sich in seinen Gedanken und Gefühlen zu verlieren, hat sich leider in den ganzen Jahren kein bisschen verändert. Und allein findet er da selten wieder raus. „Willst du noch einen Kaffee oder Tee?“, frage ich vorsichtig und reiße ich ihn damit aus den Gedanken. Sein Zusammenzucken ist nicht zu übersehen. Es dauert ein paar Sekunden, bis meine Frage zu ihm durchgedrungen zu sein scheint. „Hm, nein, danke.“ Sein Blick wandert zu mir. „Sonst kann ich heute Nacht wieder nicht schlafen.“ Ob er heute Nacht überhaupt schlafen wird? Ich bezweifle es. Mein Gesichtsausdruck macht das wohl ziemlich deutlich, denn für einen Moment huscht ein Schatten über sein Gesicht, ehe er den Arm um mich legt und mich an sich zieht. Seine Nase drückt er in mein Haar und murmelt leise: „Das wird schon wieder. Kennst mich doch.“ Gerade weil ich ihn kenne, lässt das ungute Gefühl in meinem Bauch nicht nach. Schwer seufzend lehne mich stärker an ihn. Ich weiß nicht, wer im Moment wen hält: Karyu mich oder ich ihn. An sich ist es egal, es fühlt sich so wunderbar vertraut an, dass ich mir erlaube, das Gefühl einfach mit geschlossenen Augen zu genießen. Nach ein paar Minuten löse ich mich dann doch von ihm, wenn auch widerwillig. Die Klimaanlage leistet so gute Arbeit, dass mir mittlerweile wirklich kalt ist. Auch die geistige wie körperliche Erschöpfung macht sich jetzt stärker bemerkbar. Der lange Tag fordert langsam seinen Tribut. Nur mit Mühe unterdrücke ich ein Gähnen und stehe auf. Karyus dunkle Augen folgen mir, als ich mich an ihm vorbeidränge, nicht ohne noch einmal liebevoll durch seine Haare zu fahren. „Ich gehe duschen, ehe ich noch einschlafe.“ Dafür ernte ich sogar ein kleines Lächeln. „Kommst du mit?“ Meist begleitet er mich, aber nicht heute. Heute ist eben anders. „Geh schon mal, ich dusche dann später. Vielleicht mache ich mir doch noch einen Tee.“ Als ich eine Viertelstunde später erfrischt und wieder einigermaßen munter aus dem Badezimmer trete, höre ich den Fernseher laufen. Ablenkung. Karyu sitzt nahezu unverändert auf dem Sofa, das grell flackernde Licht des Fernsehers ist die einzige Lichtquelle und beleuchtet seine schmale Gestalt. Leise trete ich von hinten an ihn heran und muss ein überraschtes Schnauben unterdrücken. Normalerweise wäre ich jetzt reichlich verwundert über Karyus Programmwahl, da er kaum etwas mehr liebt als Thriller und Horror, aber gut… Man kann nie genug über die Fortpflanzung von Koalas lernen. Wobei mir irgendetwas sagt, dass es ihm vollkommen egal ist. Wieder spüre ich einen leichten Stich in meinem Herzen, während ich ihn betrachte. Seine Schultern sind nach unten gesackt, er wirkt seltsam verkrampft. Seine Hände liegen zu Fäusten geballt in seinem Schoß. Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken, fahre ich ihm mit den Fingern über den Nacken. Trotzdem fährt er zusammen. „Hab dich gar nicht reinkommen hören.“ „Hm… Entschuldige.“ Er lehnt sich in meine Berührung, eine Gänsehaut folgt meinen Fingern. Für eine kleine Weile herrscht trautes Schweigen zwischen uns, während die eindrucksvolle Berichterstattung über die Aufzucht der Jungtiere an uns vorbeizieht. Nicht, dass es mich sonderlich interessieren würde. Das Gähnen, das ich nicht unterdrücken kann, ruft mir schließlich meine Müdigkeit zurück ins Gedächtnis. Es bringt nichts. Meine Augen brennen und ich sehne mich nach meinem Bett. Der Tag hat mich geschafft. Nun, da sich das ganze, emotionale Chaos etwas gelegt hat, wird es mir noch bewusster. Obwohl ich Karyu ungern auch nur eine Minute aus den Augen lassen möchte. Hauchzart streiche ich mit beiden Händen an Karyus Hals entlang, ehe ich ihn am Kinn zu mir herum dirigiere und mir einen Kuss stehle. „Geh duschen und bleib nicht zu lange wach.“ * Verwirrt öffne ich die Augen und blinzle ins Halbdunkel. Leises Donnergrollen dringt aus der Ferne an mein Ohr. Ein wenig ungelenk wälze ich mich auf die Seite und versuche die leuchtenden Zahlen auf dem Display des Weckers zu erkennen. 3.26 Uhr. Eindeutig zu früh, um wach zu werden. Sofort fallen mir die Augenlider wieder zu und ich drehe mich murrend zurück auf den Rücken, ziehe dabei die Decke höher. Es ist kühl im Zimmer, die Klimaanlage surrt leise. Nach Wärme suchend taste ich um mich, doch werde nicht fündig. Das Bett ist leer. Stirnrunzelnd schlage ich die Augen erneut auf und blicke auf die leere Stelle neben mir. Sie wirkt völlig unberührt und als ich mit der Hand darüberfahre, ist sie kalt. Abrupt richte ich mich auf. Mein Herz rast. Er wird doch nicht -? Ich bin nicht einmal richtig wach, doch die Sorge um Karyu macht es mir unmöglich auch nur eine Sekunde länger im Bett liegenzubleiben. Das kann doch nicht wahr sein! Hatte er mir nicht versprochen, gleich nachzukommen oder habe ich mir das nur eingebildet? Wieso bin ich nur so schnell eingeschlafen? Ich hätte warten müssen. Das Wohnzimmer ist dunkel, die Couch verwaist. Auch sonst wirkt die Wohnung verlassen. Keine Spur von ihm. Wo ist er? Ist er etwa rausgegangen? Es wäre nicht das erste Mal, dass er in einem seiner schlechten Momente stundenlang durch die Gegend zieht. Dabei sollte er wirklich nicht alleine sein. Was, wenn er -? Ich bin nahe dran aus der Wohnung zu stürmen, um mich auf die Suche machen, doch ehe ich das Wohnzimmer durchquert habe, bleibt mein Blick an der breiten Fensterfront hängen. Mein Herz gerät ins Stolpern, gleichzeitig macht sich Erleichterung in mir breit, als ich die dunkle Gestalt an der Balkonbrüstung lehnend entdecke – so einsam und verloren, nur spärlich beleuchtet von den nächtlichen Lichtern der Stadt. Und als wäre das nicht genug, regnet es in Strömen. Ach, Karyu. Vereinzelte Blitze zucken über den Nachthimmel, während ich leise die Balkontür aufschiebe. Trotz der immer noch sommerlichen Temperaturen hier draußen fühlen sich die Regentropfen, die auf meine Haut treffen, eiskalt an und ich bekomme eine Gänsehaut. Ich trete den Regen ignorierend gänzlich hinaus und stelle mich dicht hinter Karyu. Meine Arme schlingen sich wie von selbst um ihn, suchen seine Nähe. Er ist hier. Tief durchatmend lehne ich meine Stirn an seinen Rücken und genieße seine vertraute Wärme. Ich bin gerade einfach unsagbar froh, dass er in der Wohnung geblieben ist und ich ihn nicht draußen suchen muss. Mit jedem Herzschlag werde ich ruhiger und ein erleichtertes Lächeln huscht über meine Lippen, als ich spüre, wie sich seine Hände über meine legen und er sich stärker in meine Umarmung lehnt. „Karyu, was machst du hier draußen? Die Dusche hättest du auch anders haben können“, tadle ich ihn leise und hauche einen flüchtigen Kuss auf seine Schulter. „Ich habe irgendwie die Zeit vergessen.“ Er seufzt und wendet das Gesicht gen Himmel. „Außerdem ist der Regen gerade recht angenehm.“ Ich schnaube, wobei ich wieder ein wenig Abstand zwischen uns bringe. Mit einer Hand fahre ich über sein nasses Shirt. Wie lang er wohl schon hier steht? Hoffentlich nicht, seit ich ins Bett gegangen bin. Schuldbewusst beiße ich mir auf die Unterlippe, während ich ihn mustere. Er ist völlig durchweicht, seine Haare kleben an seinem Gesicht, die restliche Schminke vom Abend zeichnet sich als verlaufener Schatten unter seinen Augen ab. Und dennoch wirkt er nicht mehr ganz so abwesend wie die Stunden zuvor. Der immer noch angespannte Knoten in mir lockert sich minimal. „Egal, wie angenehm du den Regen gerade empfindest, bei mir im Bett bist du besser aufgehoben. Komm mit rein.“ Ehe er reagieren kann, bugsiere ich ihn bereits zurück ins Wohnzimmer und während ich die Balkontür hinter uns schließe, kann ich nicht anders als den Kopf leicht zu schütteln. Ich wusste doch, dass man ihn nicht aus den Augen lassen darf. Wie ein begossener Pudel steht er da und tropft den Fußboden voll. Und ganz unschuldig daran bin ich nicht. Was soll ich nur mit ihm machen? Seufzend gebe ich ihm einen kleinen Schubs Richtung Schlafzimmer. „Geh schon mal vor. Ich hol nur schnell ein Handtuch.“ Als ich kurz darauf mit einem Handtuch um die Schultern und einem in der Hand das Schlafzimmer betrete, sitzt Karyu bis auf die Unterhose entkleidet auf der Bettkante und sieht mir abwartend entgegen. Die Vorhänge sind zur Seite gezogen, die Straßenlaternen draußen tauchen den Raum in diffuses Licht. Seinen Gesichtsausdruck kann ich nicht ganz deuten, als ich unmittelbar vor ihm stehen bleibe. Er wirkt ruhig und entspannt. Wobei mich das wiederum nicht unbedingt beruhigt. Momentan wäre mir ein aufgedrehter und redseliger Karyu eindeutig lieber – egal, wie anstrengend das sein kann. Allerdings wüsste ich dann seine Gefühle bei Weitem besser einzuschätzen. Aber weil Grübeln bekanntlich nichts hilft, schüttele ich diese Gedanken ab, ehe ich ohne weitere Umschweife das Handtuch über seinen Kopf werfe und beginne damit ihn abzutrocknen. Natürlich könnte er das selbst, aber ich weiß, dass er es insgeheim genießt, wenn ich mich um ihn kümmere. Und ich genieße es ebenfalls. Während ich ihn gründlich abreibe, merke ich immer wieder, wie er leise seufzt. Na gut, manchmal hat so ein ruhiger Karyu auch etwas für sich. Ein zufriedenes Schmunzeln stiehlt sich auf meine Züge, als ich seine Reaktion beobachte und dabei sanft mit dem Handtuch über seinen Nacken und die Schultern streiche. Seine Augenlider sind geschlossen, sein Atem geht gleichmäßig. Vorsichtig entferne ich die restliche Schminke aus seinem Gesicht. Mit einem Mal kommt Bewegung in ihn. Seine Arme schlingen sich um meine Oberschenkel und ziehen mich zu sich. Ich bin viel zu überrascht, um ihm etwas entgegenzusetzen. Seinen Kopf drückt er gegen meinen Bauch und atmet tief ein. Ich bekomme eine Gänsehaut, als sein warmer Atem durch mein Shirt dringt. Sie verstärkt sich noch, als ich spüre, wie kühl seine Arme noch immer sind. Es würde mich nicht wundern, wenn er morgen über Halsschmerzen klagt. Ohne, dass ich es verhindern kann, nimmt das ungute Gefühl in mir wieder zu, was ich gerade wirklich nicht gebrauchen kann. Selbstvorwürfe bringen nichts, denn schließlich war es Karyus eigene Entscheidung sich draußen in den Regen zu stellen. Ich kann und darf ihn nicht ständig kontrollieren. Auch wenn mein Herz etwas anderes will. „Was würde ich nur ohne dich machen?“ Ich spüre seine Worte mehr durch mein Shirt, als dass ich sie höre. Tja, gute Frage. Was würde er machen? Und genauso wichtig: was würde ich ohne ihn machen? Meine Mundwinkel zucken, als einige Bilder vor meinem geistigen Auge aufblitzen, die eindeutig beweisen, dass mein Leben vielleicht entspannter, aber eben auch langweiliger und grauer wäre. Nein, ich werde ihn nicht hergeben. Egal, wie viele Hochs und Tiefs wir noch durchlaufen werden. Ich drücke ihn ein kleines Stück zurück, sodass ich mich auf seinem Schoß niederlassen kann. Meine Hände finden automatisch den Weg in Karyus Nacken, streicheln darüber. „Vermutlich würdest du morgen über Schnupfen, Heiserkeit und dunkle Augenringe klagen.“ Vielleicht auch gänzlich in Wehmut versinken, ergänze ich gedanklich. Einen Augenblick lang fange ich Karyus verblüfften Blick auf, ehe er sich an meine Schulter lehnt und amüsiert schnaubt. Schon mal ein kleiner Fortschritt. Sanft fahre ich mit den Händen über seinen Rücken nach oben, während wir in stiller Eintracht auf dem Bett sitzen, die Nähe des anderen genießend. Sein kurzes Haar im Nacken ist mittlerweile trocken und so herrlich weich, dass ich gar nicht anders kann als darüberzustreichen. Wie bei einer Katze. Noch einmal lasse ich meine Finger durch seine Haare gleiten, diesmal etwas stärker und ziehe dadurch seine Aufmerksamkeit auf mich. Als er den Kopf hebt, seine dunklen Augen mich direkt anblicken, kann ich ein Seufzen nur schwer unterdrücken. Es scheint ihm tatsächlich etwas besser zu gehen und dennoch – er ist mir zu still, wirkt immer noch in sich gekehrt. Und diesen hilfesuchenden Blick kann ich kaum ertragen. Er passt einfach nicht zu meinem Karyu. Aber ich werde seine Direktheit und seine blöden Sprüche schon wieder aus ihm herauskitzeln. Auch wenn es Zeit braucht. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr verrät mir, dass der Sonnenaufgang nicht mehr allzu fern wäre, würde es nicht immer noch gewittern. Mittlerweile fühlen sich meine Augenlider unangenehm schwer an und mein Körper verlangt nach Schlaf. Mit etwas mehr Druck als nötig schiebe ich ihn nach hinten, so dass er auf dem Bett zum Liegen kommt, bevor ich mich von seinem Schoß erhebe. Das leise Surren der Klimaanlage verstummt, als ich den Regler neben der Tür bestätige und anschließend das Fenster öffne. Das gleichmäßige Rauschen des Regens ist mir lieber, es hat etwas ungemein Besänftigendes an sich. Dass es dadurch schwüler hier drinnen wird, ist egal. Dafür riecht es gut. Als ich ins Bett zurückkrabble, hebt Karyu ein Stück der dünnen Decke hoch, damit ich meinen Platz an seiner Seite einnehmen kann. Meinen Kopf bette ich auf seiner Schulter, einen Arm schlinge ich um seine Hüfte. So kann er auch nicht abhauen. Eine Weile hängt jeder seinen Gedanken nach, Karyus Hand krault geistesabwesend meinen Nacken. Diesmal muss ich aufpassen, dass ich nicht anfange zu schnurren. Auch das Bedürfnis mich endlich dem Schlaf hinzugeben, wird immer größer. Während ich Karyus Tun genieße und mich auf die gleichmäßigen Bewegungen seines Brustkorbs konzentriere, dringt plötzlich seine leise Stimme zu mir. „Ich hatte mich damit abgefunden, weißt du. Irgendwie jedenfalls. Und jetzt ist alles wieder zurück.“ Mehr erklären muss er nicht. Nur bin ich überrascht, dass er heute bereits darüber sprechen will. Die letzten Male hatte es Tage gedauert, bis er soweit gewesen war. Langsam richte ich mich, auf einen Arm gestützt, auf und blicke zu ihm. Seinen Gesichtsausdruck kann ich nicht richtig erkennen, dafür reicht die spärliche Beleuchtung von draußen in dieser Position nicht aus. Und die Nachttischlampe will ich nicht anmachen, denn das Halbdunkel gibt Schutz und Sicherheit. Und die brauchen wir beide. „Ich weiß, Karyu, ich weiß.“ Zärtlich streiche ich mit einem Finger über seinen Oberkörper. „Aber wir können nicht mehr zurück und so weiter machen, wie es früher war.“ Wozu sich Hoffnung machen? Die Tatsache auszusprechen, fühlt sich selbst für mich hart an. Ein schaler Beigeschmack macht sich auf meiner Zunge breit. „Sag das mal meinem Herzen, Zero.“ Es ist schwer zu akzeptieren. Damals habe ich selbst Monate gebraucht, doch durch das Setzen neuer Ziele wurde es für mich erträglicher. Obwohl ich natürlich nicht vergessen werde und will. Doch Karyu war schon immer anders. Behutsam lege ich meine Lippen, auf die Stelle, unter der sein Herz schlägt. Meine Haut kribbelt leicht, als ich seine Wärme spüre. „Dein Herz liebt einfach die Erinnerung und sehnt sich zurück. Das müssen wir ihm wohl zugestehen.“ „In erster Linie liebt es dich und ist dankbar.“ Karyu? Überrascht und sprachlos blinzle ich zu ihm. Ich spüre, wie er mich ebenfalls taxiert. An jedem anderen Tag hätte ich mit so einer Aussage gerechnet, aber nicht heute, dem entsprechend überrumpelt fühle ich mich. Mein Herz hüpft, während ich anfange zu lächeln. Das war eine typische Karyu-Aussage. Unverhofft und gleichzeitig so beruhigend wie süß. Ich kann nicht anders, als ihm einen langen Kuss aufzudrücken. Er schafft es doch immer wieder mich zu überraschen. Als wir uns voneinander lösen, lehne ich mich wieder an seine Schulter. Ich weiß gerade nicht, was ich antworten soll, der Kloß in meinem Hals macht mir das Sprechen schwer. Nach einigen Augenblicken höre ich Karyu leise murmeln: „Es tut trotzdem immer noch weh.“ „Vermutlich wird das nie ganz vergehen. Aber…“ Ich räuspere mich und überlege mir meine nächsten Worte. „Es ist eine Chance. Auch wenn wir nicht zurückkönnen, gibt es immer Möglichkeiten – heute wie auch damals. Und wer weiß, was Hizumi uns für neue Möglichkeiten eröffnet.“ Karyu sagt erstmal nichts darauf, sondern drückt seine Lippen auf meine Stirn. „Wir sollten versuchen zu schlafen, damit wir wenigstens einigermaßen menschlich aussehen, falls die anderen beiden morgen wirklich mal kurz vorbeischauen wollen.“ „Wie? Tsukasa und Hizumi kommen?" Meine Mundwinkel zucken. Natürlich hat er das vorhin nicht mitbekommen. Verzeihlich, in seinem Zustand. „Ja, vielleicht. Es steht noch nicht fest.“ Dass es von ihm abhängt, behalte ich für mich. Vermutlich ahnt er es sowieso. Aber eigentlich mag er unsere regelmäßigen Treffen sehr. „Okay… dann versuchen wir unser Bestes, einigermaßen manierlich auszusehen.“ Über seinen scherzenden Unterton lächelnd gebe ich ihm einen flüchtigen Kuss, ehe ich die Decke weiter über uns ziehe. Mit der Zeit wird Karyus Atem gleichmäßiger. Gedankenverloren streichle ich seinen Oberkörper, bevor ich selbst langsam wegdämmere. Möglichkeiten... Es gibt sicher so viele, auch wenn wir sie noch nicht sehen. Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)