Im Himmel ist der Teufel los von Sky- (Apokalypse Reloaded) ================================================================================ Prolog: Am Anfang war die Planung --------------------------------- Am Anfang erschuf Gott den Himmel und die Erde. Die Geschichte um die Schöpfung der Welt ist im Großen und Ganzen bekannt und so ziemlich ein alter Hut. Es bezweifelt ja auch keiner, dass die Welt auf irgendeine Art und Weise entstanden ist. Aber über den genauen Vorgang ist man sich hingegen noch nicht so ganz einig geworden. Während die Gelehrten der Schöpfungstheorie daran festhalten, die Erde sei in sieben Tagen durch Gott geschaffen worden, gehen Wissenschaftler davon aus, sie hätte bereits 4,6 Milliarden Jahre auf dem Buckel und das erste Leben wäre vor 3,8 Milliarden Jahren entstanden. Wenn man es genau betrachtete, hatten beide Parteien sowohl Recht als auch Unrecht. Zwar war die Erde in sechs Tagen inklusive einem Ruhetag erschaffen worden, aber zählte man die ganze Planung und die missglückten Versuchsreihen ihres allmächtigen Schöpfers auf, die sich bis zur Fertigstellung des Garten Edens hingezogen hatten, so wurde einem schnell klar: die Erschaffung der Welt war selbst für jemanden wie Gott vergleichbar mit Raketenwissenschaft und mindestens genauso unverständlich und irrsinnig wie die deutsche Bürokratie. Egal an was für einem Projekt man arbeitete, ganz gleich ob es ein Spiel oder ein Grundschultheaterstück war, die Ausführung war gerade mal ein Bruchteil der eigentlichen Arbeit. Da konnte es gut möglich sein, dass die Schöpfung der Welt in gerade mal sieben Tagen stattfand, der gesamte Gestaltungs- und Planungsprozess bis dahin aber etwas länger gedauert hat. Dies wurde in der Bibel natürlich nicht erwähnt, da sich die Autoren ausschließlich auf die wichtigsten Kernereignisse fokussieren wollten. Ganz zu schweigen davon, dass sich niemand einen Gott vorstellen mochte, der alles vorher sorgfältig durchgeplant haben wollte, bevor es an die Umsetzung seiner Schöpfungsideen ging. Für Gott kam erschwerend hinzu, dass es rein gar nichts gab, woran er sich orientieren konnte. Die einfachsten Grundkonzepte mussten erst noch erschaffen werden, damit er wenigstens mit irgendetwas arbeiten konnte. Wenn man sich also alles selber aus den Ärmel schütteln muss und keinerlei Inspiration oder Werkzeug zur Verfügung hat, sollte man es einem Schöpfergott nicht allzu übel nehmen, dass er sich bis zur endgültigen Fertigstellung seines Projektes mehr Zeit gelassen hat als ursprünglich geplant war. Die Erschaffung der Erde an sich stellte ihn bereits vor der ersten Herausforderung, denn es scheiterte zuerst an der Überlegung, welche Form sie annehmen sollte. Der erste Gedankenansatz war, einfach eine Scheibe daraus zu machen und es dabei zu belassen. So war alles am übersichtlichsten und einfachsten, außerdem sparte es hervorragend an Material- und Arbeitskosten. Allerdings stellten sich unter anderem ein großes Problem beim ersten Entwurf: das Wasser, das er sich in harter Mühe ausgedacht und erschaffen hatte, floss an den Rändern einfach herab ins unendliche Nichts. Die Erde drohte nach kürzester Zeit vollständig auszutrocknen, was unter anderem auch das Ende aller Meereslebewesen bedeutet hätte. Also konstruierte er eine Art Gebirgsmauer um den Rand der Welt um sicherzustellen, dass es keine undichten Stellen mehr gab. Doch als er sich das Endergebnis ansah, war er nicht sonderlich zufrieden damit. Es glich eher dem Makkaroni-Bild eines motorisch ungeschickten Vorschulkindes und keiner konnte so recht sagen, was dieses vermeintliche Kunstwerk eigentlich darstellen sollte und ob es nicht vielleicht doch Abfall war. Eine zweidimensionale Erde erschien ihm außerdem als ein etwas zu primitives Konzept und so beschloss er, mit seinem Entwurf ein wenig mehr in die Tiefe zu gehen. Wörtlich als auch metaphorisch. Es verging einige Zeit, bis er sich endgültig für ein passendes Konzept entschieden hatte, welches seinen Ansprüchen auch genügte. Seine ersten Versuche gingen in Richtung Pyramide, dann über zu Würfel und zwischenzeitlich versuchte er sich sogar an einem Torusknoten, als er sich kurzzeitig mit abstrakter Kunst beschäftigte. Zwar waren diese Formen kreativ und nett anzusehen, allerdings nicht unbedingt praxistauglich. Die Ecken erwiesen sich obendrein als eher hinderlich für Lebewesen und Meeresströmungen. Also versuchte er eine möglichst gleichmäßige Oberfläche zu erzeugen, indem er dem Würfel noch mehr Flächen hinzufügte. Dies resultierte schließlich darin, dass seine Schöpfung die Form eines missglückten Rhombenikosidodekaeders hatte. Zwar kam es seiner Vorstellung zur idealen Bauweise für Welten am nächsten, doch sah er sich gezwungen, diesen Entwurf noch mal final zu überarbeiten. Denn er hatte geplant, noch viele weitere solcher Welten zu erschaffen und wie sollten seine Engel ihm dabei helfen, wenn allein schon die Bezeichnung der Form fast unmöglich auszusprechen, geschweige denn zu merken war? Außerdem traute er seinen Engeln nicht unbedingt zu, dass sie das gleiche geometrische Geschick an den Tag legen konnten wie er. Also beschloss Gott, die Sache doch lieber einfacher zu halten und glättete sämtliche Ecken und Kanten, bis er eine schlichte Kugel vorliegen hatte. Ab diesem Tag beschloss er auch, dass er die Geometrie und Mathematik lieber jemand anderem überließ, der sich dafür begeistern konnte. Eine ähnliche Schwierigkeit stellte der Entwurf der ersten Lebewesen dar. Zwar fehlte es nicht unbedingt an Schöpfungskraft und Vorstellungsvermögen, aber es verhielt sich mit der Erschaffung der Welt ähnlich wie mit einer Planung eines guten Buches: man sammelte erst mal ein paar Ideen und prüfte dann, welche davon der Zielgruppe am besten gefielen oder sich für den Geschichtsverlauf als praxistauglichsten erwiesen. Bevor Gott die ersten Tiere erschuf so wie wir sie heute kennen, versuchte er sich erst an abstrakten Konzepten und war zunächst der Überzeugung, dass riesige Reptilien und Meeresungetüme der absolute Renner im Himmel werden würden. Das Motto war: je größer desto besser. Leider kam die Idee nicht sonderlich gut bei seinen Engeln an und es behagte ihnen nicht so recht bei dem Gedanken, dass die himmlischen Gefilde irgendwann von riesigen Echsenmonstern bevölkert wurden, nachdem diese ihr irdisches Dasein ausgehaucht hatten. Also verwarf Gott dieses Konzept wieder, ließ die Sache mit den Riesenechsen heimlich unter den Teppich des Vergessens kehren und sprach nie wieder darüber. Aber selbst in seiner Allmacht hatte er nicht vorausschauend genug gedacht, dass eine seiner Schöpfungen diese alte Peinlichkeit wieder zutage fördern und einen gewaltigen Aufriss darum machen würde. Zumindest war es tröstlich zu wissen, dass wenigstens die Menschen seine verworfenen Ideen zu schätzen wussten. Letzten Endes entschied sich Gott dann doch für eine kleinere und kompakte Form und fokussierte sich dafür mehr auf Vielfalt im Design. Es vergingen zwar eine lange Zeit und viele missglückte Versuche, aber schlussendlich hatte er dann doch seine idealen Wunschvorstellungen erreicht und war durchaus zufrieden mit seinem Werk. Nachdem diese ersten Schwierigkeiten überwunden waren, wurde die ganze Sache fast schon zum Selbstläufer und der Rest ging immer leichter von der Hand. Wenn man also bedachte, wie viel Arbeit für die ganze Vorbereitung und Planung in die Schöpfung der Welt und insbesondere den Garten Eden draufging, konnte man es einem allmächtigen Schöpfer nicht verübeln, dass auch er mal einen Tag frei brauchte, um sich von den Strapazen zu erholen. Mit seinem Werk war er insgesamt sehr zufrieden, auch wenn es hier und da vielleicht kleine Verbesserungsmöglichkeiten gab. Als er sich sein persönliches Magnum Opus, den Garten Eden mit all seinen Schöpfungen, genauer ansah, begann er ein paar Gedankenspiele zu spielen. Das gehörte zu seinem Lieblingszeitvertreib wenn er nicht gerade dabei war, die Engel umherzuscheuchen oder sich neue Dinge auszudenken, die er erschaffen konnte. Zu dem Zeitpunkt, als noch alles friedlich und ruhig im Paradies war, befanden sich das himmlische Königreich und die Hölle selbst in genau der gleichen Welt wie die irdische. Auf diese Weise konnten sich die Engel jederzeit seinen kleinen Garten aus der Nähe ansehen und daran erfreuen. Doch eines unbestimmten Tages kam ihm ein Gedanke, der ihm keine Ruhe mehr ließ und die ganze Geschichte nach dem Schöpfungsakt erst so richtig in Gang setzte. Er hatte seine letzten Schöpfungen Adam und Eva seit einiger Zeit aus der Ferne beobachtet und war zum folgenden Schluss gekommen: die Menschen waren die ersten wahrlich intelligenten und eigenständigen Geschöpfe, die er geschaffen hatte. Sie beherrschten eine komplexe Sprache, lernten schnell und waren beinahe so kreativ wie er selbst. Immerhin hatte er sie ja auch nach seinem Bild erschaffen. Obwohl sie körperlich den meisten Tieren unterlegen waren und weder unter Wasser atmen noch mit ihren Armen fliegen konnten, besaßen sie großes Potential. Gott begann sich vorzustellen, wie Adam und Eva Nachkommen zeugten und diese das Ideenreichtum und die Willenskraft ihrer Eltern, Großeltern und weiteren Vorfahren erben würden. Zu welchen Dingen würden sie dann wohl imstande sein? Allein gestern hatte Gott Adam dabei beobachtet, wie dieser eigenständig ein Feuer entfachen konnte, um abends nicht im Dunkeln sitzen zu müssen. Und das war noch gar nichts im Vergleich dazu, was sich davor ereignet hatte. Seine erste Frau Lilith hatte sich zur ersten Emanze der Menschheitsgeschichte erklärt und kurzerhand das Paradies verlassen, nachdem sie eine Meinungsverschiedenheit mit ihrem Mann hatte. Dies war übrigens auch zugleich der erste Scheidungsfall der Menschheit gewesen. Allerdings fand dieser in keinen Aufzeichnungen Erwähnung, da diese Bücher von Männern geschrieben wurden und diese hatten natürlich Partei für Adam ergriffen. Außerdem wollte man mit diesem eher unangenehmen Vorfall keine schlafenden Hunde wecken. Seine zweite Frau Eva hingegen traf im Vergleich zu ihrer Vorgängerin viel eher seinen Idealvorstellungen und besaß ungefähr die Charaktertiefe einer trockenen Toastscheibe. Nach dem letzten Vorfall hatte er seine Ansprüche deutlich heruntergeschraubt um keinen weiteren Vorfall zu riskieren. Wäre er in der modernen Zeit geboren worden, hätte er dem Bild einer einsamen, isoliert lebenden Jungfrau entsprochen, der in einer fiktiven Welt lebt wo ihm die Frauen hörig waren und keinerlei Forderungen stellten. Außerdem hatte er nach dem totalen Fiasko mit Lilith keine Lust mehr auf eine intelligente, unabhängige und starke Frau. Wenn solche Ansprüche dahin resultierten, dass seine Gefährtin sich kurzerhand zur Feministin erklärte und ihn eiskalt abservierte, dann konnte er sie auch gleich komplett streichen. Eva war die erste Vorläuferin der fiktiven Traumfrau, die nur in den Köpfen sexuell frustrierter einsamer junger Männer existieren konnte. Sie war attraktiv, hatte die perfekten Hausfrauentalente, gehorchte aufs Wort, beschwerte sich nie und ordnete sich unter wie man es von ihr erwartete. Mit anderen Worten: sie hatte außer ihrem guten Aussehen nichts vorzuweisen und besaß weniger Persönlichkeit als ein Stein. Das war nicht unbedingt die Art von Paar, die Gott sich eigentlich vorgestellt hatte, aber solange das Endergebnis stimmte, konnten ihm die kleinen Abweichungen auch egal sein. Nun aber waren die beiden nicht auf den Kopf gefallen und erwiesen sich als überaus intelligent. Und sollten sie sich jemals fortpflanzen und weiterentwickeln, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie eines Tages den Himmel und die Tiefen der Erde und der Meere erobern würden. Insgeheim erfüllte diese Vorstellung ihn mit Stolz, dass seine erste eigenständig denkende Schöpfung so großes Potential besaß und unendlich viele Möglichkeiten bot. Aber dann erkannte er sogleich das Problem, was diese Entwicklung mit sich bringen würde. Es war vollkommen ausgeschlossen, dass den Menschen jemals Flügel wachsen würden, aber sie waren clever genug, um sich irgendwann die entsprechenden Hilfsmittel zu beschaffen, um eines Tages fliegen zu können. Vor seinem Auge sah Gott hölzerne Flugapparate, die nur kurze Zeit in der Luft gleiten konnten. Und dann wandelten sich diese irgendwann zu stählernen Maschinen mit kräftigen Turbinen. Beeindruckende Erfindungen, mit denen die Menschen schneller fliegen konnten als ein Vogel je zu träumen gewagt hätte. Zuerst erfüllte ihn der Gedanke mit Staunen und Begeisterung, doch dann kam er unweigerlich zu der Schlussfolgerung, dass die Menschen irgendwann das Himmelreich erobern würden. Mit den unerwünschten Besuchern klarzukommen war ja eine Sache. Aber die ständige Lärmbelästigung, Luftverschmutzung und die drohende Gefahr, dass nichtsahnende Engel in die Turbinen gesaugt werden und katastrophale Unfälle verursachen könnten, behagte ihm dann doch nicht so recht. Eine schnelle Lösung wäre gewesen, es gar nicht so weit kommen zu lassen und das Projekt Mensch einfach genauso unter den Teppich zu kehren wie die Riesenechsen oder die missgestalteten Affenmenschen, die ebenfalls zu seinen erfolglosen Entwürfen zählten. Doch dieses Mal wollte er nicht so leicht das Handtuch werfen. Jetzt, da er mit seinem Schöpfungsprojekt so weit gekommen war, wäre es doch eine Verschwendung gewesen, alles komplett zu verwerfen und noch mal zurück ans Zeichenbrett zu gehen. Und so kam es, dass Himmel und Hölle von der irdischen Welt getrennt wurden. Zwar waren sie de facto noch irgendwie da, befanden sich allerdings in einer Art parallelen Existenzebene die es Engel und Dämonen erlaubte, die irdische Welt zu betreten und zu verlassen. Jedoch war es den Menschen und Tieren nicht mehr länger möglich, Himmel oder Hölle aus eigener Kraft heraus zu erreichen. Schlussendlich war alles fast so wie Gott es geplant hatte und er konnte mit Fug und Recht behaupten, dass der Garten Eden sein absolutes Schmuckstück war. Es war die Attraktion schlechthin, was aber auch daran lag, dass es sonst nicht wirklich viel Unterhaltung gab. Gott hatte sich fast ausschließlich um seinen kleinen Privatzoo gekümmert und der Rest der Welt war dementsprechend etwas zu kurz gekommen. Ganz zu schweigen davon war der Himmel nicht unbedingt für hochqualitatives Entertainment bekannt. Tagein tagaus strahlte alles in hellem Glanz und rund um die Uhr ertönten himmlische Chöre und Harfenspiele. Das mag zwar in der Theorie ganz wunderbar klingen, hatte aber auf Dauer dieselbe Wirkung wie ein lästiger Ohrwurm, der sich seit Jahren ununterbrochen in einer nie endenden Dauerschleife wiederholte. Engel waren zwar bekannt dafür, ausgezeichnete Sänger zu sein, aber auch ihnen wurden diese ewigen Lobeshymnen irgendwann langweilig und da konnte eine Abwechslung nicht schaden. Der Garten Eden bot mit all seiner Flora und Fauna immer wieder etwas Neues und Erstaunliches und alles war perfekt und friedvoll. Es war schon fast zu perfekt, denn jeder Tag blieb so friedlich und ruhig, sodass die erste Euphorie schnell verflogen war. Langeweile und Monotonie hatten sich in das Paradies eingeschlichen und es passierte überhaupt nichts Spannendes. Und so bekam Eden den bitteren Beigeschmack einer TV-Sendung, die zwar vielversprechend angefangen hatte, dann aber an Reiz verlor weil dieselben Folgen immer wieder aufs Neue wiederholt wurden. Gott musste wohl oder übel eingestehen, dass perfekter Friede und Harmonie doch nicht so ereignisreich und spannend waren wie er es sich erst vorgestellt hatte. Aber zum Glück gab es einen ganz leichten Trick, mit dem man selbst dem langweiligsten Drehbuch der Welt ein wenig Spannung entlocken konnte: ein Konflikt musste her, der die Sache so richtig in Gang brachte. Und so kamen ein verhängnisvoller Apfel und eine Schlange ins Spiel. Kapitel 1: Die spinnen, die Engel --------------------------------- Das Wetter im Himmel war für gewöhnlich warm, sonnig und wolkenfrei. Das lag in erster Linie daran, weil sich das Königreich der Engel über den Wolken befand und nicht etwa weil die globale Erwärmung ihre Spuren bereits in den höchsten spirituellen Gefilden hinterlassen hatte. Nein, so weit war es zum Glück noch nicht gekommen, auch wenn es vielleicht nur eine Frage der Zeit war, bis es selbst in diesen Höhen unangenehm warm wurde. Da sich das Reich Gottes weit über der irdischen Welt befand und somit nicht der unberechenbaren Willkür gewöhnlicher meteorologischer Launen ausgesetzt war, blieb das Wetter für gewöhnlich immer gleich. Wenn sich allerdings mal ein Regenschauer oder sogar ein Gewitter einstellte, war dies in der Regel ein Zeichen dafür, dass sich Unheil zusammenbraute und man besser irgendwo in Deckung gehen sollte. Ein solch prophetisches Wetter hatte deshalb durchaus seine Vorteile. Man brauchte nur aus dem Fenster zu schauen und wenn alles friedlich war und die Sonne schien, war für gewöhnlich davon auszugehen, dass es ein guter Tag werden würde. Stellte sich ein leichter Nieselregen ein, konnte man mit einer leichten Unannehmlichkeit rechnen und ging besser seiner eigenen Wege. Ein starker Wind und dunkle Wolken verhießen in der Regel einen ernsten Streit innerhalb der höchsten Eliteklasse der Engel und hatte nicht selten eine handfeste Auseinandersetzung zur Folge, bei der ordentlich Federn gelassen wurden. Ein Sturm oder sogar ein Gewitter mit Donner und Blitz zählten zu den schlimmsten vorstellbaren Katastrophen und konnten nur Folgendes bedeuten: der Allmächtige war wütend und würde ein paar Köpfe rollen lassen, oder es tobte Krieg im Himmel. Aus diesem Grund reagierten die Engel besonders übervorsichtig und sensibel auf jede Art von Wetterveränderungen. Nun stelle man sich vor, ein Engel reiste zum ersten Mal auf die Erde hinab. Es hatte schon seine Gründe, warum der Allmächtige seine Boten niemals bei schlechten Wetter zu den Menschen hinabschickte. Schaute man in der Bibel nach, fanden sich für gewöhnlich kaum Passagen, in denen berichtet wurde, wie ein Engel bei Wind und Wetter hinabgeflogen kam. Das lag nicht etwa daran, dass es sich mit nassen Flügeln schwer fliegen ließ, sondern eher weil die Himmelsbewohner ein relativ schwaches Nervenkostüm hatten. Denn wenn man so sehr daran gewöhnt war, dass schlechtes Wetter ein Unheil biblischen Ausmaßes ankündigte, dann entpuppte sich das meteorologische Chaos auf der Erde als regelrechter Kulturschock. Das hatte nicht selten zur Folge, dass den Engeln völlig die Nerven durchgingen, sobald sie auch nur ein leises Donnern in der Ferne vernahmen. Da war es der Gnade des Herrn geschuldet, dass er wenigstens für gutes Wetter sorgte, wenn er schon seine Diener hinabschicken musste. Mit schwer traumatisierten Engeln ließ sich nämlich schwer arbeiten. Um solchen Problemfällen vorzubeugen, wurden meist spezielle Botenengel ausgebildet, die nicht nur körperlich, sondern auch mental auf den Abstieg auf die Erde vorbereitet wurden. Diese mussten sämtlichen Belastungen standhalten und diese Aufgabe wurde für gewöhnlich den Erzengeln anvertraut, der Elite der gewöhnlichen Engel. Seit einiger Zeit herrschte höchste Alarmbereitschaft, denn es stürmte und gewitterte wie schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Sämtliche Engel, die sich außerhalb der heiligen Hallen aufhielten, eilten wie eine Schar aufgeschreckter Hühner umher und es herrschte ein heilloses Durcheinander. Als wäre das Gewitter an sich nicht schon beunruhigend genug, hatten Gerüchte schnellen Umlauf gemacht und keiner wusste so recht, was man denn nun tun sollte. Luzifer der Lichtbringer war nämlich nach langer Zeit der Verbannung zurückgekehrt um persönlich mit den Erzengeln zu verhandeln. Jeder erinnerte sich noch lebhaft an Luzifer, den in Ungnade gefallenen Morgenstern. Er war Gottes ehemaliger Liebling mit einem derart gewaltigen Vaterkomplex, dass jeder Psychologe seine helle Freude an ihm gehabt hätte. Dabei hätte die ganze Sache wahrscheinlich gar nicht eskalieren müssen, hätte das himmlische Personal einen Gruppentherapeuten zur Verfügung gehabt. Nachdem sich der Lichtbringer nämlich erdreistet hatte, sich besser als alle anderen zu stellen und mit seinem Sonderstatus als Gottes Liebling zu prahlen, hatte der Allmächtige genug von diesem Blödsinn. Um ihn etwas mehr Bescheidenheit und Anstand zu lehren, hatte dieser ihn kurzerhand vor die Tür gesetzt und wortwörtlich zum Teufel geschickt. Diese Bestrafung war bei Luzifer natürlich nicht sonderlich gut angekommen und er verbrachte sein Leben seitdem wie ein rachsüchtiger Internet-Troll und Möchtegern-Satanist, der allein schon aus Prinzip und gekränktem Stolz sein gesamtes Dasein darauf verschwendete, seinem Schöpfer die Ewigkeit so schwer wie möglich zu machen. Ob die Bestrafung nun angemessen oder nicht vielleicht doch eine Überreaktion seitens Gott war, blieb mal da hingestellt. Luzifers plötzliches Erscheinen im Himmel war deshalb nicht ohne Grund mehr als beunruhigend und viele Engel fürchteten, dass es schon wieder Krieg geben würde. Und als es hieß, er würde bereits vor dem Tor stehen und jeden Augenblick hindurchschreiten, konnten sie sich nicht wirklich entscheiden, ob sie nun flüchten oder Hilfe holen sollten. Und wenn sich das Gehirn nicht zwischen A und B entscheiden konnte, ging es zu einem Übersprungsverhalten über und wählte einfach eine dritte Option, die weder angebracht war noch irgendeinen logischen Sinn ergab. Als Luzifer also die gewaltigen Pforten durchschritt, staunte er nicht schlecht als er eine Schar Engel sah, die planlos im Kreis liefen und geistlos herumkreischten. Ein solches Durcheinander hatte er schon seit langer Zeit nicht mehr erlebt, aber andererseits war es auch schon eine Ewigkeit her gewesen, seit er Hausverbot erteilt bekommen hatte. Doch dann bahnten sich zwei mächtige Seraphim ihren Weg durch die schreienden Massen hindurch und gingen direkt auf ihn zu. Der erste von ihnen war groß gewachsen, hatte sechs prächtige Flügel mit makellos weißen Federn und strahlte die Macht und Erhabenheit eines wahrhaftigen Seraphs von allerhöchstem Rang aus. Sein Haar war wie aus Gold und seine Augen glänzten Blau wie der Himmel. Es war der König der Engel Metatron selbst. Etwas weiter hinter ihm folgte ein etwas auffälliger aber umso eleganter und erhabener Engel, der im starken Kontrast zu seinem Begleiter kohlrabenschwarzes Haar hatte. Seine Augen, die seit langer Zeit nichts mehr gesehen hatten, waren blind und trüb und seine Schwingen genauso tief schwarz wie sein Haar. Kein Licht strahlte von ihm aus, dafür aber eine kalte Aura, die einen sterblichen Menschen das Bewusstsein rauben konnte. Es war der gefürchtete Todesengel Samael, auch genannt „das Gift Gottes“. Luzifer war sehr erfreut über diese Begrüßung und trat näher. „Metatron, Samael! Wir haben uns schon viel zu lange nicht mehr gesehen!“ „Die Freude ist ganz meinerseits, Luci“, erwiderte Samael und grüßte seinen alten Kameraden mit einer herzlichen Umarmung. „Und? Wie ist die Lage dort unten?“ „Katastrophal“, seufzte Luzifer und fuhr sich durch seine dunklen Locken. „Wir wissen so langsam nicht mehr, wohin mit all den Seelen und Baal hat zusammen mit Beelzebub und Eurynome eine Gewerkschaft gegründet und fordert bessere Arbeitsbedingungen für die Hölle. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auch noch auf den Trichter kommen, Mindestlohn zu fordern. Um es kurz zu machen: wir sind hoffnungslos unterbesetzt und deshalb hat mich Satan geschickt, um mit dem Himmel zu verhandeln.“ „Und da hast du es nicht für nötig gehalten, dich wenigstens vorher anzumelden?“ schaltete sich Metatron in einem Ton ein, der zwar versuchte, streng und autoritär zu sein, doch es wollte ihm nicht so ganz gelingen. „Wie in Gottes Namen soll ich das dem Allmächtigen bloß erklären, dass ein gefallener Engel einfach so wieder in den Himmel spaziert?“ „Dann hol ihn doch her, damit der Alte es mir direkt ins Gesicht sagen kann“, erwiderte Luzifer schamlos und Metatron zuckte unwillkürlich bei dieser lästerlichen Äußerung zusammen. Obwohl er schon in der Vergangenheit mit Dämonen und gefallenen Engeln gesprochen hatte, konnte er sich bis heute nicht an deren gotteslästerliche Redensart gewöhnen. Der König der Engel war trotz seiner Stellung ein eher zart besaiteter und zurückhaltender Zeitgenosse, der empfindlich auf jegliche Art von negativer Schwingung reagierte. Sein himmlischer Glanz war so ziemlich das einzig Königliche, das er aktiv ausstrahlte. Ansonsten hatte Metatron das Auftreten eines sanften Riesen, dem es an natürlicher Dominanz fehlte, um als ehrfurchtgebietende Erscheinung durchzugehen. Er besaß zwar einen noblen, aufrichtigen und barmherzigen Charakter, jedoch befand sich seine autoritäre Ausstrahlung auf dem Level eines in Zuckerwatte eingepackten Hundewelpen. Im starken Kontrast zum sanftmütigen und zurückhaltenden Himmelsregenten war sein Vizeregent, der Todesengel Samael, ein ganz anderes Kaliber. Was Metatron an Autorität und Strenge fehlte, machte Samael allein mit seiner düsteren Aura locker wieder wett. Jeder im Himmel fürchtete und achtete ihn als denjenigen, der die schlimmsten Drecksarbeiten im Namen des Allmächtigen erledigte. Er besaß das Auftreten eines aalglatten Geschäftsmannes mit der Vornehmheit eines Adligen, aber auch die Hinterhältigkeit einer karrieregeilen Klatschtante, die sich für nichts zu schade war. Unter all den Engeln war er derjenige, der den Menschen am feindlichsten gesonnen war, was ihn nicht sonderlich umgänglich machte. Und seit Moses ihm bei seiner Abberufung in den Himmel einen Stock ins Gesicht gedonnert und Samael versehentlich sein Augenlicht genommen hatte, war letzterer verständlicherweise noch schlechter auf die Menschheit zu sprechen. Da überraschte es einen auch nicht, dass er sich mit Leuten wie Satan und Luzifer ziemlich gut verstand. Nach der kurzen Begrüßung gingen sie zusammen in die goldene Halle, wo sich bereits die anderen Erzengel versammelt hatten. Und wie schon auf dem Vorplatz ging es auch hier drunter und drüber und Geschrei und Gezänk hallte durch den Raum wieder. Verursacher dieses Lärms waren die beiden Erzengel Michael und Gabriel, die sich mal wieder wegen irgendwelcher belanglosen Kleinigkeiten gegenseitig provoziert hatten. Raphael und Uriel, die einfach nur das Pech hatten, im gleichen Raum wie die beiden Streithähne zu sein, waren ebenfalls zwischen die Fronten geraten und so schrie sich irgendwie jeder gegenseitig an, ohne dass ein roter Faden durch diese Streitgespräche ging. Um die Dynamik der vier Erzengel Michael, Gabriel, Raphael und Uriel zu verstehen, musste man zuerst eines wissen: jeder von ihnen hatte eine Art Rolle auszufüllen und das ließ sich am besten mit einem Fantasy-Rollenspiel vergleichen. Es gab den Damage Dealer, den Heiler und den Tank. Michael war ein mächtiger Kriegsengel mit heiligen Flammen und einem heiligen Schwert, mit dem er einst den Drachen Satan niederstreckte und in die Hölle hinabwarf. Als Damage Dealer der Truppe besaß er eine enorme Angriffskraft und war der unangefochtene Anführer. Hauptsächlich deshalb, weil er der Auffassung war, dass ihm als waschechter Drachenkämpfer diese Position allein schon aus Prinzip zustand. Das Gegenstück zu ihm verkörperte Gabriel, der Schutzengel und Botschafter. Er konnte mächtige Schutzbarrieren beschwören, mit denen er sowohl den Himmel vor Eindringlingen, als auch Ungeborene und Kinder vor Schaden bewahren konnte. Zwar besaß er nicht dieselbe Durchschlagskraft wie Michael, doch seine Verteidigung und Ausdauer machten ihn zum verlässlichen Tank, der den meisten Schaden einsteckte. Als solcher leistete er eigentlich den Löwenanteil der ganzen Arbeit, fand aber kaum Anerkennung weil es stets Michael war, der den entscheidenden Schlag ausführte und somit den ganzen Ruhm für sich einheimste. Da war es also nicht verwunderlich, dass Gabriel nicht unbedingt gut auf ihn zu sprechen war. Der Heiler der Gruppe war niemand anderes als Raphael, dessen Kenntnisse um die Medizin und Heilmagie unvergleichlich und unübertroffen waren. Jede Gruppe, ganz egal wie stark sie auch sein mochte, war immer an irgendeinem bestimmten Punkt auf einen Heiler angewiesen und das machte ihn unersetzlich. Dieser Tatsache war sich Raphael durchaus bewusst und nutzte das gerne für sich aus, um besondere Privilegien für seine Hilfe einzufordern. Seiner Auffassung nach waren die Heiler die eigentlichen Helden der Truppe und genossen dadurch einen besonderen Schutz und Status. Denn wenn der Heiler zu Boden ging, war das Spiel so gut wie vorbei. Also hatte Raphael irgendwann damit begonnen, hoch zu pokern und seinen Sonderstatus auszunutzen, um sich das Leben deutlich angenehmer zu gestalten. Er wusste genau, dass niemand es wagen würde, sich zu beschweren. Michael war ein rücksichtsloser und hitzköpfiger Kämpfer, der sich ständig in Gefahr brachte und Gabriel musste immer eine Menge einstecken, um seinem Kollegen aus der Patsche zu helfen. Bei dieser katastrophalen Konstellation konnten sie unmöglich auf einen Heiler verzichten. Raphael war geschickt genug, um Michael im Glauben zu lassen, dass dieser das Kommando innehatte. Aber in Wahrheit war er der heimliche Strippenzieher, wenn es um seine persönlichen Vorteile ging. Nun waren es aber vier Erzengel und es stellte sich natürlich die Frage, in welches Schema Uriel hineinpasste. Hierzu musste man eines wissen: nicht alle erkannten ihn auch wirklich als Erzengel an. Es gab nämlich viele Quellen, die der Überzeugung waren, dass die Zahl Drei wegen der Dreifaltigkeitsgeschichte weitaus symbolträchtiger war als eine schnöde Vier. Zwar existierten auch Aufzeichnungen, die von sieben Erzengeln erzählte, aber das waren eher Reservekandidaten für den Fall, dass einer von den offiziellen vier bei einem handfesten Streit das Zeitliche segnen würde. Da sich also die meisten Schriften auf drei Erzengel verständigt hatten, um die Zahlensymbolik möglichst einheitlich zu halten, betrachtete man Uriel eher als unliebsames Anhängsel. Er besaß weder ausreichende Kampfkraft, um sich auf dem Level von Michael zu bewegen, noch hatte er eine Ausdauer und Verteidigung wie Gabriel. Von Heilkunst verstand er nicht allzu viel und seine einzige Fähigkeit bestand darin, Licht zu erzeugen. Wenn man aber bedachte, dass jeder gewöhnliche Engel im Himmel die Fähigkeit besaß, irgendeine Form von Licht zu beschwören, war das nicht wirklich etwas Besonderes. Uriel war deshalb so etwas wie der Barde der Gruppe: ein wandelnder Witz auf Kosten anderer, der niemals für voll genommen wurde und dessen Zugehörigkeit niemand freiwillig anerkennen würde. Die vier Erzengel, die für die Himmelsbevölkerung den vergleichbaren Status von Hollywood-Prominenten hatten, waren zu vertieft in ihre Streitereien um die drei zusätzlichen Anwesenden zu bemerken. Metatron versuchte erst vorsichtig und zaghaft, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, doch keiner hörte ihm wirklich zu. Erst als Samael in einem donnernden Ton, der die ganze Halle erzittern ließ, die Zankenden übertönte, kehrte augenblicklich Stille ein. Alle Augen wanderten zu den Eingetroffenen, vor allen auf den unerwarteten Besucher. „Was im Namen des Allmächtigen machst du denn hier?“ fragte Gabriel und wies dabei auf Luzifer, wobei sich seine Miene deutlich verfinsterte. „Gott hat dich verbannt und du hast nicht das Recht, dich hier blicken zu lassen!“ „Freut mich ebenso wenig, euch Schwachköpfe wiederzusehen“, erwiderte der gefallene Engel trocken und nahm am großen Tisch auf einem Stuhl Platz, ohne darauf zu warten, dass sich Metatron und Samael zuerst setzten. „Nur damit ihr’s wisst: ich bin rein geschäftlich hier und ich habe auch nicht vor, länger als nötig zu bleiben.“ „Respektlos und arrogant wie eh und je“, kommentierte Michael kopfschüttelnd und verzog angewidert das Gesicht. Nach und nach nahmen alle Platz, wobei hier eine besondere Ordnung eingehalten wurde. Nach den Spielregeln des Himmels setzten sich bei besonderen Ratsversammlungen die Höchstrangigen stets zuerst hin. Alles andere hätte als Anmaßung und grobe Beleidigung gegolten. Da Luzifer bereits seine Chancen im Himmel verspielt hatte und überzeugter Rebell war, hielt er sich nicht mehr unbedingt an die himmlische Etikette. Etwas anderes hätte bei einem gefallenen Engel, der sich gegen Gott aufgelehnt hatte, auch eher merkwürdig ausgesehen. Sah man aber von gefallenen Engeln ab, stellte sich die himmlische Hierarchie als weitaus komplizierter dar, als man im Allgemeinen vermuten würde. Denn „Engel“ war genauso wie das Wort „Säugetier“ lediglich ein sehr schwammiger Oberbegriff und es gab weitaus mehr Differenzierungen. Obwohl die vier Erzengel eine außerordentlich bedeutende Rolle in den heiligen Schriften spielten, befanden sie sich in der Himmelshierarchie überraschend weit unten. Insgesamt gab es neun Ränge, die in drei Klassen eingeteilt wurden. Während sich die Erzengel trotz ihres Bekanntheitsstatus auf dem vorletzten Rang der niedrigsten Klasse befanden, siedelten sich Metatron und Samael als Seraphim auf dem höchsten Rang der obersten Elite an. Und dabei waren sie vergleichsweise weniger bekannt. Aber wenn man im Hinterkopf behielt, dass man die Kassierer in den Supermärkten deutlich öfter persönlich antraf als das oberste Management, erklärte sich dieses vermeintliche Paradoxon relativ schnell. Das zeigte vor allem eins: die Himmelshierarchie unterschied sich im Allgemeinen nicht sonderlich von einem herkömmlichen Konzern und war mindestens genauso unfair. Metatron ließ einen Blick durch die Runde schweifen und fühlte sich ein wenig nervös als er all die feindseligen Blicke sah, die untereinander ausgetauscht wurden. Er wusste genau, dass es nur ein falsches Wort brauchte, damit sich die Erzengel wieder an die Gurgel gehen würden. Es war deshalb unfassbar schwer, sie alle zu einem gemeinsamen Treffen zu bewegen, geschweige denn vernünftig mit ihnen zu verhandeln. Ein kurzer Blick zu Samael, der mit einem zufriedenen Lächeln neben ihm saß und dabei Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte, flößte ihm dann aber doch wieder etwas Mut ein und er räusperte sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Also kommen wir nun zum Wesentlichen. Die Hölle steckt in einer ernsthaften Krise und Luzifer wurde als Bote Satans gesandt, um mit uns die Bedingungen für die Seelenurteile neu zu verhandeln. Dazu möchte ich Vorschläge von euch sammeln.“ „Neu verhandeln?“ echote Michael und lachte ungläubig. „Was gibt es da bitteschön neu zu verhandeln? Wir können nicht einfach so aus Jux und Laune die Gesetze abändern, die der Herr selbst wortwörtlich in Stein gemeißelt hat! Außerdem hat es doch Jahrtausende lang super funktioniert. Was geht uns denn bitteschön die Hölle an?“ „Naja…“, murmelte Uriel und zeigte sich etwas skeptisch über die Aussage seines Kollegen. „Wenn aber ein zu großes Ungleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herrscht, könnte das…“ „Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt!“ unterbrach Michael ihn und Uriel zuckte bei diesen barschen Worten zusammen. Auch Gabriel nickte beipflichtend und fügte noch hinzu „Das hier ist eine Sache unter richtigen Erzengeln, also halt du mal schön den Mund und geh uns nicht auf die Nerven.“ So zerstritten Michael und Gabriel auch sein mochten, in einer Sache waren sie sich aber dennoch einig: keiner von ihnen wollte ihren vierten Kollegen als gleichberechtigt ansehen und sie ließen dabei keine Gelegenheit aus, um auf ihm herumzuhacken. Das waren die einzigen Momente, wo sie nicht gerade versuchten, sich gegenseitig zu lynchen. Raphael hingegen hielt sich aus der Diskussion heraus und beobachtete das ganze Theater mit einem amüsierten Schmunzeln. Solange er keinen persönlichen Vorteil daraus schlagen konnte, würde er sich nicht großartig einmischen. Luzifer seufzte genervt und hatte keine große Lust auf die ganze Diskussion. „Das ist doch lächerlich“, grummelte er und blitzte seine ehemaligen Kollegen mit seinen dämonischen Augen an. „Können wir nicht einen Moment lang mal das Kriegsbeil begraben? Früher oder später wird die Krise auch den Himmel treffen. Die Bevölkerung auf der Erde ist in den letzten Jahrtausenden rapide angestiegen und trotz höherer Lebenserwartung sterben immer noch jeden Tag mehr Menschen als wir unterbringen können. Wenn ihr nicht wegen jeder kleinen Bagatelle die Menschen direkt zur Hölle schicken würdet, hätten wir dieses Problem gar nicht erst.“ „Bagatellen?“ fragte Gabriel stirnrunzelnd. „Das sind ernsthafte Verstöße gegen Gottes Gebote, über die wir sprechen!“ „Was ist mit den tausenden von Atheisten, die ihr zu uns runterschickt? Der Großteil von ihnen hat sich nicht einmal etwas zuschulden kommen lassen und meine Leute wissen gar nicht, wofür wir sie eigentlich bestrafen sollen. Ihr schickt immer noch Menschen nach unten, die nicht dem veralten Familienbild von Mann und Frau entsprechen. Ihr habt mir sogar Stephen Hawking nach unten geschickt und was hat der arme Kerl getan? Er sitzt im Rollstuhl, kann nicht mal mehr sprechen und philosophiert bloß die ganze Zeit über schwarze Löcher und Sterne. Was in Satans Namen soll das? Wer hat den Mist überhaupt verzapft, dass ihr mir immer noch Seelen nach unten schickt, die gar nichts in der Hölle zu suchen haben?“ „Das sind von Gott genehmigte Niederschriften und diese Regelwerke gelten seit über 2000 Jahren“, gab Samael zu bedenken. „Die Menschen selbst haben diese Vorschläge gebracht, nach denen sie gerichtet werden sollen. Wenn Michael also Seelen in die Hölle schickt, dann doch nur, weil es die Menschen selber nicht anders wollen.“ „Ach fang mir gar nicht erst mit diesem Thema an“, erwiderte Luzifer energisch. „Wir wissen doch alle, dass die Menschen überhaupt keine Ahnung davon haben, was gut für sie ist.“ „Genauso wenig wie du“, stichelte Gabriel und schnaubte ungläubig. „Spielst dich hier als Wohltäter und Verfechter der Menschheit auf, bist aber selber ein trotziger Rotzbengel, der bloß beleidigt ist weil Gott ihm nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hat.“ Dieser Schuss unter die Gürtellinie war zu viel. Diese Beleidigung wollte sich der ehemalige Engel des Morgensterns nicht länger gefallen lassen und er wollte aufstehen um Gabriel eigenhändig den Hals umzudrehen. Doch Metatron wies ihn an, sich wieder zu setzen und Luzifer besann sich wieder eines Besseren. Eine handfeste Auseinandersetzung würde in dieser Debatte auch nicht weiterhelfen. Stattdessen entschloss er, einfach mit dem gleichen Gift zurückzuschießen um sich für diese Kränkung zu rächen. „Du als die zweite Geige im Quartett sprichst da wohl aus Erfahrung. Nicht wahr, Gabi?“ Wenn es eines gab, womit man einen Erzengel wie Gabriel zur Weißglut treiben konnte, dann war es die bloße Erwähnung seines Spitznamens. Zwar gehörte er zu den Schönlingen unter den Erzengeln, doch sein Mangel an Maskulinität war schon seit Jahrtausenden Stoff für Hänseleien und Gespött gewesen. Gabriel war viel zierlicher als die anderen Erzengel und sein Gesicht war so fein geschnitten, sodass keiner wirklich auf dem ersten Blick sagen konnte, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte. Streng genommen waren Engel geschlechtslose Wesen und konnten durchaus weibliche Gestalt annehmen wenn sie wollten. Doch sie wollten es nicht, weil die Welt seit der Erschaffung Evas ausschließlich patriarchisch geprägt war und die Emanzipation der Frau noch nicht im Trend gewesen war. Also hielten die Engel weiterhin an ihrer männlichen Gestalt fest und Gabriel, dem ein solches Aussehen partout nicht gelingen wollte, fiel da komplett aus der Rolle. Im Laufe der Zeit hatte er deswegen massive Komplexe entwickelt. Provoziert durch diese Stichelei schoss er einen Lichtblitz in Luzifers Richtung, doch dieser konnte sich rechtzeitig zur Seite ducken und wurde knapp verfehlt. Er kassierte diese Reaktion mit einem amüsierten Grinsen und freute sich sichtlich über diese Genugtuung. Metatron hingegen seufzte wehleidig und ahnte, dass sich die Verhandlungen in die Länge ziehen würden. Kapitel 2: Heiliger Bürokratius! -------------------------------- Der Streit war wieder von neuem entbrannt und die Hälfte der Anwesenden war drauf und dran, sich wieder gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Da eine gewaltsame Auseinandersetzung zwar schneller beendet war, jedoch in der Regel keine zielführenden Ergebnisse brachte, kam Metatron mit einer Idee an, um ein unnötiges Blutbad zu verhindern. „Sag mal Michael, du richtest die Seelen doch nach dem offiziellen schriftlich verfassten Regelwerk unseres Herrn, nicht wahr?“ „Selbstverständlich, wonach auch sonst?“ antwortete der Kriegsengel pflichtgetreu, der gerade Gabriel am Kragen gepackt hielt und ihm einen Faustschlag ins Gesicht verpassen wollte. Der androgyne Schutzengel seinerseits nutzte die kurze Ablenkung seines Kollegen, um ihm zuvorzukommen. Mit einem kräftigen Kinnhaken schickte er Michael auf die Matte und wollte ihm noch ein blaues Auge verpassen weil er so richtig in Stimmung war, aber da ging Uriel dazwischen und hielt ihn davon ab. Diesen heldenhaften Einsatz kassierte er aber sogleich selbst mit einem Veilchen. „Himmel noch eins, seid ihr mit dieser Kindergartenvorstellung bald fertig?“ seufzte Samael genervt und schüttelte den Kopf. „In Momenten wie diesen bin ich echt dankbar, dass ich blind bin. Ansonsten müsste ich mir dieses Kasperletheater auch noch ansehen! Wärt ihr bitte so freundlich und würdet mit der Prügelei bis nach der Versammlung warten? Manche von uns müssen auch noch wichtige Dinge erledigen.“ Michael wollte protestieren, doch Metatron kam ihm zuvor, denn er wollte diesen kindischen Streitereien nicht noch mehr Raum geben und endlich zur Sache kommen. „Hol bitte das Buch der heiligen Gesetze, damit wir uns alle einen Überblick verschaffen können, wie aktuell die Urteilung der Seelen gehandhabt wird. Vielleicht bekommen wir so ein paar Antworten darauf, wo genau der Fehler liegt.“ Gehorsam nickte der erste Erzengel und einem grellen Lichtblitz mit rotem Rauch und Donner verschwand er auf der Stelle um sein Regelwerk zu holen. Man mochte glauben, dass alle Engel sich bestens damit auskannten, was alles als Sünde galt und was nicht. Immerhin wurden sie doch in der Regel nach unten geschickt um entweder die Sünder zu bestrafen, oder aber um den Notleidenden zu helfen. Zudem waren sie Gottes Diener und da konnte man doch erwarten, dass sie über alle Entscheidungen und Pläne ihres Herrn informiert waren. Diese Annahme war jedoch falsch. Erstens war Gott nicht nur ein leidenschaftlicher Geheimniskrämer, das himmlische Regelwerk war obendrein weitaus verworrener als die irdischen Gesetze. Denn wenn die himmlische Bevölkerung etwas mehr liebte als theatralische Auftritte, dann war es die Einführung von neuen Regeln und Gesetzen. Immerhin waren sie zu dem Zweck erschaffen worden, das ideale moralische Vorbild für die Menschen zu verkörpern. Zwar stellte sich die Wahrheit meist ganz anders dar (was sich bereits an den Streitigkeiten zwischen den Erzengeln gezeigt hatte), aber solange der Schein gewahrt blieb, erfüllte es seinen Zweck. Und was konnte mehr Ordnung und Frieden symbolisieren als ein wahrer Urwald aus Vorschriften, Verhaltensregeln und Verboten? Es hatte ja auch keiner gesagt, dass es Spaß machen sollte, ein moralisches Vorbild für andere zu sein. Als direkte Diener Gottes waren die Engel regelrecht darauf gedrillt, wie Ameisen stets in einer Reihe zu laufen und sich blind an die Vorschriften zu halten. Je weniger nachgefragt wurde, desto unkomplizierter waren die ganzen Abläufe im Himmel. Es ließ sich auf diese Weise relativ einfach und komfortabel arbeiten, vor allem wenn man sein Hirn nicht zum Nachdenken einschalten musste. Allerdings brachte das auch den großen Nachteil mit sich, dass sich kaum jemand darum kümmerte, ob die aktuellen Gesetze auch wirklich Sinn ergaben oder nicht vielleicht einen Widerspruch zu dem darstellten, was kurz zuvor gesagt wurde. Bei einer derartigen Soldatenmentalität war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich eine solch große Anzahl von vielerlei Vorschriften, Verhaltensregeln, Verbote und anderweitigen Anweisungen ansammelte, dass keiner mehr wirklich den Durchblick hatte. Ganz zu schweigen davon, dass einige Regeln absolut unnötig waren und keiner so wirklich wusste, wozu sie eigentlich gut waren. Zum Beispiel gab es ein Gesetz, welches strengstens verbot, dass sich Männer die Bärte abrasieren durften. Das wurde zusätzlich durch die Tatsache erschwert, dass Gott sich nicht mal von seinen Engeln in die Karten schauen ließ und somit niemand genau wusste, welche Regeln überhaupt noch in seinem Sinn waren und welche nicht. Man konnte sich auch die Frage stellen, ob niemand jemals daran gedacht hatte, widersprüchliche Regeln einfach auszustreichen und mal ein bisschen mehr Ordnung und Logik in diesen Paragraphen-Dschungel hineinzubringen. Leider waren die Engel meistens viel zu beschäftigt mit Botengängen und Gesangsstunden, sodass die Bürokratie infolgedessen ein wenig zu kurz gekommen war. Ganz zu Anfang, bevor mit den ersten Modernisierungen im Himmel begonnen worden war, musste man sein Anliegen mündlich seinen direkten Vorgesetzten vortragen. Und diese mussten sich wiederum an ihre Vorgesetzten wenden. Dröselte man das Ganze auf und ging vom Fallbeispiel aus, dass ein ganz gewöhnlicher Engel niedersten Ranges eine Bitte hatte, spielte sich folgendes Szenario ab: der Engel ging zu den Erzengeln und diese wiederum wandten sich an die Fürsten, dass diese sich doch bitte an die zweite Klasse wandten. Diese sprachen dann bei den Gewalten vor, welche dann wiederum die Kräfte konsultierten. Anschließend ging das Ganze zu den Herrschaften, die dann eine Vorladung zur Eliteklasse erbitten mussten. All diese Vorladungen erfolgten durch die Throne, die sich dann an die Cherubim wandten und letztendlich gelangte alles zu den Seraphim und wurde, nachdem alles von den niederen Seraphim gesondert wurde, dem König der Engel vorgetragen. Man konnte sich also vorstellen, dass dieses Stille-Post-Spiel nicht sonderlich erfolgreich gewesen war und für einige Missverständnisse gesorgt hatte. Da passierte es schnell, dass eine Bitte um die Bekämpfung einer Seuche dazu führte, dass stattdessen eine neue Vorschrift für die Priester verfasst wurde, wie sie ihre Frisur zu tragen hatten. Irgendwann waren die Engel zu der Schlussfolgerung gekommen, dass diese Vorgehensweise nicht unbedingt zielführend war und sich obendrein als extrem fehleranfällig erwies. Also hatte man den ganzen Prozess modernisiert und es wurden seitdem schriftliche Anträge gestellt, die an die jeweils zuständigen Ansprechpartner der einzelnen Hierarchien gesendet wurden. Weil aber allein schon das Klassensystem im Himmel ein völliges Durcheinander war, wusste man also meistens gar nicht, wer denn jetzt gerade für was zuständig war. Vernünftige Organigramme waren nämlich bis heute noch nicht im Himmel eingeführt worden und die derzeitigen Auslegungen über die Rollenverteilungen ließen viel Interpretationsspielraum. Das führte schnell dazu, dass die Anträge an die falschen Leute gingen und diese beförderten die Dokumente entweder in Ablage P oder reichten es ihrerseits an weitere falsche Ansprechpartner weiter. Das Ganze setzte sich dann so weiter fort, dass irgendwann keiner mehr wusste, welcher Antrag wo genau hängen geblieben war und was damit eigentlich passiert war. Ganz zu schweigen davon, dass der größte Teil des himmlischen Personals gar nicht für den bürokratischen Dienst ausgebildet war. Genauso gut hätte man ein Orchester in die Buchhaltung setzen können und das Ergebnis wäre ungefähr das Gleiche gewesen. Man hätte den ganzen Vorgang natürlich abkürzen können, indem man einfach direkt zu Gott ging. Da dieser aber ausschließlich zu Metatron sprach, grenzte das diese Möglichkeiten massiv ein. Und dieser hatte so viel zu tun, dass jeglicher Versuch zum Scheitern verurteilt war, den ganzen Prozess einfach abzukürzen. Als Michael mit seinem Buch zurückkam, wurde es mitten auf den Tisch platziert und von den Anwesenden eingehend studiert. Wie sich schnell herausstellte, bestand das Regelwerk ausschließlich aus dem ersten bis fünften Buch Moses, angefangen von der Genesis bis hin zum Deuteronomium. Und kaum, dass sie das dritte Buch aufgeschlagen hatten, schlug sich Gabriel mit einem fassungslosen Stöhnen die Handfläche gegen die Stirn und verdrehte die Augen. „Ich glaub’s ja wohl nicht. Du benutzt allen Ernstes noch das dritte Buch Moses?“ Auch Luzifer runzelte die Stirn und war genauso sprachlos wie der Schutzengel. Er verzog die Mundwinkel als wäre er nicht so ganz sicher, ob er nun lachen oder schimpfen sollte. „Das erklärt natürlich alles. Wieso habt ihr immer noch den verdammten Levitikus im Regelwerk? Sag bloß ihr schickt wirklich Menschen zu mir, bloß weil sie Hasen essen oder sich die Bärte abrasieren. Das kann ja wohl nur ein schlechter Scherz sein.“ „Ist ja mal wieder so typisch für dich, Michael“, giftete Gabriel und lachte höhnisch. „Anstatt, dass du mal deinen Kopf benutzt und nachdenkst, machst du irgendeinen Schwachsinn und richtest so ein Durcheinander an.“ „Ist wenigstens schön zu wissen, dass mir jemand die Arbeit abnimmt und ich mich gar nicht mehr darum bemühen muss, die Menschen in die Hölle zu schicken“, bemerkte Samael mit einem amüsierten Grinsen und schien seinerseits Spaß an der ganzen Sache zu haben. „Das macht die ganze Sache umso leichter für mich.“ „Toll gemacht, du Hornochse“, trat Gabriel noch mal nach und war nun noch wütender als ohnehin schon. Doch das wollte Michael nicht so leicht auf sich sitzen lassen und er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich befolge die Worte unseres Herrn, so wie ich es schon immer getan habe. Sein Wort ist Gesetz und solange es im Buch steht, muss ich mich danach richten. Natürlich versuche ich den Menschen zu helfen, aber wenn sie gegen derart viele Gesetze verstoßen, sind mir eben die Hände gebunden. Was kann ich denn dafür, dass immer wieder neue Regeln gemacht werden, aber nie welche aus der Liste gestrichen werden?!“ Der Kriegsengel fühlte sich in seinem Stolz verletzt und zutiefst beleidigt. Es war eine unvergleichliche Ehre, eine derart große Verantwortung zugewiesen zu bekommen und die Urteile für die Verstorbenen nach ihrem Tod zu fällen. Er hatte seine Aufgabe immer sehr ernst genommen und sein Bestes getan, um seiner moralischen Verantwortung als auch seiner Aufgabe gerecht zu werden. Aber leider war es nicht immer einfach, persönliche Interessen mit den Gesetzen zu vereinbaren. Es fehlte ihm auch schlichtweg das diplomatische Geschick dafür, weil er vom Geist her sehr einfach gestrickt war. Alles, was in Gottes Regelwerk stand, war für ihn absolut und unumstößlich. Wenn drin stand, dass das Lästern gegen die Eltern mit dem Tode bestraft werden sollte und eine Glatze sündhaft war, dann war es für ihn Gesetz und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Ihm kam einfach nicht der Gedanke, diese völlig absurden Regeln zu hinterfragen und zu überlegen, ob es nicht vielleicht zu viel des Guten war. Denn alles, was in den Büchern als verboten oder unangemessen deklariert war, bedeutete für ihn automatisch eine Lästerung gegen Gott und damit etwas, das nur Dämonen tun würden. Hätte man die Verurteilung der Seelen mit einer Gerichtssendung verglichen, wäre Michael ein ziemlich schlechter Verteidiger gewesen. Zwar hatte er gute Absichten und eine noble Einstellung, aber man sagte nicht umsonst, dass der Weg zur Hölle mit guten Absichten gepflastert war. Da half auch die weißeste Weste nichts, wenn der ganze Fall an einem bedingt kompetenten Verteidiger scheiterte. Und genau hier trat Samael ins Spiel, der genauso wie Michael eine zentrale Rolle beim Seelengericht spielte. Er verkörperte seinen Gegenpart, den unsympathischen und voreingenommenen Staatsanwalt, den es viel zu sehr in den Fingern juckte, sämtliche Seelen ins Höllenfeuer zu schicken. Er war der Ankläger, der alle Vergehen und Sünden aufzählte und alles in seiner Macht stehende tat, um den Menschen nach ihrem Tode den Eintritt ins Paradies zu verwehren. Das tat er nicht nur deshalb, weil er immer noch sauer auf Moses wegen der Stockgeschichte war, sondern weil er als Engel der Reinheit der Ansicht war, dass solch wankelmütige Wesen unmöglich in den Himmel gehörten. Zumindest konnte ihm keiner unterstellen, dass er diskriminierend war, denn Samael hasste alle Menschen gleichermaßen. Aus diesem Grund hatte die aktuelle Situation eine gewisse Ironie, dass sich die beiden Erzrivalen ausnahmsweise mal in einer Sache einig waren, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen. Als Luzifer sich die ganzen Gesetze und Verhaltensvorschriften durchlas, kam er nicht umhin, erneut den Kopf zu schütteln. „Ich weiß ich bin schon recht lange unten, aber wenn ich mir allein die Priestervorschriften ansehe, kriege ich so langsam das Gefühl, als hätte der Alte was gegen Behinderte. Kein Wunder, dass ich so viele von denen bei mir habe…“ Metatron dachte angestrengt nach und musste zugeben, dass die ganze Sache doch recht eigenartig war. Zwar war er das Sprachrohr Gottes und König der Engel, aber Urteilssprüche gehörten nun mal nicht zu seinem Zuständigkeitsbereich und deshalb war er nicht unbedingt auf dem aktuellsten Stand. Und nun, da sich herausstellte, dass sich der Levitikus noch immer im Regelwerk befand und offenbar selbst einzelne Verstöße für Michael und Samael ausreichten, um die Toten zur Hölle zu schicken, war es ja kein Wunder, dass sie derzeit in einer solchen Krise steckten. Aber irgendetwas machte ihn stutzig an der Sache. „Merkwürdig“, murmelte er und legte die Stirn in Falten. „Ich hätte schwören können, dass ich mal einen Antrag für die Aktualisierung der Levitikus-Gesetze bekommen hatte. Was da wohl schief gelaufen ist?“ „Ich sag dir, was schief gelaufen ist“, schaltete sich Luzifer ein. „Die gesamte verschissene Himmelsbürokratie ist die reinste Schmierenkomödie und keiner weiß, was der andere tut und wer für was zuständig ist. Selbst die Hölle ist wesentlich besser organisiert als ihr! Ich wette mit euch, dass der Antrag irgendwo flöten gegangen und dann wie so ziemlich alles Wichtige mal wieder in irgendeinem Papierkorb gelandet ist.“ „Hatte nicht mal jemand einen Antrag geschickt, dass die Prozessabläufe für die Antragsbearbeitungen optimiert werden sollen?“ hakte Raphael skeptisch nach und unsicher wurden kurze Blicke ausgetauscht. Dann meldete sich Uriel kleinlaut „Ich habe mal einen solchen Antrag geschickt. Aber offenbar ist er unterwegs verloren gegangen.“ Michael funkelte ihn bitterböse an und ballte die Hände zu Fäusten. Hätte ein Blick zum Töten ausgereicht, wäre vom armen Uriel nicht mehr viel übrig geblieben. Mit ruhigen, aber verächtlichen Worten fragte er langsam „Was kannst du eigentlich?“ Samael und Luzifer ihrerseits mussten trotz der aktuellen Krise darüber lachen und amüsierten sich prächtig. Wenn die Lage nicht so ernst wäre, dann wäre es in der Tat verdammt komisch gewesen. Nun hatten sie zwar die Wurzel allen Übels gefunden, aber das löste noch lange nicht das einzige Problem. Es gab insgesamt drei Wege, wie man mit verstorbenen Seelen verfahren konnte: Himmel, Hölle oder Wiedergeburt. Und die Wiedergeburt war nur möglich, solange die Seele noch nicht in die Hölle geschickt worden war. Zwar konnte man sich im Himmel problemlos für die Wiedergeburt registrieren lassen, aber das teuflische Personal im Kellergeschoss hatte leider nicht die Berechtigungen dafür. Ebenso wenig war es gestattet, Seelen aus der Hölle in den Himmel zu schicken, ganz gleich wie lange sie ihre Schuld schon verbüßt hatten. Wer also erst einmal unten angelangt war, der kam nie wieder dort raus. Metatron faltete die Hände und dachte angestrengt nach, ob es nicht vielleicht einen Weg gab, eine Art Generalamnestie für all die zu Unrecht verdammten Seelen zu erwirken und sämtliche Fälle noch mal neu aufzurollen. Theoretisch wäre das machbar, allerdings war das selbst für den Himmel eine schier unlösbare Aufgabe. Zuerst musste man sämtliche Verurteilungen neu aufrollen und das nahm extrem viel Zeit und Arbeit in Anspruch. Und während der ganzen Zeit hörten die Menschen ja nicht auf zu sterben. Das hieß also, dass neben der ganzen Aufarbeitung auch noch der Regelbetrieb weitergehen musste. Außerdem gab es noch ein weiteres ernsthaftes Problem, wovon aber noch niemand außer Metatron selbst wusste. Bevor er sich aber dieser kniffligen Aufgabe zuwenden würde, musste zuerst einmal eine Entscheidung gefällt werden, wie nun mit dem Regelwerk vorgegangen werden sollte. „Also ich denke, wir haben die Fehlerquelle recht schnell gefunden. Stellt sich nur noch die Frage, wie wir weiter verfahren sollen. Da die Erzengel, Samael und Luzifer die Hauptverantwortung für die Menschen tragen, möchte ich eine klare Abstimmung haben. Jeder soll nach seinem eigenen Ermessen entscheiden, ob das Regelwerk überarbeitet und der modernen Zeit angepasst werden sollte. Wer für eine Änderung stimmt, hebt bitte die Hand.“ Luzifer war der erste der Anwesenden, der blitzschnell seine Hand hob. Kurz nach ihm folgte Gabriel und dann letztendlich Uriel. Metatron schaute kurz in die Runde und fragte dann „Und wer stimmt gegen eine Abänderung?“ Nun hoben Michael und Samael die Hand. Raphael hingegen enthielt sich. Gabriel schaute sich kurz um und stellte fest: „Zwei zu zwei. Also unentschieden…“ „Aber… ich habe doch auch…“, wollte sich Uriel protestierend zu Wort melden, doch da fuhr ihm Michael sofort übers Wort. „Keiner interessiert sich dafür, was du willst, Uriel.“ Metatron beschloss, nicht weiter darauf einzugehen und es erst mal bei einem vorübergehenden Unentschieden zu lassen. Das war natürlich nicht wirklich ein Ergebnis, das er sich erhofft hatte und es brachte ihn in eine unangenehme Zwickmühle. Ganz gleich wie die Entscheidung ausfallen würde, es würde schlimmstenfalls großen Ärger bedeuten und er als König der Engel musste dann die Verantwortung dafür tragen. Seine Hoffnungen lagen nun bei der einzigen Stimme, die sich enthalten hatte. „Raphael, warum hast du nicht mit abgestimmt?“ Der Heiler blieb völlig gelassen und unbeeindruckt und erklärte „Ich bin doch nicht so verrückt, dass ich bei einer Sache abstimme, die in jedem Fall Ärger bedeuten wird. Wenn wir das Regelwerk einfach so abändern, könnten wir den Zorn des Herrn auf uns ziehen und alle genauso in der Hölle enden wie Luzifer. Und wenn wir es nicht tun, haben wir es früher oder später mit einem Aufstand der Hölle zu tun und dann steht Satan persönlich vor der Tür. Bei derart hohen Risiken mische ich mich da lieber nicht ein.“ Verdammter Mist, dachte sich Metatron und biss sich auf die Unterlippe. Raphael war in solchen Dingen schlauer als ihnen allen gut tat. Das brachte ihn nun immer mehr in die Bredouille. Schließlich aber meldete sich Samael zu Wort und er klang schon beinahe hämisch dabei. „Das ist jetzt natürlich eine ganz unangenehme Lage für dich, Metatron. Scheint so, als würde alles nun von dir abhängen. Wie stimmst du denn zu der ganzen Sache? Keiner von uns hat bisher deine Stimme dazugezählt. Oder kann es etwa sein, dass du gar nicht das Rückgrat besitzt, dir eine eigene Meinung zu bilden? Andererseits kann ich es dir ja schlecht verübeln, denn immerhin musst du dich allein vor Gott verantworten, wenn die Sache schief läuft.“ Ein eiskalter Schauer des Schreckens lief dem armen Himmelsregenten über den Rücken und er versuchte, sich seine Panik nicht anmerken zu lassen. Samael hatte genau seinen wunden Punkt getroffen und ihn vor versammelter Mannschaft bloßgestellt und in Zugzwang gebracht. Wenn er sich jetzt drückte, zeigte er allen Anwesenden, dass er tatsächlich ein Feigling war und er würde das letzte bisschen Respekt und Autorität verspielen. Aber einfach so auf eigene Verantwortung hin die Gesetze des Himmels abändern konnte er genauso wenig. Das Risiko war einfach viel zu groß. Vor allem aber durfte er niemanden wissen lassen, was er schon viel zu lange der gesamten Welt verheimlichte. Das wäre viel zu gefährlich und würde mit großer Sicherheit für Chaos und Anarchie sorgen. Das musste er unter allen Umständen verhindern. Stellte sich aber nun die Frage, was er sonst tun konnte. Den Antrag konnte er weder ablehnen noch ohne weiteres genehmigen. Es gab nur eine Möglichkeit, die ihm im Moment blieb. Und das war, möglichst viel Zeit zu schinden um sich irgendetwas einfallen zu lassen, ohne unnötig Verdacht zu erregen. „Es war mir in erster Linie wichtig, eure persönliche Meinung zu hören. Aber eine derartige Entscheidung kann und möchte ich nicht eigenmächtig treffen. Aus diesem Grund werde ich die Sitzung bis auf weiteres vertagen und dieses Anliegen unserem Herrn persönlich vorlegen. Wenn wir seinen Segen haben, können wir uns in aller Ruhe um die weiteren Details kümmern. Sollte er unsere Bitte ablehnen, wird er uns die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen, um die Krise in der Hölle zu lösen.“ „Ich kann mir schon vorstellen wie die aussehen wird, aber sie wird keinem gefallen“, kommentierte Samael mit einem selbstgefälligen Grinsen, ging aber nicht weiter ins Detail. Jeder von ihnen wusste, was die Alternative zur Gesetzesänderung bedeuten würde. Dämonen wurden nämlich nicht einfach so direkt als solche von Gott geschaffen, dies geschah über einen etwas umständlichen Umweg. Der Grund dafür war einfach erklärt: Gott repräsentierte das Gute in der Welt, also musste alles, was von ihm geschaffen wurde, auch gut sein. Was die Erziehungsmethoden und Strafmaßnahmen betraf, darüber ließ sich natürlich streiten. Aber es genügte zu wissen, dass Gott die Sünde ablehnte. Wie also würde es bitteschön ins Bild passen, wenn er plötzlich damit anfing, Dämonen zu kreieren, die die personifizierte Sünde waren? Hier bediente er sich eines kleinen aber raffinierten Tricks: er erschuf Engel und gab ihnen genug Eigenständigkeit, die sie dazu brachten, ihn zu hinterfragen und seine Pläne anzuzweifeln. Wenn er sie daraufhin bestrafte, indem er sie aus dem Himmel verbannte und somit zu gefallenen Engeln, oder besser gesagt Dämonen machte, war er nach wie vor im Recht und handelte im Sinne des Guten. Dann lag das eigentliche Vergehen nicht bei ihm, sondern bei den aufmüpfigen Dienern, die sich versündigt hatten. Es ergab sich also folgendes Bild, das Samael mit seiner Bemerkung andeutete: wenn die Gesetze nicht geändert wurden, dann musste zwangsweise das Personal in der Hölle erhöht werden. Und dazu mussten ein paar Engel zu gefallenen Engeln werden. Entweder geschah das durch einen praktischen Zufall von ganz alleine, oder aber sie mussten eben zu Fall gebracht werden, wenn sie es nicht von sich aus taten. Und da selbst Gottes Lieblingsengel Luzifer nicht verschont geblieben war, konnte es praktisch jeden im Himmel treffen. Ja, in Zeiten wie diesen war selbst das himmlischste Paradies nicht mehr so sicher wie die Bibel es einem versprach. Kapitel 3: Sünder und Liebhaber ------------------------------- Nachdem Metatron fast schon flüchtend die Halle verlassen hatte, ging die übliche Streiterei zwischen Gabriel und Michael weiter. Keine zwei Minuten vergingen, bis der erste Stuhl durch die Luft geschleudert wurde und Raphael nur um Haaresbreite verfehlte. Das war selbst für den eher neutral eingestellten Erzengel zu viel. Wütend sprang er auf, rief „Bei Sodom und Gomorrha!“ als wäre es eine Art Schlachtruf und stürzte sich daraufhin ins Handgemenge. Uriel stand unsicher da und wusste offenbar nicht so recht, ob er sich lieber verdrücken oder dazwischen gehen sollte. Dann aber erinnerte er sich wieder an sein blaues Auge und war gerade dabei, sich umzudrehen und davonzuschleichen, aber da traf ihn der nächste Stuhl, der durch den Raum geworden wurde, direkt in den Rücken und schleuderte ihn zu Boden. Luzifer und Samael hatten sich derweil schon längst zurückgezogen, denn sie hatten ganz eigene Dinge zu klären. Kaum, dass sie sich aus der Ratshalle geschlichen hatten, packte der Fürst der Hölle den Todesengel bei den Schultern und küsste ihn stürmisch. „Verdammt, ich habe dich so vermisst, Samael“, flüsterte Luzifer und umarmte ihn fest. „Mich die ganze Zeit derart zurückhalten zu müssen, hat mich fast wahnsinnig gemacht!“ „Ich habe dich auch vermisst, Luci“, antwortete der blinde Seraph und erwiderte die leidenschaftlichen und wilden Küsse seines Liebsten. „Aber lass uns lieber woanders weitermachen. Ich kann es mir nicht leisten, dass man uns so sieht.“ „Mir egal wer uns alles sieht, ich habe viel zu lange auf dich gewartet und ich will dich jetzt!“ Doch Samael ließ nicht mit sich reden und blockte streng jeden weiteren Annäherungsversuch Luzifers ab. Es stand zu viel auf dem Spiel für ihn, als dass er es sich leisten konnte, in flagranti mit dem Fürst der Hölle gesehen zu werden. Das hätte für einen unnötigen Skandal gesorgt. So blieb dem gefallenen Engel nichts anderes übrig, als vorerst klein beizugeben und ihm brav zu folgen. Zwar war im Himmel schon längst bekannt, dass beide eine positive Beziehung zueinander hatten, aber man ging im Allgemeinen nur von einer harmlosen Freundschaft aus. Immerhin ergänzten sie sich perfekt weil Luzifer die Bestrafung der Sünder in der Hölle leitete und Samael nichts mehr liebte, als Menschen leiden zu lassen. Auch sonst waren sie nicht unbedingt das, was man unter dem Idealbild von Engeln verstand. Wann genau es zwischen ihnen angefangen hatte, wussten selbst die beiden nicht mehr so genau. Es war anzunehmen, dass sich die Sache langsam entwickelt hatte, als Samael damals Eva in Gestalt einer Schlange überredet hatte, einen Apfel zu essen. Jeder andere Engel hätte es aus reiner Gehorsamkeit und Loyalität gegenüber Gott getan und sich nicht viel dabei gedacht. Samael jedoch war mit voller Überzeugung bei der Sache gewesen und das hatte Luzifer sofort erkannt. Diese tief verwurzelte Abscheu gegen die Menschen, die im Kontrast zu seiner Position als Engel stand, wirkte irgendwie anziehend auf den Höllenfürst. Man konnte fast sagen, er hatte eine Art Fetisch für besonders böse Jungs. Luzifer war Samael hoffnungslos verfallen und liebte ihn abgöttisch mit jeder Faser seines Körpers. Für ihn war der Seraph der Reinheit und Widersacher der Menschen das Sinnbild von Stolz, Würde und unbarmherziger Grausamkeit. Und für ihn hätte er alles getan, was Samael ihm befiehl. Dieser wusste das und genoss es regelrecht, derart begehrt zu werden, vor allem wenn sein Liebhaber jemand war, der unzählige Armeen von Dämonen unter seinem Kommando hatte. Es hatte etwas Verbotenes und Lästerliches an sich und gab ihm selbst das Gefühl, mächtig und überlegen zu sein. Und machte das die ganze Sache nicht erst so richtig aufregend? Kaum hatten sie Samaels Privatgemächer im sechsten Himmel erreicht, fiel jegliche Zurückhaltung von ihnen und sie gaben sich hemmungslos ihrer Leidenschaft und ihrer Lust hin. Keiner scherte sich darum, dass sie während der gesamten Sitzung gegeneinander gearbeitet hatten. Was machte schon eine berufliche Meinungsverschiedenheit aus, wenn man dafür nach langer Zeit der Trennung den leidenschaftlichsten Sex aller Zeiten haben konnte? Trotz seiner Stellung als himmlischer Engel liebte Samael den heißen und vor allem unmoralischen Sex mit dem Feind seines Schöpfers. Er liebte das Gefühl der absoluten Intimität und sich vollkommen im Rausch der Leidenschaft und Ekstase zu verlieren. Außerdem gab es keinen besseren Liebhaber als einen Teufel. Vor allem aber gab ihm der Sex mit Luzifer etwas, das ihm kein anderer geben konnte: das Gefühl der absoluten Kontrolle. Selbst wenn er stets den passiven Part übernahm, wusste er genau dass er eigentlich derjenige war, der die Oberhand hatte. Er allein war es, der darüber entschied, wann und wie Luzifer mit ihm schlief. Sein Wort war Gesetz und sein Liebster war ihm absolut hörig. Und dieser war sogar freiwillig bereit dazu, sich ihm vollständig zu unterwerfen. Aber Samael gehörte nicht zu der Sorte, die einen willenlosen Sklaven als reines Sexspielzeug und Fußabtreter ohne Würde haben wollte. Er wollte keinen Schoßhund, der nicht mal in der Lage war, selbstständig zu handeln, geschweige denn sich gegen andere behaupten zu können. Sein Partner sollte mächtig, willensstark und gefährlich sein, aber auch bereit dazu, sich ihm mit ganzem Herzen hinzugeben. Also ließ er ihm seine Macht und Freiheiten, solange er es ihm erlaubte. Doch ein einfacher Wink mit der Hand reichte schon aus, damit er Luzifer ganz für sich vereinnahmt hatte. Nach ihrem schnellen aber wilden Schäferstündchen setzte sich Samael auf und ging zu einem großen Schrank hin, in welchem er eine ganze Reihe unsagbar teurer und edler Weinflaschen aufbewahrte. Er entkorkte eine davon und füllte zwei Gläser, die schon bereitgestellt waren. Luzifer war gleich schon bei seiner Ankunft in Samaels Gemächer aufgefallen, dass dieser eine gewaltige Sammlung hatte und er staunte nicht schlecht darüber. Nicht nur, weil ganz offensichtlich eine große Leidenschaft dahintersteckte, sondern weil es auch noch etwas war, das von Menschen hergestellt wurde und es somit eigentlich gar nicht zu ihm passte. „Du überraschst mich immer wieder aufs Neue“, meinte er und nahm das Glas an, welches der blinde Seraph ihm hinhielt. „Ich hätte nicht erwartet, dass du ein solcher Weinliebhaber bist.“ „Bin es immer schon gewesen“, entgegnete dieser mit einem verführerischen Lächeln und trank einen Schluck. „Aber den Messewein, den du hier im Himmel kriegst, kannst du genauso gut in den Abfluss kippen. Deshalb gehe ich immer hinunter auf die Erde, weil du nur dort wirklich guten Wein bekommst. Wenigstens etwas, wozu die Menschen gut sind. Hast du erst einmal davon gekostet, willst du nie wieder zurück zu dem minderwertigen Zeug, dass dir im Himmel vorgesetzt wird.“ Luzifer schnupperte kurz am Glas und schwenkte ein wenig die dunkelrote Flüssigkeit im Glas, bevor er selbst einen Schluck davon nahm. Samael hatte nicht zu viel versprochen. Dieser Wein war wie eine Offenbarung für ihn und er traute sich fast gar nicht, weiterzutrinken. Doch sein Verlangen nach mehr übermannte ihn und er nahm noch einen tiefen Schluck. Nun fühlte er sich absolut selig und fürchtete schon den Moment, wo sein Glas leer sein würde und es keinen Tropfen mehr gab. Am liebsten hätte er ein ganzes Fass davon getrunken. „Du hast Recht“, pflichtete er glücklich lächelnd bei. „Das ist wirklich ein verdammt guter Wein. Ich würde sogar sagen, es ist der Beste, den ich bisher gehabt habe.“ Samael lächelte zufrieden und ließ ein wenig sein Glas kreisen. Ein unheilvoller Ausdruck lag in seinen blinden und trüben Augen. „Manche Weine in dieser Welt sind so kostbar, dass manche dafür sogar zu töten bereit wären. Ich persönlich finde, dass er erst seine ganz besondere Note bekommt wenn man weiß, wie viele Menschen man für eine Flasche getötet hat.“ Luzifer schwieg dazu, denn er wollte lieber keine Diskussion über die Menschen anfangen. Er wusste, wie sehr Samael sie verachtete und nichts lieber täte, als sie allesamt vom Angesicht der Erde zu vertilgen. Man konnte fast sagen, dass Samael sie mehr verabscheute als die bösartigsten Dämonen der Hölle. Er selbst sah das Ganze etwas entspannter. Er liebte die Sünde, hasste aber die Sünder und Heuchler, das lag eben in seiner Natur als Teufel. Er bestrafte die Verbrecher und führte die Menschen in Versuchung, um Gott eins auszuwischen. Aber er sah auch die guten Seiten in der Existenz der Menschheit. Immerhin hatten sie viel Kreativität und Einfallsreichtum und er ging immer wieder gerne zur Erde hinauf, um einfach ein gutes Essen zu genießen oder im irdischen Luxus zu schwelgen. Das waren alles Dinge, für die er die Menschen zu tolerieren bereit war. Letzten Endes fand er sie sogar unterhaltsam weil es dank ihnen nie langweilig wurde. Sie hatten nur halt das Pech, Schachfiguren in seinem Rachefeldzug gegen Gott zu sein. Aber er hatte auch nicht die gleiche unglückliche Erfahrung gemacht wie sein Geliebter, der durch einen Menschen sein Augenlicht verloren hatte. „Eines verstehe ich bis heute noch nicht: warum bemühen sich weder Gott noch Raphael darum, dir dein Augenlicht wiederzugeben? Wenn sie schon so viele Menschen durch Wunder geheilt haben, warum dann dich nicht?“ „Meine Augen wurden bereits geheilt“, meinte Samael schulterzuckend und strich mit seinen Fingern über die verblasste Narbe neben seinem linken Auge, wo ihn jener verhängnisvolle Schlag getroffen hatte. „Theoretisch sollte ich längst wieder sehen können, aber selbst ein Wunder reicht wohl nicht aus. Raphael meinte, es wäre eine Kopfsache und da würden Wunder auch nicht viel bringen, da sie nur körperliche Leiden heilen. Gott sagte damals zu mir, dass ich mein Herz öffnen und den Menschen vergeben sollte, dann würde ich schon wieder sehen können. Aber lieber bleibe ich bis in alle Ewigkeit ohne Augenlicht, als dass ich solch niederen und nichtswürdigen Kreaturen vergebe!“ „Dann komm doch zu mir in die Hölle“, raunte Luzifer ihm ins Ohr und legte einen Arm um Samaels zarte Schultern. „Stell es dir nur mal vor: du als Regent der Hölle mit tausenden Dämonen, die dir jeden Wunsch von den Lippen ablesen und in deinem Namen morden würden. Reichtum, Macht, die qualvollen Schreie der Verdammten… Wir wären auf ewig zusammen und vielleicht kann Satan sogar dein Augenlicht wiederherstellen! Als Teufel würdest du dich bei weitem besser machen, als auf ewig bloß ein zweitklassiger Diener dieses Alten zu sein. Klingt das nicht nach einem viel besseren Leben als hier oben?“ Samael bedachte dieses Angebot mit einem verführerischen Lächeln und leckte sich genüsslich über die Lippen. „Versuchst du etwa gerade, mich in Versuchung zu führen?“ „Schon möglich“, gab Luzifer zu und küsste ihn leidenschaftlich. „Also was sagst du dazu?“ Hier aber löste sich der Seraph wieder von seinem Liebhaber und schenkte noch etwas Wein nach. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich und für einen Moment war es, als sähe Luzifer etwas in diesen trüben und leeren Augen auflodern. Samaels Lächeln verzog sich zu einer bösartigen Grimasse und ließ ihn mehr wie einen Dämon erscheinen. „Weißt du was der Unterschied zwischen uns beiden ist, Luci? Als du dich gegen Gott aufgelehnt hast, ging es dir nur um deinen gekränkten Stolz und deiner Gier nach Gottes absoluter Liebe. Du wolltest ihm gleich sein und das hat dich letzten Endes zu Fall gebracht. Ich aber habe ganz andere Pläne und Ambitionen. Ich bin ein Engel und als solcher halte ich es für meine heilige Pflicht, den Himmel vor jeglicher Art von Unreinheit zu bewahren. Gott ist vollkommen besessen von den Menschen und nimmt sie allen Ernstes im Himmel bei sich auf. Mit dieser Entscheidung hat er unser ganzes Reich entweiht! Diese Menschen waren schon immer von Grund auf verdorben, primitiv und unbelehrbar. Sie verdienen es doch gar nicht, auf dem gleichen Boden zu wandeln wie wir. Aber hat er mir jemals zugehört? Anstatt, dass er mir den Posten als sein Sprachrohr gab, wählte er ausgerechnet Metatron als wolle er mich persönlich beleidigen. Dieser jämmerliche Witz von einem Engel hat doch gar nicht das Rückgrat, um das Kommando über das gesamte Himmelreich zu haben. Er ist ein verweichlichter Schwächling und ein Feigling, nichts anderes ist er. Ich hätte den Posten bekommen sollen und nicht so ein erbärmlicher Waschlappen!“ „Und was genau hast du nun vor? Willst du Metatron töten und seine Stelle übernehmen?“ hakte Luzifer nach und trank einen großen Schluck. Er nahm Samaels Hassrede gelassen hin, denn das waren fast die gleichen Worte, die er selbst damals benutzt hatte, als er von seiner geplanten Rebellion erzählte. Er war vor seiner Verbannung Metatrons Leibwächter gewesen und hatte sich nach seiner Amtsenthebung selbst gewundert, warum Gott ausgerechnet einen solchen Angsthasen zum König der Engel erklärt hatte. Vermutlich weil dieser immer schön brav alles tat, was ihm gesagt wurde und er gar nicht den Mut besaß um aufzumucken. „Metatron aus dem Weg zu räumen löst nicht den Kern des Problems“, erklärte Samael schließlich. „Die einzige Möglichkeit, alles wieder in seine vorbestimmte Ordnung zu bringen ist, die Wurzel des wahren Übels zu entfernen. Seien wir mal ehrlich: Gott hat versagt als er diese Kreaturen erschuf und seitdem ist das Management komplett den Bach runtergegangen. Er redet nur noch mit Metatron und hat uns sonst gänzlich im Stich gelassen. Ganz zu schweigen davon, dass er so unreine Wesen wie Menschen in unser Reich lässt und uns damit völlig zum Gespött macht. Wenn ich aber das Zepter in der Hand hätte, dann könnte ich Gottes größten Fehler korrigieren und dann würde endlich wieder Ordnung in die Welt einkehren.“ Diese Offenbarung war so plötzlich und überraschend gekommen, dass sich Luzifer beinahe an seinem Wein verschluckte. Gegen den Himmel zu rebellieren und ein bisschen Chaos zu verursachen war ja eine Sache. Aber auf den Gedanken zu kommen, Gott selbst zu stürzen, grenzte fast an Wahnsinn. Vor allem stellte sich die berechtigte Frage, wie man es überhaupt schaffen sollte, etwas zu töten, das allmächtig war. „Du… du willst Gott töten?“ fragte er deshalb noch mal nach um ganz sicherzugehen, dass er sich nicht vielleicht doch verhört hatte. „Hast du jetzt etwa eine Nietzsche-Phase oder ist dir der Wein endgültig zu Kopf gestiegen?“ Doch der blinde Engel schien sich seiner Sache durchaus sicher zu sein und streckte seine rechte Hand aus. Langsam materialisierte sich aus Licht und Rauchschwaden ein Schwert mit einer schwarzen Klinge, die nach Blut, Fäulnis und Verderbnis stank. Waffen gab es im Himmel zu Genüge, aber sie wurden seit langer Zeit schon nicht mehr benutzt. Früher bestand die Aufgabe der Kriegs- und Todesengel darin, Dämonen zu erschlagen oder undankbare und aufmüpfige Völker zu mit Seuchen und Tod zu bestrafen. Da Krankheiten, Naturkatastrophen und Massenhinrichtungen zwar geholfen hatten, die Menschen gehorsamer zu machen, aber nicht unbedingt zu Gottes Beliebtheit beigetragen hatten, war man irgendwann zu anderen Mitteln übergegangen. Statt also das Volk mit Schrecken und Terror unter Kontrolle zu halten, hatte Gott es dann mit Liebe und Vergebung versucht. Als dieser gut gemeinte Versuch darin resultierte, dass sein Sohn ein eher unschönes Ende fand, hatte er es gänzlich sein gelassen und aufgegeben. Ein derart störrisches und eigenwilliges Volk, das nicht einmal Gott in den Griff bekam, war besser sich selbst überlassen. Nun war es aber so, dass all diese alten Waffen, mit denen Menschen und Dämonen getötet wurden, unrein wurden. Ein äußerst aufwendiger Reinigungsritus war deshalb nötig, um all diese heiligen Waffen wieder zu reinigen und ihren Glanz wiederherzustellen. Doch Samael hatte sein Schwert niemals reinigen lassen und es hatte sich über die Jahrtausende mit aller Art von Unreinheit vollgesaugt. Dies war längst nicht mehr das Schwert eines Engels, so viel stand fest. „Es gibt einen Grund, warum Gott nichts Unreines in seiner Nähe haben will“, erklärte der Seraph schließlich und ließ sein Schwert wieder auf die gleiche Art verschwinden, wie er es beschworen hatte. „Es ist genau das, was ihn verwundbar macht. Also habe ich dieses Schwert in langer und harter Arbeit entsprechend vorbereitet, damit ich es eines Tages gegen ihn verwenden kann. Diese Klinge hat so viel Blut von Menschen, Tieren und Dämonen in sich aufgenommen, dass es selbst für einen Seraph absolut tödlich ist.“ „Und wie genau stellst du dir das vor? Willst du einfach so in sein höchstes Heiligtum reinspazieren und ihn damit erschlagen, wenn der Alte gerade nicht aufpasst? Man wird dich gar nicht erst so weit vorlassen, selbst nicht als Vizeregent. Oder hast du etwa vor, jeden Engel abzuschlachten, der dir über den Weg läuft?“ „Natürlich nicht!“ rief Samael entrüstet. „Glaubst du etwa, ich bin ein Trottel so wie Michael? Warum sollte ich mir die Hände schmutzig machen, wenn ich das auch andere für mich erledigen lassen kann? Alles was ich brauche, sind nur die geeigneten Schachfiguren und den dazu passenden Konflikt. Was glaubst du wohl, wer den Änderungsantrag für das Regelwerk unterschlagen hat?“ Eigentlich sollte Luzifer nicht allzu überrascht sein, weil er Samael inzwischen gut genug kannte. Aber diese neueste Enthüllung machte selbst ihn sprachlos. Er brauchte nicht lange um zu der Schlussfolgerung zu kommen, wem er diese Krise zu verdanken hatte. „Das hätte ich mir ja gleich denken können, dass du dahintersteckst“, seufzte er und schüttelte den Kopf. „Aber musst du dabei ausgerechnet mir das Leben schwer machen? Was versprichst du dir davon? Willst du etwa eine weitere Apokalypse provozieren? Es hat ja schon beim letzten Mal nicht funktioniert weil dieser verdammte Halbengel sich eingemischt hat.“ „Das ist ja auch nur der Anfang! Erst muss genug Aufruhr in der Hölle geschürt werden, dann muss der Himmel von innen heraus zerstört werden. Und das klappt am besten, indem wir einfach die Schwächen der einzelnen Erzengel ausnutzen. Diese vier Vollidioten sind so leicht zu durchschauen, dass es das reinste Kinderspiel sein wird. Michael ist dumm wie ein Meter Feldweg und ein publikumsgeiler Möchtegernheld. Gabriel ist regelrecht von Neid zerfressen und sein Minderwertigkeitskomplex macht ihn fast schon bemitleidenswert. Raphael ist ein raffgieriger Egoist, dem es nur um seine eigenen Vorteile geht und Uriel ist das Bauernopfer, das von allen Seiten schikaniert wird. Man muss nur ein klein wenig Öl ins Feuer gießen und die vier werden sich selbst gegenseitig in Stücke reißen.“ „Ah verstehe“, murmelte Luzifer und begriff nun, was Samael vorhatte. Und im Grunde genommen war der Plan einfach aber erschreckend effektiv. Alles was sie tun mussten war bloß, den Streit zwischen den vier weiter anzuheizen und ihre Schwächen auszunutzen. Dann konnte man sie vielleicht sogar dazu bringen, gegen ihre eigenen Kameraden vorzugehen, ohne dass sie auch nur den geringsten Verdacht schöpften. „Ich muss schon sagen: du könntest selbst Satan ernste Konkurrenz machen, Samael. Und spiele ich auch eine Rolle in deinem Plan?“ „Klar doch“, versicherte ihm sein Liebster. „Wir müssen nur die zwei schwächsten Glieder dazu bringen, für uns die Drecksarbeit zu machen. Dann wird der Rest der reinste Selbstläufer sein. Du nimmst dir Gabriel vor und führst ihn ein klein wenig in Versuchung. Er muss dazu gebracht werden, Michael bei der nächstbesten Gelegenheit zu verraten. Ich hingegen werde mich um Uriel kümmern. Der arme Trottel sehnt sich regelrecht nach Anerkennung und Zuwendung, der wird mir komplett aus der Hand fressen nachdem ich ihn erst mal um den Finger gewickelt habe. Dazu brauche ich bloß ein wenig meinen Charme spielen zu lassen. Wenn ich erst mal Metatron und die Erzengel aus dem Weg geräumt und im Anschluss Gott dem Garaus gemacht habe, werden die Dinge ganz anders laufen. Dann werden wir gemeinsam Himmel und Hölle regieren und von den Menschen wird nichts mehr übrig bleiben. Dann gehört die Hölle wieder ganz den Dämonen und der Himmel allein uns Engeln.“ Damit wollte Samael gemeinsam mit Luzifer anstoßen, doch dieser hatte ein paar Bedenken, was den ganzen Plan anging. Zwar traute er dem Seraph zu, dass er diesen Plan bis zum bitteren Ende durchzog, aber so ganz wohl war ihm nicht dabei. Auch wenn ihn sämtliche Engel hassten, waren sie trotz allem so etwas wie seine Familie gewesen und sie einfach so zu töten, erschien ihm doch ein wenig zu radikal. Ganz zu schweigen davon, dass allein die Vorstellung, Himmel und Hölle als neuer Gott zu regieren, an Größenwahnsinn grenzte. Zwar war er immer für einen sündigen Spaß zu haben, wenn er seinem Schöpfer damit gehörig auf die Nerven und ihm den Tag ruinieren konnte. Aber nie im Leben wäre ihm jemals der Gedanke gekommen, Gott selbst von seinem Thron zu stoßen. „Also ich weiß nicht so recht…“, murmelte er unsicher. „Meinst du nicht auch, dass es ein wenig zu weit geht? Gott provozieren oder ein paar Menschen massakrieren ist eine Sache. Aber ihn gleich zu töten ist eine ganz andere Liga. Keiner weiß, ob das überhaupt möglich ist!“ Hieraufhin stand Samael abrupt auf, schnappte sich sein Gewand und kleidete sich wieder an. Er schien verärgert über Luzifers Skrupel zu haben und machte sich auch nicht die Mühe, seinen Zorn zu verbergen. „Ich hätte es mir ja gleich denken können“, meinte er und stellte die Weinflasche wieder zurück an ihren Platz. „Ich wusste gleich, dass du nicht Manns genug für so etwas bist. Du mit deinem Vaterkomplex bist letzten Endes auch nur ein Feigling so wie Metatron! Und ich hatte tatsächlich die Hoffnung gehabt, in dir würde ein wahrer Teufel stecken.“ Hier aber fühlte sich Luzifer in seinem Stolz massiv gekränkt und er sprang sogleich auf und packte Samaels Handgelenk. „Wag es bloß nicht, mich auf eine Stufe mit Metatron zu stellen. Wenn du allen Ernstes glaubst, dass ich feige wäre, dann werde ich dir schon zeigen, wozu der Fürst der Hölle wirklich imstande ist!“ Was Luzifer nicht wusste war, dass er mit seiner Reaktion dem Todesengel genau damit in die Hände spielte und gar nicht merkte, dass er genauso manipuliert wurde wie die Erzengel. Es war eine so banale Taktik, die aber derart gut funktionierte, dass es selbst einen ausgekochten Bastard wie Samael erschreckte. Aber solange er bekam was er wollte, war ihm jedes Mittel recht. „Ich liebe es wenn du wütend wirst“, kommentierte er mit einem zufriedenen Lächeln und schnallte sich im Anschluss seinen Gürtel um und richtete seinen Saum. „Dann verlasse ich mich auf dich, Luci. Bin mal gespannt wie leicht es sein wird, Uriel den Kopf zu verdrehen. So wie ich den armen Trottel einschätze, wird er mein Angebot gar nicht ablehnen können.“ „Mach mich nicht eifersüchtig“, mahnte Luzifer ihn und begann sich nun ebenfalls wieder anzukleiden. „Auch wenn ich ein Teufel bin, mag ich es nicht, dich mit anderen teilen zu müssen.“ „Nur keine Sorge. Gott mag dich zwar als seinen Liebling verstoßen und achtlos weggeworfen haben, aber für mich bist und bleibst du die einzig wahre Liebe. Vergiss nicht: ich habe allein wegen dir mit Lilith Schluss gemacht.“ Damit gab Samael ihm einen Kuss zum Abschied und machte sich auf den Weg. Es galt nun, einen Erzengel zu verführen und da wollte er lieber nicht zu lange damit warten. Kapitel 4: Ein gordisches Knoten-Dilemma ---------------------------------------- Metatron, dem das Herz gehörig in die Hose gerutscht war, war fluchtartig aus der Halle verschwunden, ohne sich überhaupt zu bemühen, Luzifer wieder vor die Himmelspforte zu leiten. Um ehrlich zu sein konnte dieser Kerl ihm im Moment herzlich egal sein, denn er hatte weitaus größere Probleme am Hals. Zwar hatte er es durch eine geschickte Verzögerungstaktik geschafft, etwas mehr Zeit zu schinden, aber er stand nach wie vor unter enormem Zugzwang. Das alles hätte nicht passieren müssen, wenn er nicht diese dämliche Abstimmung gehalten hätte. Wer um alles in der Welt war auch auf die bescheuerte Idee gekommen, Demokratie in eine Jahrtausende lang andauernde Diktatur zu bringen? Manch einer mochte zwar behaupten, dass der Himmel keine Diktatur war, aber bei genauerer Betrachtung gab es keine andere Schlussfolgerung. Freie Meinungsäußerung wurde als Rebellion und Blasphemie verpönt, Gott durfte niemals angezweifelt werden und jede Art von Widerstand wurde mit grausamer Härte bestraft. Im Grunde genommen unterschied sich der Himmel nicht allzu viel von einer gewöhnlichen Diktatur, die von Menschen geführt wurde. Sie war halt nur etwas hübscher verpackt. Es war natürlich ziemlich bequem, wenn jemand anderes alle Entscheidungen traf und man selber keine Verantwortung tragen musste. Solange man nur nichts Falsches sagte, konnte nichts passieren und alles ging seinen gemütlichen Gang weiter. Nur leider hatte sich das in den letzten Jahren rapide geändert und nun musste Metatron als höchster Engel alles alleine ausbaden. Alles war so einfach gewesen, als die Dinge noch ihren gewohnten Gang gingen und noch nicht komplett den Bach runterliefen. Seine einzige Aufgabe hatte stets darin bestanden, einfach das zu wiederholen, was Gott ihm vortrug. Mehr wurde von ihm nicht erwartet. Der Job war so verdammt simpel und anspruchslos, dass sein Bruder Sandalphon sogar mal scherzhaft gemeint hatte, dass man ihn genauso gut durch ein Telefon ersetzen könnte, wenn der Himmel wenigstens Elektrizität oder Internet hätte. Aber nun musste er sich mit einer solch gewaltigen Verantwortung herumschlagen und er hatte keine Ahnung, was er noch tun sollte. Den ganzen Himmel im Alleingang bewältigen hatte definitiv nicht in der Jobbeschreibung gestanden. Das war auch eigentlich nicht seine Aufgabe. Aber die Dinge hatten sich nun mal geändert und warum das so war, konnte selbst Metatron, der sonst alle Geheimnisse kannte, nicht ergründen. Es gab nämlich etwas, das er vor den Engeln geheim hielt um keine Panik auszulösen: er konnte Gottes Stimme nicht mehr hören. Schon seit längerer Zeit hatte er nichts mehr von ihm gehört und immer wieder versucht, auf jede erdenkliche Art und Weise Kontakt aufzunehmen. Anfangs noch durch Gebete und Reinigungsritualen, dann im Anschluss mittels Rauchzeichen, Fahnensprache und durch Morsen. Als das auch nicht die gewünschte Wirkung erzielt hatte, war er zu Meditationen und Yoga übergegangen. Nachdem ihm so langsam die Alternativen ausgegangen waren, hatte er zu guter Letzt Gebärdensprache, Ausdruckstanz und sogar Pantomime versucht. Das einzige, was dabei herauskam, waren ein verdrehter Knöchel und ein Hexenschuss weil Metatron nicht tanzen konnte. Als alle erdenklichen Möglichkeiten ausgeschöpft worden waren, hatte er es aufgegeben und musste wohl oder übel den Tatsachen ins Auge blicken: Gott war einfach verstummt und es gab offenbar keine Möglichkeiten mehr, mit ihm zu sprechen. Selbst er hatte den Kontakt zu ihm verloren. Metatron hatte daraufhin das Einzige getan, was ihm als richtig erschien und niemandem ein Sterbenswort davon erzählt. All diese Engel im Himmel waren so sehr daran gewöhnt, willenlose Drohnen ohne eigene Meinung zu sein, dass allein der Gedanke daran, auf sich selbst gestellt zu sein, für sie einem Weltuntergang nahe gekommen wäre. Wenn man Jahrtausende lang immer nur stumpf Befehle ausführte ohne sein Hirn einzuschalten, konnte man nicht erwarten, dass man von jetzt auf gleich eigenständig denken konnte. Ganz zu schweigen davon, dass die Hölle komplett Amok laufen würde, wenn den Dämonen irgendetwas zu Ohren kam. Das galt es unbedingt zu verhindern und so hatte er die Illusion aufrechterhalten, dass Gott nach wie vor noch da war und zu ihnen sprach. Da sich kaum irgendwelche Besonderheiten ereigneten, hatte alles mehr oder weniger gut geklappt, aber nun hatte er es mit einer ernsthaften Krise zu tun und wusste nicht, wie er sie lösen konnte. Als König der Engel und Beschützer des Himmels konnte er veranlassen, dass das Regelwerk geändert und sämtliche Sünder amnestiert wurden. Aber was war, wenn Gott Wind davon bekam und plötzlich wieder von sich hören ließ? Er wusste ja nicht mal ob das Kommunikationsproblem nicht vielleicht an ihm selbst lag. Womöglich hatte er einfach nur seine Fähigkeit verloren, die Stimme des Herrn zu hören und wenn er eigenmächtig irgendwelche uralten Gesetze abänderte, würde er mit Sicherheit dessen Zorn auf sich ziehen. Dann durfte er den Rest der Ewigkeit als Dämon in der Hölle fristen und ihm grauste bei diesem Gedanken. Zwar war nichts dergleichen passiert, als er damit begonnen hatte, die Engel zu etwas mehr eigenständigem Denken zu erziehen, aber er wollte sein Glück auch nicht zu sehr ausreizen. Nervös lief er eine ganze Weile auf und ab und dachte angestrengt darüber nach, was er tun konnte. Eine eigenmächtige Gesetzesabänderung unter dem Risiko, dass er Gottes Zorn auf sich zog, schied aus. Aber alles so zu belassen wie es war, stand ebenfalls außer Frage, weil er sonst eine Horde von wütenden Demonstranten aus der Hölle vor der Tür haben würde. Und jeder wusste wie unberechenbar und zerstörungswütig die sein konnten. In jedem Fall hatte er so ziemlich die Arschkarte gezogen und den Konflikt auf eine Art und Weise zu lösen, die nicht in einem Weltuntergang resultieren würde, erschien so gut wie unmöglich. Dazu musste man irgendein Schlupfloch in diesem Paragraphen-Urwald finden und leider hatte das himmlische Personal auch keine geschulten Rechtsanwälte. Stattdessen hatten sie Michael und den konnte man gleich vergessen. Doch dann kam ihm eine Idee, die ihm als letzte Rettung erschien. Er erinnerte sich an die Beinahe-Apokalypse, die sich vor einiger Zeit zugetragen hatte und als das wohl bedeutendste Ereignis seit der Geburt von Jesus gewesen war: während des 14. Jahrhunderts, als sich der Konflikt zwischen Himmel und Hölle zugespitzt hatte und die Pest in Europa wütete, hatten alle Zeichen darauf hingedeutet, dass die Apokalypse beginnen würde. Beide Seiten hatten sich zum Krieg gerüstet, der die Welt vollständig vernichten würde und waren nur zu erpicht darauf, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Doch Gott wollte es nicht so enden lassen und hatte ihnen einen Mediator geschickt, der den Konflikt auf eine mehr oder weniger gewaltlose Weise lösen sollte: Malachiel, ein Wesen welches halb Engel und halb Dämon war. Als solcher stand er zwischen den Fronten und war absolut unparteiisch. Ihm war es gelungen, einen Waffenstillstand zwischen den beiden streitenden Urfeinden zu vereinbaren und obendrein als Bedingung festzulegen, dass die Erde nicht zum Schauplatz eines apokalyptischen Krieges werden würde. Seine Methoden waren ein wenig unkonventionell, aber er hatte es tatsächlich geschafft, das Ende der Welt zu verhindern und den Streit zwischen Himmel und Hölle beizulegen. Auch sonst war er eine große Hilfe und Stütze gewesen. In den Momenten, wo Metatron gewankt und an sich gezweifelt hatte, war Malachiel an seiner Seite gewesen und hatte ihm geholfen, die Welt vor dem Untergang zu retten. Trotz seinem Hang zu kleineren Gotteslästerungen und einer vorlauten Klappe war er ein absolut anständiger Kerl, dem die Gerechtigkeit wichtig war. Seine Willensstärke und auch sein Mut und die schonungslose Ignoranz bezüglich der Meinung anderer hatte Metatron sehr bewundernswert an ihm gefunden. Für ihn war Malachiel die mehr oder weniger unmoralische Version der Idealvorstellung, wie er selbst gerne sein würde. Er bewunderte ihn aufrichtig dafür, dass er sich nicht um die Meinung anderer scherte und einfach das tat, woran er glaubte und was er für richtig hielt. Deshalb hatte es auch nicht allzu lange gedauert, bis es zwischen ihnen beiden gewaltig gefunkt hatte und Metatron zum ersten Mal in seinem langen Leben so richtig verliebt gewesen war. Allein als er an ihre gemeinsamen Momente dachte, die sie trotz der Entfernung hin und wieder teilten, wurde ihm warm ums Herz und er geriet ins Schwärmen wie ein frisch verliebtes Schulmädchen. Allerdings hatten sie sich schon seit längerem nicht mehr gesehen. Da Malachiel weder im Himmel noch in der Hölle seinen Platz fand, zog er es vor, auf der Erde unter den Menschen zu leben. Zwar hatte er mehrmals angeboten, dass sie beide gemeinsam ein Leben dort unten führen konnten, aber Metatron hatte es als seine heilige Pflicht angesehen, im Himmel zu bleiben. Die Entscheidung war ihm nicht leicht gefallen, vor allem weil Fernbeziehungen nur schwer zu halten waren. Aber er hatte es auch nicht verantworten können, all diese geistlosen Drohnen von Engeln ganz ohne Aufsicht zu lassen. Nicht auszudenken, wenn jemand wie Samael oder einer von den Erzengeln auf den Trichter gekommen wäre, das Kommando zu übernehmen. Dann wäre vom Himmel nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Es klopfte vorsichtig an der Tür und herein trat Sandalphon, seines Zeichens Cherub und Zwillingsbruder von Metatron. Im Gegensatz zu dem eher schüchternen, bieder gekleideten und nervösen Himmelsregenten war der jüngere Bruder ein etwas sonderbarer Zeitgenosse, der so ziemlich das genaue Gegenteil von ihm verkörperte. Und das sah man schon aus hundert Meilen Entfernung. Sandalphon regierte über den vierten Himmel und sollte eigentlich Weisheit und Besonnenheit lehren, aber seine Faszination für die Menschenkulturen hatte ihn in einer etwas merkwürdigen Art beeinflusst. Um es etwas bildlicher zu beschreiben: wenn man einen Kongress voller biederer und vornehmer Anzugträger mit ernster Miene besuchte und dann plötzlich einen knallbunten Transvestiten in Plateauschuhen sah, der den Anschein erwirkte, als wäre er aus einer Freakshow ausgebrochen, traf das genau auf Sandalphon zu. Während Metatron ein Witz war, den keiner verstand, war sein jüngerer Zwillingsbruder ein Witz, der lediglich Fremdscham auslöste (was obendrein auch daran lag, dass Engel allgemein keinen Sinn für Humor hatten). Sandalphon war schon immer ein schräger Vogel gewesen, der unter tausenden Engeln deutlich herausstach und einfach nicht zu übersehen war. Das lag nicht nur daran, dass er in seiner Körpergröße sogar die Seraphim überragte, sondern auch weil er es liebte, sich wie eine Diva aufzutakeln, die sich in eine Clownsschule verirrt hatte. Und Gott alleine wusste, wie viele Pfauen und Paradiesvögel ihre Federn für seine Garderobe opfern mussten. Keiner im Himmel hatte je verstanden, was der Sinn und Zweck hinter seiner Aufmachung war. Denn Engel waren bekanntlich geschlechtlos und konnten einfach ihr äußeres Erscheinungsbild ihren persönlichen Vorlieben anpassen. Wenn Sandalphon also unbedingt in schillernden Frauenkleidern herumlaufen wollte, warum machte er sich dann nicht die Mühe, seinen Körper gleich mit anzupassen? Diese Frage war ihm tatsächlich schon einige Male gestellt worden und die Antwort „Das macht das Ganze doch viel authentischer!“ hatte nicht sonderlich dazu beigetragen, dass irgendjemand den Sinn und Zweck dahinter verstand. Also hatte man einfach beschlossen, es dabei zu belassen und gar nicht weiter darüber zu reden. Alles andere hätte nur für mehr Verwirrung gesorgt. „Hey Brüderchen“, grüßte Sandalphon ihn mit einer tiefen Baritonstimme, die zwar feminin zu klingen versuchte, aber der Versuch wollte nicht wirklich gelingen. „Alles in Ordnung bei dir? Du wirkst so blass um die Nase. Gab es Ärger mit Luzifer? Ich habe schon gehört, dass er wieder aufgetaucht ist.“ „A-alles gut, Sandy, alles gut“, versicherte Metatron und versuchte sich seine Unruhe nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Seit sein Bruder auf die Idee gekommen war, sich wie ein Farbenblinder mit Geschmacksverirrung zu kleiden und zum lebenden Kunstwerk zu erklären, hatte er darauf bestanden, von seinen Freunden und seinem Bruder nur noch „Sandy“ genannt zu werden. Ansonsten würde das „die Authentizität zerstören“, so wie er es nannte. Metatron hatte lange gebraucht, um sich an den Lebenswandel seines Bruders zu gewöhnen und hatte jedes Mal Sorge, dass es ihm irgendwann mal Schwierigkeiten bereiten könnte. Er als König der Engel hatte eine enorme Verantwortung und konnte es sich nicht leisten, dass sein Ansehen durch Sandalphons Eskapaden Schaden nahm. Dass ihn die meisten Engel aber sowieso schon nicht respektierten, ging jedes Mal komplett an ihm vorbei. Zum Glück hatte die himmlische Bevölkerung ziemlich gelassen auf seinen Bruder reagiert, was aber auch daran liegen mochte weil die beiden Brüder ziemlich hohe Tiere waren. Da konnte man sich die eine oder andere Freiheit herausnehmen und ein wenig aus der Reihe tanzen. „Es gibt da so einige Probleme in der Hölle, um die ich mich kümmern muss“, erklärte Metatron und räusperte sich kurz um seine Kehle zu reinigen. „Deshalb stehe ich ein klein wenig unter Stress.“ „Seit wann kümmerst du dich denn bitteschön um die Hölle?“ fragte Sandalphon irritiert und verschränkte die Arme, wobei seine überlangen knallbunten und mit Glitter lackierten Fingernägel hell glitzerten. So ziemlich alles an ihm war am Glitzern. Angefangen von dem knallpinken Pailletten-Kleid, den mit Strasssteinen besetzten Absatzschuhen und dem billigen Schmuck, den er trug. Sein wasserstoffblondes Haar (welches eigentlich eine Perücke war), hatte er zu einem Kunstwerk aufgetürmt, welches selbst Marie Antoinettes Schiffsfrisur wie einen Witz aussehen ließ. Dieses ganze Erscheinungsbild war wie ein Verkehrsunfall: man wollte nicht hinsehen, aber man konnte nicht anders. „Es gab einige falsche Urteile und jetzt wissen die Dämonen nicht mehr wohin mit all den Seelen“, antwortete Metatron, der diesen Anblick schon so zur Genüge kannte, dass ihn die peinlichen Modeausfälle seines Bruders schon gar nicht mehr juckten. Was das anbetraf, war er schon vollkommen abgestumpft. „Ich werde für eine Weile zur Erde hinabgehen und Malachiel um Unterstützung bitten. Wärst du bitte so nett und würdest mich in der Zwischenzeit vertreten?“ Normalerweise wäre Sandalphon aufgrund seiner mehr als skurrilen Erscheinung und seines exzentrischen Charakters nicht unbedingt der erste Kandidat gewesen. Man mochte sich allein nur vorstellen wie das wohl aussehen mochte, wenn er für länger als zehn Jahre im Amt wäre und seinen Posten auszunutzen wusste. Der Himmel hätte dann ausgesehen wie das unheilige Kind von The Rocky Horror Picture Show und JoJo’s Bizarre Adventure. Doch obwohl Sandalphon nicht unbedingt ein Vorzeigekönig war, durfte man nicht vergessen, dass er nach wie vor zu den größten und mächtigsten Engeln zählte. Außerdem war die Auswahl an Alternativen ziemlich mager. Normalerweise wäre Samael als offizieller Vizeregent seine direkte Vertretung gewesen, doch Metatron war nicht ganz wohl bei diesem Gedanken. Insbesondere weil er dessen Abneigung gegen die Menschen kannte. Da war sein Bruder das weitaus kleinere Übel. Ein durchgeknallter Paradiesvogel wie Sandalphon bedeutete weitaus weniger Papierkram als einer von Samaels weiteren Versuchen, der Menschheit mit Seuchen und Naturkatastrophen den Garaus zu machen. „Meinst du, du kommst auch zurecht?“ fragte Sandalphon besorgt nach. „Du bist so selten auf der Erde und hast kaum die Schulungen besucht. Weißt du überhaupt, was dich da unten alles erwartet? Die Menschen leben nicht mehr im 14. Jahrhundert, mein Lieber. Es hat sich viel verändert seit damals.“ „Ich weiß, ich weiß“, seufzte Metatron und es war ihm ein bisschen peinlich, von seinem jüngeren Bruder derart bevormundet zu werden. „Es ist ja nicht so, als wäre ich seit der Beinahe-Apokalypse kein einziges Mal unten gewesen. Außerdem lebt Malachiel in einem kleinen abgelegenen Dorf mitten auf dem Lande, was sollte schon schief gehen?“ „Na wenn du meinst“, meinte der grell geschminkte Cherub mit einem leichten Schulterzucken und gab sich mit dieser Antwort zufrieden. „Und was treibt dich dazu, ausgerechnet ihn um Hilfe zu bitten? Hat Gott dir diesen Auftrag erteilt oder hat dich bloß die Sehnsucht gepackt?“ Hier biss sich Metatron auf die Unterlippe und überlegte, was er am besten antworten konnte. Es widerstrebte ihm zutiefst, seinen Bruder anzulügen. In seinem ganzen Leben hatte er nur in den äußersten Notfällen gelogen und ansonsten stets die Wahrheit erzählt. Nun ja… vielleicht nicht immer die ganze Wahrheit. Aber war sich sicher, dass Gott eine Halbwahrheit eher verzeihen würde als eine Lüge. Und er hatte auch nicht vor, mit dem Lügen anzufangen. „Der Herr hat uns Malachiel extra für solche Fälle geschickt“, antwortete er deshalb und hoffte, dass es schwammig genug klang, dass Sandalphon zu der erhofften Schlussfolgerung kam. „Ich werde aber nicht allzu lange wegbleiben. Würdest du bitte eine kurze Mitteilung an die Erzengel und an Samael rausgeben, dass ich baldmöglichst mit Malachiel hier sein werde?“ „Überlass das ruhig mir“, versicherte sein Bruder und zwinkerte ihm neckisch zu. „Hab du mal viel Spaß mit deinem Herzblatt.“ Metatron verzog die Miene und spürte wie seine Wangen zu glühen begannen. Er liebte seinen Bruder, aber manchmal konnte dieser verdammt lästig sein. „Es ist rein geschäftlich, Sandy! Das ist nicht der passende Zeitpunkt für so was.“ „Wie du meinst“, gab Sandalphon unbeeindruckt zurück und wandte sich wieder zum Gehen. „Ist ja nicht so als müsste dir das peinlich sein. Wenn es wirklich unmoralisch und falsch wäre, hätte Gott sich ja schon längst bei dir zu Wort gemeldet. Na dann… ich mach mich dann mal auf den Weg. Und du pass mal gut auf dich auf. Tüdelüüü~“ Mit einem entnervten Seufzer schloss Metatron die Tür. Er liebte seinen Bruder trotz dessen gewöhnungsbedürftiger Art wirklich sehr, aber manchmal raubte dieser ihm den letzten Nerv. Obwohl Sandalphon der jüngere Zwilling war und als Cherub einen niederen Rang innehatte, hielt es ihn nicht davon ab, sich wie der ältere Bruder aufzuführen. Das mochte vor allem daran liegen, weil er vom Charakter her deutlich selbstbewusster und willensstärker war. Und wenn der ältere Zwilling ein unsicherer und inkonsequenter Pazifist war, blieb es offenbar nicht aus, dass er derart bevormundet wurde. Metatron wusste diese Geste zwar durchaus zu schätzen, kam sich aber jedes Mal wie ein hilfloses Kleinkind vor, wenn Sandalphon ihn so behandelte. Er war immer noch der König der Engel und Gottes direkter Stellvertreter, da konnte er sich doch nicht so bemuttern lassen! Trotzdem war er auch dankbar, dass sich sein Bruder so um ihn sorgte und versuchte, ihm auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Das hielt Sandalphon zwar nicht davon ab, ihn immer wieder zu ärgern und ihn entweder in Verlegenheit zu bringen oder zur Weißglut zu treiben. Aber Metatron wusste, dass er sich immer auf ihn verlassen konnte. Egal wie sich Sandalphon schminkte, verkleidete oder im Allgemeinen aufführte, er konnte auch ernst sein wenn es darauf ankam. Selbst in den schlimmsten Krisenzeiten konnte sich Metatron immer darauf verlassen, dass sein Bruder da sein würde um ihn zu unterstützen. Aber manchmal fragte er sich schon, warum um alles in der Welt Gott ihn unter all den Engeln ausgewählt hatte um König der Engel zu sein. Es hieß ja, die Wege des Herrn seien unergründlich, aber man brauchte kein großes Genie zu sein um zu erkennen, dass dieser unergründliche Plan im Grunde genommen eine absolute Schnapsidee war. Entweder war Gott zu Scherzen aufgelegt und wollte sie alle bloß veräppeln, oder das gehörte wieder zu einem seiner verrückten Experimente wie die Dinosaurier und die Affenmenschen. Ganz zu schweigen davon, dass er nicht wirklich den Grund verstand, wieso Gott nicht mehr mit ihm redete. Er hatte sich immer wieder den Kopf darüber zermartert und lange Zeit geglaubt, dass es bloß eine länger andauernde Verbindungsstörung sei. Vielleicht eine Art mentales Funkloch oder so. Aber wenn er es so recht betrachtete, war der Allmächtige auch schon sehr lange nicht mehr aktiv gewesen. Keine Wunder, keine Katastrophen, keine Erscheinungen, rein gar nichts! Hin und wieder war ihm sogar der Gedanke gekommen, dass Gott vielleicht eine Art kreative Blockade hatte und einfach eine längere Auszeit brauchte. Vielleicht brauchte sogar ein Schöpfer mal ab und zu Urlaub von all den Strapazen. Aber dann hätte er doch wenigstens eine Nachricht hinterlassen können. „Das alles wäre nicht passiert, wenn wir wenigstens eine kurze Info gekriegt hätten“, grummelte Metatron leise vor sich hin während er alles für seine Abreise zur Erde vorbereitete. „Wäre ein drittes Testament oder zumindest eine prophetische Botschaft zu viel gewesen? Selbst die Mormonen haben ein zusätzliches Testament gekriegt, aber wir haben keines gekriegt weil die Verwaltung nichts auf die Reihe bekommt. Eine schöne Bescherung ist das…“ Das Geheimnis um den großen und unergründlichen Plan Gottes kursierte schon seit langer Zeit durch die Welt. Man mochte glauben, dass es der Herr selbst gewesen war, der damit angekommen war. So ganz stimmte das aber nicht. Man konnte es mit einer Art urbanen Legende wie dem Monster von Loch Ness oder den UFOs in Area 51 vergleichen. Da Gott allmächtig war, gingen die Menschen automatisch auch davon aus, er sei gleichzeitig auch allwissend und unfehlbar. Das eine hatte mit dem anderen zwar nicht unbedingt viel zu tun, aber wenn man meist nur ausweichende oder schwammige Antworten auf die großen Fragen bekam, schloss man sich so einiges aus dem Kontext. Aus heutiger Sicht würde man das Ganze damit erklären, dass sich ein paar Menschen hingesetzt und einfach ihre eigenen Fanfictions zu ihrem Schöpfer und ihren Vorvätern geschrieben hatten um ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Diese Geschichten hatten sich gut genug verkauft, dass sie einen enormen Bekanntheitsstatus erlangten und weitergereicht wurden. Und nachdem genug Zeit ins Land gezogen war und alle Zeitzeugen längst tot waren, konnte man nicht mehr nachweisen ob es sich wirklich zugetragen hatte. Also hakte man diese Fanfictions als wahre Begebenheit ab und glaubte aus voller Überzeugung, dass sie sich wirklich zugetragen hatten. Da sich Gottes widersprüchliche Handlungen und teilweise auch unlogische Entscheidungen mit seinem Status als perfektes Schöpferwesen nicht vereinbaren konnten, mussten sich die Menschen irgendeine Erklärung einfallen lassen, um nicht auch noch selbst in Zweifel zu geraten. Also war die Legende vom „großen unergründlichen Plan“ entstanden. Und dieser Mythos hatte sich bis in die heutige Zeit weiter fortgesetzt, sodass selbst die Engel angefangen hatten zu glauben, dass es diesen unergründlichen Plan tatsächlich gab. Diese Erklärung für all die widersprüchlichen Dinge in der Bibel und im realen Leben war so oberflächlich und schwammig gehalten, dass es nicht wirklich viel Spielraum für Gegenargumente gab. Dieses Phänomen ähnelte nicht ohne Grund der „Ein Zauberer war’s“-Trope, in der jeglicher Kontinuitätsfehler und alle Arten von unbeantworteten Fragen und Logiklücken einfach mit Magie erklärt werden konnten. Und da nicht einmal die Engel im Himmel einen Gegenbeweis liefern konnten, waren selbst die höchsten Seraphim irgendwann zu der Schlussfolgerung gekommen, dass Gott irgendeinen Plan verfolgte. Ob dem nun wirklich so war oder ob die Welt einfach nur die Generalprobe zu einer Theaterführung war, die niemals stattfinden würde, konnte nicht einmal Metatron sagen. Doch so langsam begann auch er zu denken, dass die Logiklücken dieses vermeintlich existierenden Plans inzwischen die Größe des Grand Canyons angenommen hatten. Und nun stand er vor vollendeten Tatsachen und ohne Ahnung, was in aller Welt sich Gott dabei gedacht hatte, einfach mittendrin zu verschwinden und ihn mit diesem schier unlösbaren Problem zurückzulassen. Kapitel 5: Kreuzfeuer der Eitelkeiten ------------------------------------- Die Auseinandersetzung zwischen Gabriel und Michael hatte sich gewaltig zugespitzt. Nach der kurzzeitigen Einmischung von Raphael, der mit wenigen Schlägen auf die Matte geschickt worden war, begannen die Kräfteunterschiede stärker zu werden. Der Kriegsengel war langsamer geworden und seine Schläge hatten an Wucht eingebüßt, außerdem wurde ihm seine Rüstung immer schwerer. Gabriel hingegen schien fit und flink zu sein wie ein Olympia-Athlet und konnte sich seine Schadenfreude kaum verkneifen. Eigentlich machte er sich nicht einmal wirklich Mühe, seine Häme vor seinem Rivalen zu verbergen. Sein Gesicht sah schon etwas lädiert aus, aber er war trotzdem noch in ziemlich guter Verfassung um sich weiterzuprügeln. „Was ist denn los, Michael? Sag bloß der große und mächtige Drachenbezwinger macht etwa schon schlapp.“ Zwar war Michael ein absoluter Kriegsveteran, aber er war nicht unbedingt gut darin, sich seine Kräfte vernünftig einzuteilen. Seine mentale Kurzsichtigkeit stellte ihm nicht nur bei seinem Job als Seelenrichter ständig ein Bein, sondern auch im direkten Kampf mit seinen Gegnern. Er gehörte halt zu der Sorte Kämpfer, die sich rücksichtslos ins Getümmel stürzte und stets mit voller Kraft zuschlug. Da war es natürlich abzusehen, dass ihm relativ schnell die Puste ausging, wenn er seine Energie so leichtfertig verschwendete. Gabriel, der für gewöhnlich immer in der Defensive war, konnte sich seine Kräfte umso besser einteilen und nutzte das entsprechend bei seinen Auseinandersetzungen mit seinem Kollegen geschickt aus. Selbst wenn seine Angriffe bei weitem nicht so verheerend waren, brauchte er eigentlich nur abzuwarten bis Michaels miserable Ausdauer ihr Limit erreichte und dann hatte er ziemlich leichtes Spiel mit ihm. Wütend funkelte ihn der verspottete Kriegsengel an und richtete sich zu seiner vollen Größe auf um möglichst furchteinflößend und autoritär zu wirken. „Als ob ich mich von einer halben Portion wie dir besiegen lasse“, entgegnete er höhnisch. „Egal wie viel Ausdauer du auch hast, du schlägst immer noch zu wie ein kleines Mädchen, Gabi! Da braucht es schon viel mehr um mich in die Knie zu zwingen. Ich bin immer noch der von Gott auserwählte Anführer der Erzengel. Ich habe unzählige Dämonen auf dem Schlachtfeld besiegt, während du mickrige Tussi das Kindermädchen gespielt hast.“ „Und du kämpfst wie ein altersschwaches Faultier“, giftete Gabriel zurück und ballte die Fäuste. „Du hast doch gar nicht den Grips in der Birne um irgendjemanden anzuführen. Wie konntest du es überhaupt wagen, zusammen mit Samael abzustimmen? Solltest du nicht eigentlich gegen ihn arbeiten und die Menschheit vor ihm verteidigen? Du bist nicht nur ein aufgeblasener Trottel, sondern obendrein noch ein feiger Heuchler, der nicht mal selbstständig denken kann.“ Es war nicht so, dass es Michael vollkommen egal war oder er gar nicht merkte, was Samael eigentlich tat. Er wusste sehr wohl, dass dieser unzählige Kriege, Epidemien und Katastrophen auf der Erde ausgelöst hatte und es bis heute noch tat. Nur leider war er bei weitem nicht stark genug, um es mit einem derart gefährlichen Seraph aufzunehmen. Hinzu kam auch noch, dass Samael ein verdammt geschickter Stratege war und es immer wieder aufs Neue schaffte, ihn zu überlisten. Michael war sich durchaus im Klaren, dass er ihn nie auf einem intellektuellen Level übertrumpfen konnte, also blieben ihm nur seine gewaltige Kampfkraft und sein unerschütterlicher Glaube an die Unfehlbarkeit und Allmacht Gottes. Und er war bereit, bis zum bitteren Ende daran festzuhalten. „Sag mal, hörst du dich eigentlich selbst reden, Gabriel? Du klingst ja schon wie ein Dämon! Es steht uns nicht zu, den Willen des Herrn infrage zu stellen. Er ist absolut unfehlbar und deshalb dürfen wir seine Gesetze nicht abändern. Es wird schon alles seine Richtigkeit haben, also warum kannst du unserem Herrn nicht einfach vertrauen und ihm Gehorsam leisten?“ „Mein Glaube hat nichts mit meinen persönlichen Prinzipien zu tun“, erwiderte Gabriel aufgebracht. „Was soll denn bitteschön daran richtig sein, Menschen in die Hölle zu schicken, nur weil sie das falsche Fleisch gegessen oder mal über ihre Eltern geschimpft haben? Ich bin loyal und werde die Ehre des Himmels mit meinem Leben verteidigen. Aber das bedeutet nicht, dass ich mit allem einverstanden sein muss, was Gott an Gesetzen beschließt. Und wenn du es nicht auf die Reihe kriegst, deiner Aufgabe als Verteidiger der Menschen nachzukommen, dann werde ich es halt tun. Wir wissen doch alle, dass ich ein weitaus besserer Anführer wäre als ein so zurückgebliebener Schläger wie du.“ Hier aber platzte Michael endgültig der Kragen und er verpasste seinem Kontrahenten einen kräftigen Faustschlag in die Magengrube. Dieser sank mit einem gequälten Stöhnen auf die Knie und erlitt einen heftigen Brechreiz. „Ich bin immer noch der Stärkste von uns allen“, entgegnete Michael stolz. „Und von einer Tusse wie dir brauche ich mir gar nichts sagen zu lassen.“ Doch so leicht wollte sich Gabriel noch nicht geschlagen geben. Wenn schon schmutzig gespielt wurde, dann konnte er auch gleich in die Vollen gehen. Also nutzte er seine Position zu seinem Vorteil aus und verpasste Michael eine kräftige Kopfnuss direkt in den Schritt. Und das reichte aus, um den stolzen Kriegsengel vollkommen kampfunfähig zu machen. Er brach mit einem quiekenden Schrei zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte und blieb vor Schmerz wimmernd auf dem Boden liegen. „Ach ja?“ brachte Gabriel schwer atmend hervor und kam ein wenig wankend wieder auf die Beine, wobei er sich eine Hand auf seinen Bauch presste. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer hässlichen Grimasse als er mit einem hämischen Grinsen auf Michael hinabsah. „Na wenigstens wurde ich nicht von einer Tusse vermöbelt so wie du.“ Luzifer hatte das ganze Schauspiel aus sicherer Entfernung beobachtet und selbst in seiner Position als Teufel empfand er nichts als Fremdscham für diese beiden Kindsköpfe. Es war einfach nur peinlich, sich diese Schlammschlacht anzusehen und er fragte sich, wie um alles in der Welt es nur so weit gekommen war. Damals, als er noch ein Engel gewesen war, hatten sich die Erzengel hin und wieder mal gestritten, aber wenigstens hatten sie noch so etwas wie Würde und Anstand gehabt. Jetzt zankten sie sich wie zwei arrogante und strohdumme Flittchen, die sich in einer billigen TV-Show gegenseitig die Augen auskratzten. War es überhaupt nötig, da noch weiter Öl ins Feuer zu gießen? So wie es aussah, schienen sich die beiden schon genug in den Haaren zu liegen. Andererseits wollte er Samael nicht enttäuschen und beschloss deshalb, sich in dieses Schmierentheater einzubringen. Als wäre er gerade erst dazugekommen, trat er hinter der Säule hervor, hinter der er sich versteckt hatte, und ging auf die beiden zu. „Hey, was ist denn los mit euch? Ich dachte, ihr seid Kameraden.“ „Was mischst du dich denn ein?“ blaffte ihn Michael an, der sich so langsam von dem vernichtenden Schlag in die Eier erholte. Aber er schaffte es noch nicht, wieder auf die Beine zu kommen und blieb weiterhin vor Schmerzen gekrümmt liegen. Wenn Luzifer eines konnte, dann war es schauspielern. Als hätte er keine Ahnung was da eigentlich vor sich ging, machte er eine bestürzte Miene und wandte sich an Gabriel. „Was zur Hölle ist denn in euch gefahren? Im Moment haben wir alle weitaus größere Sorgen als ein paar Meinungsverschiedenheiten. Wo genau liegt denn eigentlich das Problem bei euch?“ „Er ist das Problem“, antwortete der androgyne Schutzengel und deutete auf seinen am Boden liegenden Kollegen. „Ich habe es so satt, dass Michael sich ständig aufspielt, als wäre er etwas Besseres. Ständig behandelt er mich wie einen Fußabtreter obwohl ich immer derjenige bin, der hinterher seinen Arsch retten darf. Stattdessen verspottet er mich die ganze Zeit mit diesem Weibernamen und da braucht er sich nicht zu wundern, wenn ich ihm die Zähne eintrete!“ Großer Satan, das kann doch wohl nicht euer Ernst sein, dachte sich Luzifer und schämte sich fast schon dafür, jemals ein Engel gewesen zu sein. Auch wenn dieser Konflikt durch Samael provoziert worden war, konnte man sich diese niveaulose Zickerei doch echt nicht geben. „Okay, ich weiß es geht mich nichts an, aber ich kann mir das auch nicht länger mit ansehen. Wie wäre es, wenn ihr beide mal eine kurze Auszeit nehmt, um die Gemüter ein wenig abzukühlen? Gabriel, wie wäre es wenn du mal etwas frische Luft schnappen gehst, bevor du Michael noch endgültig zerfleischt? Es bringt doch keinem was, wenn wir uns alle gegenseitig bekriegen, während wir in einer ernsten Krise stecken.“ „Kümmere dich doch gefälligst um deinen eigenen Kram, du elender Verräter“, brachte Michael hervor, doch seine Worte fanden keinen Anklang. Wenn man schon ohnehin schlecht auf jemanden zu sprechen und obendrein emotional aufgewühlt war, so war man auch leichter gewillt, auf Leute zu hören, von denen man sich besser fernhalten sollte. Hinzu kam noch, dass Michael überhaupt nicht gut auf Luzifer zu sprechen war, weil dieser ein gefallener Engel war und somit in seinen Augen das absolute Böse verkörperte. Und da der Feind des Feindes bekanntlich ein Freund war, beschloss Gabriel allein schon aus Trotz heraus, auf Luzifers Rat zu hören und verließ ohne ein weiteres Wort die Halle. Der ehemalige Lichtbringer folgte ihm und so ließen sie Michael allein zurück. Gemeinsam gingen sie durch den langen Korridor, bis sie einen großen Garten mit einem riesigen Springbrunnen erreichten. Eine Statue der Jungfrau Maria stand auf einem Sockel und hielt eine Schale in der Hand aus der unablässig geweihtes Wasser floss. Gabriel ging zum Springbrunnen hin und begann seine Arme und sein Gesicht zu waschen. Weihwasser hatte nicht nur den praktischen Effekt, dass es eine äußerst wirksame Waffe gegen Dämonen war und wie Säure auf der Haut wirkte. Für Engel hatte es sogar einen belebenden und heilenden Effekt. Ein ausgiebiges Bad in einer Wanne voller Weihwasser konnte Blessuren und kleinere bis mittelschwere Wunden ziemlich gut behandeln. Je mächtiger der Engel war, auf den es angewandt wurde, desto stärker war die Wirkung. Nach einer kurzen Wäsche waren Gabriels Verletzungen wieder verheilt und sämtliche Spuren der gewalttätigen Auseinandersetzung vollständig verschwunden. Luzifer seinerseits hielt sich lieber fern vom Springbrunnen, da das Weihwasser ihm im schlimmsten Fall die Haut von den Knochen schmelzen konnte. Nach der kurzen Wundversorgung gingen sie zu einer Bank neben dem Springbrunnen und setzten sich. Gabriel, der allmählich von Erschöpfung übermannt wurde, stöhnte laut und verzagt auf und legte den Kopf zurück. „Ich verstehe einfach nicht, warum so ein Volltrottel wie Michael sich ausgerechnet auf Samaels Seite stellen musste“, rief der Schutzengel frustriert und atmete geräuschvoll aus. „Warum in Gottes Namen muss ausgerechnet er der Verteidiger der Menschen sein? Alles was er getan hat war, unschuldige Menschen in die Hölle zu schicken und er sieht immer noch nicht ein, dass er einen Fehler gemacht hat. Ich begreife das nicht!“ „Ja, er ist wirklich nicht der Hellste“, stimmte Luzifer ihm zu und nickte bedächtig. „Ich frage mich bis heute noch, was sich Gott nur dabei gedacht hat, ausgerechnet die unfähigsten Idioten zu befördern. Du als Schutzengel der Kinder und Ungeborenen hast doch einen ganz anderen Bezug zu den Menschen als Michael. Da sollte es doch eigentlich deine Aufgabe sein, sie vor Samael zu verteidigen. Wenigstens bist du nicht voller Stolz überall herumgerannt und hast dein Schwert Drachenschlächter genannt, nur weil du Satan damit eins übergebraten hast. Er spielt sich auf als wäre er professioneller Drachenschlächter, dabei hat er nur gegen einen einzigen gekämpft und es nicht mal geschafft, ihn umzubringen.“ „Warum interessiert dich das alles eigentlich so sehr?“ wollte der Schutzengel in einem leichten Anflug von Misstrauen wissen. Mit einem prüfenden Blick beäugte er den gefallenen Engel und traute dem Braten offenbar noch nicht so ganz, auch wenn er ihn als Begleiter duldete. „Du als Teufel solltest doch eigentlich auf Samaels Seite stehen, oder irre ich mich?“ „Hey, mir geht es nur darum, dass auch die Richtigen bestraft werden“, erklärte Luzifer und hob beschwichtigend die Hände. „Nur weil ich ein gefallener Engel bin, heißt das noch lange nicht, dass ich ein kaltherziges Arschloch bin. Ich habe meine Meinungsverschiedenheiten mit Gott, aber das bedeutet doch nicht, dass ich euch hasse. Ihr ward mal meine Familie und das vergisst man nicht so leicht, selbst wenn wir jetzt auf verschiedenen Seiten kämpfen. Diese Streitereien zwischen dir und Michael erinnern mich außerdem irgendwie an mich selbst und ich will nicht, dass du deswegen genauso endest wie ich, Gabriel. Immerhin bist du derjenige, der die meiste Arbeit im Team leistet. Und glaub mir: ich weiß wie es sich anfühlt, wenn man nicht für das gewürdigt wird, was man eigentlich tut und dann letztendlich wie der letzte Dreck behandelt wird, nur weil man zu seiner Meinung steht.“ Es war ein wahres Kinderspiel, so wie Samael es vorausgesagt hatte. Luzifer brauchte nur Gabriels Ego ein bisschen zu streicheln und ihn mit freundschaftlichen Worten aufzumuntern, um ihn von seinen guten Absichten vollständig zu überzeugen. Schon nach wenigen Minuten fraß ihm der Erzengel komplett aus der Hand und hatte völlig vergessen, dass er einen leibhaftigen Teufel neben sich sitzen hatte. Stattdessen war er ihm sogar dankbar, dass ihn jemand in seinen Ansichten bestärkte und ebenfalls der Meinung war, er sollte das Sagen haben. Luzifer musste nicht einmal großartig in seine Trickkiste greifen, um den Schutzengel um den Finger zu wickeln. Als er sich sicher war, dass ihm Gabriel gänzlich aus der Hand fraß, ging er in die nächste Phase über. „Hast du schon mal versucht gehabt, mit Gott oder zumindest mit Metatron zu reden? Es sollte doch nicht unmöglich sein, eine Beförderung zu bekommen. Spätestens wenn die Krise vorbei ist, bin ich mir sicher, dass Michael nach der gewaltigen Panne nicht gerade die besten Chancen haben wird, seinen Job zu behalten.“ „Vergiss es“, blockte Gabriel kopfschüttelnd mit einer wegwinkenden Handgeste. „Es ändert sich doch nie etwas. Ganz egal wie unfähig und verblödet er ist, keiner wird je auf den Gedanken kommen und ihn einfach so feuern. Selbst die Sache mit dem Regelwerk ist ja bloß eine bürokratische Panne gewesen… Solange es nur irgendwelche belanglosen Kleinigkeiten sind, kann er so weitermachen wie bisher.“ „Hm…“, murmelte Luzifer und tat so als würde er ernsthaft nachdenken. „Heißt also im Klartext: wenn etwas Ernstes passiert und er die Verantwortung dafür trägt, bestünde eine Chance, dass du seinen Posten bekommst. Stell dir mal vor, wie viele Seelen dann gerettet werden könnten, wenn du der neue Seelenrichter wärst. Klingt doch gar nicht mal so schlecht. Und mal ganz im Ernst: was hat dieser Schwachkopf schon für euch alle getan? Ist ja nicht so als hätte er es dir jemals gedankt, dass du ihm ständig den Arsch rettest. Weißt du, Typen wie der lernen es nie, bis sie dann so richtig auf die Schnauze fliegen und erkennen, was sie eigentlich an ihren Freunden und Kollegen haben. Meinst du nicht auch?“ Mehr brauchte Luzifer nicht sagen, denn die Zahnräder in Gabriels Hirn fingen bereits an zu arbeiten. Zufrieden lächelte der gefallene Engel als er sah, dass sein Plan bereits fruchtete. Der Stein war ins Rollen gekommen. Nun galt es nur noch darauf zu warten, dass Samael mit seiner Arbeit vorankam. Nicht weit von der Versammlungshalle entfernt, war Uriel derzeit beschäftigt damit, seine Fäuste wütend gegen die Wände zu schlagen und mit den Zähnen zu knirschen. Wenn man schon zu schwach für eine handfeste Auseinandersetzung mit seinen Kollegen war, konnte man auch gleich seinen ganzen Frust an einem unschuldigen Mauerwerk auslassen und es tat fast genauso weh. Aber der Schmerz, den er körperlich spürte, reichte bei weitem nicht an seinen verletzten Stolz heran. Uriel hatte die Schnauze voll und hätte am liebsten alles in Schutt und Asche gelegt und Michael und Gariel schlimmer zugerichtet als Gott die Menschen nach dem Skandal mit dem goldenen Kalb. Es war einfach unfair, dass sie ihn immer wieder ausschließen und ihn verspotten mussten, nur weil sein Name nirgendwo in der Bibel aufgetaucht war. Was war denn schon so toll an den anderen Erzengeln? Ihr Anführer war ein engstirniger Vollhorst, Gabriel eine eingeschnappte Zicke und Raphael ein raffgieriger Egoist. Er versuchte zumindest seine Arbeit gut zu machen und wie dankte man es ihm? Alle behandelten ihn wie einen Außenseiter. „Ich nehme wenigstens meinen Job ernst im Gegensatz zu diesen arroganten Arschgeigen“, rief er wütend und schlug weiter auf die wehrlose Mauer ein. Wenn man schon ständig von anderen unterbrochen wurde und niemand einem zuhören wollte, war der einzige verbleibende Gesprächspartner bekanntlich die eigene Person. Und was Selbstgespräche anging, war Uriel ein wahrer Weltmeister. „Ich versuche mit allen gut auszukommen und wie dankt man es mir dafür? Alle behandeln mich, als wäre ich ein Aussätziger. Sollen sie doch allesamt zur Hölle fahren!“ Ein kräftiger Schlag hinterließ einen tiefen Riss in der Wand und Uriel konnte förmlich das Knirschen seiner Handknöchel hören. Doch sein Adrenalin war so auf Hochtouren, dass er den Schmerz gar nicht wahrnahm und noch weiter zugeschlagen hätte, wenn er nicht plötzlich unterbrochen worden wäre. „Bist du das, Uriel? Du klingst so, als würde dich etwas bekümmern.“ Der Sternenregent drehte sich um und sah den blinden Seraph Samael langsam näher kommen. Wie immer strahlte er trotz seiner düsteren Todesaura einen Glanz von Würde, Macht und Charisma aus. Allein mit seinem Auftritt konnte er jedem, der ihm über den Weg lief, problemlos den Kopf verdrehen. Sofort hielt der vierte Erzengel inne und ihn überkam Schamgefühl als er realisierte, dass Samael seinen Wutanfall gehört hatte. „Ve-verzeiht mir, ich habe mich unangemessen verhalten! Das hätte nicht passieren dürfen. Ich bin untröstlich!“ Uriel war der einzige von den vier Erzengeln, der die Seraphim (insbesondere Samael) in einer respektvollen und unterwürfigen Art und Weise ansprach. Er besaß nicht das Ego und den Mut, um sich solch gewaltigen Wesen gleichzustellen und hinzu kam auch noch, dass er vor allem Samael mehr als jeden anderen im Himmelreich bewunderte. Als jemand, der aufgrund seines Mangels an Begabung und Kraft immer im Schatten seiner Kollegen stand, konnte sich nicht mit großen und perfekt erscheinenden Helden identifizieren. Wie denn auch, wenn er ein absoluter Versager war und von niemandem ernst genommen wurde? Keiner konnte und wollte verstehen, wie es war, immer ein Schwächling zu sein und ständig von allen herumgeschubst und aufgezogen zu werden. Doch Samael war anders. Für ihn war er das absolute Sinnbild eines Kämpfers. Obwohl der Seraph erblindet war und damit seine Chancen auf den Thron als König des Himmels verloren hatte, zählte er immer noch zu den mächtigsten und gefährlichsten Bewohnern des Himmels. Trotz seines eher fragwürdigen Rufs und all der düsteren Gerüchte um ihn war er stets stilvoll und hatte jemanden wie Uriel, der selbst von Metatron ignoriert wurde, nie verhöhnt oder anderweitig schlecht behandelt. Da Uriel sich mit jemandem, der genauso mit Einschränkungen zu kämpfen hatte, bestens identifizieren konnte, hatte er sich zu diesem düsteren Seraph hingezogen gefühlt. Obwohl Samael als gefährlich galt, war er selbst davon überzeugt, dass dieser weitaus ehrenhafter und respektvoller war als alle anderen Engel. Zwar hatte die Realität so ausgesehen, dass Samael sich nie wirklich die Mühe gemacht hatte, sich mit kleinen Fischen wie Uriel abzugeben, aber dieser bemerkte so etwas nicht. Stattdessen war er der festen Überzeugung, dass Samael ihn achtete und vielleicht sogar mochte. Irgendwann hatte sich Uriel so in diese Idee hineingesteigert, dass er zu der Überzeugung gekommen war, dass sein großes Idol vielleicht sogar romantische Gefühle für ihn haben könnte. Doch da er nur ein einfacher Erzengel war, hatte er es nie gewagt gehabt, ihm Avancen zu machen. Und hätte er den Mut aufgebracht, bevor Samael mit seinen Eroberungsplänen begonnen hatte, wäre dieser schneller abserviert worden als ihm lieb gewesen wäre. Aber davon wusste er natürlich auch nichts, denn Samael war geschickt darin, seine wahren Gefühle und Absichten zu verbergen. Für einen Moment glaubte Uriel, sein Herz würde einen Schlag aussetzen als Samael direkt vor ihm stand und seine lädierte Hand in die seinen nahm. Vorsichtig und mit besorgter Miene betastete er sie. „Es muss wirklich schmerzen, von niemandem wahrgenommen zu werden“, meinte dieser und nutzte seine heilenden Kräfte, um Uriels blutende Fingerknöchel wieder zu richten. Ein schwermütiger Ausdruck lag in seinen blinden Augen als er mit seinen Fingern zart über den Handrücken des Erzengels strich. „Weißt du, ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du immer wieder versuchst, diese sinnlosen Streitereien zwischen diesen Holzköpfen zu beenden. Wenigstens auf dich kann ich mich verlassen.“ Uriel, zum allerersten Mal von seinem persönlichen Idol so hoch gelobt, war wie vom Donner gerührt und sein Herz machte einen gewaltigen Hüpfer. Passierte das hier etwa gerade wirklich? Er wurde so gut wie nie für irgendetwas gelobt, vor allem nicht von jemandem wie Samael, der quasi zum Adel unter den Engeln zählte. Und dann auch noch ausgerechnet derjenige, den er mehr als alles andere auf der Welt vergötterte. Uriel war übermannt von seinen Gefühlen und kam sich vor wie ein Schulmädchen, das zum allerersten Mal von seinem Schwarm angesprochen wurde. Mit Mühe stammelte er ein paar Worte, um nicht wie der letzte Trottel dazustehen. „Vielen Dank. Es… es bedeutet mir wirklich sehr viel, dass Ihr mir das sagt. Und ich verspreche euch, dass ich weiterhin mein Bestes geben werde!“ „Das weiß ich doch“, versicherte der blinde Engel ihm und legte seine Hände auf Uriels Schultern. So viel positiver Körperkontakt war zu viel für den schikanierten Erzengel und aus Schreck, oder vielleicht auch aus Scham, wich er hastig zurück. Um Samael nicht zu verärgern, murmelte er hastig eine Entschuldigung und fügte hinzu „Ich bin kein großartiger Erzengel so wie Michael, Gabriel oder Raphael. Ich bin weder stark noch ausdauernd, noch kann ich jemanden heilen. Ich verdiene so viel Lob nicht.“ „Ach was“, winkte der dunkle Engel ab und blieb hartnäckig. „Stell dein Licht doch nicht unter den Scheffel. Immerhin muss Gott doch einen Grund gehabt haben, dich zum Erzengel auszuerwählen. In dir strahlt ein Licht, das heller und reiner leuchtet als das der anderen. Wenn die anderen es nicht sehen, sind sie noch blinder als ich. Ich weiß, dass du das Zeug hast, zum größten Erzengel von allen zu werden. Vielleicht brauchst du einfach nur ein bisschen Unterstützung von jemandem, der auch an dich glaubt.“ Uriel konnte immer noch nicht glauben, dass das hier gerade wirklich passierte und sein Hirn schaltete in diesem Moment komplett aus. Für ihn ging in diesem Moment ein Traum in Erfüllung und wäre er nicht zu überwältigt gewesen, hätte er sich auf Samael gestürzt und ihn geküsst. Samael jedoch war einfach nur gelangweilt und ziemlich enttäuscht darüber, dass Uriel sich derart leicht um den Finger wickeln ließ. Er hatte mit etwas mehr Widerstand gerechnet und sogar ein wenig darauf gehofft. Dann hätte es der ganzen Nummer ein bisschen mehr Würze verliehen, wenn er ihn dann verführt hätte. Aber der arme Trottel war derart ausgehungert, dass er ihn nicht einmal großartig zu verführen brauchte, um ihn komplett gefügig zu machen. Er brauchte nicht einmal funktionierende Augen um zu erkennen, wie sehr Uriel ihm bereits verfallen war. Allein schon wenn er in seiner Nähe war roch der arme Trottel regelrecht nach Verzweiflung, Würdelosigkeit und schmutzigen Gedanken. Irgendwie war das schon traurig. Ein Engel mit derart wenig Stolz und Selbstbewusstsein im Leibe war für gewöhnlich überhaupt nicht seine Zielgruppe. Wo war denn bitteschön der Spaß daran, jemanden zu verführen, wenn diese Person derart leicht zu haben war? Nun ja, da konnte man auch nichts daran machen. Er brauchte Uriel für seinen Plan und da musste er halt in den sauren Apfel beißen. Vielleicht konnte er sich noch ein bisschen Spaß im Bett abholen. Also trat er wieder an Uriel heran, schlang einen Arm um ihn und küsste ihn. Zu seiner Enttäuschung stellte er aber schnell fest, dass dieser nicht mal wirklich Ahnung davon hatte, wie man vernünftig küsste. Der Kerl war wirklich eine hoffnungslose und verzweifelte Jungfrau vom Scheitel bis zur Sohle. Andererseits waren seine bisherigen Beziehungen Lilith und Luzifer gewesen und beide waren ihrerseits wahre Teufel, vor allem im Bett. Da setzte er halt ganz andere Maßstäbe, wenn er jemand anderen verführen wollte. Er ahnte bereits, dass er wohl heute nicht auf seine Kosten kommen würde. Aber andererseits hatte er ja noch Luzifer, bei dem er sich seinen Spaß abholen konnte. Es war ja nicht so als würde er Uriel verführen weil er allen Ernstes dachte, dieser Versager wäre ein guter Liebhaber. So wie er ihn einschätzte, würde der Kerl nicht einmal zwei Minuten mit ihm durchhalten, bevor er schlapp machte. Aber manchmal musste man halt eben Opfer bringen. Solange es ihm bei seinen Eroberungsplänen half, war ihm alles recht. „Wie wäre es, wenn wir zwei unser Gespräch in meinen Gemächern fortsetzen?“ schlug er schließlich vor. „Vielleicht kenne ich ja den einen oder anderen Weg, dir aus deinem Dilemma zu helfen.“ Und damit war es endgültig um Uriel geschehen. Ohne auch nur einen einzigen Zweifel an Samaels Ehrlichkeit zu hegen, folgte er ihm und hatte das Gefühl, als würde sich endlich alles für ihn zum Guten wenden. Kapitel 6: Selig sind die Faulen -------------------------------- Irgendwo nahe der schottischen Grenze lag mitten im Nirgendwo das kleine englische Dorf Hollingsworth. Es war eines jener Art von Orten, an denen man einfach vorbeifuhr und die so weit ab vom Schuss waren, dass selbst Google Maps den Weg nicht mehr finden konnte und einen deshalb direkt zur Umkehr zwang. Ganz zu schweigen davon, dass es rund um Hollingsworth herum weder GPS-Signal noch sonstigen Internetempfang gab und der Ort als Bermuda-Dreieck gestrandeter Autofahrer bekannt war. Da sich aber fast nie jemand hierher verirrte, wusste kaum jemand, dass es das Dorf überhaupt gab. Man brauchte knapp eine Stunde mit dem Auto bis in die nächstgelegene größere Stadt und ansonsten fand man nur endlose Felder und Kuhweiden mit Elektrozäunen vor. Das Spannendste, was sich jemals in diesem verschlafenen Ort ereignete, war lediglich das jährliche Knoblauchfest. Dann liefen die Leute mit Knoblauchkränzen um den Hals und auf dem Kopf umher, aßen allerhand Speisen mit Knoblauch mit knoblauchgewürzten Getränken, dann gab es als Nachspeise Knoblaucheiscreme guter Letzt wurde schließlich die Knoblauchkönigin gekrönt. Das gleiche Prozedere spielte sich dann auf dem Zwiebelfestival ab, das knapp sechs Monate später im gleichen alljährlichen Turnus abgehalten wurde. Während dieser Tage roch es so penetrant in den Häusern und Straßen, dass diese Feierlichkeiten nicht unbedingt für den Tourismusverkehr interessant waren. Außer vielleicht für wahre Knoblauch- und Zwiebelenthusiasten, deren Geruchssinn vor langer Zeit schon abgestumpft war. Ansonsten gab es wirklich nichts in Hollingsworth, das irgendwie besonders war. Es war einer der Orte, wo das aufregendste außerfestliche Ereignis ein Blitzeinschlag in eine Straßenlaterne gewesen war. Ansonsten passierte rein gar nichts und wenn man nicht gerade vor Langeweile starb, konnte man hier ein langes und unbehelligtes Leben führen. Die Einwohnerzahl beschränkte sich auf ein paar einhundert Einwohner, von denen der Großteil schon in die Jahre gekommene Leute waren. Die jungen Leute zog es hingegen in die größeren Städte oder sie wurden vom einfachen und biederen Landleben so sehr vereinnahmt, dass sie schon mit 18 Jahren aussahen, als hätten sie die 30 Jahre längst überschritten. Im Zentrum des Dorfes befand sich die kleine Kirche St. Ignatius, die eine erstaunlich lebhafte Geschichte im Vergleich zum eintönigen Landleben der Gemeinde hatte. Benannt wurde sie nach ihrem Dorfgründer Bischof Ignatius Hollingsworth, der neben seiner Öffentlichkeitsarbeit auch für seine Spielleidenschaft, seine Trunksucht und seinen Hang zu Affären mit verheirateten Frauen bekannt gewesen war. Ganz zu schweigen davon, dass er nie in seinem Leben jemals eine Bibel in der Hand gehabt hatte. Trotz mehrmaliger Exkommunikation hatte er sich immer wieder durch unlauteren Handel seine Position zurückkaufen können. Zudem war auch noch Vetternwirtschaft mit im Spiel gewesen, was ebenfalls so einiges erklärte. Das Ende vom Lied war, dass er so starb wie er gelebt hatte: der Ehemann erwischte ihn in flagranti mit seiner Frau und warf den nackten Bischof daraufhin aus dem Fenster des oberen Stockwerks. Da er der einzige Geistliche in der Gemeinde gewesen war und die Bewohner nicht gerade viel Einfallsreichtum besaßen,was Heilige und Schutzpatrone anbelangte, hatte man den Namen der Kirche belassen wie er war. Und so hatte man wenigstens etwas Interessantes über den Ort zu erzählen. Im Pfarrhaus direkt neben der Kirche St. Ignatius war es friedlich still. Nur wenn man in die obere Etage zu den privaten Wohnräumen hinaufging, konnte man ein gedämpftes Schnarchen aus dem Schlafzimmer vernehmen. Der derzeitige Pfarrer, ein etwas eigenartiger Zeitgenosse den die Bewohner unter dem Namen Marcus Solomon kannten, schlief tief und fest in seinem Bett. Den Wecker, der ihn vor knapp eineinhalb Stunden hätte wecken sollen, hatte er schon längst gegen die Wand geworfen und damit für immer zum Schweigen gebracht. Es war bereits der fünfte Wecker in diesem Monat gewesen und es würden mit großer Wahrscheinlichkeit noch viele weitere folgen, denn der Pfarrer war nicht nur ein wahrer Morgenmuffel. Er hasste es überhaupt, seine Schläfchen zu unterbrechen und konnte zum Tier werden, wenn ihn irgendein Gebimmel aus seinem Traumland riss. Im unteren Stockwerk, wo sich Büro und Archiv befanden, arbeitete gewissenhaft der etwas launische aber absolut treue Haushälter Nathaniel Sutherland und sortierte gerade die Papiere. Für das gewöhnliche Auge war weder an den verschlafenen und faulen Pfarrer Marcus und seinem Haushälter noch wirklich etwas Besonderes. Außer der Tatsache, dass man dem Geistlichen vom Aussehen her eher eine Modelkarriere zugeschrieben hätte und er nicht zu den Fleißigsten unter Gottes Himmel zählte, war er eher unscheinbar. Sah man von den ungewöhnlichen Angewohnheiten des Pfarrers ab, mit einer Schrotflinte auf die Tauben im Dachgebälk im Glockenturm zu schießen, unterschieden weder er noch sein fleißiger Haushälter sich vom Rest der verschlafenen Gemeinde. Sah man jedoch die Dinge durch die Augen eines überirdischen Wesens, dann stellte man fest, dass sich der vermeintliche Haushälter als waschechter Dämon entpuppte. Es stellte sich dann natürlich die berechtigte Frage, was ausgerechnet ein Wesen aus der Hölle in einem Pfarrhaus direkt neben einer Kirche zu suchen hatte und Hausarbeiten für einen Priester erledigte. Dazu musste man wissen, dass selbst der Pfarrer kein Mensch war, sondern es sich um eine einzigartige und auch eigentlich unmögliche Mischung aus Engel und Dämon handelte. Pfarrer Marcus hieß mit wahrem Namen Malachiel und war jener heldenhafte Vermittler zwischen Himmel und Hölle, der die Apokalypse verhindert und die Welt vor dem Untergang bewahrt hatte. Nun fristete er seine Tage als Pfarrer in einem langweiligen Dorf mitten in der Einöde und wenn er nicht gerade mit Faulenzen, Essen, Schlafen und gelegentlichem Arbeiten beschäftigt war, scheuchte er seinen höllischen Haushälter Nazir durch die Gegend. Ein solches Leben war nicht unbedingt das, was man von einem Weltenretter und Helden erwarten würde, aber Tatsache war nun mal, dass Malachiel nicht unbedingt dem Klischee eines Bilderbuchhelden entsprach. Ganz zu schweigen davon, dass er auch keinerlei Interesse daran hatte, ein Held oder überhaupt irgendeine Art Vorbild zu sein. Hätte man ihn nicht quasi dazu genötigt, endlich aus den Federn zu kommen, dann hätte er mit großer Wahrscheinlichkeit die Apokalypse komplett verschlafen. Nazir, der schon seit knapp vier Jahren im Dienste des Halbengels stand, kannte zwar die Faulheit seines Brotherrn zu Genüge, hatte aber nach wie vor wenig Toleranz dafür. Vor allem nicht weil die ganze Arbeit immer an ihm hängen blieb. Da es bereits Mittag war und es immer noch nicht danach aussah, als würde Malachiel endlich mal aufstehen, legte Nazir den Aktenordner mit den Stromabrechnungen in den Schrank, verließ das Büro und ging den Flur entlang und dann schließlich die Treppe hinauf. „Manchmal komme ich mir vor wie sein persönliches Kindermädchen“, seufzte der Dämon und hoffte, dass es nicht schon wieder so verdammt anstrengend werden würde, diesen Arbeitsverweigerer aus dem Bett zu zerren. Diese Art von Leben war nicht unbedingt das, was er erwartet hatte, als er vor vier Jahren vor der Tür des Pfarrhauses gestanden und um Hilfe gebeten hatte. Aber wenn man es recht betrachtete, entsprach bereits sein gesamtes Leben nicht wirklich den allgemeinen Erwartungen. Obwohl Nazir zu den sehr seltenen geborenen Dämonen zählte, war er vom Wesen her nicht unbedingt ein Vorzeigebeispiel seiner Art. Zwar war er für die eine oder andere Untat bereit und besaß ein freches Mundwerk, aber ansonsten war er ein größtenteils ehrlicher und loyaler Charakter. Unter seinesgleichen hatte er sich noch nie zugehörig gefühlt und fühlte sich mehr als unwohl dabei, Menschen zu terrorisieren, Tote zu quälen und irgendwelche abgefahrenen Blutorgien mit Hardcore-Satanisten zu treiben. Aufgrund dessen wurde er meist von den anderen Dämonen verspottet und gequält. Für ihn war klar gewesen, dass er nicht in der Hölle bleiben konnte und dort auch niemals zuhause sein würde. Was aber nun tat ein Dämon, der nicht boshaft genug war und sich in der Hölle nicht zuhause fühlte? Da Nazir die Geschichte von den gefallenen Engeln kannte und wusste, dass Engeln zu Dämonen werden konnten, war er der festen Überzeugung gewesen, dass es doch auch irgendwie möglich sein musste, aus einem Dämon einen Engel zu machen. Da ein Zutritt zum Himmel für ihn unmöglich war und kein Engel ihm über den Weg traute, hatte er sich stattdessen an Malachiel gewandt, der ja selbst halb Engel und halb Dämon war. Dieser war wenig begeistert von der Idee gewesen, jemanden bei sich aufzunehmen und meinte daraufhin, dass es nur eine verdammte Plagerei werden würde. Außerdem seien Engel eh alles nur scheinheilige Spatzenhirne und komplett überbewertet. Nazir, der felsenfest von seinem Vorhaben überzeugt war, hatte ihn daraufhin regelrecht angefleht und sogar angeboten, sein Diener zu werden. Zwar war Malachiel immer noch nicht begeistert von der Idee gewesen, hatte dann aber klein bei gegeben und ihm Arbeit als Haushälter gegeben. Obwohl er Nazir ausdrücklich gesagt hatte, er würde mit dem ganzen Diener-Quatsch gar nicht erst anfangen weil das zu viel Verantwortung für ihn bedeutete, sprach ihn der Dämon fortan mit „Meister“ an. Nazir erledigte pflichtbewusst, aber nicht ohne regelmäßig seinen Unmut kundzutun, alle Arbeiten die ihm aufgetragen wurden. Viele einfache Dinge wie zum Beispiel Kochen oder Putzen musste man ihm erst beibringen, da er die Hölle nie verlassen hatte und diese menschlichen Tätigkeiten ihm vollkommen fremd waren. Inzwischen war er so geübt darin, dass er auch die Buchhaltung machte, Reparaturen im Haus erledigte und regelmäßig seinen Herrn davon abhielt, auf die Tauben zu schießen und damit schon wieder das Dach im Glockenturm zu zerlöchern. Doch Malachiel unterrichtete ihn nicht nur darin, wie man alltägliche Arbeiten erledigte, vernünftig mit Menschen sprach und sich auch selbst wie ein gewöhnlicher Mensch verhielt. Er nahm seine Aufgabe als Lehrer erstaunlich ernst und unterrichtete Nazir geduldig in allem, was ein Engel wissen und können musste. Dabei hatte dieser eines gewaltig unterschätzt: Dämonen waren nicht wirklich für Gebete und heilige Aufgaben gemacht. Wann immer er versuchte die Bibel zu lesen, bekam er Migräne und bei jedem Versuch, das Vaterunser zustande zu bringen, wurde ihm kotzübel. Jedes Mal, wenn er die Kirche betrat, verbrannte er sich die Fußsohlen und vom Weihrauch bekam er einen heftigen Asthmaanfall. Doch so leicht wollte er nicht aufgeben und übte jeden Tag gewissenhaft weiter. Und tatsächlich machte er bereits sichtbare Fortschritte. Zwar bekam er immer noch Kopfschmerzen bei seinen Bibelstudien, aber zumindest schaffte er das Ave Maria und das Vaterunser, ohne den Fußboden vollzukotzen. Selbst die Kirche konnte er schon problemlos betreten, aber ans Weihwasser wagte er sich lieber noch nicht heran. Und Malachiel, der sonst für alles und jeden ein böses Wort übrig hatte, war überaus geduldig mit ihm und schimpfe ihn kein einziges Mal aus, wenn Nazir sich nach seinen Gebeten übergeben musste. Wenn es dem Dämon nach seinen täglichen Studien so schlecht ging, dass er nicht einmal mehr aufstehen konnte, kümmerte sich Malachiel um ihn bis er wieder bei Kräften war und beschwerte sich währenddessen kein einziges Mal über die Arbeit. Stattdessen riet er seinem Schüler und Haushälter nur, nichts zu überstürzen und ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um wieder gesund zu werden. Tief drin mochte ihn dieser griesgrämige Zyniker, da war sich der Dämon sicher. Trotzdem würde er so einiges dafür geben, um ihm wenigstens die Faulheit austreiben zu können. Als er die Schlafzimmertür öffnete, fand er seinen Herrn wie erwartet schnarchend im Bett liegend vor und nicht weit vom Nachtschrank entfernt die Bruchteile des zerstörten Weckers auf dem Boden. Nicht schon wieder…, dachte sich der Dämon, seufzte leise und gedanklich setzte er einen neuen Wecker auf seine Einkaufsliste. „Meister, wacht jetzt mal endlich auf! Ihr habt schon lange genug gepennt.“ Da keine Reaktion folgte und selig weitergeschnarcht wurde, rüttelte ihn der Dämon erst kräftig durch und als das auch nichts brachte, entschied er sich für die harte Tour und verpasste dem Schlafenden einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf. „Ich sagte, es ist Zeit zum Aufstehen!“ Ein verschlafenes Grummeln kam zur Antwort und blinzelnd öffnete Malachiel seine Augen. Sein äußeres Erscheinungsbild entsprach fast vollständig dem eines Engels. Er hatte ein junges und schönes Gesicht mit aschblonden Locken, die ihm aber gerade komplett zerzaust ins Gesicht fielen. Seine Augen jedoch waren eindeutig die eines Dämons. Für einfache Menschen hatten sie eine unauffällige dunkle Farbe, aber für Tiere und überirdische Wesen waren sie blutrot und ein Feuer loderte in den Pupillen. Hinzu kam, dass seine Augen stets von dunklen Schatten umrandet waren, die ihm ein düsteres und fast schon bedrohliches Aussehen gaben. Wenn man ihn von weitem sah, verwechselte man ihn schnell mit einem zwielichtigen Bandenmitglied oder sogar einem Serienmörder. Ob es mit seiner halbdämonischen Natur zusammenhing, konnte keiner so wirklich sagen. Er selbst behauptete, es seien bloß Augenringe die vom Schlafmangel herrührten. Dabei schlief er doch jeden Tag mehr als zehn Stunden und hielt obendrein auch noch Mittagsschläfchen. „Musst du mich denn so früh wecken, Nazir?“ murmelte er im Halbschlaf und drehte sich zur anderen Seite um, da er nicht die geringste Lust verspürte, die Behaglichkeit seines warmen Bettes zu verlassen. „Heute ist mein freier Tag, also lass mich weiterschlafen…“ „Nichts da“, erwiderte sein Haushälter streng und zog ihm mit einem kräftigen Ruck die Decke weg. „Ihr müsst noch die Andacht für morgen Abend vorbereiten, um die Taufrede für die Tochter der McKilligans habt Ihr Euch auch noch nicht gekümmert und das Gleiche gilt für die Beerdigung für Mr. Crawford. Und am Sonntag müsst Ihr eine Hochzeitszeremonie abhalten.“ „Ach sollen die Toten doch ihre Toten begraben“, murmelte der Schlaftrunkene in sein Kissen hinein und regte sich immer noch kein Stückchen. Eines musste man ihm jedenfalls lassen: er war störrischer als ein Esel. „Was die Andacht angeht: such dir doch irgendeine Rede aus dem Archiv raus, die dir gefällt. Ist doch sowieso immer derselbe Mist, der gepredigt wird. Und die Leute merken’s eh nicht, wenn man denen den gleichen Quatsch noch mal erzählt. Kannst es ja auch so mit der Taufrede machen.“ Doch so leicht wollte sich der Dämon nicht abspeisen lassen und begann nun damit, den faulen Pseudo-Pfarrer gewaltsam an den Füßen aus dem Bett zu zerren. Jeden einzelnen verdammten Tag mussten sie diese Kindergartenroutine abziehen und bis heute hatte dieser faule Sack nicht gelernt, dass Widerstand zwecklos war. Es war ja schon traurig genug, dass dieses unschuldige Bauernkaff mit einem stinkfaulen Priester gestraft war, der ständig über alles schimpfen und lästern musste. Aber es war wirklich erbärmlich, dass besagter Priester sich von einem Dämon zur Arbeit zwingen lassen musste. Wo gab es denn bitteschön so etwas?! „Jetzt stellt Euch gefälligst nicht so an und bewegt mal Euren Arsch aus dem Bett. Es kann doch wohl nicht angehen, dass ich Euch jeden verdammten Tag gewaltsam aufwecken muss.“ „Da kennst du mich offensichtlich nicht gut genug“, erwiderte der Halbengel trotzig. „Wenn ich will, kann ich das bis in alle Ewigkeit so weitermachen.“ Damit war der Bogen endgültig überspannt und Nazir ging zu seinem letzten Mittel über. Mit einem kräftigen Tritt in die Nieren schaffte er es endlich, seinen arbeitsscheuen Brotherrn endlich zum Aufstehen zu bewegen und kassierte sogleich einen finsteren Blick als dieser sich aufrappelte. „Das war jetzt wirklich unnötig…“, knurrte Malachiel missmutig und presste sich die Hand gegen seine schmerzende Seite. „Konntest du nicht wenigstens woanders hinzielen, wo es weniger wehtut?“ „Diese Kinderei mit Euch ist unnötig“, gab Nazir unbeeindruckt zurück und ging zur Tür. „Ich gehe uns einen Kaffee kochen und Ihr macht Euch in der Zwischenzeit fertig. Wir haben bereits elf Uhr und es gibt noch einiges aufzuholen.“ „Elf Uhr?“ fragte Malachiel fassungslos und seufzte wehleidig. „Willst du mich etwa umbringen?“ „Jetzt stellt Euch gefälligst mal nicht so an“, gab der teuflische Haushälter genervt zurück. „Dämonen und Engel brauchen doch eigentlich gar keinen Schlaf. Was Ihr da treibt, ist bloße Zeitvergeudung weil Ihr einfach zu faul für alles seid!“ Nazir ging zwei Räume weiter den Gang runter in die Küche und begann Kaffee aufzusetzen. Er verstand nicht wirklich, was eigentlich so toll daran war, so viel zu schlafen. Dass die Menschen und Tiere es zum Leben brauchten, war ihm soweit klar. Gleiches verhielt sich mit Essen und Trinken. Aber Engel und Dämonen tickten da etwas anders. Da sie nicht den gleichen irdischen Gesetzen unterworfen war, konnten sie problemlos die Ewigkeit ohne all diesen ganzen Quatsch auskommen. Aber da die Ewigkeit nun mal verdammt langweilig und eintönig sein konnte, hatten sie sich nach und nach die Gewohnheiten der Menschen abgekupfert. Irgendwann war es plötzlich total angesagt, exklusive Speisen zu essen, hochwertige Weine zu trinken und stundenlang zu schlafen. Es galt gewissermaßen als eine Art Statussymbol und wurde schließlich allgemein zum Trend. Was Essen und Trinken anbetraf, hatte Nazir noch gewissermaßen Verständnis dafür, warum immer mehr Engel und Dämonen mit diesen Gewohnheiten anfingen. Die Menschen waren schließlich kreativ und hatten einen wirklich erlesenen Geschmack. Außerdem war es bei weitem besser als der Fraß, den er in der Hölle vorgesetzt bekommen hatte. Aber ans Schlafen hatte er sich nie gewöhnen können. Für ihn war es als Dämon die wohl schwachsinnigste und unnötigste Tätigkeit von allen. Also verbrachte er die Nächte damit, Arbeiten im Haus oder in der Kirche zu erledigen, seine Studien fortzusetzen oder er bildete sich anderweitig fort. Malachiel war jedoch ganz anders gestrickt. Er machte sich nicht viel aus Speisen und Getränke und lebte sehr schlicht. Alles, was in irgendeiner Art und Weise Arbeit oder Anstrengung bedeutete, mied er wie die Pest und vom Schlafen schien er regelrecht besessen zu sein. Manchmal war es echt eine Qual mit ihm und nicht selten trieb dieser Kerl ihn zum Wahnsinn. Ein paar Minuten später kam Malachiel schlurfend in die Küche und setzte sich mit einem lauten Gähnen an den Tisch. Die Tageszeitung würdigte er kaum eines Blickes und erst als Nazir ihm eine Tasse extrastarken Kaffee mit Milch und Zucker reichte, schienen seine Lebensgeister wieder ein wenig zurückzukehren. Der Dämon setzte sich nun ebenfalls, trank seinen Kaffee aber lieber schwarz. „Mal ganz im Ernst, Meister. Ich begreife immer noch nicht, warum Ihr immer so exzessiv schlafen müsst. Was sollen denn bitte die Leute denken, wenn ihr Pfarrer ein fauler Sack ist, der nicht mal an das glaubt, was er selber predigt.“ „Besser ein ehrliches Arschloch als ein sympathischer Heuchler“, entgegnete der Halbengel trocken und trank seine Tasse Kaffee in gerade mal einem Zug aus. Es hatte schon seine Vorteile, teils Dämon zu sein: man war gegen alle Arten von Hitze unempfindlich. „Und mir ist es egal, ob die Leute mich mögen oder nicht. Ich mag sie genauso wenig wie sie mich. Wenn sie mit meiner Art nicht klar kommen, ist es ihr Pech.“ „Man kann aber wenigstens ein bisschen mehr Anstand bei den Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen zeigen. Immerhin darf ich mich mit den ganzen Beschwerden herumplagen, weil Ihr mal wieder Euer Lästermaul nicht halten konntet!“ „Die Wahrheit tut eben weh“, entgegnete der Pseudo-Pfarrer schulterzuckend und hielt Nazir seine leere Tasse hin um noch etwas Kaffee zu bekommen. Da dieser aber immer noch nachtragend wegen der Schlafzimmergeschichte war, rührte sich dieser kein Stückchen. Also musste er selbst aufstehen und sich welchen holen gehen. „Beerdigungen sind doch nichts weiter als reinste Heuchelei. Kaum ist jemand tot, wird er so in den Himmel gepriesen als wäre er ein Heiliger gewesen und jeder hat längst vergessen, dass er ein Arschloch war. Die Leute reden sich ein, diese ganzen Feierlichkeiten wären für die Verstorbenen, aber dabei sind diese allein für die Trauergäste bestimmt, damit diese ihr schlechtes Gewissen beruhigen und sich besser fühlen können. Was die Taufen angeht: wenn Eltern ihr Kind allen Ernstes Tesla Maybelline Beretta nennen, hätten sie besser gleich kinderlos bleiben sollen. Und Hochzeiten sind die größte Farce seit dem Ablassbriefskandal. Man schwört, sich bis zum Tode treu zu bleiben und für einander da zu sein, aber dabei bleiben sie sich nur solange treu bis dass der Anwalt sie scheidet.“ „Dann hättet Ihr Euch eben nicht Pfarrer als Beruf aussuchen sollen“, entgegnete Nazir, wobei er aber zähneknirschend zugeben musste, dass sein Herr nicht ganz Unrecht hatte. Trotzdem verdiente selbst die kleine Tesla Maybelline Beretta McKilligan eine anständige Taufzeremonie. Es war ja nicht ihre Schuld, dass ihre Eltern einen grausigen Geschmack hatten, was die Namensgebung betraf. „Ich dachte halt, dass der Beruf einfach und anspruchslos sei“, gab Malachiel zerknirscht zu und schnappte sich einen Apfel, der in einer Obstschale lag. Mit Kaffee und einem etwas mageren Frühstück ging er wieder an seinen Platz zurück. „Ist doch immer der gleiche Sermon, der wöchentlich gepredigt wird. Man braucht einfach nur die Namen auszutauschen und keine Sau merkt den Unterschied. Außerdem haben wir nur zwei Testamente, also ist das Material ziemlich überschaubar. Hätte ja nicht ahnen können, dass ich den ganzen anderen Scheiß auch noch mitmachen muss.“ „Selbst schuld“, kommentierte Nazir unbeeindruckt. „Ein bisschen mehr Arbeitseifer stünde Euch ganz gut zu Gesicht.“ „Nö, lass mal lieber. Mit meinem Gesicht bin ich soweit ganz gut zufrieden.“ Nachdem er seinen Kaffee wieder in wenigen Zügen geleert hatte, begann Malachiel genüsslich seinen Apfel zu essen und scherte sich offenbar keinen Deut darum, wie sehr er seinen Haushälter mit seinem Verhalten und seiner Ignoranz in den Wahnsinn trieb. Es war schon ein etwas merkwürdiges Bild wenn selbst ein vollblütiger Dämon mehr von Moral und Anstand hielt als ein Halbengel, der sich als Priester tarnte. Gerade wollte er etwas erwidern, hielt dann aber inne als er etwas spürte. Ein wohliges Kribbeln ging durch seinen gesamten Körper und ihm war, als würde ihn eine Art unsichtbares Licht durchströmen. Sofort hielt er inne und runzelte verwirrt die Stirn. Wenn Dämonen wie er so etwas verspürten, bedeutete dies in der Regel nur eines. „Meister… spürt Ihr das auch?“ Wortlos hob Malachiel den Kopf und kaute bedächtig auf seinem Apfelstück herum. „Scheint so als kriegen wir Besuch von oben“, murmelte er nachdenklich. „Nazir, würdest du dich bitte gleich auf den Weg machen und nach dem Rechten sehen? Wenn jemand von oben oder unten herkommt, kann es nur bedeuten, dass wir alle mal wieder so richtig tief in der Scheiße stecken.“ Kapitel 7: Verdammtes Karma --------------------------- Michael biss die Zähne zusammen und versuchte sein Möglichstes, um aufzustehen und den stechenden Schmerz zwischen seinen Beinen zu ignorieren. Doch jeder Versuch, sein Körpergewicht auf seine Beine zu verlagern und sich aufzurichten, resultierte darin, dass seine Muskeln den Dienst versagten und er stöhnend wie ein Mehlsack wieder zu Boden plumpste. Nie im Leben hätte er gedacht, dass Gabriel ihn einmal derart hart erwischen würde und dann auch noch so unfair spielen musste. So wie sich die Verletzung anfühlte, war es nicht bloß eine harmlose Blessur, die schnell wieder verheilt war. Im schlimmsten Fall würde er dringend einen Heiler brauchen, um sich von dieser Abreibung zu erholen. Warum auch hatte ihm dieser Dreckskerl ausgerechnet eine Kopfnuss in die Eier verpassen müssen? Allein bei dem Gedanken, dass ihn jemand in diesem Zustand sah oder erfuhr, was sich genau zugetragen hatte, war so demütigend. Am liebsten wäre er vor Scham gestorben und hätte Gabriel gleich mit ins Grab genommen. Die Tür zur Versammlungshalle ging auf und er hörte Schritte näher kommen. Er versuchte seinen Kopf ein wenig zu heben um wenigstens sehen zu können, wer da gerade hereingekommen war. Seine Laune besserte es nicht unbedingt als er feststellen musste, dass es sich um Raphael handelte. Zwar kam dieser genau richtig, aber da dieser ein abgebrühter Gauner war, ahnte Michael, dass es mit ihm noch ein böses Ende nehmen konnte. Der dritte Erzengel belächelte den Verwundeten mit einem amüsierten Schmunzeln und hob ungläubig eine Augenbraue. „Na? Hat Gabriel dir einen Schlag in die Kronjuwelen verpasst?“ „Eine Kopfnuss hat er mir verpasst“, korrigierte Michael ihn zerknirscht und errötete vor Scham. Noch nie in seinem langen Leben war er dermaßen erniedrigt und bloßgestellt worden. „Warum hat mir keiner gesagt, dass dieser Bastard einen Schädel aus Stahl hat?“ „Irgendwie muss er ja seinen metaphorischen Dickkopf kompensieren“, kommentierte Raphael schulterzuckend und blieb direkt vor dem Verletzten stehen, machte aber keinerlei Anstalten, ihm in seiner misslichen Lage zu helfen. Stattdessen steckte er seelenruhig die Hände in die Hosentaschen und sah aus, als hätte er sonst keinerlei Sorgen auf dieser Welt und als kümmere ihn das Leid seines Kameraden kein Stückchen. Das brachte den außer Gefecht gesetzten Kriegsengel umso mehr auf die Palme. Es reichte schon wenn Gabriel ihn derart erniedrigen musste. Da hatte er nicht unbedingt Lust dazu, dass Raphael auch noch mal kräftig nachtrat. „Willst du mir denn gar nicht helfen, Raphael? Siehst du denn nicht, dass ich hier leide?“ Doch der Heiler nahm unbeeindruckt seine Brille ab und begann seelenruhig und vollkommen gleichgültig die Gläser zu putzen. Streng genommen brauchte er eigentlich gar keine Brille, weil alle Engel und Dämonen weitaus besser sehen konnten als Menschen und Tiere. Aber da es ja hieß, dass man mit diesen Sehhilfen gebildeter aussah, hatte Raphael bei einer seiner Touren auf die Erde einen Besuch beim Optiker abgestattet. Auch sonst war er recht eitel was sein Erscheinungsbild betraf. Sein brünettes Haar hatte er stets zurückgekämmt und er trug maßgeschneiderte italienische Anzüge, die ein wahres Vermögen kosteten. Selbst an seinem rechten Handgelenk blinkte eine Rolex. Mit diesen Reichtümern konnten die Engel überhaupt nichts anfangen, aber solange es Eindruck bei den Menschen schaffte, reichte ihm das alle Male. Er genoss das Gefühl von Reichtum und Wohlstand, alles andere spielte für ihn keine sonderlich große Rolle. Und er machte auch kein Geheimnis daraus, dass er ein schamloser Geschäftsmann war, der genau wusste, wann und wie er seine Vorteile ausspielen konnte. Diese Situation, in der Michael am Boden lag und dringend eine heilende Hand benötigte, war einer dieser Momente, in denen der Geschäftsmann in Raphael erbarmungslos zuschlug. „Selbst schuld, wenn du Gabriel mit der Mädchen-Tour derart provozieren musstest. Weißt du wie die Menschen so etwas nennen? Karma!“ „Ich verpass dir gleich ein Karma, wenn du mir nicht endlich mal hilfst!“ wetterte Michael wütend und war nun richtig sauer. Er hatte weitaus besseres zu tun, als die ganze Zeit schmerzgekrümmt auf dem Boden zu liegen und sich von diesem arroganten Gauner noch eine Sekunde länger so vorführen zu lassen. „Und überhaupt: dieser verdammte Bastard hat angefangen. Ich war nicht derjenige, der hier mit Stühlen um sich schmeißt und sich ständig prügeln muss.“ „Da spricht nur der verletzte Stolz aus dir. Außerdem ist Gabriel nicht derjenige mit den zerschmetterten Hoden. Aber ich bin ja nicht vollkommen gefühllos und helfe dir natürlich. Die Frage ist nur: wie viel sind dir deine Kronjuwelen wert?“ Michael ahnte, worauf das hinauslief und wollte aufspringen und Raphael am Kragen packen, doch er scheiterte an seinen höllischen Schmerzen und war wie paralysiert. Er war vollkommen wehrlos und dieser hinterhältigen Schlange hilflos ausgeliefert. Das machte ihn nur noch umso rasender und am liebsten hätte er Raphael eigenhändig erwürgt und dann im Anschluss Gabriel eine Kostprobe seiner eigenen Medizin gegeben. Mal sehen wie es dem wohl schmeckte, wenn man ihm die Eier zertrümmerte. „Das kann doch wohl nicht wirklich dein Ernst sein. Ich bring dich um, du raffgieriger Dreckskerl…“ „Ich kann dich auch gerne hier liegen lassen, wenn du willst“, bot der hinterhältige Heiler an und wusste genau, dass es vollkommen ausgeschlossen war, dass Michael so leicht wieder aus eigener Kraft aufstehen konnte. Der Kriegsengel fühlte sich gedemütigt und vorgeführt. So eine Behandlung hatte er als Held des Himmels garantiert nicht verdient. Er war es doch gewesen, der Satan und seine Engel aus dem Himmel vertrieben hatte und über die Seelen der Verstorbenen richtete. Warum nur wurde er immer so behandelt? Es war ihm einfach unbegreiflich. Allerdings brachte es auch nichts, weiterhin nur herumzujammern und seine Kollegen zu verfluchen. Davon wurden die Schmerzen seiner Verletzung und seines gekränkten Stolzes auch nicht besser. Also seufzte er geschlagen und fragte nur „Was willst du dafür haben?“ Raphael dachte einen Moment lang nach, denn eine solche Gelegenheit wollte er definitiv nicht ungenutzt lassen. Wenn schon, dann sollte sich das auch wirklich lohnen. Aber andererseits wäre es auch unfair, Michael bis auf sein letztes Hemd auszuziehen. Immerhin hatte er ja noch so etwas wie Anstand. Wenn schon, dann sollte die Bezahlung auch fair sein, zumindest „fair“ in seinem Sinne. Allerdings war er auch der Ansicht, dass dem selbsternannten Anführer aller Erzengel und großen Drachenbezwinger ein bisschen mehr Demut ganz gut stand. Immerhin war es Michael, der ständig mit seinem arroganten Gehabe und seiner Elitementalität die anderen provozierte und jeden gegen sich aufbrachte. Allerdings war der Kerl auch nicht intelligent genug um zu merken, was er da eigentlich tat. Man konnte ihm zwar sagen, dass er mal besser nachdenken sollte, allerdings war es in seinem Fall so als würde man versuchen, eine Lampe einzuschalten: wenn keine Birne drin war, würde sie auch nicht leuchten. Da also Belehrungen und freundliche Worte nicht halfen, musste er es eben auf die harte Tour lernen. Diese Abreibung und die Demütigung hatte er jedenfalls verdient, da war Raphael fest überzeugt davon. Aber er hatte auch keine Lust, länger darüber nachzudenken und kam gleich zum Geschäftlichen. „Soweit ich weiß, bist du im Besitz eines Siegelrings, den dir Gott für deinen Sieg über Satan verliehen hat“, begann er mit seiner Ausführung. „Er privilegiert dich dazu, mächtige Wunder zu bewirken, die wir für gewöhnlich nicht einfach so ohne lästigen Papierkram genehmigt bekommen. Leih ihn mir für ein paar Tage und ich flicke dir dafür deine geplatzten Hoden. Keine Sorge, den Ring kriegst du zurück und ich mach dir keine Schwierigkeiten damit. Ich will bloß ein paar Besorgungen auf der Erde machen und hab keine Lust, vorher diesen ganzen Bürokratiewahnsinn über mich ergehen zu lassen.“ Da Michael kaum eine andere Wahl blieb, ging er auf den Deal ein und nahm den goldenen Siegelring von seinem rechten Ringfinger und reichte ihn an Raphael weiter. Dieser steckte ihn zufrieden an seinen eigenen Finger und mit einer kurzen Handbewegung heilte er den Kriegsengel von all seinen Verletzungen. Nachdem der Schmerz nun endlich verschwunden war, rappelte sich der erste Erzengel wieder auf und war sichtlich verärgert über die Gesamtsituation. Nicht nur, dass er auf derart demütigende Weise besiegt worden war, er war obendrein auch noch schamlos abgezockt worden. Hatte denn niemand mehr Respekt vor ihm? Und an allem war nur dieser verdammte Gabriel schuld. „Jetzt reicht es endgültig…“, knurrte Michael wütend und stapfte in Richtung Tür. Er hatte Blut geleckt und wollte eine ganz bestimmte Person für diese Erniedrigung büßen lassen. So leicht ließ er sich nicht vorführen und zum Gespött machen. „Ich reiß diesem verdammten Bastard den Arm ab und ramme ihm diesen so tief in den Arsch rein, dass er sich von innen den Hals kratzen kann!“ Raphael, der zugegebenermaßen erstaunt und zugleich auch ein wenig verstört über Michaels Kreativität bezüglich seiner Rachegedanken war, überlegte für einen Augenblick, ob er einschreiten sollte. Einerseits ging ihm diese dämliche Zankerei nichts an und er hatte auch keine Lust, zwischen die Fronten zu geraten. Andererseits wollte er auch nicht riskieren, dass Michael sich am Ende noch zu irgendeiner Dummheit hinreißen ließ und der Streit endgültig eskalierte. Zwar war Gabriel durchaus in der Lage, sich gegen seinen Rivalen zu behaupten, aber nach der heutigen Auseinandersetzung waren sie beide bereits ziemlich angeschlagen und da konnte schnell etwas ins Auge gehen. Und obwohl er eher neutral eingestellt war, hatte der Heiler nicht unbedingt Lust dazu, das Blutbad hinterher beseitigen zu müssen. Also beschloss Raphael, lieber die Vernunft walten zu lassen und wenigstens dieses eine Mal einzugreifen. „Lass es lieber für heute sein, Michael. Ihr habt euch heute schon genug die Köpfe eingeschlagen. Komm erst mal wieder runter und morgen sehen wir dann weiter. Du hast dich gerade erst von deinen zertrümmerten Kronjuwelen erholt! Willst du da unbedingt einen Nachschlag haben?“ Dieses Argument überzeugte Michael, dieses Mal besser auf seinen Kollegen zu hören und so schluckte er seinen Ärger fürs Erste hinunter. Als er gerade die Halle mit Raphael zusammen verlassen wollte, wurde die Tür regelrecht aufgestoßen und hätte den Kriegsengel fast am Kopf erwischt, wäre er nicht rechtzeitig aus der Gefahrenzone gezerrt worden. Herein trat niemand anderes als Sandalphon, dessen schrille und farbenfrohe Erscheinung die beiden so überraschte, dass sie einen Augenblick wie erstarrt waren. „Na ihr zwei Hübschen? Wo ist denn der Rest von euch?“ Es fiel den beiden Erzengeln bis heute noch schwer zu glauben, dass diese knallbunte Drag-Queen mit jemandem wie Metatron verwandt war. Nun gut, fast niemand hatte ihn jemals ohne sein Makeup und seine Perücken und Kostüme gesehen und dementsprechend war es auch schwer zu sagen, inwiefern sich die beiden überhaupt ähnlich sahen. Allerdings waren sie auch sonst charakteristisch so unterschiedlich, dass man meinen konnte, Metatron wäre der jüngere von beiden, dem einfach noch der Mut fehlte, genauso aus der Reihe zu tanzen wie Sandalphon. Und da der Himmel eher etwas konservativ eingestellt war, gab es außer Sandalphon so gut wie niemanden, der sich genauso kleidete. Michael war der Erste, der sich wieder sammelte und antworten konnte. „Die anderen sind gegangen. Gabriel ist mit Luzifer weg, Uriel ist schon vorher abgehauen und Metatron wollte mit Gott reden gehen.“ „Aha“, murmelte der Cherub und nickte bedächtig, wobei die kleinen Strasssteinchen, die er sich um die Augen herum geklebt hatte, hell im Licht glitzerten. „Gut, dann weiß ich Bescheid. Metatron hat mir übrigens aufgetragen, euch allen Bescheid zu sagen, dass er zur Erde hinabgereist ist. Offenbar hat Gott ihm aufgetragen, Malachiel um Hilfe zu bitten. Solange mein Bruder also nicht da ist, wendet ihr euch bei dringenden Angelegenheiten bitte an mich.“ „Okay“, antworteten die beiden Erzengel einstimmig und Sandalphon nahm ihnen das Versprechen ab, dass sie die anderen informieren würden, wenn sie ihnen über den Weg liefen. Da der Cherub noch einiges zu tun hatte, ging er wieder von dannen, während Raphael beschloss, noch ein wenig bei Michael zu bleiben und sicherzustellen. Er hielt es für sicherer, wenn er ihm noch etwas im Auge behielt und sicherstellte, dass der nicht auf die dumme Idee kam, doch noch zu Gabriel zu gehen und einen neuen Streit vom Zaun zu brechen. Für heute hatte er weiß Gott genug Stress mit seinen Kollegen gehabt. Der Tag neigte sich dem Ende zu und als die Sonne allmählich unterging, schlich sich Luzifer unerkannt durch die Gänge und Korridore, bis er endlich Samaels Gemächer erreichte. Er hoffte, dass dieser inzwischen mit seiner Verführungsnummer soweit fertig war und ein bisschen Zeit für ihn erübrigen konnte. Um sicherzustellen, dass er nicht störte, machte er sein geheimes Klopfzeichen, durch das sein Liebster sofort hören konnte, wer ihn sprechen wollte. Ein knappes „Herein!“ kam vom anderen Ende der Tür und Luzifer trat ein. Der Anblick, der sich ihm bot, war nicht unbedingt etwas, das er erwartet hätte. Überall lagen leere Weinflaschen auf dem Boden herum und Samael saß sturzbetrunken mit einem bis an den Rand gefülltem Weinglas in der rechten Hand und mit einer angebrochenen Flasche in der anderen auf dem Bett und wankte dabei ein wenig. Nur ein Wunder sorgte dafür, dass der Wein nicht aus dem Glas tropfte. Dem blinden Seraph war deutlich anzusehen, dass er extrem gefrustet war und seine schlechten Erinnerungen mit Alkohol zu ertränken versuchte. Sein Haar war völlig zerzaust, seine Kleidung zerknittert und wäre er nicht blind gewesen, hätte sein Blick töten können. In so einem Zustand hatte der gefallene Engel ihn noch nie gesehen. „Ach du Scheiße, was ist denn mit dir passiert, Samael? Sag bloß, deine Verführungstaktiken sind schiefgelaufen.“ Der Todesengel gab einen Laut von sich, der entfernt an ein sterbendes Walross erinnerte und kippte fast zurück. Im letzten Moment fing er sich aber wieder und hob sein gefülltes Glas als wolle er einen Schluck trinken. Dann aber überlegte er es sich anders und trank stattdessen einfach direkt aus der Flasche. Luzifer war zutiefst erschüttert, den sonst so stolzen und charismatischen Seraph in einem derart erbärmlichen Zustand zu sehen. Was in Satans Namen war bloß passiert? „Von wegen schief gelaufen“, erwiderte Samael verbittert. „Es hat zu gut funktioniert, verdammig noch eins.“ Etwas irritiert runzelte der Lichtbringer die Stirn und setzte sich zu ihm, wobei er ihm vorsichtig das Weinglas abnahm. Er ahnte nämlich, dass es nicht unbedingt ratsam war, es in Samaels Hand zu lassen. Außerdem konnte er selbst auch einen Schluck Wein ganz gut vertragen. „Das musst du mir jetzt mal genauer erklären. Habt ihr miteinander geschlafen?“ Samael verzog die Mundwinkel zu einer schiefen Grimasse und ließ ein frustriertes Knurren von sich hören, das nun nicht mehr nach einem halbtoten Walross, sondern eher nach einem Bären in der Paarungszeit klang. Dabei knirschte er mit den Zähnen und eine Ader trat an seiner Schläfe hervor. „Es war schon vorbei gewesen, bevor es überhaupt angefangen hat“, rief der Engel wütend und trank noch einen Schluck aus der Flasche. „Eine Minute… eine gottverdammte Minute hat’s gedauert, bis er fertig war. Hätte ich gewusst, dass er schon zum Schuss kommt, bevor er ihn überhaupt reingesteckt hat, dann hätte ich mich schon vorher betrunken.“ „Und warum hat’s dann trotzdem so lange gedauert?“ „Na weil er plötzlich angefangen hat, wie ein kleines Mädchen rumzuheulen und dann hat er mir seine ganze verfickte Lebensgeschichte runtergeleiert als wäre ich sein scheiß Therapeut. Ich stand kurz davor, mich mit einem rostigen Suppenlöffel zu lobotomieren! Das war ja schlimmer als der siebte Kreis der Hölle.“ Luzifer musste amüsiert schnauben als er sich das Ganze bildhaft vorstellte und war insgeheim auch erleichtert, dass es dermaßen beschissen für seinen Liebsten gelaufen war. Zwar waren offene Beziehungen und wechselnde Partner so ziemlich die Norm in der Hölle, aber da er selbst mal ein Engel gewesen war, gefiel ihm der Gedanke nicht so wirklich, Samael mit anderen teilen zu müssen. In der Hinsicht war er dann doch etwas konservativer gestrickt. Selbst wenn er wusste, dass so eine Flasche wie Uriel nicht die geringsten Chancen gegen ihn hatte, gefiel ihm allein schon das Bild nicht, dass dieser Schlappschwanz mit Samael schlief. „Also war das letzten Endes ein Schuss in den Ofen?“ hakte Luzifer nach und leerte das Weinglas in wenigen Zügen. „Nee, der frisst mir komplett aus der Hand“, widersprach ihm Samael kopfschüttelnd. Doch diese Bewegung sorgte nur dafür, dass sein Gleichgewichtsinn noch mehr außer Kontrolle geriet und er nun endgültig mit dem Oberkörper zurück aufs Bett fiel. Hastig griff der Höllenfürst nach der Flasche, damit der Wein nicht das Bettlaken versaute. Seinen Liebhaber schien das aber nicht sonderlich zu stören und er grummelte missmutig „Aber hätte ich gewusst, dass es so einfach wäre, hätte ich mir den ganzen Aufwand auch gleich sparen können.“ Luzifer, der Samael zum allerersten Mal so erlebte, war sich unschlüssig, was er tun sollte und beließ es bei einem aufmunternden Schulterklopfer. „Mach dir nichts draus. Passiert selbst den Besten…“ Samael ließ diesen Satz unkommentiert, aber wahrscheinlich war er auch einfach viel zu betrunken dazu. Der gefallene Engel half seinem Liebsten, sich wieder vernünftig aufzusetzen und legte einen Arm um dessen Schultern, damit dieser nicht wieder umkippte. Der Betrunkene öffnete den Mund und versuchte etwas zu sagen, doch an dieser Stelle ließ ihn die Motorik endgültig im Stich und seine Zunge schaffte es nicht mehr, irgendwelche vernünftigen Silben zu formen. Da Luzifer mit diesem unverständlichen Kauderwelsch nichts mehr anfangen konnte, beschloss der Todesengel, sich wieder ein bisschen auszunüchtern und senkte daraufhin den Alkoholpegel in seinem Blut. Engel und Dämonen konnten betrunken werden und sich auch ganz gewöhnliche Verletzungen zuziehen. Das brachte den großen Nachteil mit sich, dass vor allem ein Ausflug auf die Erde mit allerhand Risiken verbunden war. Es war schon öfter mal vorgekommen, dass nichts ahnende Engel unvorbereitet nach unten gereist waren und dann direkt unter die Räder kamen, weil sie auf einer Autobahn gelandet waren. Zwar überlebten sie solche Verletzungen, allerdings waren ihre Körper dann völlig hinüber und sie mussten entsprechend von Heilern wie Raphael verarztet werden. Aus diesem Grund bevorzugten sie es meistens, lediglich kurzzeitigen Besitz von Menschen zu ergreifen, wenn sie nicht gezwungen waren, persönlich zur Erde zu reisen. Genauso konnten Engel und Dämonen sich bis zur Bewusstlosigkeit betrinken, starben aber in der Regel nicht an den Folgen. Und da sie mit der Fähigkeit ausgestattet waren, ihren eigenen Stoffwechsel zu beeinflussen, konnten sie Alkohol im Nu wieder abbauen und sich wieder ausnüchtern. Als Samael wieder halbwegs klar im Kopf war, stellte er die Flasche auf dem Boden ab und rieb sich leise stöhnend die Stirn. Zärtlich streichelte Luzifer ihm über den Rücken, um ihn ein wenig wieder aufzubauen. „Du hast es ja geschafft und allein darauf kommt es an. Was Gabriel betrifft: den habe ich erfolgreich bearbeiten können. Der wird nicht lange fackeln, um Michael bei der nächstbesten Gelegenheit in den Rücken zu fallen.“ „Sehr schön“, murmelte der blinde Todesengel tonlos. „Hattest du wenigstens deinen Spaß dabei?“ „Was heißt Spaß?“ fragte der Lichtbringer und zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihn einfach nur bequatscht gehabt und das hat vollkommen ausgereicht. War nicht mal sonderlich schwer gewesen, wenn du mich fragst.“ Also war die Aktion mit Uriel komplett unnötig gewesen, dachte Samael zerknirscht und sagte nichts dazu. Hätte er vorher gewusst, dass der ganze Aufwand nicht nötig gewesen war, hätte er sich das auch gleich sparen können. In solchen Momenten hasste er sich selbst dafür, dass er immer so in die Vollen gehen musste. Naja, solange es seinen Plänen weiterhalf und seine Aktion ohne große Folgen blieb, war es das trotzdem wert gewesen. Zumindest konnte ihm keiner vorhalten, dass er halbherzig an die Sache ranging. „Und was genau hast du jetzt eigentlich genau vor?“ wollte Luzifer nun endlich wissen. „Wie sieht dein Plan eigentlich im Detail aus?“ Samael zögerte und hielt einen kurzen Augenblick inne um auch wirklich sicherzugehen, dass niemand außer ihnen beiden im Raum war oder an der Tür lauschte. Da er aber niemanden hörte oder spüren konnte, schien die Luft rein zu sein. „Ich werde Uriel dazu überreden, eines von Michaels Schwertern zu stehlen. Gabriel soll dazu gebracht werden, sich absichtlich mit dem Schwert verletzen zu lassen, damit er Michael eins auswischen kann. Seine Schutzbarrieren sind so stark, dass nur jemand von Michaels Kaliber sie durchdringen kann. Wenn Gabriel sich also in Sicherheit wiegt und denkt, er würde nur eine Schnittverletzung abkriegen, wird Uriel ihn stattdessen töten. Dann wird er es so aussehen lassen, als hätte es einen Kampf gegeben und Gabriel wäre von seinem Erzfeind ermordet worden. Wenn die Leiche erst mal gefunden wird, fokussieren sich alle nur noch auf Michael. Wenn dieser eingesperrt wird, ist er der nächste, der von Uriel getötet wird. Panik wird ausbrechen, alle werden sich gegenseitig verdächtigen und während dessen schaltest du Uriel aus, ich kümmere mich um Metatron und im Anschluss knöpfen wir uns beide Gott persönlich vor.“ „Und du bist sicher, dass es funktionieren wird?“ fragte Luzifer zögerlich. „Was wenn Uriel auffliegt und er alles ausplaudert?“ „Uriel ist eine jämmerliche Flasche, aber er hat einen besonderen Vorteil: niemand nimmt ihn wahr. Und eben weil er so schwach ist, müssen wir ein bisschen tricksen, damit es zu keinem Kampf kommt. Selbst wenn er beim zweiten Mal auffliegt und geschnappt wird, ist das vollkommen unproblematisch. Uriel ist mir dermaßen verfallen, dass er mich nie verraten wird. Ich brauchte ihm bloß versprechen, dass ich dafür sorgen werde, dass er Michaels Posten bekommt und niemand ihn verdächtigen wird.“ Luzifer war beeindruckt von dem Plan, war aber persönlich der Meinung, dass er vielleicht ein wenig zu aufwendig und kompliziert war. Weder Dämonen noch Engel waren gemachte Strategen, die sich hochkomplizierte Intrigen zusammensponnen. Sie gingen für gewöhnlich auf direkte Konfrontation und ließen ihre Kräfte spielen. Aber andersherum hatte diese Mentalität einen entscheidenden Vorteil für den Fall, dass jemand tatsächlich einen Komplott plante: Engel und Dämonen waren katastrophale Ermittler. Man mochte vielleicht annehmen, dass sie in der Lage waren, solche Tricks mit Leichtigkeit zu durchschauen und den wahren Übeltäter zu finden. Aber weil alle so einfach gestrickt waren, kam es für gewöhnlich nicht vor, dass irgendwelche Intrigen oder Coups geplant wurden und so bemühte man sich gar nicht erst damit, Beweise zu sammeln, Motive zu hinterfragen und Alibis zu prüfen. In der Hinsicht waren die Menschen ihnen um Längen voraus, was aber auch daran lag, weil sie wussten, zu was sie imstande waren und deshalb einander nicht vertrauten. Und bei so einer laschen Ermittlungsarbeit würde niemand anzweifeln, dass Michael der Mörder sein würde, wenn Gabriel erst einmal mit seinem Schwert erschlagen worden war. Da konnte der Kerl so viel abstreiten und protestieren wie er wollte, er war dann bereits ein toter Engel. „Und wenn wir alle ausgeschaltet haben, was geschieht dann?“ hakte Luzifer weiter nach. Samael, der sich durch die Schilderung seines Masterplans deutlich besser fühlte, grinste siegessicher und erklärte mit Stolz „Dann nutzen wir das derzeitige Chaos in der Hölle aus und stürzen Satan von seinem Thron. Somit wäre ich der Herrscher über den Himmel und du würdest die Hölle regieren. Und dann räumen wir die Erde von dem ganzen Unrat auf.“ „Mit dem größten Vergnügen“, raunte der gefallene Engel und küsste ihn. Er liebte es, wenn Samael irgendetwas Boshaftes plante und ihn bei solchen Eroberungsplänen dabei haben wollte. Für einen Teufel wie ihm kam eine solche Einladung einem Date gleich. Doch dann wurden sie durch ein lautes Klopfen an der Tür unterbrochen und am anderen Ende der Tür hörten sie Uriel rufen „Samael, kann ich dich vielleicht noch mal sprechen? Bitte!“ Genervt verdrehte der Todesengel die Augen und schlug sich die Hand gegen die Stirn. „Das kann doch wohl nicht wahr sein…“, seufzte er. „Was will dieser Jammerlappen schon wieder?“ „Offenbar hat er Sehnsucht nach dir“, stellte Luzifer ein wenig amüsiert fest und kassierte dafür zur Strafe einen Seitenhieb. „Versteck du dich erst mal, damit er uns nicht zusammen sehen muss“, wies Samael ihn streng an. „Ich geh mich um diese Nervensäge kümmern. Warte einfach, bis ich fertig bin.“ Tief atmete der Seraph durch um all den Frust und Ärger wieder runterzuschlucken und ging zur Tür. Luzifer seinerseits verwandelte sich der Einfachheit halber schnell in deine Spinne und verschwand unters Bett. Kaum, dass Samael die Tür öffnete, wurde blitzschnell sein Hand gepackt und ihm fuhr innerlich ein Schauer durch den Körper als er die kalten und verschwitzten Handflächen von Uriel spürte. „Tut mir leid, dass ich zu so später Stunde noch störe“, entschuldigte sich der Sternenregent hastig und man konnte schon am Ton heraushören, dass er schrecklich aufgeregt und bis über beide Ohren verliebt wie ein Schulmädchen war. „Ich konnte nicht aufhören, an dich zu denken und musste dich unbedingt wiedersehen. Es tut mir leid, dass es nicht so geklappt hat wie wir es geplant hatten aber ich dachte… naja… vielleicht könnten wir es noch mal versuchen.“ Wieder durchfuhr Samael ein eiskalter Schauer und ihm war, als würde ihm gleich die Galle hochkommen. Was zum Teufel habe ich mir da nur angetan?, dachte er sich und empfand zum ersten Mal ehrliche Reue für seine Entscheidung. Nie im Leben hätte er geahnt, dass Uriel derart anhänglich werden würde. Na hoffentlich entwickelte sich das nicht zur Gewohnheit, denn ansonsten würde er früher oder später durchdrehen. „Hör mal Uriel, das ist wirklich lieb von dir, aber ich habe schon ziemlich einen sitzen und da komme ich nicht so richtig in Stimmung. Aber ich komme schon früh genug auf dich zu, in Ordnung?“ „Wi-wirklich?“ fragte Uriel aufgeregt und hielt Samaels Hände noch fester, als wollte er ihn nie wieder loslassen. Man brauchte keine Augen im Kopf zu haben um zu merken, dass der Kerl hoffnungslos verliebt war und obendrein ordentlich Druck auf der Leitung hatte. Normalerweise hätte letzteres den dunklen Seraph nicht sonderlich gestört, aber nach dem heutigen Fiasko war ihm wirklich die Lust vergangen. Vor allem schwante ihm Böses, dass Uriels Obsession richtig lästig werden würde. Nur blöderweise konnte er ihn auch nicht einfach so abservieren, da er ihn für seine Pläne brauchte. Gabriel schied aus weil dieser ihn nicht ausstehen konnte und Raphael war viel zu gerissen, als dass er auf diese Verführungsmasche hereinfiel. Also blieb zwangsweise nur Uriel übrig. „Ja, versprochen“, versicherte er ungeduldig und schloss die Tür wieder hinter sich. Auf der anderen Seite hörte er Uriel noch sagen „Okay, dann… ähm… wir sehen uns. Ich liebe dich!“ Und für Samael stand genau in diesem Moment endgültig fest, dass er eindeutig einen gewaltigen Fehler gemacht hatte. Doch leider war es zu spät und die Suppe musste er nun selber auslöffeln. Kapitel 8: Eine Blasphemie kommt selten allein ---------------------------------------------- Ein kühler Wind wehte und dunkle Wolken waren am Himmel aufgezogen. Es sah verdächtig nach Regen aus und in der Ferne blitzte es bereits. Metatron betrachtete das Wetter in der Ferne mit großer Besorgnis und hatte das Gefühl, als würde sich ihm der Magen umdrehen. Zwar war er schon des Öfteren mal auf der Erde gewesen und kannte die Eigenheiten in diesem Teil der Welt. Aber trotzdem lösten Unwetter immer Nervosität und Magenschmerzen bei ihm aus. Jahrtausende voller schlechter Erfahrungen, die voller biblischer Unwetter gezeichnet waren, konnte man nicht so schnell vergessen. Unsicher stand er auf dem Platz vor der Kirche St. Ignatius und er bekam allmählich kalte Füße. Normalerweise war er immer voller Vorfreude, wenn er hier war und hatte jedes Mal Schmetterlinge im Bauch wenn er daran dachte, Malachiel wiederzusehen. Doch dieses Mal hatte er ein wirklich schlechtes Gewissen. Für gewöhnlich sahen sie sich regelmäßig wenn es Metatrons enger Terminplan zuließ, aber seit einiger Zeit hatte er so viel um die Ohren, dass er die letzten Verabredungen immer wieder absagen musste. Und nun war es knapp zehn Jahre hier, seit er in Hollingsworth vorbeigeschaut hatte. Für Engel und Dämonen war diese Zeitspanne nichts Besonderes, denn sie lebten in einem ganz anderen Zeitgefühl als die Menschen. Hundert Jahre war für sie meist nur eine gefühlte Woche, aber auch nur wenn sie sich außerhalb der Erde befanden. Hier in der Welt der Menschen, wo sich alles in einer rasenden Geschwindigkeit unaufhörlich veränderte, konnte sich das Wahrnehmungsgefühl deutlich verzerren. Dann fühlten sich zehn Jahre schnell wie eine verdammte Ewigkeit an. Um alles noch schlimmer zu machen, hatte er sich auch nicht mehr bei Malachiel gemeldet und es war sicherlich nicht der beste Zeitpunkt, um ihn ausgerechnet jetzt um Hilfe bitten zu müssen. Aber leider hatte er keine andere Wahl und Malachiel war nun mal zuständig für solche Angelegenheiten. Blieb nur zu hoffen, dass er nicht allzu nachtragend war und die zehn Jahre sich nicht allzu lange für ihn angefühlt hatten. Also atmete er tief durch, sammelte sich und ging schnurstracks zur Eingangstür. Mit einem stummen Stoßgebet versuchte er die Tür zu öffnen, stellte aber fest, dass sie abgeschlossen war. Merkwürdig… Soweit er sich erinnern konnte, war sie nie abgeschlossen gewesen. Oder hatten sich die Dinge noch mehr verändert seit den letzten zehn Jahren? Metatron seufzte und dachte sich, dass es vielleicht eine kleine Racheaktion von Malachiel für die Vernachlässigung der letzten paar Jahre war. Also klopfte er erst gegen die Tür und rief „Hey Malachiel, mach bitte die Tür auf. Hör mal, es tut mir leid, dass ich dich so lange nicht besucht habe, aber ich brauche wirklich deine Hilfe. Bitte lass uns in Ruhe reden!“ Keine Reaktion folgte. Für einen Moment überlegte Metatron, ob er nicht einfach die Tür mit einem Wunder öffnen sollte, doch da hörte er auch schon, wie das Schloss entriegelt wurde. Als die Tür aufging, war es aber nicht Malachiel, der ihm gegenüber stand. Es war ein etwas hagerer Junge mit brünetten Locken und schlichter, biederer Kleidung. Und als der König der Engel erkannte, dass es sich um einen Dämon handelte, wich er instinktiv einen großen Schritt zurück und verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Ein Dämon in der Kirche? Wie war das überhaupt möglich? Sämtliche Kreaturen, die der Hölle entstammten, mieden heilige Orte wie die Pest. Ganz zu schweigen davon, dass für sie das Betreten von heiligem Boden sich ungefähr wie eine Runde „Der Boden besteht aus Lava“ anfühlte. Nur mit dem Unterschied, dass alles innerhalb der Kirche für sie aus Lava bestand. Und doch stand dieser Dämon vor ihm und öffnete die Tür, als wäre er hier zuhause. „Seid Ihr der Besucher von oben?“ fragte er und schaute den Besucher prüfend an. Metatron brauchte jedoch einen Augenblick, damit er sich wieder sammeln konnte. Er ballte die Hände zu Fäusten und machte sich bereit für einen möglichen Kampf. Zwar herrschte über 700 Jahren offiziell Waffenstillstand zwischen Himmel und Hölle, aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass Dämonen stets mit Vorsicht zu genießen waren und man sich vor ihnen in Acht nehmen sollte. „Wer will das wissen und was suchst du in einem Gotteshaus, Dämon?“ fragte er forsch und trat wieder näher heran, um ihm entschlossen die Stirn zu bieten. Auch wenn er für gewöhnlich ein Pazifist war und lieber gewaltlose Lösungen suchte, hatte er nicht vor, irgendwelche Schwächen vor dem Feind zu zeigen. Ganz zu schweigen davon, dass es geradezu an Blasphemie und Provokation grenzte, dass dieser Dämon es wagte, sich in einer Kirche breitzumachen. Sein Gegenüber schien sich an der ruppigen Begrüßung nicht zu stören und erklärte „Mein Name ist Nazir. Ich bin Malachiels Schüler und sein Haushälter. Er hat mich gebeten, Euch abzuholen.“ Metatron verstand nun noch weniger als vorher und war für einen Augenblick zu verwirrt, um darauf zu reagieren. Zuerst hielt er es für eine ausgemachte Lüge oder einen hinterhältigen Trick, aber würde ein Dämon ihm wirklich eine derart unglaubwürdige Geschichte auftischen? Ganz zu schweigen davon, dass es ihm offensichtlich nichts auszumachen schien, sich auf heiligem Boden zu bewegen. Das sprach zumindest dafür, dass er kein gewöhnlicher Dämon war und da Malachiel manchmal zu verrückten Ideen neigte, war es nicht vollkommen unmöglich, dass dieser Nazir ihm tatsächlich die Wahrheit sagte. Also beschloss er, sich vorerst mit dieser Erklärung zufrieden zu geben und dem dämonischen Haushälter zu folgen. Sie gingen einmal quer durch den großen Saal vorbei an der Marienstatue und dem riesigen Jesuskreuz zu den Beichtstühlen. Direkt daneben gab es eine kleine unauffällige Tür, die in die hinteren Räume führte, die für die Besucher nicht zugänglich waren. Dort wurden Bibeln, Gesangsbücher, Kerzen und sonstiger Krimskrams aufbewahrt. Außerdem befanden sich dort auch die Schränke mit den Uniformen für die Messdiener. Am Ende dieses Raums gab es noch mal eine Tür, die zum Hinterausgang führte, den nur wenige Meter vom Pfarrhaus trennte. Es war wesentlich einfacher, diesen direkten Weg zu gehen, da man sonst einen großen Bogen um die Kirche machen und dann am Garten vorbeigehen musste, bis man endlich am Ziel war. Während der Seraph Nazir folgte, wunderte er sich, wie es bitteschön sein konnte, dass dieser Dämon sich derart problemlos innerhalb der Kirche bewegen konnte. Selbst die Türgriffe sollten sich für ihn zumindest so heiß anfühlen, dass er sie nicht anfassen würde. Doch all das schien ihm nicht wirklich etwas auszumachen und das widersprach allem, was er bisher über die Bewohner der Hölle zu wissen glaubte. Der Einzige, dem die heilige Kraft dieser Orte nichts ausmachte, war Malachiel und das auch nur, weil er halb Engel war. Aber dieser Kerl, der ihn quer durch das Gotteshaus zum Hintereingang führte, war eindeutig ein Dämon und es ergab absolut keinen logischen Sinn, dass er sich hier so frei bewegen konnte, ohne irgendwelchen Schaden zu nehmen. Wie so ziemlich alle Engel im Himmel hatte Metatron eine etwas einseitige Sichtweise, was die höllische Bevölkerung betraf. Hauptsächlich der göttlichen Propaganda war es geschuldet, dass die Vorstellung von Dämonen aus moderner Sicht ziemlich diskriminierend und voller Stereotypen war. Um das himmlische Volk daran zu hindern, aus einer Laune heraus aus der Reihe zu tanzen, hatte man die Dämonen gerne als abschreckendes Beispiel genommen. Also wurden sie als sadistisch, hinterhältig, manipulativ und absolut verdorben dargestellt. Um das Ganze abzurunden, hatte man versucht, sie wie Monster aussehen zu lassen, die eher an eine billige und unkreative Abklatsche von H.P. Lovecrafts Gruselkabinett erinnerten. Irgendwann hatte man angefangen, den Dämonen noch mehr negative Eigenschaften zuzudichten. Und so hatte sich das Bild des dummen, perversen und abgrundtief verdorbenen Dämons von hässlicher und frevelhafter Gestalt so eingebürgert, dass sämtliche Engel auch tatsächlich daran glaubten. Dass Dämonen in erster Linie Rebellen waren, die lieber unabhängig blieben als sich nach der Willkür eines unberechenbaren göttlichen Herrschers zu richten, hatte man schon seit langer Zeit vergessen. Metatron hatte außer Luzifer schon seit der Beinahe-Apokalypse keinen einzigen Dämon mehr zu Gesicht bekommen und hatte auch nie mit ihnen verkehrt. Nur während der Beinahe-Apokalypse war er gezwungen gewesen, mit Satan in Verhandlungen zu treten aber das war es dann auch schon. Dementsprechend beschränkte sich sein gesamtes Wissen über die Dämonen der Hölle lediglich auf die ziemlich voreingenommene und nicht unbedingt wahrheitsgetreue Himmelspropaganda. Darum war es für ihn umso schockierender, dass er nun einen Dämon traf, der überhaupt nicht zu diesen ganzen Beschreibungen passte. Und das machte ihm schon ein wenig Angst. „Wie lange lebst du schon bei Malachiel?“ fragte er misstrauisch, denn er konnte sich nicht wirklich daran erinnern, bei seinem letzten Besuch in Hollingsworth einen Dämon gesehen zu haben. Nazir drehte sich kurz zu ihm um, bevor er die Tür zum Hintereingang aufschloss und antwortete „Seit vier Jahren, also noch nicht allzu lange.“ Sie traten wieder hinaus ins Freie den kleinen gepflasterten Weg entlang bis zum Pfarrhaus. Nazir öffnete die Tür, trat als Erster ein und rief „Meister, ich bin wieder da!“ Metatron folgte als nächstes und schloss die Tür hinter sich. Ein grollender Donner durchbrach die Stille und der Seraph spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Kurz darauf hörte er auch schon Schritte und als er Malachiel die Treppe hinunterkommen sah, atmete er erleichtert aus und eilte überglücklich auf ihn zu. „Malachiel, bin ich froh dich zu sehen!“ Der etwas müde aussehende Halbengel mit den von Schatten umrandeten Dämonenaugen wirkte im ersten Augenblick nicht allzu erfreut und eher etwas mürrisch. Doch dann entspannten sich seine griesgrämigen Gesichtszüge als er seinen Besucher sah und er empfing ihn mit einer herzlichen Umarmung. „Hast dich ja schon lange nicht mehr blicken lassen, Matt. Hast du eine Ahnung, wie sehr ich dich in all der Zeit vermisst habe?“ Alle Nervosität und Angst war augenblicklich vergessen. Stattdessen war Metatron einfach nur überglücklich, endlich wieder mit seinem Liebsten vereint zu sein und ihn wieder in den Armen halten zu können. Stürmisch küsste er den Halb-Engel und drückte ihn fest an sich. „Tut mir leid, dass ich dich so lange alleine gelassen habe. Ich hätte schon viel früher wieder herkommen sollen.“ „Ja, das hättest du definitiv“, stimmte sein Freund zu und tätschelte ihm beschwichtigend den Kopf. „Ein bisschen weniger Arbeitseifer würde dir mal ganz gut tun. Nimm dir mal ein Beispiel an mir: ich finde immer einen Weg, um mich aus Verantwortungen rauszuwieseln. Naja, ist halt wie’s ist. Hauptsache du bist jetzt da.“ Damit löste sich Malachiel wieder von ihm und schaute zu Nazir herüber, der etwas abseits stand und nicht wirklich wusste, wie er diese Szene einordnen sollte. Malachiel räusperte sich und erklärte „Matt, das ist mein Haushälter Nazir. Wenn er nicht gerade dabei ist, mir meine Schönheitsschläfchen madig zu machen und das angepisste Kindermädchen zu spielen, unterrichte ich ihn als Schüler. Nazir, das hier ist Metatron, Oberaufseher vom heiligen Affenzirkus und göttliche Direkt-Hotline in einer Person.“ Unverschämt wie eh und je, dachte sich derr himmlische Regent und hätte nie im Leben gedacht, dass er diese schonungslosen Frechheiten tatsächlich vermissen würde. Normalerweise würde er sich an solchen Frechheiten stören, aber bei Malachiel konnte er einfach nicht anders, als diese Eigenschaft als beneidenswert und irgendwie auch sympathisch zu finden. Nach der kurzen Vorstellung gingen Malachiel und Metatron nach oben um es sich im Wohnzimmer bequem zu machen. Nazir brachte ihnen Kaffee und etwas Gebäck, ließ sie aber dann alleine um sich um seine Studien zu kümmern. Mit einem gemischten Blick schaute der Seraph ihm nach und wartete, bis die Tür ins Schloss gefallen war bevor er meinte „Ich kenne ja deine Verrücktheiten, aber ein Dämon als Haushälter? Und dann auch noch als Schüler? Erklär mir mal bitte, was das bedeuten soll. Du kannst doch nicht einfach so dem Feind Obdach in Gottes heiliger Stätte gewähren!“ Malachiel zuckte gleichmütig mit den Schultern und nahm sich einen Haferkeks, an dem er bedächtig knabberte. Er war nicht wirklich jemand, der großartig über irgendetwas nachdachte, sondern einfach tat, wonach ihm gerade der Sinn stand. Da es meist immer auf Schlafen hinauslief, geschah es zum Glück nicht allzu oft, dass er sich zu irgendwelchen Verrücktheiten hinreißen ließ. Aber dieses Mal war es weitaus mehr als bloß ein harmloser Vorfall, den man schnell unter den Teppich kehren konnte. Auf der einen Seite war diese Einstellung ja lobenswert, aber so manchmal machte sich Metatron ja doch Sorgen um ihn. Vor allem wenn es solche Verrücktheiten waren, die sich nicht unbedingt nach Gottes Willen richteten, sondern diesen oft sogar widersprachen. Und manchmal schien es so, als würde Malachiel es allein aus Prinzip machen um zu untermauern, dass er sich nach niemand anderem außer sich selbst richtete, nicht einmal Gott selbst. Allein die Vorstellung, einen Dämon in einem Gotteshaus herumspazieren und dann noch im Pfarrhaus wohnen zu lassen, war ein unfassbarer Skandal und eindeutig Gotteslästerung, die ernste Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Malachiel konnte von Glück reden, dass Gott offenbar noch nicht Wind von der Sache bekommen hatte. Andernfalls mochte sich der himmlische Regent lieber nicht vorstellen, was dann geschehen würde. Doch der Pseudo-Pfarrer schien sich dafür überhaupt nicht zu interessieren und meinte nur: „Warum nicht? Ich bin ja selbst halb Dämon und diese Kindergartenfehde zwischen Himmel und Hölle ist euer Bier, nicht meins. Eines Tages stand er halt vor meiner Tür und hat mich um Hilfe angebettelt. Und ich brauchte rein zufällig einen Haushälter, so einfach ist die Sache. Wenn Gott wirklich ein Problem damit hat, dann hätte er mich doch schon längst mit einem Blitz abgeschossen oder irgendeine andere biblische Strafe erlassen. Wie du siehst, bin ich noch hier und mir geht es blendend, also scheint es ihn nicht zu stören.“ „Ja aber… warum lässt du ihn auch noch in der Kirche herumspazieren? Ist dir denn nicht klar, dass das eine Beleidigung gegen den Herrn ist und es ernste Konsequenzen haben könnte?“ Doch offensichtlich juckte es seinem Freund kein bisschen und er schien sich auch sonst keinerlei Sorgen darum zu machen. Stattdessen meinte er nur unbeeindruckt „Na und? Ich lass doch jeden Sonntag die ganzen Leute aus dem Dorf in die Kirche rein und keiner da oben beschwert sich. Da macht ein Dämon auch keinen großen Unterschied mehr.“ „Du kannst Menschen nicht mit Dämonen vergleichen!“ „Da hast du Recht“, lenkte Malachiel ein, haute aber gleich die nächste Schippe raus: „Eine Bande von Heuchlern und Lügnern, die allen Ernstes denkt, dass eine Stunde Frömmigkeit am Sonntag ihnen einen Freifahrtschein für die nächste Woche an Gottlosigkeiten gibt, ist allerhöchstens strunzdumm und nicht bösartig. Außer vielleicht die McKilligans. Und was Nazir betrifft: für den leg ich meine Hand ins Feuer, dass er einen besseren Engel abgeben würde als das gesamte Irrenhaus voller Scheinheiliger, das du da oben betreuen darfst. Dabei meine ich insbesondere die Vier vom Stamme Nimm, die sich allen Ernstes Erzengel schimpfen.“ Metatron fiel fast die Tasse aus der Hand als er realisierte, was Malachiel da eigentlich andeutete. Zuerst hielt er es für eine Art Scherz und zwang sich zu einem Lachen wobei er meinte „Okay, jetzt hast du mich echt erwischt. Der war echt gut…“ Doch sein Freund stimmte nicht in das Lachen ein, sondern atmete geräuschvoll aus und knabberte den Rest seines Haferkekses bevor er sich seinem Kaffee widmete. Und als Metatron erkannte, dass es kein Witz war, schüttelte er fassungslos den Kopf. „Das ist absolut unmöglich! Du weißt doch, dass Dämonen niemals zu Engeln werden können. So etwas hat Gott nicht vorgesehen und es gibt einen guten Grund, warum sie als Dämonen ihr Dasein fristen.“ „Es gilt nur als unmöglich, weil es bisher keiner versucht hat“, entgegnete der Halb-Seraph unbeeindruckt und schien sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein. „Aber das ist mal wieder typisch für euren ganzen Verein: immer schön von Vergebung und Nächstenliebe predigen, aber nichts davon in die Tat umsetzen. Lass mich dir mal eins verklickern: wenn es tatsächlich unmöglich ist, einen Dämon zu läutern und aus ihm einen Engel zu machen, heißt das bloß, dass Gott doch nicht so unfehlbar ist, wenn er nicht einmal an seine eigenen Worte glaubt, die er uns allen predigen will.“ Metatron biss sich auf die Unterlippe und erschauderte bei diesen Worten. Er kannte Malachiels freches Mundwerk schon zur Genüge, aber diese Gotteslästerungen stießen ihm bis heute noch manchmal sauer auf. „Ich habe es ja verstanden. Aber würdest du bitte damit aufhören, so respektlos über unseren Herrn zu reden? Ich meine es wirklich nur gut mit dir, aber irgendwann werden dich deine Blasphemien noch den Kopf kosten!“ „Jede Wahrheit war mal eine Blasphemie“, entgegnete der Halb-Engel trotzig und trank seinen Kaffee aus. „Und wenn er nicht mit Kritik umgehen kann, beweist er damit nur, wie verdammt unreif er ist. Die Wahrheit ist nun mal hässlich, deswegen will sie ja auch keiner hören. Und zum Glück ist mir das vollkommen Latte. Es wird schon seinen Grund haben, warum Gott mich mit einer großen Klappe geschaffen hat. Aber jetzt mal ernsthaft: was ist eigentlich los mit dir? Du wirkst bedrückt und noch nervöser und paranoider als sonst.“ Der anfangs trotzige und griesgrämige Blick des falschen Pfarrers hatte sich entspannt und war nun von aufrichtiger Besorgnis gezeichnet. Metatron überlegte, ob er ihn gleich mit dem eigentlichen Grund seines Besuchs überfallen sollte. Einerseits schien es nicht so zu sein, als würde Malachiel nachtragend darüber sein, dass sie sich schon so lange nicht mehr gesehen hatten. Aber andererseits kannte er seinen Freund schon gut genug und wusste, dass dieser recht schnell sauer werden konnte wenn er merkte, dass jemand nur mit irgendwelchen Hintergedanken zu ihm kam. Und er wollte lieber nicht riskieren, dass er Malachiel so verärgerte, dass dieser sich einfach aus Trotz weigern würde, ihm zu helfen. Zwar war dieser nicht so kaltherzig und abgebrüht, dass er das tatsächlich durchziehen würde, aber Metatron wollte nicht, dass er dachte, dass sein Liebster ihn nach langer Funkstille nur aus rein geschäftlichen Gründen aufsuchte. „Es gibt ein paar Probleme im Himmel“, gab er schließlich zu und beschloss, seine Antwort lieber etwas schwammig zu lassen, damit Malachiel nicht den falschen Eindruck bekam. „Vielleicht kannst du mir mit dem einen oder anderen Rat zur Seite stehen, aber erst mal bin ich einfach nur froh, dich wiederzusehen. Um ehrlich zu sein, habe ich selbst deine Blasphemien irgendwie vermisst.“ Etwas skeptisch zog der Halb-Engel die Augenbrauen zusammen, fragte aber nicht weiter nach und beließ es stattdessen erst mal dabei. Er konnte aber nicht umhin, nach kurzer Überlegung festzustellen: „Das größte Problem ist ganz einfach, dass du viel zu weichherzig und inkonsequent bist. König der Engel zu sein ist nichts weiter, als den Aufpasser für einen Haufen unreifer und unselbstständiger Egomanen zu spielen. Du bist die Nanny eines ganzen Königreichs voller Kleinkinder und kleine Kinder tanzen einem auf der Nase rum, wenn man nicht durchgreift. Die machen was sie wollen und nutzen dich bloß schamlos aus, wenn du zu allem Ja und Amen sagst. Das ist auch genau der Grund, warum Engel wie Samael dir ständig den Rang streitig machen.“ Ja, da hatte er nicht ganz Unrecht. Metatron wusste ja selbst, dass er viel zu sehr darauf fixiert war, die Harmonie zu bewahren und das führte nicht selten dazu, dass man ihn nicht allzu sehr respektierte. Aber er brachte es einfach nicht übers Herz, gemein zu anderen zu sein. Ganz zu schweigen davon, dass er auch keine Lust darauf hatte, sich auf das Niveau der Erzengel zu begeben. Er war der Ansicht, dass man Konflikte auch sehr gut mit Sanftmut, Vergebung und Nachgiebigkeit lösen konnte. Immerhin waren das die Werte, die ihm als Engel beigebracht worden waren. „Ja da magst du vielleicht Recht haben“, lenkte er seufzend ein. „Aber das ist nicht das eigentliche Problem. Das Ding ist… wir stecken momentan ernsthaft in der Krise und ich weiß nicht, was wir tun sollen. Die Sache ist nämlich die, dass sich herausgestellt hat, dass Michael das Regelwerk ein wenig zu ernst genommen und viele Menschen aus den banalsten Gründen in die Hölle geschickt hat. Nun ist die Hölle hoffnungslos überfüllt und das Personal reicht nicht aus.“ „Na und?“ fragte sein Gegenüber desinteressiert und begann sich am Ohr zu kratzen. „Seit wann juckt mich denn bitteschön der Personalmangel in der Hölle? Ich bin Mediator und kein Jobvermittler für Seelenfolterknechte. Mein Job ist es bloß, dafür zu sorgen, dass die Welt nicht in einem psychedelischen apokalyptischen Desaster untergehen wird, das sich ein durchgeknallter Prophet aus dem Ärmel geschüttelt hat, nachdem er das falsche Gras geraucht hat.“ „Ja aber die Krise betrifft doch auch den Himmel und wenn wir nichts tun, wird früher oder später Krieg ausbrechen“, rief Metatron verzweifelt. „Wenn Satan erfährt, dass dieses Durcheinander nur zustande kam, weil das Regelwerk wegen einer bürokratischen Panne seit Ewigkeiten nicht mehr aktualisiert wurde, wird er uns auf die Barrikaden gehen. Dann haben wir endgültig die Apokalypse vor der Haustür. Und ich weiß nicht was ich tun soll. Wenn ich das Regelwerk einfach so ändern lasse, könnte ich Gottes Zorn heraufbeschwören und es würde in einer Katastrophe enden. Und wenn ich gar nichts tue, dann haben wir bald eine Meute wütender Demonstranten aus der Hölle vor dem Tor.“ Mit einem tonlosen und kurzen „Hm“ lehnte sich Malachiel in seinem Sessel zurück und faltete nachdenklich die Hände. Draußen durchzuckte ein greller Blitz den düsteren Himmel und ein donnerndes Grollen bebte durch das Haus. Kurz darauf prasselten auch schon die ersten Regentropfen gegen die Fensterscheibe. „Warum fragst du nicht einfach Gott um Rat? Er hat die Regeln aufgestellt, also kann er sie auch abändern. Problem gelöst!“ Der himmlische Regent seufzte geschlagen und erkannte, dass es keinen Sinn mehr machte, dieses Geheimnis länger für sich zu behalten. Alles andere würde die ganze Sache nur noch komplizierter machen und wenn Malachiel nicht die Wahrheit erfuhr, konnte er ihm auch nicht entsprechend helfen. Um sicherzugehen, dass auch niemand zuhörte, prüfte Metatron nach, ob sie von irgendjemandem abgehört wurden oder jemand allgemein in hörbarer Reichweite war. Da aber weder von himmlischer noch von höllischer Seite aus irgendjemand hinhörte, beugte sich Metatron zu seinem Freund vor und wies ihn mit einer Handbewegung, näher zu kommen. Dieser fragte gar nicht erst nach und tat einfach, wie ihm geheißen wurde. „Da gibt es ein Problem…“, murmelte der Seraph leise. „Ich kann Gott nicht mehr hören. Er spricht nicht mehr zu mir.“ „Oh…“, meinte sein Gegenüber knapp und schien nicht einmal sonderlich geschockt oder überrascht zu sein. Er hob nur die Augenbrauen und schien etwas ernüchtert über diese Nachricht zu sein. „Dann hat er also die Daddy geht mal eben Zigaretten holen-Masche abgezogen? Ist ja ganz klasse. Mal ganz im Ernst: warum genau tanzt ihr alle noch mal nach seiner Pfeife?“ „Das ist nicht witzig, Malachiel!“ „Stimmt. Wenn es witzig wäre, dann könnte ich wenigstens darüber lachen“, räumte der arbeitsunwillige Mediator ein. „Aber heißt es nicht, dass Gott im Himmel wohnt? Soweit ich weiß, lebt er doch an einem Ort, der einfach nur als höchstes Heiligtum bekannt ist. Hast du dort mal nach dem Rechten gesehen?“ Natürlich war Metatron diese Idee schon längst gekommen. Vor langer Zeit war es sogar Gang und Gebe gewesen, dass jeder Engel mal persönlich bei ihm vorbeischaute. Entweder um Anweisungen entgegenzunehmen, oder einfach nur um einen kurzen Plausch zu halten. Damals war Gott noch richtig gesellig und unterhaltsam gewesen. Aber da sein Menschen-Projekt leider nicht so wirklich in die gewünschte Richtung verlaufen war und es so einige Zwischenfälle und Pannen gab, hatte sich sein Gemüt etwas verschlechtert. Und das war noch sehr gelinde ausgedrückt. Je mehr die Menschen aus der Reihe tanzten und Gott sowohl metaphorisch als auch wortwörtlich den Mittelfinger zeigten, umso gereizter und eigenbrötlerischer wurde er. Irgendwann hatte er einfach keine Lust mehr gehabt, sich mit irgendjemandem abzugeben, ganz gleich ob es Mensch oder Engel war. Also hatte er sich quasi verbarrikadiert wie ein pubertierender Teenager in der rebellischen Phase und nur noch durch Metatron gesprochen. Seitdem hatte ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen und da man nie sagen konnte, ob Gott zu Geselligkeiten aufgelegt war, hatte man ihn lieber in Ruhe gelassen. Ganz zu schweigen davon, dass die Tür zum Heiligtum von keinem Engel geöffnet werden konnte. Nachdem Metatron Malachiel die Kurzfassung dieser Situation geschildert hatte, kratzte sich dieser etwas verständnislos am Kopf und meinte „Also damit ich es recht verstehe: Gott spricht zu niemandem mehr, keiner hat ihn seit Längerem gesehen und auch sonst gibt es kein Lebenszeichen von ihm… Sag mal Matt, bist du wirklich sicher dass er nicht vielleicht… naja… das Zeitliche gesegnet hat?“ Erschrocken weiteten sich die Augen des Seraphs als Malachiel diese Vermutung aussprach und faltete die Hände wie zum Stoßgebet. „Um Himmels Willen, Malachiel. Mal bloß nicht den Nietzsche an die Wand! Wenn solche Gerüchte die Runde machen, dann würde Satan nicht lange fackeln und den Himmel stürmen! Dann hätten wir die Hölle auf Erden!“ „Ja das wäre unpraktisch, vor allem weil ich den Saustall dann wieder für euch aufräumen darf“, stimmte der Halb-Engel nickend zu. „Heißt also im Klartext: wir können uns nicht auf Gott verlassen, sondern müssen selber gucken, wie wir klarkommen. Für mich ist die Sache recht simpel: ändere doch das Regelwerk und lass es einfach drauf ankommen. Wenn Gott beschließt, die beleidigte Diva zu spielen, ist das doch nicht dein Problem. Aber so wie ich dich kenne, willst du das lieber nicht provozieren, sondern erwartest allen Ernstes von mir, dass ich in der Lage bin, euer Problem zu lösen, ohne irgendwelche Gesetze abzuändern.“ Jetzt wo er es so sagte, klang das tatsächlich nach einer ziemlich bescheuerten Idee. Schuldbewusst senkte Metatron den Blick und murmelte leise „Tut mir leid, dass ich dir das alles aufbürde“. Es war wirklich viel, was er von Malachiel erwartete. Aber andererseits hatte dieser bereits in der Vergangenheit bewiesen, dass er in der Lage war, Lösungen für die schwierigsten Probleme zu finden, indem er ganz unkonventionelle Wege ging. Vielleicht lag die Antwort ja direkt vor der Nase und er war einfach zu blind um sie zu sehen. Genau aus diesem Grund brauchte er ja Hilfe, weil er schlichtweg keinen Durchblick mehr hatte. Entnervt seufzte der Pseudo-Pfarrer und gab sich geschlagen. „Oh Mann, ich hab echt keine Lust auf diesen ganzen Mist. Aber wenn du mich mit diesen Kulleraugen so ansiehst, kann ich ja wohl schlecht nein sagen. Für heute lassen wir es aber gut sein. Du bist gerade erst angekommen und ich möchte wenigstens ein bisschen die Zeit mit dir genießen, bevor du wieder abhaust.“ Mehr konnte Metatron wohl fürs Erste nicht erwarten. Er war ja schon froh genug darüber, dass Malachiel bereit war, ihm zu helfen. Da musste er wohl oder übel etwas mehr Zeit und Geduld mitbringen. Kapitel 9: Eine Senfkornspalterei --------------------------------- Nachdem sie beschlossen hatten, alles Geschäftliche auf später zu schieben und wenigstens ein bisschen die gemeinsame Zeit zu genießen, begann Malachiel zu erzählen, was sich in den letzten zehn Jahren so alles auf der Erde ereignet hatte. Da aber diese Erzählung fast ausschließlich in einer sarkastischen und zynischen Art gehalten war, konnte Metatron manchmal nicht so ganz sagen, was davon jetzt genau tatsächlich so geschehen war wie ihm berichtet wurde. Im Großen und Ganzen bestand Malachiels Bericht hauptsächlich aus den neuesten technischen Errungenschaften, Lästereien über die letzten Kirchenskandale und welche TV-Serien er zuletzt gesehen hatte. Und wie sich schnell herausstellte, hatte er eine große Leidenschaft für besonders melodramatische mexikanische Telenovelas. Hauptsächlich auch nur deshalb, weil diese so übertrieben kitschig und überdramatisch waren, dass man sie einfach nicht ernst nehmen konnte. Zu guter Letzt erzählte er im Detail, wie er Nazir kennen gelernt und ihn nach einigem hin und her unter seine Fittiche genommen hatte. Metatron war immer noch sehr skeptisch, was dieses ganze Experiment betraf und weiterhin der festen Überzeugung, dass Dämonen niemals geläutert werden konnten. Zwar hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie der teuflische Haushälter sich ohne Probleme in der Kirche bewegen konnte, aber sein Verstand weigerte sich, dies als Tatsache anzuerkennen und glaubte stattdessen an einem Trick. Immerhin waren Dämonen ja bestens dafür bekannt, andere zu täuschen und in die Irre zu führen. Da er nicht glauben wollte, dass Nazirs Studien für dieses unerklärliche Phänomen verantwortlich waren, beschloss Malachiel, ihm einfach den Beweis zu liefern und ließ deshalb seinen Schüler herbeirufen. Wenig später kam Nazir mit einer dicken Bibel mit einem dunkelroten Einband und goldenen Lettern ins Wohnzimmer. Das Buch war schon ziemlich abgenutzt und an einigen Stellen notdürftig am Einband geflickt worden. Die Seitenränder schimmerten goldfarben und waren im Vergleich zum Buchcover in einem etwas besseren Zustand, hatten aber auch schon einiges miterlebt. Diese Bibel gehörte zu Malachiels allerersten persönlichen Besitztümern und war knapp 700 Jahre alt. Metatron hatte sie ihm damals geschenkt, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren und sie gemeinsam versucht hatten, die Apokalypse aufzuhalten. Dementsprechend rührte es ihn zutiefst, dass sein Freund dieses Geschenk nach all der Zeit immer noch in seinem Besitz hatte, allerdings war es gleichzeitig sehr befremdlich, es nun in den Händen des Feindes zu sehen. „Nazir, du hast seit vier Jahren täglich geübt und jetzt, da wir ein hohes Tier von Oben hier haben, ist das die perfekte Gelegenheit für dich, dein Können unter Beweis zu stellen“, begann Malachiel, ohne großartig Enthusiasmus und Energie in seine Ansprache zu legen. Stattdessen wirkte er demotiviert wie eh und je. Aber der Eindruck mochte täuschen, denn Metatron sah sofort ein Leuchten in dessen Augen, das nur allzu deutlich verriet, dass er doch irgendwie stolz auf seinen Schüler war. „Der ganze scheinheilige Verein dort oben ist nach wie vor der Meinung, dass kein Dämon jemals geläutert werden kann und ich kann dieses Geschwafel langsam nicht mehr hören. Also kannst du uns mal demonstrieren, wie weit du schon bist?“ „So etwas ist ja auch völlig unmöglich“, legte Metatron sofort ein. „Es weiß doch jeder, dass Gebete Dämonen krank machen und heiliger Boden ihre Füße verbrennt. Und Weihwasser zersetzt ihre Körper bis nur noch Asche übrig bleibt. Das ist der eindeutige Beweis, dass sie nicht in der Lage sind, sich zu ändern.“ „Ja, ja… wir alle kennen die alte Leier“, seufzte der Halb-Engel mit abwinkender Geste, ohne großartig auf die Einwände seines Freundes zu achten. Stattdessen hielt er seinen Blick weiter auf seinen dämonischen Haushälter gerichtet. „Und wie du siehst, Nazir, glaubt der gute Metatron hier, dass dein kleiner Kirchengang nur ein Trick war. Also würdest du ihm bitte mal zeigen, wer hier von uns wirklich Recht hat?“ Doch so ganz traute Nazir dem Braten nicht und schaute Malachiel skeptisch an. „Meister, versucht Ihr mich da gerade etwa wieder für eines Eurer Spielchen zu missbrauchen?“ Was soll das das denn bitteschön heißen?, dachte sich der göttliche Botschafter und bekam ein ungutes Gefühl, als Nazir auch noch das Wort „Wieder“ in diesem Satz benutzte. Das klang wirklich mehr als suspekt und er begann zu ahnen, dass sein Liebster vielleicht noch mehr angestellt hatte, als bloß einen Dämon in seine Dienste zu nehmen. Doch er fragte lieber nicht weiter, ansonsten würde er vor lauter Sorge noch Kopfschmerzen bekommen. Malachiel bestritt die Unterstellungen seines Haushälters nicht und meinte nur „Ach komm schon. Willst du denn nicht unter Beweis stellen, dass in dir ein echter Engel steckt? Sprich einfach deine Gebete auf, dann sieht er es ja. Und besser noch: sag’s auf Latein, dann ist es noch wirkungsvoller.“ Mit diesem Argument hatte er seinen Schützling überzeugt. Dieser holte einmal tief Luft und begann zuerst das Apostolische Glaubensbekenntnis, dann das Vaterunser und im Anschluss das Ave Maria im perfekten Latein aufzusagen. Kein einziges Mal krümmte er sich vor Schmerz, spukte vor Übelkeit oder zeigte irgendeinen anderen dämonischen Anfall. Er sagte alles auf als wäre es das Normalste für ihn auf der Welt. Für jemanden wie Metatron, der immer nach den alten Regeln und Grundsätzen gelebt hatte, war dies eine schockierende Erkenntnis. Wenn man sein gesamtes Leben mit einer ganz bestimmten Überzeugung gelebt hatte und die sich nun als fehlerhaft erwies, konnte das schnell dazu führen, dass man so einiges zu hinterfragen begann. Und das war etwas, womit Engel überhaupt nicht klar kamen. Als wäre das Durcheinander und sein fehlender Kontakt zu Gott nicht schon belastend genug, musste er auch noch erkennen, dass etwas, woran er selbst geglaubt hatte, offensichtlich nicht stimmte. Es überforderte ihn nicht nur, es verstörte ihn regelrecht. Nazir, der selbst ziemlich stolz auf seine vorbildliche Leistung war, lächelte zufrieden und wandte sich an seinen Herrn. „Meister, wann kann ich eigentlich anfangen, mit Weihwasser zu üben? Inzwischen kriege ich auch bei Weihrauch keine Atemnot mehr.“ „Hm…“, murmelte Malachiel und verschränkte nachdenklich die Arme, wobei er nicht merkte, wie sehr Metatron diese Szene verstörte. „Fang lieber erst mal ganz klein an“, riet er und war nun überraschend ernst und fokussiert. „Mit Weihwasser herumzuspielen ist eine ganz andere Hausnummer als mal eben ein bisschen Weihrauch inhalieren. Kannst dir ja etwas aus der Kirche holen. Zieh dir aber Schutzhandschuhe an wenn du damit rumhantierst und probiere es erst mal mit einer Haarprobe. Wenn du gleich die ganze Pfote reintunkst und die sich auflöst, muss ich mir schlimmstenfalls einen neuen Haushälter suchen.“ Endlich erwachte Metatron aus seiner Schockstarre und schüttelte energisch den Kopf. „Das kann unmöglich wahr sein. Das muss ein Trick sein! Dämonen können nicht geläutert werden, genauso wenig wie gefallenen Engeln vergeben werden kann. Das hat Gott so nicht vorgesehen, das gehört nicht zu seinem Plan.“ „Gott ist aber nicht hier und seine angeblichen Pläne haben noch nie Sinn ergeben, das weißt du selbst“, erwiderte Malachiel eindringlich. „Hör mal, ich verstehe schon, dass es vielleicht etwas gruselig für dich ist. Aber sieh den Tatsachen mal langsam ins Auge, dass die Welt nicht so aussieht, wie ihr sie euch da oben selbst zurechtlegt. Diese ganzen vermeintlichen Regeln und der ganze göttliche Plan sind alles nur Spinnereien, die ihr euch zurechtgelegt habt und ihr seid so fixiert darauf, dass ihr eure eigenen Lügen glaubt.“ „Amen“, meinte Nazir zustimmend und nickte. „Wenn Engel vom Glauben abfallen können, wieso sollte es für unsereins nicht möglich sein, zum Glauben zu finden? Ihr habt gerade selbst gesehen, dass es möglich ist. Warum ist es so schwer, das einfach zu akzeptieren?“ Doch Metatron antwortete nicht. Für ihn wurde das eindeutig zu viel und er brauchte dringend Abstand von alledem. „Tut mir leid aber… ich muss das erst mal verdauen.“ Mit diesen Worten stand er auf und verließ das Wohnzimmer. Malachiel schaute ihm nach und machte keinerlei Anstalten, ihn aufzuhalten. Er wusste sowieso, wo sein Freund hingehen würde und es war das Beste, ihm erst ein wenig Zeit zu lassen, bevor er ihm hinterher lief. Nazir wirkte ein wenig besorgt und wandte sich unsicher an seinen Mentor. „Meister, meint Ihr ich bin zu weit gegangen?“ „Ach was“, winkte dieser ab und schüttelte den Kopf. „Der berappelt sich wieder. Und diese eiskalte Dusche hat er wirklich gebraucht, ansonsten lernt er es nie. Genau das ist nämlich sein Problem: solange er wie ein Schaf denkt, kann er nicht zum Hirten werden. Und mit einem geistlosen Schaf kann ich nichts anfangen.“ „Ist das denn überhaupt nötig?“ fragte Nazir skeptisch. „Ich meine… ist das nicht eigentlich Gottes Aufgabe?“ Da hatte er vielleicht nicht ganz Unrecht, aber das war eben nicht das, woran Malachiel glaubte. Er hatte sich noch nie mit der Idee anfreunden können, dass Glaube auch gleichzeitig absoluten Kadavergehorsam bedeutete. Wer seine eigene Meinung und Identität aufgab und der Meinung war, dass dies absolute Hingabe bedeutete, war seiner Ansicht nach bloß ein Dummkopf. Also ging er auch nicht allzu zimperlich mit jenen um, die diese Mentalität pflegten. „Man kann sich nicht immer nur darauf verlassen, dass Gott die Antwort auf alle Probleme ist“, erwiderte Malachiel etwas ungehalten. „Wenn man nicht mal genug Grips im Kopf hat um selber aktiv zu werden, dann hat man es eh nicht anders verdient. Wenn dein Haus anfängt zu brennen, wartest du ja auch nicht bis dich die Feuerwehr irgendwann mal rausholt. Du bist auf dem richtigen Weg, Nazir. Aber dieser ganze beschränkte Kindergartenverein da oben ist immer noch nicht in der Realität angekommen.“ Da Metatron nicht im Pfarrhaus bleiben konnte und dringend einen Ort brauchte, an dem er sich halbwegs wohl und sicher fühlte, hatte er sich in die Kirche zurückgezogen. Er hatte sich auf eine der unbequemen Bänke gesetzt und schaute mit nachdenklichem Blick zum Altar und betrachtete das Jesuskreuz. Normalerweise war es nicht seine Art, einfach so nachzugeben und dann abzuhauen. Aber ihm war das alles etwas zu viel geworden. Ganz gleich wie sehr er Malachiels direkte Art und seine Ehrlichkeit schätzte, fühlte er sich mehr als unwohl bei dem Gedanken, dass all die Dinge, die er bisher gekannt hatte, nicht den Tatsachen entsprachen. Es war immer so einfach und bequem gewesen, nach den Regeln anderer zu leben und einfach alles so zu akzeptieren wie man es ihm sagte. Aber nun wurde ihm langsam das ganze Ausmaß seiner Verantwortung bewusst und dass er sich diese bequeme Art zu leben und zu denken nicht mehr erlauben konnte. Vor allem musste er endlich den Tatsachen ins Auge blicken, dass Gott nicht mehr da war, um ihm die Richtung zu zeigen. Eine ganze Weile war er tief in Gedanken versunken und bemerkte gar nicht, dass Malachiel ebenfalls die Kirche betreten hatte und sich zu ihm setzte. Zuerst saß er einfach nur schweigend da und folgte dem nachdenklichen Blick des Engels. Aber nachdem ihm das doch ein wenig zu langweilig wurde, beschloss er, die Konversation wieder in Gang zu setzen und ein wenig die Stimmung zu lockern. „Weißt du was ich mir manchmal denke?“ fragte er, ohne Metatron Zeit für eine Antwort zu lassen. „Irgendwie ist es doch echt makaber, dass so ziemlich in jeder Kirche Jesus am Kreuz zur Schau gestellt wird. Was glaubst du wohl, was sich Gott dabei denkt? Muss doch echt komisch für ihn sein, wenn er ständig daran erinnert wird, wie grausam sein Sohnemann gestorben ist. Wenn die Menschen den Verstorbenen gedenken wollen, stellen sie sich ja auch keine Fotos auf, wo diese als grausam entstellte Leichen zu sehen sind. Die sollten mal so eine coole Buddy Christ Statue wie in diesem Dogma-Film aufstellen. Ich wette, so was kommt wesentlich besser bei den Leuten an.“ Dieser plötzliche Themenwechsel brachte den Seraph nun doch ein wenig zum Schmunzeln, denn da war durchaus etwas Wahres dran. „Ja das stimmt schon. Das fand Gott tatsächlich etwas unangebracht. Vor allem weil die Familientherapie mit seinem Sohn kein sonderlich schönes Ende genommen hatte. Jesus war halt nicht unbedingt begeistert davon, dass sein Vater ihn nur deshalb zur Erde geschickt hat, damit er von seinen Leuten verraten und dann grausam gefoltert und hingerichtet wird. Das sorgt nicht unbedingt für einen besseren Familienzusammenhalt.“ Erstaunt und etwas verwirrt runzelte Malachiel die Stirn. „Seit wann hat der Himmel denn Therapeuten?“ „Hat er nicht“, räumte Metatron ein und zuckte leise seufzend mit den Schultern. „Und genau deshalb haben die beiden nicht mehr miteinander gesprochen.“ „Wundert mich kein Stück. Aber eines würde mich mal interessieren: glaubst du, die Leute würden zu Aquarien beten, wenn man Jesus ertränkt statt gekreuzigt hätte? Stell dir mal vor, die Kirche wäre dann wie SeaWorld. Dann wären die Messen wenigstens etwas lustiger.“ Allein die Vorstellung war selbst für Metatron zu verrückt und er musste darüber lachen. Solche Fragen hatte er sich noch nie in seinem ganzen Leben gestellt und das war es auch, was er an Malachiel so liebte: er nahm die Dinge nicht einfach so unkommentiert hin, sondern stellte Fragen. Manchmal auch welche, über die man nur den Kopf schütteln konnte. Er wusste ja selbst, dass sein Freund es nur gut mit ihm meinte, wenn er ihm die nackten Tatsachen vor Augen hielt und ihm klar sagte, wie unlogisch und schwachsinnig seine Denkweise war. Das änderte aber trotzdem nichts daran, dass er sich nicht wohl damit fühlte und Angst davor hatte, etwas an seiner altbewährten Routine zu ändern. „Mein ganzes Leben lang habe ich immer nur getan, was man mir aufgetragen hat“, murmelte er nachdenklich und hielt seine Augen auf den Altar gerichtet, wobei er die Hände gefaltet hatte. „Ich habe mich immer nach Gottes Worten gerichtet und seine Beschlüsse nie hinterfragt oder mir eine eigene Meinung dazu gebildet. Er war immer da und hat mir gesagt, was ich tun soll. Und nun bin ich alleine und fühle mich hilflos und verlassen. Alles hat bisher so gut funktioniert und selbst jetzt versuche ich immer noch, alles so zu machen wie er es für richtig halten würde. Aber letzten Endes hat mich das auch nicht weitergebracht und nur für mehr Probleme gesorgt. Sag mal Malachiel… was glaubst du, warum Gott uns verlassen hat?“ „Tja…“, murmelte der falsche Pfarrer und kratzte sich nachdenklich am Ohr. „Ich denke mal, er hatte vielleicht die Schnauze voll davon, immer der Buhmann für alles zu sein. Oder er dachte sich eines Tages, dass ihr alle inzwischen alt genug seid, um euer Leben selbst in die Hand zu nehmen. Statt dir solche Fragen zu stellen, solltest du lieber versuchen, dich auf dein eigenes Leben zu konzentrieren. Ich kapier bis heute nicht, warum Menschen ständig zu mir kommen und mich nach dem Sinn des Lebens fragen. Wenn du meine Meinung hören willst, dann ist unsere gesamte Existenz eh nur ein einziger Witz, von dem keiner die Pointe verstanden hat.“ An dieser Stelle hätte es Metatron nicht einmal wirklich überrascht, wenn es tatsächlich der Fall wäre. Er kannte Gott ja schon eine sehr lange Zeit und wusste, dass dieser etwas exzentrisch und unberechenbar war. Ganz zu schweigen von seinem eigenwilligen Temperament. Als er mit Malachiel vor ein paar Jahrzehnten schon mal über dieses Thema diskutiert hatte, war dieser der Ansicht gewesen, dass Gott nichts weiter als ein Künstler war und die Welt sein Kunstwerk. Und den Sinn des Lebens zu verstehen, war im Grunde genommen nichts anderes, als sich die Frage zu stellen, warum Menschen sich künstlerisch betätigten. Wenn Metatron an die frühen Planungsphasen der Erde und des Paradieses nachdachte, lag der Gedanke vielleicht gar nicht so fern. Keiner im Himmel hatte diese vollkommen verrückte Idee mit den Dinosauriern vergessen, die komplett nach hinten losgegangen war. Und Gott hatte darauf wie jeder Künstler reagiert, der zum allerersten Mal eine negative Kritik erhielt und zuvor dachte, alle Kunstwerke wären perfekt: er hatte in einem Wutanfall einen Meteoriten auf die Erde geschleudert und dafür gesorgt, dass kein Engel jemals wieder darüber sprach und auch die Bibel diesen Vorfall mit keinem Wort erwähnte. Vielleicht war Gott sein ganzes Projekt leid und hatte es deshalb einfach sich selbst überlassen, um sich stattdessen anderen Dingen zu widmen. Oder irgendetwas anderes war passiert und keiner wusste davon. Letztendlich konnte man nur spekulieren und keine zufriedenstellende Antwort auf diese Fragen bekommen. In solchen Momenten hatten es Individuen wie Malachiel einfacher, die keine Antworten auf all diese großen Fragen brauchten und stattdessen selbst ihr Leben bestimmten. Vielleicht gab es ja einen Weg, beides miteinander in Einklang zu bringen, aber nach so langer Zeit der Abhängigkeit war sich Metatron nicht so sicher, ob er das überhaupt konnte. Schließlich wandte sich Malachiel ihm zu und betrachtete ihn mit seinen rot glühenden Dämonenaugen. „Eines würde ich aber gerne wissen, Matt. Wann hast du eigentlich den Kontakt zu Gott verloren?“ Tja, das war eine gute Frage. Metatron war sich damals nicht ganz sicher gewesen, ob Gott einfach nicht zu Konversationen aufgelegt war und nicht reden wollte. Vielleicht war er auch einfach nur erschöpft gewesen, immerhin hatte er damals etwas erschaffen, das eigentlich vollkommen unmöglich sein sollte. „Das war vor gut 700 Jahren“, murmelte Metatron nachdenklich. „Also eigentlich genau zu dem Zeitpunkt, als die Apokalypse zu beginnen drohte und er dich dann erschuf.“ „700 Jahre?!“ rief Malachiel fassungslos und schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. Nun war er wirklich sauer und hatte keine Lust mehr, seinen Freund weiterhin mit Samthandschuhen anzufassen. „Du wartest allen Ernstes seit 700 Jahren und glaubst immer noch, dass Gott irgendwann zurückkehren und wieder zu dir sprechen wird? Und in der ganzen Zeit ist dir nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen, Eigenverantwortung zu übernehmen? Du machst doch Witze!“ „Du weißt, dass Engel keinen Sinn für Humor haben!“ erwiderte Metatron gereizt und schlug mit der Faust auf die Bank. Als ihre Stimmen durch den großen Saal der Kirche hallten und der Seraph dem Echo lauschte, kam ihm ein ganz neuer und völlig verrückter Gedanke. Er erinnerte sich noch daran, dass Gott ihm gesagt hatte, er würde jemanden schicken, der die Welt beschützen und den Weg weisen würde. Das waren seine letzten Worte gewesen, bevor er vollständig verstummt war. Und dann war Malachiel aufgetaucht… ein Wesen, dessen Existenz ein einziger Widerspruch in sich war. Er war etwas, das nicht existieren konnte und doch tat er das. Irgendwie waren diese Zufälle doch ein wenig verdächtig. Skeptisch schaute er den Halb-Engel an und hatte fast schon Angst davor, überhaupt nur diesen Gedanken zu Ende zu formulieren. Ganz gleich wie er es hinterher erklären mochte, das war eindeutig Gotteslästerung. „Sag mal Malachiel… Kann es etwa sein, dass du… naja…“ Nun war sein Freund genauso verdattert und verstand erst nicht, was diese Andeutung bedeuten sollte. Als dann aber endlich der Groschen fiel, klappte ihm die Kinnlade runter. „Okay, du hast eindeutig zu wenig Sauerstoff da oben abgekriegt“, rief er und sprang von seinem Platz auf. „Jetzt wird’s selbst mir zu lächerlich.“ „Ja aber denk doch mal darüber nach“, wandte der Himmelsregent hastig ein und hielt ihm am Handgelenk fest. „Gott kann keine Dämonen direkt erschaffen und jeder weiß, dass man Engel und Dämon nicht miteinander verbinden kann. Und trotzdem existierst du. Ganz zu schweigen davon, dass Gott genau dann verstummt ist, als du erschaffen worden bist. Du musst schon zugeben, dass das etwas seltsam ist, oder nicht? Also wenn du tatsächlich… nun ja… Er bist, dann würdest du es mir doch sagen, hab ich Recht?“ „Ich kann unmöglich Gott sein!“ wandte Malachiel energisch ein. „Wenn ich es wäre, dann wüsste ich es doch. Gott hat ja schon mehrmals in der Vergangenheit irgendeine Gestalt auf der Erde angenommen und es ist noch kein einziges Mal passiert, dass er dabei eine Identitätskrise oder Gedächtnisprobleme entwickelt hat. Und selbst wenn ich er wäre, dann würde es bedeuten, dass Gott nicht mehr in der Form existiert, die du gekannt hast. Dann wäre er immer noch fort. Ganz zu schweigen davon, dass es echt merkwürdig für unsere Beziehung wäre.“ Daran hatte Metatron noch gar nicht gedacht. Und als er dieses Bild vor seinem geistigen Auge war, überkam ihn die Scham und er verbarg das Gesicht in den Händen. „Heilige Scheiße!“ rief er als er allein schon daran dachte, was das bedeuten würde, wenn seine Theorie tatsächlich den Tatsachen entsprach. „Oh mein Gott… das hieße ja, ich hätte mit Ihm geschlafen…“ „Macht sich garantiert super im Lebenslauf“, erwiderte Malachiel scherzhaft und setzte sich wieder, konnte sich aber ein amüsiertes Kichern über Metatrons Reaktion nicht verkneifen. Es kam nicht oft vor, dass dieser mal fluchte und diese seltenen Augenblicke liebte er ganz besonders an ihm. Ein kleines bisschen Unanständigkeit konnte einem so gottesfürchtigen und braven Kerl nicht schaden. „Und ich dachte, Luzifer wäre derjenige mit dem Vaterkomplex.“ „Hör bitte auf damit…“, jammerte der Seraph und hatte immer noch das Gesicht in den Händen vergraben. Trotzdem sah man sofort, dass er rot anlief wie ein gekochter Hummer. „Wenn das die Runde macht, kann ich mich nie wieder im Himmel blicken lassen.“ „Dann denk einfach nicht darüber nach“, kam es zurück und Malachiel begann ihm aufmunternd den Kopf zu streicheln. „Wie gesagt: selbst wenn diese völlig hirnverbrannte Theorie zutreffen sollte, würde das nichts ändern. Der Gott, den du gekannt hast, ist nicht mehr da und keiner weiß, was mit ihm ist und ob er jemals wieder zurückkehren wird. Du kannst dich nicht mehr länger darauf stützen, dass er jemals wieder zu dir sprechen wird, sondern höchstens versuchen, die Dinge auf deine Art zu lösen. Ich weiß, dass es schwer ist. Aber du kriegst das schon hin und weißt du auch warum?“ Metatron ließ die Hände wieder sinken und schaute Malachiel verunsichert an. „Nein… warum?“ Hieraufhin beugte sich der Halb-Engel vor, legte einen Arm um ihn und gab ihm einen zärtlichen Kuss. „Ganz einfach: weil ich an dich glaube.“ Kapitel 10: Liebe macht geisteskrank ------------------------------------ Für Samael war der Abend mit Luzifer endgültig gelaufen, nachdem Uriel ihm noch weiter nachgestellt hatte. Also hatte er sich stattdessen wieder auf die Vorbereitungen seiner Umsturzpläne vorbereitet und alles genau mit seinem Liebhaber durchgesprochen. Das war das Einzige, was ihn noch halbwegs aufmuntern konnte. Einmal das und natürlich der Alkohol, den er gebunkert hatte. Hauptsache er konnte diese mehr als schrecklichen Erinnerungen mit Uriel aus seinem Gedächtnis streichen. Zumindest hoffte er, dass der Kerl sich wieder ein wenig einkriegen und dann deutlich handzahmer werden würde. Vielleicht brauchte er einfach nur jemanden zum Ausheulen und wenn er sich wieder emotional eingependelt hatte, gingen die Dinge wieder ihren gewohnten Gang. Als der nächste Tag anbrach und es immer noch keine genauen Informationen darüber gab, wann das Meeting fortgesetzt werden sollte, beschloss der Todesengel, Metatron einen Besuch abzustatten. Damit es nicht allzu sehr auffiel, dass sich Luzifer immer noch im Himmel befand und noch nicht in die Hölle zurückgekehrt war, wies Samael ihn an, sich in seinen Gemächern versteckt zu halten und sich möglichst nicht blicken zu lassen, bis er endlich wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Es wunderte ihn schon, dass er noch nicht benachrichtigt worden war. Immerhin war er doch der Vizeregent des Himmels und der mächtigste und höchste Seraph nach Metatron. Zwar war er nicht beliebt, aber es wäre trotzdem schön gewesen, mal Bescheid zu sagen. Er hatte noch all die Male deutlich im Gedächtnis, wo er einfach schriftlich informiert worden war und jedes Mal die Botenengel daran erinnern musste, dass er blind war und somit die Botschaften gar nicht lesen konnte. Nur weil er in der Lage war, die Präsenzen anderer Lebewesen zu spüren und sich durch seine überirdischen Sinne einigermaßen zurechtzufinden, bedeutete das noch lange nicht, dass sie ihm sein Augenlicht komplett ersetzten. Aber leider vergaß die gesamte Belegschaft das immer wieder, weil er der einzige beeinträchtigte Engel im gesamten Reich war. Es war schon traurig, dass der Himmel nicht einmal wirklich behindertengerecht war. Noch trauriger war es, wenn man der einzige körperlich behinderte Engel im gesamten Himmelreich war. Und das alles hätte nicht sein müssen, wenn ihm dieser verdammte senile Narr Mose nicht den Stock ins Gesicht gedonnert hätte. Naja, es half auch nichts, immer wieder daran zu denken und sich darüber aufzuregen. Davon wurde die Sache auch nicht besser. Und er hatte ja seine Genugtuung bekommen. Jetzt durfte der gute Mose zusehen, wie er die Ewigkeit ohne seine Sinnesorgane auskommen würde. Dieser Gedanke heiterte ihn nun deutlich auf und er ließ sich fast schon zu einem zufriedenen Lächeln hinreißen, als er sich auf den Weg zum siebten Himmel machte, um persönlich bei Metatron vorbeizuschauen. Weit kam er aber nicht, denn kaum dass er auf den Korridor hinausgetreten war, wurde er auch schon von Uriel abgefangen, der offenbar auf ihn gewartet hatte. „Guten Morgen, Samael“, grüßte dieser ihn überglücklich, umarmte ihn stürmisch und küsste ihn liebevoll. Doch zum Leidwesen des blinden Seraphs waren seine Küsse genauso schlecht und amateurhaft wie gestern. Samael musste sich wirklich zusammenreißen um keine Miene zu verziehen. Zumindest musste er nicht das breite und fröhliche Grinsen des liebeskranken Erzengels sehen. Alleine schon es aus seiner Stimme herauszuhören war schon mehr als genug. „Du siehst gut wie eh und je. Wie geht es dir denn heute? Hast du irgendetwas Wichtiges vor? Kann ich dich begleiten?“ Sofort drückte der listige Seraph ihn von sich um etwas mehr Abstand zu gewinnen. Erstens waren ihm das viel zu viele Fragen auf einmal und zweitens bevorzugte er lieber einen gewissen Abstand zu anderen. Vor allem zu jenen, deren Anwesenheit ihm schon einen eiskalten Schauer des Grauens über den Rücken jagten. „Immer mal der Reihe nach, Uriel. Was machst du denn überhaupt hier? Wie lange wartest du schon vor meiner Tür?“ „Ähm… noch nicht ganz so lange…“, murmelte der Erzengel verlegen und Samael brauchte nicht einmal sein Augenlicht um sofort zu erkennen, dass das eine Lüge war. Der stand eindeutig schon viel länger hier. Konnte es etwa sein, dass er seit seinem letzten Annäherungsversuch am gestrigen Abend nie wirklich weggegangen war? Hatte Uriel etwa allen Ernstes die ganze Zeit vor seinen Gemächern gewartet und sich nicht von der Stelle bewegt, nur um ihm dann weiter hinterherlaufen zu können? Das war nicht nur nervtötend, sondern auch noch verdammt gruselig obendrein. War der Kerl etwa ein Stalker? Kein Wunder, dass ihn keiner leiden konnte. Doch er versuchte gute Miene zum bösen Spiel zu machen und wahrte die Fassung. „Zu deiner zweiten Frage: ich habe da ein paar wichtige Dinge mit jemandem zu besprechen und bin deshalb etwas in Eile. Wenn du also bitte entschuldigst…“ Damit wollte Samael weitergehen, doch Uriel versperrte ihm den Weg und ließ ihn nicht weitergehen. Der blinde Seraph bewahrte zwar sein charismatisches und unnahbares Lächeln, doch innerlich kochte er vor Wut und hätte diesem unverschämten Erzengel eigenhändig den Kopf abgerissen. Was fiel diesem Versager ein, sich ihm so dreist in den Weg zu stellen? „Uriel… wärst du bitte so lieb und würdest mir aus dem Weg gehen?“ fragte er ruhig, doch der Sternenregent bewegte sich erst kein Stück von der Stelle. Er war etwas unruhig und wollte eindeutig etwas von ihm, schwieg dann aber als er merkte, dass sein Schwarm bei etwas schlechter Laune war und trat dann zögerlich beiseite. Ohne großartig weiter darauf einzugehen, ging Samael weiter und hoffte, dass er endlich etwas Ruhe haben würde. Doch auch diese Hoffnung wurde augenblicklich zerschlagen, als er merkte, dass Uriel wie ein Hündchen hinter ihm herlief und offenbar gar nicht vorhatte, ihn alleine zu lassen. Irgendwann bringe ich den Kerl um, dachte sich der Todesengel zerknirscht und hatte sichtlich Mühe, seine Wut runterzuschlucken und weiterhin Haltung zu bewahren. Doch er begann allmählich mit dem Gedanken zu spielen, dass ihm Uriels Tötung vielleicht sogar mehr Genugtuung bereiten würde als Gott zu stürzen. Wenigstens ging ihm dieser bei weitem nicht so sehr auf die Nerven. Nicht auszudenken, wenn er Uriel gar nicht mehr loswurde. Wie sollte er dann seine nächsten Schritte in Ruhe planen, wenn er ständig von einem liebeskranken Stalker verfolgt wurde?! „Gibt es noch irgendetwas, was du mich fragen willst, Uriel? Ich bin nämlich ein klein wenig in Eile…“ „Äh… ja nun… also…“ Nervös räusperte sich der vierte Erzengel und war ein wenig verlegen. „Ich dachte, wir können vielleicht was zusammen machen.“ „Tun wir doch gerade.“ „Ich meine jetzt nicht so nebeneinander herlaufen. Was ich eigentlich fragen wollte ist, ob wir uns richtig treffen. So wie ein Date.“ Nun blieb Samael stehen und hob ungläubig eine Augenbraue, als er das hörte. „Ein Date?“ „Eine romantische Verabredung“, erklärte Uriel und nahm seine Hand. Sie fühlte sich kalt und schwitzig an und machte die Sache nicht unbedingt angenehmer für den listigen Seraph. „So nennen das die Menschen heutzutage, weißt du?“ Lieber Gott… alles aber bloß das nicht!, fuhr es Samael durch den Kopf und sein charismatisches Lächeln wich nun eher einem verkrampften Grinsen, denn er hatte das unangenehme Gefühl, als würde ihm jeden Moment die Galle hochkommen. Zum Glück merkte Uriel nichts davon und deutete die Reaktion eher als vorfreudige Erwartung und glückliches Strahlen. Dass sein Schwarm gerade darüber fantasierte, ihm allein mit der Kraft seiner Gedanken den Kopf abzureißen und dann seine Überreste im tiefsten Höllenfeuer zu verbrennen, ging völlig an ihm vorbei. Aber Uriel war ohnehin nicht sonderlich gut darin, bestimmte Zeichen richtig zu deuten oder die Atmosphäre zu lesen. Da wirkte ein passiv-aggressives Zähnefletschen schnell wie ein freundliches Grinsen. „Das klingt ja wirklich wunderbar, mein Lieber“, meinte Samael und konnte in diesem Moment wirklich von Glück reden, dass der vierte Erzengel erstens blind vor Liebe und zweitens etwas schwer von Begriff war. Jeder andere hätte sofort den sarkastischen Unterton rausgehört und direkt erkannt, dass der blinde Seraph wirklich am Ende seiner Geduld war und am liebsten Köpfe rollen lassen wollte. „Lass uns am besten darüber sprechen, wenn ich wieder zurück bin. Ich muss nämlich noch zu Metatron und mit ihm über das vertagte Meeting sprechen. Solange ich nicht weiß, wann es weitergeht, habe ich wirklich nicht den Kopf für irgendwelche anderen Dinge.“ So, diese Ausrede musste aber nun wirklich genügen, um diesen Schwachkopf endlich loszuwerden. Doch leider musste Samael schnell erkennen, dass er Uriels Hartnäckigkeit wirklich unterschätzt hatte und ihn nicht so schnell abschütteln konnte wie er es sich vorgestellt hatte. Stattdessen hielt ihn der Sternenregent weiter fest und hinderte ihm am Weitergehen. Nun war es endgültig zu viel des Guten. Jetzt musste wirklich mal Tacheles geredet werden. Samael atmete geräuschvoll aus und war nun deutlich genervter als ohnehin schon. „Uriel, ich weiß deine Hingabe wirklich sehr zu schätzen aber ich muss weiter.“ Doch diese kalte und verschwitzte Hand hielt die seine weiterhin fest und etwas unsicher meinte Uriel „Weißt du es denn noch nicht? Das Meeting ist bis auf weiteres verschoben worden. Metatron ist von Gott zur Erde geschickt worden um Malachiel um Hilfe zu bitten. Bis dahin wird er von seinem Bruder vertreten.“ „WAS?!“ rief Samael in seiner donnernden Seraph-Stimme, welche den gesamten Korridor erzittern ließ und für einen Augenblick das Licht verdüsterte. Für gewöhnlich nutzte er diese Stimme nur wenn er wirklich aufgebracht war und keine Lust mehr auf irgendwelche Scharaden hatte. Da das aber so gut wie nie passierte weil er eine enorme Selbstbeherrschung an den Tag legen konnte, kam diese Reaktion für Uriel völlig unerwartet und erschrocken wich dieser vor ihm zurück. Niemand, aber auch wirklich niemand wollte sich freiwillig in einem 300-Meter-Radius mit Samael aufhalten, wenn dieser die Fassung verlor. „Metatron ist zur Erde hinabgereist?“ fragte der blinde Engel wütend. „Seit wann weißt du davon und warum hat mich niemand darüber informiert?“ „Naja… seit gestern Abend ist er schon weg“, murmelte Uriel verlegen und senkte schuldbewusst den Blick. Zwar war Samael blind, doch trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, als würde etwas in diesen trüben und leeren Augen aufflammen, das ihn vorwurfsvoll anstarrte. Vielleicht war es aber auch einfach nur die schlechte Erfahrung mit seinen Kollegen. „Du hast dich gestern nicht so wohl gefühlt und da wollte ich dich nicht stören. Ich habe es auch erst durch Raphael erfahren. Offenbar ist Metatron ziemlich überstürzt aufgebrochen. Aber weißt du… das trifft sich doch ganz gut, findest du nicht? Dann haben wir mehr Zeit für uns.“ Hieraufhin ergriff er wieder Samaels Hand und hielt sie fest. Nachdem er seinen ersten Schreck über dessen wütende Reaktion verwunden hatte, war er einfach nur überglücklich, endlich wieder mit ihm allein zu sein und die gemeinsame Zeit zu genießen. Nun, da seine Gefühle endlich erwidert worden waren, wollte er nicht eine einzige Sekunde von seiner großen Liebe getrennt werden. Dass er sich damit sein eigenes Grab nur noch tiefer schaufelte, ahnte er natürlich nicht und bewies erneut, wie wenig Feingefühl er in dieser Situation hatte. Er bemerkte nicht einmal Samaels vor Zorn zuckende Augenlider und war nach wie vor der festen Überzeugung, dass dieser genauso glücklich war wie er und höchstens ein wenig schüchtern und viel zu beschäftigt war. Das Einzige, was Samael in diesem Moment davon abhielt, diesen liebeskranken Trottel eigenhändig zu zerfleischen, war lediglich seine Fassungslosigkeit über dessen grenzenlose Ignoranz. Er begann sich allmählich zu fragen, wie jemand derart hoffnungslos sein konnte, dass es an ein Wunder grenzte, dass er noch nicht ins Gras gebissen hatte. Tja, wahres Genie war zum Aussterben verurteilt, aber Dummheit hielt offenbar ewig. Je mehr Zeit er mit diesem verliebten Loser verbrachte, umso mehr verstand er, wieso er der Prügelknabe für alle war. Und umso weniger verstand er, warum jemand wie er überhaupt Erzengel werden konnte. Unter normalen Umständen hätte er ja darauf gewettet, dass er sich hochgeschlafen hatte, aber er hatte ja am eigenen Leib bereits feststellen müssen, dass das nicht zutraf. Doch er hatte jetzt weitaus größere Probleme als sich mit einem abgrenzungsbehinderten Engel herumzuschlagen. Dass Metatron zur Erde hinabgereist war, bedeutete eine absolute Katastrophe und konnte im schlimmsten Fall sein gesamtes Vorhaben gefährden. Dieser verdammte Malachiel hatte ihm schon vor 700 Jahren die Suppe versalzen und ihm die Apokalypse und damit auch die längst überfällige totale Säuberung der Erde versaut. Und dann hatte er es auch noch auf derart banale Art und Weise beendet, dass es wie Salz auf der Wunde gewesen war. Es war wirklich eine Szene für sich gewesen, als Metatron damals verkündet hatte, dass Gott einen Mediator geschickt hätte um den letzten Krieg zwischen Himmel und Hölle aufzuhalten. Alle hatten mit einem überraschenden Comeback von Jesus oder wenigstens einem zweiten Messias gerechnet, doch stattdessen war es eine abstrakte Kreuzung aus Engel und Dämon gewesen. Gott allein wusste, wie es überhaupt funktionieren konnte, dass dieser seltsame Freak existieren konnte, obwohl seine schiere Existenz gegen die natürliche Ordnung verstieß. Nachdem beide streitende Parteien ihre erste Verwirrung überwunden hatten, rechneten sie mit irgendeiner großspurigen Rede über Friede, Nächstenliebe und Gleichgewicht. Also etwas in der Art, das die Engel bis zum Erbrechen auf der Erde gepredigt hatten, bis es ihnen zum Hals heraushing. Und so ziemlich auch genau derselbe Sermon, den schon Jesus zu Lebzeiten heruntergeleiert hatte, bis er sich damit ans Kreuz gepredigt hatte. Doch eine solche Rede war ausgeblieben und es folgte auch kein moralischer Appell. Malachiel war auch nicht unbedingt das gewesen, was man als würdevoll und charismatisch bezeichnen konnte. Von Reden über Frieden und Nächstenliebe hielt er nicht allzu viel und war auch nicht daran interessiert, sich bei irgendjemandem beliebt zu machen. Er war einfach nur ein missgelaunter und zynischer Faulenzer gewesen, der mit Worten um sich schoss, denen nicht einmal Jesus vergeben hätte. Statt also große Reden zu schwingen und auf diese Weise die Gemüter zu besänftigen, hatte er sie allesamt als starrsinnige, kurzsichtige und primitive Spatzenhirne bezeichnet. Dann hatte er ihnen das Szenario geschildert, welches nach der Apokalypse folgen würde und jeder musste erkennen, dass eine ganze Ewigkeit in quälender Monotonie doch nicht so das Wahre war. Die ewige Rivalität zwischen Himmel und Hölle und die Erde waren so ziemlich das Einzige, was sie alle davon abhielt, vor Langeweile zu sterben. Und wenn beides wegfiel, hätten sie rein gar nichts mehr, das ihnen das ewige Leben erträglicher machte. Wenn man also auf einen Krieg zugunsten einer weiterwährenden Fehde verzichtete, hätten alle etwas dabei gewonnen. Natürlich waren nicht alle vollkommen überzeugt gewesen und da Worte bekanntlich alleine nicht ausreichten, hatte Malachiel angeboten, den Streit mit Mitteln zu beenden, die „selbst der ignoranteste kriegstreibende Schwachmat“ verstand: wer es tatsächlich schaffte, ihn zu besiegen, würde zum Herrscher über alle Reiche ernannt werden. Und wenn er gewann, dann mussten alle schwören, die Erde nicht als Schlachtfeld für irgendwelche apokalyptischen Machtkämpfe zu missbrauchen. Das Endergebnis war gewesen, dass er jedem gehörig die Kauleiste poliert hatte, der nicht bei seinem Vorhaben mitspielen wollte. Und das war das Ende der Apokalypse gewesen, bevor sie überhaupt richtig losgegangen war. Es war der schwärzeste Tag für Samael seit jenem schicksalhaften Vorfall gewesen, der ihm sein Augenlicht genommen hatte. Vor allem aber war es eine peinliche Schmach für alle Beteiligten gewesen. Allein der Gedanke daran, dass dieser großmäulige Aufschneider sich wieder in fremde Angelegenheiten einmischte und Samaels Pläne komplett durcheinander brachte, stieß ihm sauer auf. Er konnte und wollte nicht zulassen, dass ihm schon wieder jemand in die Parade fuhr. Dieses Mal war er es endgültig leid und er musste unbedingt verhindern, dass Metatron mit ihm im Schlepptau in den Himmel zurückkehrte. Und er hatte auch schon eine Idee, wie er am besten vorging. Problem war nur, dass er dafür irgendwie Uriel loswerden musste. Da dieser sowieso schon da war, konnte er ihn auch gleich mit der nächsten Phase seines Plans betrauen. Es war ein wenig kurzfristig, aber andersherum auch die perfekte Gelegenheit, um endlich etwas Freiraum zu bekommen. Doch wie die Ironie so wollte, musste er dafür mal wieder seine Reize spielen lassen. Also wandte er sich mit einem aufgesetzten verführerischen Lächeln zu Uriel um und schlang seine Arme um dessen Schultern. Auch wenn er wusste, dass er sich damit nur noch mehr Ärger einbrockte, es war immer noch die effektivste Methode um diesen Erzengel um den Finger zu wickeln. „Uriel, erinnerst du dich noch, wie wir gestern darüber gesprochen haben, dass ich dir bei deinem Problem mit deinen Kollegen helfen werde? Ich wüsste da einen Weg aber die Frage ist: vertraust du mir auch?“ Uriel errötete und zuerst fehlten ihm die Worte um überhaupt zu antworten. Hastig rief er „Ich würde dir mein Leben anvertrauen.“ „Das höre ich doch gerne“, raunte Samael und kam ihm so nah, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. „Wenn du alles so machst wie ich es dir auftrage, dann verspreche ich dir, dass du endlich die Anerkennung bekommst, die dir zusteht. Es ist ganz einfach und wir zwei werden das zusammen durchziehen. Na? Wie klingt das für dich?“ Damit hatte er den liebeskranken Sternenregent vollkommen überwältigt und er hätte in diesem Zustand wirklich alles getan, was Samael ihm aufgetragen hätte. Er brachte nur ein „J-j-ja“ zustande. Mit einem geflüsterten „Wunderbar“ küsste der blinde Seraph ihn und ignorierte dabei seine innere Stimme, die ihn davon abhalten wollte, alles nur noch schlimmer zu machen. „Wir werden die Erzengel gegeneinander ausspielen und wenn Michael und Gabriel weg vom Fenster sind, dann wird dir nichts mehr im Weg stehen. Du musst nur Michaels Schwert stehlen und zwar so, dass keiner etwas mitbekommt.“ Hier zog Uriel etwas verwirrt die Augenbrauen zusammen und kam nicht so ganz mit, wozu das gut sein sollte. „Wozu brauche ich das Schwert?“ Samael begann ihm leise die Kurzfassung seines Plans zu erklären und wie erwartet war es keine große Kunst, Uriel zu überzeugen. Zwar war er anfangs noch ein wenig skeptisch, doch als der blinde Todesengel ihm versicherte, dass es schon gut gehen und niemand ihn in Verdacht bringen würde, willigte er ein. Da er seine Kollegen sowieso nicht ausstehen konnte, hatte er auch keine allzu großen Bedenken, Gabriel zu töten und Michael die Schuld in die Schuhe zu schieben. Geschah denen doch ganz Recht, wenn sie meinten, sich ständig für etwas Besseres halten zu müssen. Samael war sichtlich zufrieden und schärfte ihm noch ein, erst mit der nächsten Phase des Plans zu beginnen, wenn er die entsprechenden Anweisungen bekam. Dann schickte er Uriel los, um das Schwert besorgen und ermahnte ihn noch mal eindringlich, sich unter keinen Umständen von irgendjemandem dabei sehen zu lassen. Im Gegenzug versprach er ihm dafür, all das aufzuholen, wozu sie gestern nicht mehr gekommen waren. Und dieses Versprechen genügte vorerst, um diesen liebeskranken Stalker für eine Weile loszuwerden. Kaum war Uriel weg, eilte Samael schnell wieder zu seinen Gemächern zurück, wo er Luzifer zurückgelassen hatte. Jetzt musste er sich dringend etwas einfallen lassen um zu verhindern, dass Metatron diesen Spaßverderber Malachiel hierher brachte. Kaum war er wieder zurück, verriegelte er hastig die Tür um sicherzustellen, dass er nicht gestört werden würde. „Luzifer, wir haben ein Problem!“ Unter dem Bett kam eine dunkle Schlange mit dämonisch glühenden Augen hervor und richtete sich auf. Als sie Samael vernahm, verwandelte sie sich wieder zurück in den Höllenfürst, der sichtlich irritiert darüber war, dass sein Liebhaber schon so früh wieder zurückgekommen war. „Ist etwas passiert? Ist irgendetwas mit Uriel vorgefallen?“ „Vergiss den Kerl mal für einen Augenblick“, fuhr der dunkle Seraph genervt dazwischen, denn er war froh, wenn er wenigstens für diesen Moment nicht diesen Namen hören musste. Der Kerl hatte ihm sowieso schon den letzten Nerv geraubt. „Metatron ist zur Erde geschickt worden und soll Malachiel um Hilfe bitten. Wenn der nach oben kommt um die Krise zu bewältigen, wird er uns garantiert unsere Eroberungspläne versauen. Und das dürfen wir auf keinen Fall zulassen!“ „Den Halb-Engel?“ hakte Luzifer stirnrunzelnd nach. „Oh Mann, das gibt definitiv Ärger…“ „Wieso? Ist irgendwas vorgefallen?“ „Na und ob!“ rief der Höllenfürst verärgert. „Er hat mehrere hochrangige Dämonen bezwungen und in seinem Pfarrhaus versiegelt als wäre das sein privates Museum. Und allein die Art und Weise erst… Belphegor, den Erzdämon der Todsünde Trägheit hat er in eine Standuhr eingesperrt und gemeint, etwas Bewegung würde diesem Faulpelz nicht schaden. Amducias hat er in ein Radio versiegelt, welches andauernd nur Schlagermusik abspielt, weil er von Amducias‘ Musik einen Ohrwurm bekommen hat. Und Astaroth hat er erst die Zunge verknotet und ihn dann in einen alten VHS-Rekorder gesperrt weil – und ich zitiere – niemand einen Typen leiden kann, der immer alles spoilern muss. Ganz zu schweigen davon, dass er unzählige andere Dämonen in irgendwelche Haushaltsgegenstände gesperrt hat.“ „Na super… also haben wir einen zweiten König Salomon“, seufzte Samael und fuhr sich durch sein kohlrabenschwarzes Haar. „Und ich schätze mal, bei der aktuellen Unterbesetzung in der Hölle kann sich Satan keine weiteren Ausfälle erlauben. Hast du da vielleicht noch irgendeine Idee, wie man ihn kleinkriegen oder zumindest davon abhalten kann, hierher zu kommen?“ Luzifer verschränkte die Arme und dachte nach. Leider war es so wie Samael bereits gesagt hatte und er hatte leider nicht genügend Ressourcen an Dämonen zur Verfügung, die er Malachiel auf den Hals hetzen konnte. Es hätte vielleicht anders ausgesehen, wenn es diese blöde Krise nicht geben würde, aber in Zeiten der Not wurde man auch kreativ. Und er hatte da eine Idee, was vielleicht helfen konnte: „Vielleicht liegt es einfach daran, weil die gefangenen Dämonen bereits so bekannt sind, dass ihre Schwachstellen nicht schwer zu erraten sind. Wenn wir aber jemanden losschicken würden, zu dem es noch keine Aufzeichnungen gibt, würde das unsere Chancen erhöhen. Es gibt da eine Gruppe von Nachwuchsdämonen, die sich als New Age Dämonen bezeichnen und auf moderne Mittel setzen, um Chaos und Elend zu verbreiten. Vielleicht fahren wir damit besser als mit all diesen altmodischen Oberdämonen, die nicht mal wissen was ein Shitstorm ist.“ Das Argument klang durchaus plausibel. So wie sich die menschliche Zivilisation entwickelt hatte, war es eher hinderlich, Dämonen mit wichtigen Aufgaben zu betrauen, die sich überhaupt nicht mit dem modernen Schnickschnack auskannten. Wenn es also jemanden gab, der sich perfekt an diese Welt anpassen konnte und über weitaus bessere Mittel verfügte, dann war es definitiv einen Versuch wert. Am liebsten wäre Samael selber gegangen, aber er wollte lieber nicht riskieren, dass Uriel noch irgendeine Dummheit anstellte, die sein Vorhaben in Gefahr bringen konnte. Ebenso wenig konnte er Luzifer losschicken. Wenn der genug Pech hatte und genauso endete wie all die anderen Dämonen, die in Malachiels Mobiliar und Haushaltsutensilien versiegelt waren, hätte er seine stärkste Figur im Spiel verloren. Und das konnte er sich genauso wenig leisten. Also ging er lieber das kleinste Risiko ein. „Also gut, dann sag deinem Kandidaten, er soll nach Hollingsworth gehen und dafür sorgen, dass Malachiel und Metatron nicht in den Himmel zurückkehren.“ Kapitel 11: Duty Calls ---------------------- Fernab von Himmel und Hölle in New York City, besser gesagt mitten in Manhattan, gab es ein etwas ein unscheinbares Apartmentgebäude etwas abseits der City direkt neben einem Irish Pub. Es unterschied sich nicht wirklich von den anderen Häusern in der Straße und war äußerlich schon etwas in die Jahre gekommen. Die Feuerleiter begann schon stellenweise Rost anzusetzen und auch die Fassade konnte mal wieder einen Anstrich vertragen. Es war aber noch nicht so heruntergekommen, dass man gedacht hätte, das Haus würde von zwielichtigen Gestalten oder Leuten aus der tiefsten Unterschicht bewohnt werden. Wer an diesem Haus vorbeiging und nach interessanten Details Ausschau hielt, stellte allerhöchstens fest, dass die Hausnummer die Zahl 666 trug und die Namen an den Briefkästen etwas ungewöhnlich waren. Und die Leute, denen es auffiel, würden amüsiert darüber schmunzeln und vielleicht sogar Scherze darüber machen, dass der Leibhaftige sich in Manhattan niedergelassen hatte. Was sie aber nicht ahnten war, dass die Bewohner dieses Hauses tatsächlich nicht irdischer Natur waren und es bestens verstanden, sich perfekt an die moderne Gesellschaft anzupassen. Wer sie auf offener Straße sah, hielt sie einfach für schlecht gekleidete junge Erwachsene und kümmerte sich nicht weiter um sie. Hätten sie gewusst, dass diese sieben Leute in dem so unscheinbaren Haus trotz ihrer Erscheinung für eine unerhörte Menge an internationalen Skandalen, Diskussionen, Cyberangriffen und Hetzkampagnen verantwortlich waren, hätten sie schnell die Straßenseite gewechselt. Die sieben Höllenwesen, die sich in der Hausnummer 666 niedergelassen hatten, waren in der Hölle als eine Gruppe so genannter New Age Dämonen unter dem Namen „Psychodelia“ bekannt. Sie hielten nichts von den alt hergebrachten Traditionen und veralteten Methoden ihrer Artgenossen, um die Menschen zum Bösen zu verführen. Tatsächlich war die Hölle fast genauso rückständig wie der Himmel, zumindest wenn man nur die ältesten Dämonen ins Visier nahm, die noch vor über 2000 Jahren die Erde unsicher gemacht hatten. Die meisten von ihnen glaubten immer noch, es genüge heutzutage, irgendwelche Politiker zu Korruptionsskandalen zu verführen oder einem Pfarrer unanständige Gedanken ins Hirn zu pflanzen. Die jüngere Generation von Dämonen, die weitaus besser auf dem neuesten Stand der menschlichen Zivilisation und technologischen Innovationen war, konnte sich mit diesen veralteten Methoden beim besten Willen nicht anfreunden. Also hatten sie die Hölle verlassen und sich auf der Erde niedergelassen, um unter den Menschen zu leben. Auf diese Weise konnten sie sich jederzeit an die neuesten Trends und gesellschaftlichen Wandel anpassen und fanden ihre ganz eigenen Wege, um den Leuten das Leben schwerer zu machen. Die sieben Mitglieder von Psychodelia, die sich in Manhattan niedergelassen hatten, waren allesamt Anwärter auf die Nachfolge der sieben Erzdämonen, die die sieben Todsünden verkörperten: Hochmut, Gier, Lust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit. Ein Repräsentant einer Todsünde zu werden war sehr prestigeträchtig und kam gewissermaßen einem Prominentenstatus in der Hölle gleich. Und um sich diesen Titel zu verdienen, musste man sich beweisen und entsprechende Ergebnisse liefern. Das taten diese sieben Unruhestifter und hatten bereits ihre Spuren in der Welt hinterlassen, ohne dass die Menschen sich ihres Einflusses überhaupt bewusst waren. Diese sieben New Age Dämonen arbeiteten eng zusammen und führten gleichzeitig so unterschiedliche Lebensstile, dass man sie niemals miteinander in Verbindung gebracht hätte. Außer wenn man von dem eigenwilligen Klamottenstil absah und vor allem den Namen, die danach klangen, als wären die Eltern entweder Junkies, Stripper oder drogenabhängige Stripper gewesen. Roxy Blues war eine extravagant gekleidete Femme Fatale, die rein äußerlich die Älteste der Gruppe zu sein schien. Das Motto „Sex Sells“ war ihr persönlicher Lebensinhalt und für sie konnte es nicht genug Obszönität und Objektifizierung in der Welt geben. In der Musikbranche war sie eine gnadenlose Managerin, die jungen Mädchen einredete, dass das Wackeln mit dem Hintern oder den Brüsten vor der Kamera und laszive Posen das Selbstbewusstsein der modernen Frau symbolisierten. Je mehr nackte Haut und Erotik in den Medien zu sehen war, umso besser konnte sie ihre Klientinnen verkaufen. Ganz egal ob Musikvideos oder gewöhnliche Werbungen. Solange es nichts mit Sex oder Erotik zu tun hatte, war es die Mühen nicht wert. Und im Gegenzug sorgte Roxy natürlich auch dafür, dass die entsprechenden Zielgruppen auf so viel geballte Sexualisierung ansprangen. Ihre engsten Kollegen waren Maria Pastora und Billie Hoke. So viel Erotik in Werbungen und sozialen Medien führten nicht selten zu Neid und Missgunst. Genau hier kam Maria ins Spiel. Trotz ihres unschuldigen Namens war sie eine absolut hinterhältige Giftnudel, die ihr Geld mit dem Schreiben von Kolumnen für Klatschmagazine verdiente. Sie war gefürchtet und geächtet als jemand, der über jeden etwas abzulästern hatte und tagtäglich neue Lügen und Gerüchte in die Welt streute, die sich besser verkauften als Playboyhefte auf der Priesterschule. Jedes Magazin, für das sie mal schrieb, wurde erst unverschämt reich und sah sich dann nach einiger Zeit mit unzähligen Klagen wegen Verleumdung und übler Nachrede konfrontiert, bis das Unternehmen dann durch die vielen Prozesse pleiteging. Billie Hoke machte sein Geschäft mit der Unzufriedenheit der Leute. Denn er wusste genau, dass mangelndes Selbstbewusstsein schnell dazu führte, dass der Mensch ungesunde Essgewohnheiten entwickelte. Die Leute versuchten diese negativen Gefühle irgendwie zu kompensieren und wollten dabei kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie es taten. Er war derjenige, der ihnen die Lösung versprach: kalorienarme Light-Produkte. Dass die darin enthaltenen Inhaltsstoffe dazu führten, dass die Leute nur noch mehr zu essen begannen und diese vermeintlichen Diät-Produkte somit genauso effektiv und sinnvoll wie Sandkästen in der Sahara waren, ahnte kaum jemand. Und selbst wenn sie sich darüber im Klaren gewesen wären, fiel es ihnen schwer, auf diese Produkte zu verzichten. Denn die Inhaltsstoffe machten regelrecht süchtig. An diesem schicksalhaften Tag, als ein Aufruf ihres Herrn Luzifer die Gruppe erreichte, waren Billie und Roxy geschäftlich unterwegs und konnten dem teuflischen Ruf nicht zeitnah genug nachkommen. Maria war mitten in einem Meeting, als sie die Nachricht erhielt und konnte nicht schnell genug reagieren. Also schickte sie schnell die SMS an ihren Bruder weiter, damit er sich an ihrer Stelle um die Vorbereitung für das Treffen der Sieben kümmerte. Diejenigen, die zu der Zeit im Haus anwesend waren, hörten auf die nicht weniger skurrilen Namen Dex Reefer, Deeda Darvon, Lucy Kush und Bennie Tussin. Der Rest der sieben Todsünden hatte einen besonders kreativen Weg gefunden, um Unheil und Sünde in der Welt zu verbreiten. Bennie, Marias jüngerer Bruder, arbeitete als Software-Entwickler für eines der international bekanntesten Unternehmen, die Videospiele vermarkteten. Als Verkörperung der Gier und jüngerer Bruder des Neids war er eigentlich der wahre Erfinder des Pay-to-Win-Konzepts und der Mikrotransaktionen. Seine Idee verhalf seinem Arbeitgeber zu immensem Wohlstand auf Kosten der Gamer, die nicht nur eine enorme Summe zahlen durften um die Spiele überhaupt zu spielen. Sie durften auch noch Geld investieren, um auch einigermaßen vorwärts zu kommen und sich nützliche Waffen, Accessoires und andere Items zuzulegen. Seit Jahren gab es deswegen unzählige Debatten und Proteste, die aber fast immer erfolglos blieben weil die Gier der Menschen unersättlich war. Und wenn er nicht mit regulären Videospielen beschäftigt war, entwickelte er App-Games, die als harmlose Spiele getarnt waren, jedoch einen markanten Casino-Charakter hatten und glückspielsüchtig machten. Bennie war seinerseits ziemlich stolz auf seine Arbeit und war überzeugt, den besten modernen Weg gefunden zu haben, um die Gier der Menschen für sich zunutze zu machen. Und seine geliebte große Schwester war ihm oft genug eine große Hilfe dabei, denn Neid und Habgier waren ohnehin kaum voneinander zu unterscheiden. Als die Nachricht seiner großen Schwester über sein Handy zugeschickt wurde, war er gerade mitten bei der Arbeit (denn er bevorzugte Homeoffice) und hockte in seinem stockfinsteren Zimmer, welches nur von seinem Monitor beleuchtet wurde. Richtiges Tageslicht hatte der Raum schon seit langem nicht mehr gesehen und hätte jemand die Lampe eingeschaltet, wäre nichts sonderlich Ungewöhnliches aufgefallen. Überall hingen Poster zu Videospielen, die in den letzten vier Jahren veröffentlicht worden waren und auf den Regalen waren allerhand dazu passende Sammelfiguren aufgereiht. Es sah aus wie das Zimmer eines leidenschaftlichen Gamers und so sollte es auch sein. Denn jedes Mitglied von Psychodelia legte großen Wert darauf, vollkommen eins mit der Materie zu werden. Gerade hatte Bennie seinen zweiten Energy-Drink ausgetrunken, da vibrierte auch schon sein Handy und Marias Nachricht blinkte auf. Wortlos und ohne vom Bildschirm aufzublicken, griff er danach und warf nur einen kurzen Blick darauf. Es waren nur ein paar kurze Sätze, doch sie reichten völlig aus um den Software-Entwickler dazu zu animieren, sich von seinem Platz zu erheben und die finstere Höhle zu verlassen, die er sein Zimmer nannte. Er steckte sich sein Handy in die Hosentasche, richtete sein schwarzes T-Shirt auf dem in blauer Farbe „Eat Sleep Game Repeat“ untereinander geschrieben stand und zog sich bequeme Schuhe an. Normalerweise ließ er sich immer gerne etwas Zeit, aber da sie von Luzifer persönlich eine Nachricht bekommen hatten, konnte er sich diesen Luxus heute nicht erlauben. Denn den Prinz der Hölle ließ man lieber nicht allzu lange warten. Das machte nur einen schlechten Eindruck. Selbst wenn sie allesamt Dämonen waren und schmutzige Geschäfte und Lügen zu ihrem Lebensunterhalt zählten, schätzte man sogar in der Hölle Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Hastig eilte er hinaus und öffnete die gegenüberliegende Wohnungstür. Diese war in der Regel nie abgeschlossen und es gab auch keinen einzigen Rauchmelder in diesen Räumlichkeiten. Der Grund erklärte sich schnell, wenn man erst einmal eingetreten war. Kaum, dass Bennie die Tür auch nur einen Spalt breit geöffnet hatte, quollen dichte weiße Nebelschwaden hervor und es roch schlimmer als bei einem Woodstock-Konzert. Drinnen hörte er jemanden in einer etwas schrägen und ziemlich schwankenden Tonlage vor sich hin singen, aber sehen konnte er nichts. Der Rauch in der Wohnung war so dicht, dass er nicht einmal zwei Zentimeter weit schauen konnte und er wagte es auch gar nicht erst, überhaupt hineinzugehen. Er wäre schon nach nur drei Schritten komplett weggetreten gewesen und das hätte nur zu unnötigen Verzögerungen geführt. Also blieb er vor dem Eingang stehen und rief stattdessen laut in den Nebel hinein: „Lucy, ich bin’s: Bennie. Komm mal kurz rüber, wir haben Alarmstufe Rot.“ „Was für’n Rot?“ kam es von irgendwo aus dem dichten Kiffer-Nebel zurück. „Ist es Rosenrot oder Karmesinrot?“ „Teufelsrot!“ antwortete Bennie und musste aufpassen, dass er nicht zu viel von dem Zeug einatmete. Obwohl er nur kurze Atemzüge genommen hatte und einen sicheren Abstand wahrte, konnte er dennoch spüren, wie ihm schummrig zumute wurde. „Ich gehe eben die anderen holen. Wir treffen uns dann bei Dee D. Und mach hinne, ja?“ „Null Problemo!“ kam es zurück und das reichte vorerst. Damit schloss er wieder die Tür und ging weiter den Gang entlang, bis er an einer Tür ankam, hinter der ununterbrochen laute Rap-Musik gespielt wurde. Im Gegensatz zu der ersten Tür waren alle anderen abgeschlossen und da die Musik eine ohrenbetäubende Lautstärke hatte, musste er etwas lauter werden. Also schlug er kräftig mit der Faust gegen die Tür, damit er die Musik übertönen konnte. „Dex! Mach mal die Tür auf! Hey! Hörst du mich?“ Er brauchte nicht lange zu warten, als auch schon die Musik ausging und kurz darauf ein junger Mann mit blassem Hautteint und den wohl stereotypischsten Rapper-Klamotten öffnete und Bennie missmutig anstarrte. Es war der vermutlich weißeste Rapper, den Amerika jemals gesehen hatte und dementsprechend kleidete er sich auch. Unter normalen Umständen hätte man Dex Reefer als Rapper nicht wirklich ernst genommen. In der Szene hätte man sich allerhöchstens darüber lustig gemacht, dass er dem Klischee eines weißen Möchtegern-Rappers entsprach, der viel zu verkrampft versuchte, wie ein Gangster zu wirken und dabei wie eine Lachnummer wirkte. Doch der erste Eindruck täuschte, denn kein anderer Musiker in den USA war derart für seine kontroversen Äußerungen in den sozialen Medien bekannt wie Dex. Er schaffte es mit einem unvergleichlichen Talent, mit seinen rassistischen, sexistischen, transfeindlichen, homophoben und antisemitischen Äußerungen zu polarisieren. Nichts liebte er mehr, als Hass zu schüren und er war nicht wählerisch dabei. Seine Songs brachten das ziemlich deutlich zum Vorschein und sie waren größtenteils entweder verboten oder stark zensiert. Trotz seines asozialen und proletenhaften Gebarens besaß er ein erstaunliches Feingefühl und wusste genau, wann er am besten gegen welche Randgruppen wettern musste, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Wenn er mal genug über Ausländer gewettert hatte, machte er eine ganze Reihe antisemitischer Hasskommentare oder machte sich über sogar Frauen mit Brustkrebs lustig. Und wer glaubte, dass er diese Äußerungen deshalb machte, weil er konservativ und religiös war, hatte sich gewaltig geschnitten. Denn Dex hetzte gegen alles und jeden auf, der nicht bei drei auf den Bäumen war. Und es gab genug Leute, die ihm bei seinen Hasstiraden zujubelten und ihn dafür feierten, dass er offen seine Meinung sagte. Er selbst pochte auf sein Recht auf Meinungs- und Redefreiheit um sich wie das größte Arschloch auf Erden zu verhalten. Und wenn er es mal zu weit trieb, nannte er es einfach künstlerische Freiheit oder Satire. Zwar war das nicht wirklich eine überzeugende Ausrede, aber es gab genug Leute, die ihn unterstützten. Der größte Teil der Öffentlichkeit hatte jedoch kein gutes Wort für ihn übrig. Stattdessen verurteilte ihn die breite Masse für seine diskriminierenden und rassistischen Äußerungen und es verging keine Woche, wo er mal nicht in den Nachrichten erwähnt wurde. Doch das kam ihm nur Recht. Er wollte, dass man ihn hasste. Denn auf diese Weise erlangte er erst Recht Bekanntheit und es gab kaum jemanden aus der jüngeren Generation, der seinen Namen nicht kannte. Und je mehr Hass und Aggressionen er in der Bevölkerung schürte, desto wohler fühlte er sich. „Scheiße Mann, Bennie, was lärmst du so rum? Du hast mich voll aus meinem Flow gebracht, Alter“, blaffte Dex und war sichtlich verstimmt. Offenbar hatte er gerade an einem neuen Songtext gesessen und wenn er etwas nicht leiden konnte, dann waren es Unterbrechungen während seiner kreativen Momente. Doch darauf konnte der Software-Entwickler leider keine Rücksicht nehmen, denn sein Anliegen war viel zu dringend, als dass er hätte warten können. „Sorry Mann, aber wir haben eine Code Red Situation. Ich habe Lucy schon Bescheid gegeben und sie kommt auch gleich. Roxy, Maria und Billie sind zurzeit noch unterwegs, aber sie werden auch nachher kommen. Wir sollen schon mal den Rest zusammentrommeln.“ „Oh Fuck, Mann…“, murmelte der Rapper und schloss die Wohnungstür hinter sich. „Klingt ja nach ner Menge Ärger. Was ist mit Dee D.?“ „Zu ihr wollte ich noch“, antwortete Bennie und gestikulierte dabei nervös mit den Händen. Für ihn war das alles viel zu aufregend, denn es war schon Ewigkeiten her, dass ein so hochrangiger Dämon einen Spezialauftrag für sie hatte. Und da es die perfekte Chance für sie alle war, ihren Wert unter Beweis zu stellen, war er aufgeregt wie ein kleines Kind bei der ersten Schultheateraufführung. Plötzlich hörten sie beide jemanden laut rufen und drehten ihre Köpfe in die Richtung, aus welcher der Anwärter der Gier gekommen war. Eine junge Frau in neonfarbenen Klamotten kam auf sie zu und sie sah aus, als wäre sie gerade von einer wilden Rave-Party gekommen und nicht mehr ganz bei Sinnen. Sie hatte ein breites und etwas dümmliches Grinsen, welches nur jemand haben konnte, der völlig zugedröhnt war und nicht genau wusste, was eigentlich gerade passierte. Es war Lucy Kush, das einzige Mitglied von Psychodelia mit einem tatsächlichen Erzdämon als Vater. Sie war das Kind von Belphegor, dem Repräsentanten der Todsünde Trägheit. Nachdem er aber vor längerer Zeit in eine Standuhr versiegelt worden und damit gewissermaßen zwangsweise in den Ruhestand gegangen war, sollte Lucy eigentlich seine direkte Nachfolgerin werden. Sie wäre es auch längst geworden, aber meist war sie viel zu bekifft um sich daran zu erinnern, den dazu erforderlichen Papierkram auszufüllen, um es auch offiziell machen. Lucy scherte sich nicht viel um Arbeit und begnügte sich damit, die Leute zum Drogenkonsum zu animieren, um der unbequemen Realität zu entfliehen. Vor allem Cannabis war sie nicht abgeneigt und liebte es, stundenlang zu chillen und völlig zugedröhnt dazuliegen, an nichts zu denken und alle Sorgen schweifen zu lassen. Ironischerweise war sie aber auch diejenige, die die Gruppe mehr oder weniger zusammenhielt. Denn alle Mitglieder hatten so ziemlich ihre eigene sehr toxische Persönlichkeit und da brauchte es nur eine harmlose Meinungsverschiedenheit, bis sich alle gegenseitig an die Gurgel gingen. In solchen Momenten war Lucy der Klebstoff, der alle zusammenhielt. Denn wer zu faul war, sich zu streiten, der kam für gewöhnlich besser miteinander aus. Das einzige Mitglied, mit dem sie nicht klar kam, war Roxy, was aber auch daran lag, weil Lust und Trägheit sich allgemein nicht gut miteinander kombinieren ließen. Da war man gewissermaßen schon dazu bestimmt, allein aus Prinzip Rivalen zu werden. Andersherum war Lust perfekt kompatibel mit allen anderen Todsünden wenn man genau wusste, wie man sie in Einklang bringen konnte. „Hey ihr zwei!“ rief Lucy breit grinsend, hob die Hand zum Gruß und wankte ein wenig, bis sie dann Bennie um den Hals fiel und ihn fast aus dem Gleichgewicht brachte. Amüsiert darüber kicherte sie und stieß dabei kleine weiße Rauchwolken zwischen den Zähnen hervor. „Na was geht ab?“ Bennie und Dex sagten nichts dazu, denn größtenteils war alles, was Lucy von sich gab, nur zusammenhangloses und geistloses Gerede, das nur aus dem Mund einer Bekifften kommen konnte. Stattdessen löste sich der Software-Entwickler wortlos von ihr, richtete sie wieder halbwegs gerade auf und versuchte sie ein wenig an den Schultern zu stützen, damit sie nicht noch umkippte. „Kommt, gehen wir eben noch Dee D. Bescheid sagen. Die anderen sollten baldmöglichst kommen.“ Dieses Mal ging Dex vor und ging zur letzten Tür am Ende des Ganges. Auch hier konnte man gedämpft Musik hören, allerdings war es hauptsächlich ein Mix aus Pop und Techno und Dex verzog missmutig die Miene. Er hasste Popmusik im Allgemeinen und konnte sich höchstens für die Musikvideos dazu begeistern. Aber dann auch nur, wenn die Frauen heiß genug aussahen. Ungeduldig drückte er die Klingel mehrfach hintereinander, bis endlich die Musik verstummte und kurz darauf die Tür ruckartig aufgerissen wurde. „Scheiße Mann, Dex. Ich hab’s ja gehört, also krieg dich wieder ein!“ blaffte eine tiefe Stimme, die nicht wirklich zu der femininen Erscheinung passen wollte, die im Türrahmen aufgetaucht war. Deeda Darvon, die von allen einfach nur Dee D. genannt wurde, war eine groß gewachsene junge Frau mit dunklem Teint, wasserstoffblondem Haar und viel Makeup. Rein äußerlich entsprach sie dem typischen Bild einer jungen weiblichen Pop-Ikone, die sich für ein starkes Frauenbild und vor allem für eine aufgeschlossenere Gesellschaft einsetzte. Deeda, auch bekannt als zukünftiger Dämon des Hochmuts und Stolzes, gab sich in der Öffentlichkeit als lesbische Transfrau, PETA-Mitglied, extrem engagierte Feministin und allgemeine Linksliberale. Sie verkörperte so ziemlich das genaue Gegenteil zu Dex, der nichts als Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung predigte. Als Musikerin, Bloggerin und Youtube-Star gehörte sie zu den Aushängeschildern der jungen Generation, die sich für Umweltschutz, Akzeptanz, Gleichberechtigung und aufgeschlossene Genderidentität einsetzte. Das waren nicht unbedingt Eigenschaften, die man ausgerechnet einem Dämon zuschreiben würde. Allerdings war Deeda mindestens genauso extrem und radikal in ihren Ansichten und hatte sehr elitäre und eingeschränkte Ansichten, wodurch sie meist übers Ziel hinausschoss. Sie polarisierte genauso wie Dex mit ihren aggressiven Hetzkampagnen gegen Fleischesser, Männer und jeden Menschen auf der Welt, der entweder Cis oder hetero war und prangerte sie in ihren Online-Videos regelmäßig an. Ihrer Ansicht nach sollten Frauen und alle nicht-hetero-Menschen die Macht in der Welt haben und jeder, der nicht in dieses Schema hineinpasste, verdiente es nicht anders, als in der Hölle zu schmoren. Während also Dex die Rechtsradikalen und Konservativen auf seine Seite brachte und gegen jede erdenkliche Randgruppe wetterte, setzte Deeda mit ihrer Armee von selbstheuchlerischen Schneeflöckchen dagegen. Das resultierte regelmäßig in unzähligen Trollangriffen, Hetzkampagnen, Schlägereien, Brandstiftungen und Cybermobbing mit diversen Morddrohungen. Umso bizarrer war das Ganze, wenn man bedachte, dass Dex und Deeda Zwillinge waren und sich eigentlich bestens verstanden. Ihre erbitterte Feindschaft, die in den Medien immer wieder Stoff für Diskussionen lieferte, war nichts weiter als ein Spiel, das sie beide mit viel Enthusiasmus und Schadenfreude spielten. Je mehr Chaos und Zerstörung sie dabei anrichteten, umso besser. Stolz und Zorn puschten sich immer gegenseitig und richteten ein wahres Desaster an, wenn sie aufeinander trafen. Begrenzte man den verheerenden Schaden allein aufs Internet und die sozialen Medien, konnte ihr Aufeinandertreffen ziemlich gut mit der Kollision zweier Sterne verglichen werden: wenn es zwischen den beiden knallte, blieb kein Stein mehr auf dem anderen stehen. Aus diesem Grund achten selbst die restlichen Mitglieder von Psychodelia darauf, die Zwillinge niemals alleine zu lassen und sie möglichst selten direkt aufeinandertreffen zu lassen. Dazu triggerten sie sich beide gegenseitig viel zu sehr, als dass es lange gut gehen könnte. Ließ man die beiden zu lange unbeaufsichtigt zusammen, führte das in fast allen Fällen zu immensen Kollateralschäden und ziemlich viel Papierkram. Aber nun, da die ganze Gruppe zur Versammlung aufgerufen wurde, waren sie alle gezwungen, dieses Risiko einzugehen. Bennie spürte bereits, wie ihm die Nerven durchzugehen drohten, aber es beruhigte ihn auch zu wissen, dass Lucy bei ihnen war. Sollte die Sache also eskalieren, würde sie die beiden Zwillinge des Verderbens schnell wieder auf den Teppich holen. „Tut mir leid, dass wir stören“, entschuldigte er sich hastig. „Aber ich habe eine Nachricht von Maria bekommen. Wir haben Alarmstufe Rot und…“ „Teufelsrot!“ unterbrach Lucy ihn mit aufgesetzter Ernsthaftigkeit, prustete aber dann auch wieder vor Lachen und fand sich selbst dabei unfassbar witzig. Bennie ignorierte diesen Einwurf und erklärte „Maria hat mich benachrichtigt, dass wir einen Auftrag vom Boss haben.“ „Welchen Boss?“ fragte Deeda irritiert und verzog ein wenig die Mundwinkel, wobei ein goldener Eckzahn an der oberen linken Seite zum Vorschein kam. „Den Boss, den Boss-Boss oder den Oberboss?“ „Äh, den Boss-Boss… denke ich…“, murmelte Bennie, war sich aber nicht so ganz schlüssig. Um es aber etwas verständlicher zu machen, erklärte er „Ich spreche von Luzifer!“ Wenn man dachte, dass allein der Himmel mit unübersichtlicher Hierarchie und nicht funktionierenden bürokratischen Abläufen zu kämpfen hatte, war man schnell einem Irrtum auferlegen. Tatsächlich war der ganze organisatorische Ablauf im weltlichen Kellergeschoss genauso chaotisch und verwirrend wie sein himmlisches Pendant, was vor allem daran liegen mochte, dass die Verantwortlichen selbst Engel gewesen waren. So kam es ziemlich häufig vor, dass Dämonen niedrigen Ranges oftmals gar nicht wussten, wer denn jetzt eigentlich ihr direkter Vorgesetzter war und welcher Fürst, Herzog, Graf oder Marquis für welchen Teil der Hölle zuständig war. Ganz zu schweigen davon, dass die meisten von ihnen sich nicht mit der Monarchie auskannten und dementsprechend nicht mal wussten, wie die Rangfolge all dieser Adelstitel war. Auch die Mitglieder von Psychodelia wussten nicht wirklich, welcher Dämonenherrscher überhaupt das Sagen hatte oder nicht. Also hatten sie sich eine Faustregel zurechtgelegt: Luzifer und Satan standen am allerobersten und deshalb war jedem ihrer Aufrufe unbedingt Folge zu leisten. Zwar hatten sie auch noch einen direkten Vorgesetzten, aber keiner konnte sich überhaupt noch daran erinnern, wer das jetzt eigentlich genau war. Und manchmal brachten sie sogar Luzifer und Satan durcheinander und wussten nicht, wer von beiden jetzt der König und wer der Prinz war. Fairerweise waren sie nicht die Einzigen, denn die meisten Menschen schafften es ja nicht einmal, Luzifer und Satan überhaupt auseinanderzuhalten. Wie konnte man da von jungen Dämonen erwarten, dass sie besser differenzieren konnten, wenn diese sowieso die meiste Zeit außerhalb der Hölle verbrachten? Als der Name Luzifer fiel, hoben sich Deedas Augenbrauen überrascht und sofort trat sie beiseite, um ihre drei Kameraden hereinzulassen. „Wow, das klingt ja echt dringend“, meinte sie und wies die drei an, ins Wohnzimmer zu gehen. Da sie von allen die größte Wohnung hatte, war sie meistens die Gastgeberin bei wichtigen Meetings. Aber auch deshalb, weil ihre Todsünde in der Rangfolge den ersten Platz belegte. Das Wohnzimmer war groß genug, um allen sieben Mitgliedern bequeme Sitzmöglichkeiten zu bieten. Angefangen von einer großen Couch bis hin zu ergonomischen Sitzsäcken, in die man so tief hineinsank, dass man nie wieder aus eigener Kraft aufstehen konnte. Deeda wartete, bis sich alle gesetzt hatten und wandte sich dann fragend an Bennie. „Was ist mit dem Rest der Truppe? Kommen die noch oder was ist los?“ „Maria hat geschrieben, dass sie bald hier sein wird“, antwortete der Software-Entwickler. „Ich schätze mal, Billie und Roxy dürften auch bald aufkreuzen. Ich habe aber noch keinen Plan, was genau der Auftrag ist. Vermutlich werden wir das noch früh genug erfahren.“ „Ist doch geil, Mann. Dann können wir mal so richtig auf den Putz hauen“, rief Dex und grinste in heller Vorfreude bei dem Gedanken, sich mal wieder eine richtig heftige Schlägerei zu liefern. Vielleicht hatte er Glück und es waren ein paar Randgruppen-Vertreter dabei. Das machte sich richtig gut in den Nachrichten. „Ist echt lange her, seit wir das letzte Mal die Sau rausgelassen haben. Yo, Dee D. Wie viele Tote gab’s bei unserer letzten Massenschlägerei?“ „Nicht viele“, seufzte die Pop-Ikone und nahm nun zwischen ihrem Bruder und Bennie auf dem Sofa Platz. Lucy hatte sich einfach in den Sitzsack fallen lassen und döste vor sich hin, während sie kaum etwas von dem mitbekam, was um sie herum passierte. „Gerade mal sieben Tote und knapp 240 Verletzte. Wir waren echt schon mal besser gewesen.“ „Vielleicht haben wir ja Glück und wir dürfen wieder eine solche Party feiern“, vermutete Dex. „Ist doch das beste Unterhaltungskino das wir bieten können. Rechtsradikale und Linksradikale, die sich gegenseitig die Scheiße aus dem Leib prügeln… So viel Unterhaltung gibt’s da unten nicht. Ich wette mit euch, die warten nur darauf, dass wir endlich mal wieder ein Großprojekt starten.“ „Yeah, das wär’s echt. Totale Anarchie und Massenpanik. Am besten mit Massenaufruf über Instagram und Twitter mit Treffpunkt“, stimmte Deeda breit grinsend zu. „Dann können meine Leute deinem Verein von rassistischen, weißen Patriarchen gehörig den Arsch aufreißen und dann sehen wir ja, wer von uns beiden Recht hat.“ „Träum weiter. Als ob deine politisch korrekten Weicheier eine Chance gegen meine Gang hätten. Meine Leute fressen Stacheldraht zum Frühstück und pissen Napalm!“ „Pfft, wenn’s so gut funktioniert wie dein vermeintliches Schwulenradar oder dein Judenradar, dann brauche ich mir ja keine Sorgen zu machen“, spottete Deeda. „Ich habe den Großteil der Öffentlichkeit auf meiner Seite, während du nur von zurückgebliebenen Inzestmissgeburten, Hinterwäldlern und Pferdefickern aus den Südstaaten und arbeitslosem White Trash unterstützt wirst.“ Dex wollte darauf etwas erwidern, doch Bennie ahnte, dass das nur weiter eskalieren würde und versuchte hastig die Gemüter wieder zu beruhigen. Als das aber nichts brachte und sich die beiden Zwillinge wieder gegenseitig anstachelten, beschloss der Dämon der Gier, dass es das Beste wäre, mit Lucy den Platz zu tauschen. Wenn die Zwillinge erst einmal genug von Lucys Dunst inhaliert hatten, würden sie schon früh genug das Interesse an ihrer Geschwisterrivalität verlieren. Tatsächlich schien das auch zu wirken, denn kaum saß die träge Kifferin zwischen den beiden Geschwistern, wurde es mit einem Male deutlich ruhiger. Blieb nur zu hoffen, dass es auch anhielt, bis der Rest der Gruppe eingetroffen war. Kapitel 12: Drei Dämonen für Luzifer ------------------------------------ Es dauerte nicht lange, bis sich weiße Nebelschwaden im Wohnzimmer der dämonischen Feministin ausbreiteten und sie alle von einer lähmenden Trägheit befallen wurden. Es roch intensiv nach Gras und Ursprung dieses Nebels war niemand anderes als Lucy Kush, die seelenruhig da saß und einen Joint rauchte. Dabei produzierte sie so viel Qualm, dass höchstwahrscheinlich schon längst die Rauchmelder losgegangen wären, wenn Bennie nicht rechtzeitig und in weiser Voraussicht die Fenster geöffnet hätte. Trotzdem war die Wirkung extrem und die beiden Zwillinge, die sich sonst immer gegenseitig aufstachelten, waren vollkommen weggetreten und überraschend handzahm. Im Gegensatz zu den meisten Dämonen, die sich auf Höllenfeuer, Seuchen und Katastrophen spezialisiert hatten, bestand Lucys einzigartige Gabe darin, einen berauschenden Nebel zu erzeugen, der jeden müde und träge machte, der ihn einatmete. Und da sie selbst das Zentrum war, traf es sie am allermeisten. So eine Fähigkeit war zwar echt nützlich, um Streitereien innerhalb der Gruppe im Keim zu ersticken oder Feinde handlungsunfähig zu machen. Vor allem wenn man Stolz und Zorn in einen Raum steckte, dauerte es keine fünf Minuten, bis es die ersten Opfer zu beklagen gab. In solchen Momenten erwies sich Trägheit als eine überaus nützliche Eigenschaft, um all diese negativen Schwingungen zu neutralisieren. Blöderweise wirkte dieser Kiffernebel jedoch so gut, dass Lucy damit wirklich jeden in ihrem näheren Umfeld erwischte, selbst jene, die es eigentlich gar nicht treffen sollte. Inzwischen hatte Bennie aber gelernt, dass die beste Art mit Lucys Nebel umzugehen, einfach nur viel frische Luft war, um den Effekt zu lindern. Ansonsten führte sie ein eher isoliertes Leben, da sie sonst einen zu starken Einfluss auf die anderen gehabt hätte. Hätte er nicht in weiser Voraussicht die Fenster geöffnet, wären sie alle schon längst eingeschlafen. „Oh Mann Leute, ich liebe euch alle“, seufzte die Kifferin breit grinsend und sah abwechselnd Deeda und Dex an, die ihrerseits völlig apathisch da saßen und still blieben. Zumindest versuchte Deeda noch irgendwie ihre Gedanken zu sortieren doch selbst ihr Gehirn war von der lähmenden Trägheit befallen, die Lucy ausströmte. „Warum sitzen wir noch mal alle zusammen? Weiß das noch jemand von euch?“ fragte sie unsicher und kratzte sich am Hinterkopf. Gleichgültig zuckte Dex mit den Achseln und meinte nur „Keine Ahnung… aber irgendwie hab ich jetzt Hunger. Geht’s irgendwem sonst genauso?“ „Hey, jetzt reißt euch mal etwas zusammen“, ermahnte der Software-Entwickler, der etwas Abstand zu der trägen Dämonin hielt und deshalb noch nicht gänzlich von ihrem Nebel beeinflusst wurde. „Die anderen kommen gleich und dann sprechen wir darüber, was Luzifer von uns will.“ „Ach ja richtig“, murmelte der Rapper und begann etwas geistesabwesend auf seinem Daumennagel zu kauen. „Da war ja was…“ Es war wirklich jedes Mal das gleiche Problem, wenn sie alle zusammensaßen. Entweder artete es in Rivalitätskämpfen aus oder der Großteil war völlig zugedröhnt, weil sie zu viel von Lucys Nebel inhalierten. Ständig pendelten sie zwischen zwei Extremen und das war auch so ziemlich der Grund, warum sie sich so selten alle zusammen trafen oder in Gruppen arbeiteten. Das war eben einer der Nachteile, wenn man die Todsünden verkörperte: es ging einem so in Fleisch und Blut über, dass gewisse Dinge eine Art Automatismus entwickelten und man sie nicht mehr bewusst abstellen konnte. Ganz gleich ob es die Freude daran war, Hass zu schüren, sich selbst einzureden dass man besser als andere war, oder wie in Lucys Fall: man berauschte alle Leute um sich herum, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Fairerweise musste man aber auch bedenken, dass sie meistens viel zu zugedröhnt war, um überhaupt etwas mitzukriegen. Glücklicherweise hatte das Warten ein Ende, denn die restlichen drei Mitglieder von Psychodelia kamen nur wenige Minuten später herein. Billie Hokes, zukünftiger Erzdämon der Völlerei und Geschäftsführer von Diätprodukt-Herstellern, war als Einziger relativ normal gekleidet und sah aus wie einer dieser Anzugträger, die den ganzen Tag in der Chefetage abhingen und mit alten steinreichen Säcken irgendwelche dubiosen Meetings hielten. Seine Begleiterin, der verführerische Succubus Roxy trug zwar Businesskleidung, allerdings sah sie trotzdem aus als gehörte sie zu der Sorte Frauen, die vorrangig ihre körperlichen Reize ausnutzten um sich Vorteile zu erschleichen. Ihr Rock war eindeutig zu kurz um dem allgemeinen Dresscode zu entsprechen und ihre Bluse war so weit aufgeknöpft, dass man nicht nur ihr Dekolleté, sondern auch ihren schwarzen Spitzen-BH sehen konnte. Abgerundet wurde das Ganze durch schwarze Seidenstrapsen und Schuhen mit Absätzen, die so spitz waren, dass man damit jemanden abstechen konnte. Maria war vergleichsweise schlichter gekleidet und begnügte sich mit einem giftgrünen T-Shirt Kleid, welches zu ihrer Todsünde „Neid“ hervorragend passte. Sie hatte als einzige Dämonen in der Gruppe eine Brille auf der Nase, was aber nicht daran lag, dass sie schlechte Augen hatte. Genauso wenig wie Engel hatten auch die Bewohner der Hölle keine solchen Probleme. Nein, sie wollte einfach nur aus Prinzip etwas nerdig aussehen, damit man ihr nicht so leicht auf die Schliche kam. Sie bevorzugte es, den Schein eines unscheinbaren Mauerblümchens zu wahren, welches dann mit umso grausamerer Brutalität den Ruf der Leute zerstörte, die besser gestellt waren als sie. Als sie die auf der Couch dösenden Zwillinge und Lucy direkt zwischen ihnen sitzen sah, verzog sie finster die Miene. „Na das ist ja mal wieder typisch. Während ihr Penner euch zudröhnt und hier herumchillt, müssen wir mal wieder hart arbeiten und zusehen, wie wir unser Soll erfüllt kriegen.“ „Immer noch besser als wenn sie wieder einen Cyberkrieg vom Zaun brechen“, kommentierte Bennie schulterzuckend. „Wenn du einen besseren Weg findest, um die beiden an der Leine zu halten, bin ich gerne für Vorschläge offen. Aber jetzt sag schon: was will Luzifer eigentlich von uns?“ „Immer der Reihe nach“, beschwichtigte Billie und die drei Hinzugekommenen nahmen erst einmal Platz, denn im Türrahmen stehend ließ sich nur schwer unterhalten. Roxy, die wohl am Meisten von ihnen wusste, holte ihr Handy aus ihrem Dekolleté hervor und begann auf dem Display zu tippen um Luzifers Nachricht zu suchen. Es war eine wirklich merkwürdige Angewohnheit von ihr, so ziemlich jeden erdenklichen Kleinscheiß in ihrem Ausschnitt zu verstauen und Satan allein wusste, wie viel Platz sie da drin eigentlich hatte. Manchmal holte sie auch Dinge daraus hervor, die einen vor die ernste Frage stellten, wie das physikalisch gesehen überhaupt möglich war. Bennie hatte es zwar selbst nicht gesehen, aber Dex behauptete selbst heute noch, dass sie sogar mal ein ganzes Fahrrad aus ihrem Ausschnitt hervorgeholt hatte. Seitdem kursierte das abstruse Gerücht herum, dass Roxy eine Art Wurmloch zwischen ihren Brüsten hatte. Eine klare Antwort hatte es bis heute noch nicht darauf gegeben, weil sie jeden zu Brei schlug, der es wagte, ihr so eine Frage zu stellen. Nachdem die Dämonin der Lust die Nachricht gefunden hatte, überflog sie diese noch einmal kurz und erklärte „So wie ich das verstehe will Luzifer, dass wir uns um zwei Problemfälle in einem englischen Bauernkaff kümmern sollen. Einer von ihnen ist Metatron und der andere soll Malachiel sein. Wir sollen die beiden davon abhalten, in den Himmel zurückzukehren.“ Entsetzen ging durch die Runde, denn keiner von ihnen hätte damit gerechnet, dass sie einen derart gewaltigen Gegner bekommen würden. Sie alle wussten, dass der König der Engel das mächtigste himmlische Wesen war und um Malachiel rankten sich auch unzählige Gerüchte. Teilweise wurden die Geschichten, die man sich in der Hölle über diesen merkwürdigen Zeitgenossen erzählte, derart aufgebauscht, dass man nicht wirklich wusste, was davon überhaupt echt war. Teilweise waren diese ganzen Gerüchte so bizarr und übertrieben, dass er in der Hölle so etwas wie Chuck Norris Status erreicht hatte. Das hatte schnell dazu geführt, dass wagemutige und verrückte Dämonen, die auch ein ausreichendes Maß an Dummheit besaßen, die Herausforderung mit Malachiel gesucht hatten. Sie waren ernsthaft davon ausgegangen, dass sie in der Hierarchie weiter aufsteigen könnten, wenn sie den berüchtigten Bezwinger der Apokalypse besiegten. Immerhin hatte Malachiel Satan mit bloßen Händen dermaßen das Fell über die Ohren gezogen, dass dieser sich nie wieder getraut hatte, jemals wieder an eine Apokalypse zu denken. Wenn man es also schaffte, den Kerl zu töten, der Satan bezwungen hatte, musste das doch bedeuten, dass man zum neuen Herrscher zur Hölle wurde. Zumindest war es das, was sich diese Wahnsinnigen in ihrem Hirn zusammengesponnen hatten und nicht einmal Gott oder Satan vermochten zu verstehen, was diese Verrückten zu der Idee verleitete, sie könnten jemanden schlagen, den selbst das mächtigste Höllenwesen nicht zu bezwingen vermochte. So sehr man es sich auch nicht vorstellen wollte, es gab solche Spinner nicht nur auf der Erde und so hatte der Darwinismus sein Übriges getan und dafür gesorgt, dass keiner von ihnen je wieder irgendetwas unsicher machen konnte. Stattdessen fristeten sie nun ihr Leben eingesperrt in Haushaltsgegenständen in Malachiels Pfarrhaus. Da sie also wussten, wie schwierig es war, einen Halb-Engel wie Malachiel zu bezwingen, gab es nicht unbedingt viele Freiwillige in der Gruppe. Tatsächlich hatte der Großteil der Psychodelia gehörig Schiss und wollte das komfortable Leben auf der Erde nicht unnötig aufs Spiel setzen. Andererseits konnte man dem Prinz der Hölle auch schlecht eine Absage erteilen. Also musste sich irgendjemand finden, der bescheuert genug war um eine derartige Kamikazenummer abzuziehen. Bennie war der Erste, der sich zu Wort meldete. „Ich glaube nicht, dass ich da so viel ausrichten kann. In einem derart kleinen und abgeschiedenen Bauernkaff gibt es nicht genug, womit ich arbeiten kann. Wie soll ich denn jemanden zur Gier verleiten, wenn es dort nicht mal richtigen Internetempfang gibt?“ „Ganz zu schweigen davon, dass die Leute auf dem Lande vollkommen rückständig und prüde sind“, stimmte Roxy zu und verschränkte die Arme vor der Brust. „Mal ernsthaft: warum kann der Scheißkerl nicht einfach in der Großstadt leben? Dann hätten wir wenigstens leichtes Spiel mit ihm.“ „Leute, vielleicht denken wir auch zu fortschrittlich“, mischte sich Lucy ein und warf ihren ausgerauchten Joint zum Fenster raus, wobei sie wieder eine dichte Rauchwolke ausstieß. „Ich meine, wir sind Dämonen, oder nicht? Sollte es da nicht total easy sein, ein paar Leute zu verführen?“ „Ja aber es lohnt sich einfach nicht, sich irgendwelche mickrigen Dörfer zum Ziel zu machen“, warf Billie ein und holte eine kleine PET-Flasche mit Diät-Cola aus der Innentasche seines Anzugs heraus, wo er genauso wie Roxy allen erdenklichen Kram aufbewahrte. Hauptsächlich beschränkten sich diese Dinge meist nur auf Snacks und Diät-Softdrinks. Er trank ein paar Schlucke und fuhr mit seiner Erklärung fort. „Heutzutage lohnt es sich fürs Geschäft einfach nicht mehr, in kleinen Maßstäben zu denken. Genau deshalb haben wir uns doch in Manhattan niedergelassen. Wir sind gar nicht darauf ausgelegt, kleine Bauerndörfer heimzusuchen. Das wäre, als würden wir mit Kanonen auf Spatzen schießen.“ Maria sah abwechselnd zu den einzelnen Mitgliedern, dann blieb ihr Blick ein paar Sekunden auf ihren Bruder haften. Die Dämonin des Neids wusste für gewöhnlich immer einen Weg, um ihr Gift in die Herzen der Menschen zu pflanzen. Doch auch sie fühlte sich alles andere als wohl bei dem Gedanken, hinterher genauso eingesperrt zu werden. Sie hatte noch so viele Pläne. Es gab noch so viele Existenzen zu ruinieren und so viele Leben und Beziehungen zu zerstören. So viele unschuldige Menschen, die so empfänglich für Neid und Argwohn waren. Das wollte sie nicht einfach so aufgeben. „Seien wir mal ehrlich: es ist sowieso total dämlich was Luzifer von uns verlangt. Metatron könnten wir vielleicht irgendwie kleinkriegen, aber an diesen Malachiel werden wir unmöglich vorbeikommen. Da er selbst zur Hälfte Dämon ist, werden die üblichen Spielchen nichts bringen. Mit Neid kann man denen sowieso nicht kommen. Metatron wäre vielleicht empfänglich dafür, aber ich glaube kaum, dass er dämlich genug ist, dass er dieselbe Stuntnummer wie Luzifer und Satan mit deren Rebellion abziehen wird. Vor allem weil keiner von denen wirklich Erfolg hatte. So blöd ist doch keiner, dass heutzutage noch irgendjemand versucht, gegen Gott zu rebellieren.“ „Und was ist mit uns?“ fragte Dex stirnrunzelnd. „Ist Rebellion gegen Gott nicht irgendwie… naja… unser Ding oder so?“ „Wir sind ja auch Dämonen, da gehört so was eben zur Jobbeschreibung dazu“, meinte Billie und winkte ab. „Aber jetzt mal ernsthaft: wie zum Teufel sollen wir ein Bauernkaff unsicher machen, das weit vom Schuss liegt, wo es kaum Internet gibt und wo die Bewohner allesamt langweilige Bauern und alte Leute sind?“ „Oh Mann, wir sind echt zu sehr wie die Menschen geworden“, seufzte Lucy und legte den Kopf zurück, um die Zimmerdecke anzustarren. „Also ich werde es definitiv machen. Naja… dieser Arsch hat meinen Alten weggesperrt und das ist voll uncool. Hab zwar noch keinen blassen Schimmer wie ich’s anstellen soll, aber vielleicht klappt’s ja so.“ Unsicher tauschten die New Age Dämonen Blicke aus und haderten immer noch mit dem Gedanken, diese Mission anzunehmen. Kräftemäßig hatten sie mit Sicherheit kaum eine Chance gegen ihre Gegner und intelligente Strategien lagen ihnen von Natur aus kaum. Wenn sie List und Tücke anwandten, dann immer nur wenn sie Menschen zum Bösen verführen wollten. Dämonen mieden für gewöhnlich offene Konfrontationen weil Kämpfe nicht so unbedingt ihr Ding waren. Ganz zu schweigen davon, dass sie meist immer eine gehörige Abreibung von oben bekamen. Dämonen scheuten auch sonst unnötige Gewalt, weil es nicht ihrem Niveau entsprach. Wer sich dazu herabließ, einen Menschen einfach nur zu töten, bewies damit nur einen Mangel an Intelligenz und Geschick. Theoretisch gesehen hätte jeder von ihnen problemlos ein Massaker biblischen Ausmaßes anrichten können, aber wo war denn da der Spaß drin, wenn man genauso gut andere die Arbeit für sich machen lassen konnte? Außerdem bekam man schnell einen schlechten Ruf als Blutsäufer von geringer Intelligenz. Die einzige Möglichkeit, die eine Aussicht auf Erfolg versprach, war eine Kombination aus Strategie und Kraft. Dazu benötigte es auch einiges an Nahkampferfahrung und die besaß kaum einer von Psychodelia. Zumindest bis auf Dex und Deeda, die selbst regelmäßig bei Demonstrationen oder Aufständen mitmischten. Ansonsten war der Rest von ihnen hauptsächlich Stubenhocker oder Geschäftsleute. Das war halt einer der negativen Aspekte der Modernisierung: alles geschah nur noch über Internet und Fernsehen, aber kaum jemand machte sich in einer handgreiflichen Auseinandersetzung die Hände schmutzig. Selbst das klassische Besitzergreifen von Menschen war völlig aus der Mode gekommen und wurde lediglich von wenigen Dämonen praktiziert, die ein wenig in Nostalgie schwelgen wollten. Maria grummelte frustriert und fuhr sich mit den Fingern durch ihre Locken. „Ich könnte echt kotzen. Luzifer und seine Gang dürfen mal wieder schön zurücksitzen und andere die Arbeit machen lassen, obwohl wir seit den 90ern den Hauptteil der Arbeit auf der Erde leisten. Und anstatt, dass wir dafür irgendeine Anerkennung bekommen, werden wir auf eine Selbstmordmission geschickt.“ „Kann man halt nichts machen, wenn man in der Hierarchie ganz unten ist“, meinte Billie schulterzuckend und holte nun eine Tüte Chips hervor, die er sich mit Lucy zu teilen begann. „Klar ist es scheiße, aber was sollen wir sonst machen?“ „Vielleicht klappt es ja, wenn wir uns eine vernünftige Strategie überlegen“, schlug Roxy vor und überkreuzte verführerisch die Beine. „Ich meine… wenn wir einfach so losstürmen, ist es doch von vornherein offensichtlich, dass es nach hinten losgehen wird. Klar wird nicht jeder von uns etwas ausrichten können, aber wenn wir die richtigen Kandidaten losschicken, sollte es klappen. Lucy wäre schon mal perfekt. Mit ihrem Nebel hat sie die beiden ins Land der Träume geschickt, bevor die überhaupt etwas merken. Der Rest sollte nicht so schwer sein.“ „Ja, aber es stellt sich die Frage, wer mit ihr mitgehen soll“, wandte Bennie ein und wies mit einer Kopfbewegung zu der Kifferin hin, die wieder völlig abgedriftet war und munter Chips zu futtern begann, während sie in einer schrägen Tonlage vor sich hin sang. „Das Dumme ist nämlich, dass Trägheit für gewöhnlich die anderen Todsünden neutralisieren kann. Heißt also: wer immer mit ihr mitgehen wird, kann höchstwahrscheinlich nicht viel machen. Ganz zu schweigen davon, dass wir hinterher genauso zugedröhnt sind. Und alleine gehen lassen können wir Lucy auch nicht.“ „Auch wieder wahr“, seufzte Roxy. „Das heißt also, wir brauchen entsprechende Schutzmaßnahmen und diejenigen, die mit Lucy mitgehen, sollten genug Kampferfahrung mitbringen, um Malachiel und Metatron zumindest dermaßen zuzurichten, dass die beiden nicht in den Himmel zurückkehren können. Irgendwelche Freiwilligen?“ Wieder wurden fragende Blicke in der Runde ausgetauscht und nur Lucy selbst meldete sich, hatte aber höchstwahrscheinlich nur die Hälfte von dem verstanden, was gesagt wurde. Da es keinen Sinn machte, mit ihr zu diskutieren, wurde sie ignoriert. Billie räusperte sich schließlich und meinte „Also ich war noch nie wirklich ein Kämpfer. Ich bin Geschäftsmann und Gourmet und vom Kämpfen kriege ich immer nur fiese Seitenstiche.“ „Das kommt nur davon, dass du zu viel von deinem eigenen Quatsch frisst und zu wenig Sport triebst“, spottete Dex sofort, kassierte aber einen kräftigen Faustschlag in die Seite von seiner Schwester, die ihn streng tadelte „Das ist Fat-Shaming, du Wichser!“ „Ich sag nur was Sache ist“, verteidigte sich der Rapper und zeigte ihr den Mittelfinger. „Brauchst ja nicht hinhören wenn’s dir nicht passt.“ Bennie ging ein Licht auf und er glaubte schon die Lösung für ihr Problem gefunden zu haben. Mit einem verschwörerischen Grinsen schaute er zu Maria und Roxy, die seine stumme Botschaft sofort verstanden und nickten. Die ganze Zeit hatte die Lösung vor ihrer Nase gesessen. Nun mussten sie eigentlich nur noch dafür sorgen, dass diese zwei Zankäpfel sich irgendwie ködern ließen. Zwar hatte Trägheit den unschönen Effekt, alle Todsünden zu neutralisieren, aber vielleicht ließ sie sich kombinieren, wenn man die Wirkung umgehen konnte. Stolz und Zorn, die beide eine absolut fürchterliche Mischung ergaben, konnten vielleicht die Lösung sein. Vor allem weil Deeda und Dex eh schon eine extrem provokante und gewaltbereite Natur besaßen. Rein theoretisch brauchten sie ihre Zielpersonen nur mit Lucys Nebel betäuben und dann konnten die beiden Zwillinge den Rest erledigen. Sie hätten leichtes Spiel und bei ihrer streitsüchtigen Natur war es mit Sicherheit ein Kinderspiel, entsprechenden Nährboden für einen Konflikt zu finden. „Ich hätte da eine Idee“, meldete er sich zu Wort und sofort wurden alle Augenpaare auf ihn gerichtet. „Warum gehen nicht die Zwillinge mit Lucy? Wenn die erst mal Malachiel und Metatron mit ihrem Nebel schlafen geschickt hat, können Dex und Dee D. gehörig die Scheiße aus ihnen rausprügeln, dass die nie wieder in den Himmel zurückkehren werden.“ „Vergiss es, ich mach bestimmt nicht bei so einer Selbstmordnummer mit!“ rief die Dämonin des Stolzes empört als ihr Name fiel. „Ey ich bin Youtuberin und die Leute schauen zu mir auf und so! Was soll ich denn in so einem verfickten kleinen Dreckskaff voller alter Säcke? Das ist total unter meinem Niveau!“ „Ja, Mann!“ stimmte Dex mit ein. „Da kann man ja nicht mal richtig Party machen.“ Doch so leicht gaben die anderen nicht auf, denn sie wussten genau, wie sie die beiden zu ködern hatten. Roxy, die in Sachen Verführung am geschicktesten war, mischte sich in die Diskussion ein. „Ja aber das ist doch genau euer Ding, oder nicht? Wusstet ihr denn gar nicht, dass Malachiel als Pfarrer arbeitet?“ Hier wurden die Zwillinge still und wurden neugierig. Und um es noch verlockender zu machen, fügte die Dämonin der Lust noch hinzu „Als katholischer Pfarrer!“ Das Argument war einfach zu überzeugend, um diese beiden Unruhestifter noch eine Sekunde länger kalt zu lassen. Diese Information allein bot so viel Stoff für Streitereien und Polarisierung, dass sie nicht anders konnten als darauf anzuspringen. Es zeigte auch schon eine Wirkung, denn Dex grinste breit und es juckte ihn schon sichtlich in den Fingern. „Er gehört dem Kinderschänder-Verein an? Oh Fuck yeah, das schreit geradezu nach einer Abreibung.“ Seine Schwester nickte zustimmend und hatte ebenfalls Blut geleckt und stimmte in die Hasstirade mit ein. „Nicht nur das! Dieses Pack von patriarchistischen Misogynisten sind das Symbol für Diskriminierung, Exklusion und Unterdrückung gegen Homosexuelle, Transmenschen, polygamen Paaren, Frauen und fremden Kulturen. Warum habt ihr das nicht gleich gesagt? Die mach ich fertig! Ich leg diesen ganzen Drecksladen in Schutt und Asche wenn ich erst mal mit diesem Wichser fertig bin!“ Das war schon fast zu einfach. Bennie war selbst erschrocken, wie schnell die beiden auf diesen Köder angesprungen waren und nun kaum noch zu bremsen waren. Andererseits konnte er froh sein, dass dieser Kelch nun an ihm vorübergegangen war. Jetzt brauchte er zumindest keine Angst mehr zu haben, dass er noch schlimmstenfalls nach England reisen musste. Was sollte er denn da auch großartig ausrichten? Kleine Dörfer waren kaum für so etwas wie Gier ausgelegt. Es fehlten einfach die Reize dafür. Großstädte oder zumindest zentral gelegene Gegenden waren weitaus leichter für ihn zu beeinflussen, vor allem junge Leute. So viele ahnungslose Kinder hatte er schon dazu gebracht, die Kreditkarten ihrer Eltern zu klauen und Unsummen an Geld für zusätzliche Items für ihre Lieblingsspiele auszugeben. Alte Leute, die noch die Nachkriegszeit erlebt hatten, waren so sehr darauf gepolt, mit dem zufrieden zu sein, was sie hatten. Sie waren genügsamer und weniger empfänglich für Habgier. Und wenn die Gier sie übermannte, dann in so lächerlich unbedeutenden Maßen, dass das Geschäft einfach nicht rentabel für ihn war. Natürlich war es für Deeda und Dex unter normalen Umständen auch nicht sonderlich leicht, ihren Einfluss in solch einem mickrigen Bauernkaff wirken zu lassen. Aber für die zählte jetzt nur noch, einen katholischen Pfarrer gehörig aufzumischen und ein bisschen Anarchie zu verbreiten. Und Lucy wollte bloß Rache für ihren Vater. Und solange die drei zusammen waren, würde auch der Kollateralschaden relativ überschaubar bleiben. Blieb nur noch die Frage zu klären, wie sie die Zwillinge vor Lucys Nebel schützen sollten, damit sie nicht noch selbst schlafen geschickt wurden. Hier meldete sich Billie zu Wort. „Ihr zwei werdet noch was wegen Lucys Kifferdunst brauchen. Ich organisiere euch zwei Atemmasken, die euch davor schützen sollten. Alles was ihr bloß tun müsst, ist zu warten, bis Malachiel und Metatron bewusstlos sind und dann dürft ihr euch nach Herzenslust austoben.“ „Klingt nach einem guten Plan“, stimmte Roxy zufrieden zu und nickte. „Und wer weiß… vielleicht ist ja sogar eine Beförderung drin und ihr bekommt endlich offiziell den Erzdämonen-Rang.“ „Oh Mann, da könnte man echt neidisch werden“, seufzte Maria gefrustet. Nichts sehnlicher hätte sie sich gewünscht, dass sie endlich zur Erzdämonin aufstieg und nicht mehr länger nur eine bloße Anwärterin war. Letzten Endes war das auch nur ein geschöntes Wort für Azubi. Und mit Sicherheit hätte sie die Gelegenheit längst ergriffen und wäre selbst gegangen, wenn das Risiko nur nicht so groß wäre. „Ihr wärt nicht nur Erzdämonen, sondern auch quasi die Helden der Hölle. Wenn ihr diesen Halb-Halb-Freak tatsächlich aus dem Weg räumt, könntet ihr sogar noch Satan übertrumpfen.“ Doch das war für diese beiden Banausen eher unwichtig. Stattdessen hatten sie sich ganz auf ihre Idee versteift, dem Feind ihren Hass und ihre Arroganz gehörig in den Leib zu prügeln. Damit stand es also endlich fest: Deeda, Lucy und Dex, die zukünftigen Repräsentanten von Zorn, Stolz und Trägheit würden im Namen Luzifers losziehen und bestenfalls der Hölle zu neuem Glanz verhelfen. Vielleicht würden die New Age Dämonen von Psychodelia sogar in die Geschichte eingehen. Oder aber es würde genauso nach hinten losgehen wie all die anderen gescheiterten Versuche der letzten armen Spinner, die sich mit dem göttlichen Mediator angelegt hatten. Aber das würde sich noch früh genug zeigen. Kapitel 13: Viel Weihrauch um nichts ------------------------------------ Da die Pflicht rief und Metatron die Krisenlösung aus Angst vor einer Eskalation mit dem höllischen Personal schnell vorantreiben wollte, hatte er Malachiel zur Arbeit gedrängt. Der arbeitsscheue Halb-Engel war nicht sonderlich motiviert und hätte lieber einfach nur gefaulenzt oder mehr entspannte Zeit mit seinem Liebsten verbracht. Aber keiner konnte wirklich sagen, wie lange es dauern würde, bis man dieses gordische Knotendilemma gelöst hatte und deshalb wollte der König der Engel auch nicht allzu lange warten. Sichtlich verstimmt über die Eile willigte der Mediator ein, nachdem er kurz darüber gejammert hatte, wie nervig und anstrengend das Ganze war. Aber wenn ihn ausgerechnet Metatron um Hilfe bat, konnte er ja wohl schlecht Nein sagen. Um das Ganze auch möglichst effektiv zu nutzen und vermutlich auch weil er keine Lust auf spätere Extraarbeit hatte, nutzte er die Gelegenheit, um seinen Schüler dazu zu holen. Wenn er die Aufarbeitung des Regelwerks einfach als zusätzliche Unterrichtsstunde nutzte, lohnte sich der ganze Aufwand wenigstens. Also rief er kurzerhand Nazir herbei und gemeinsam setzten sie sich an den Tisch im Wohnzimmer. Metatron holte das himmlische Regelwerk hervor, welches Michael bislang genutzt hatte und welches vorerst konfisziert worden war. Nazir brachte die Bibel mit, die er zu Studienzwecken ausgeliehen bekommen hatte. Mehr war eigentlich nicht notwendig. Nun saßen alle drei um den Tisch herum und starrten auf die dicken Wälzer. Sie zu lesen würde vermutlich lange Zeit in Anspruch nehmen und viel Arbeit und Geduld in Anspruch nehmen. Vor allem aber auch viel Konzentration und Gehirnschmalz. Nazir war der Erste, der sich zu Wort meldete und seine Bedenken äußerte. „Wie sollen wir das alles eigentlich schaffen? Müssen wir jetzt alles durchlesen?“ „Nicht unbedingt“, meinte Malachiel, dem es auch nicht so ganz bei dem Gedanken behagte, stundenlang diese alten Schinken durchzuwälzen und einzelne Paragraphen abzugleichen. Nein, das war ihm viel zu aufwändig und er konnte sich weitaus Schöneres vorstellen, als die ganze Zeit damit zu verbringen, die Bibel zu lesen. Seiner Meinung nach war das Buch eh vollkommen überholt und überbewertet. Als jemand, der für gewöhnlich im Hier und Jetzt lebte, widerstrebte es ihm, sich nach irgendwelchen Lehren und Praktiken irgendwelcher Leute zu richten, die vor tausenden Jahren gelebt hatten und an die sich schon längst niemand mehr erinnern konnte. Und selbst wenn, dann waren die tatsächlichen Geschichten um sie garantiert bei weitem nicht so spektakulär wie die Bibel weismachen wollte. „Glücklicherweise sind die Menschen in Sachen Struktur und Organisation wesentlich besser als Himmel und Hölle zusammen. Heißt also: wenn wir wissen, welche Bücher und Schriften für das Regelwerk genutzt werden, können wir das Ganze einigermaßen eingrenzen. Und um das Ganze abzukürzen, habe ich noch einen kleinen Trick im Ärmel, mit dem wir Gesetze und Ausführungen in wenigen Minuten finden können.“ „Und wie?“ fragte Metatron interessiert, denn von einem derartigen Verfahren hatte er noch nie gehört. Hier holte Malachiel ein kleines eckiges Gerät hervor, das wie eine Art ausgeschalteter Minibildschirm aussah. Verwirrt runzelte er die Stirn als er es sah und auf seine Reaktion erklärte Malachiel in leicht sarkastischem Ton „Ganz einfach: wir benutzen die allwissende Macht von Google.“ „Dieses Ding soll uns wirklich weiterhelfen können?“ fragte der Seraph skeptisch, denn er hatte noch nie etwas von diesem „Google“ gehört. „Ist das so eine Art Orakel?“ „Ja so ungefähr“, meinte Malachiel und legte sein Smartphone beiseite. „Nur mit dem Unterschied, dass du meist Antworten auf Fragen bekommst, die du nie gestellt hast und du niemals deine Symptome online recherchieren solltest. Und meist hast du immer richtig lästige Erotik-Ads mit drin.“ Das machte die ganze Sache nicht unbedingt verständlicher für Metatron, der nicht einmal wusste, was in Gottes Namen eigentlich Ads waren. Zwar hatte er die Schulungen zu den wichtigsten Fortschritten der Menschheitsgeschichte besucht, aber meist waren die Inhalte sehr oberflächlich gehalten und nicht unbedingt auf dem aktuellsten Stand. Bei so vielen Veränderungen in so kurzer Zeit kam der Himmel nicht unbedingt mit all diesen Innovationen mit. Also beschränkte man sich eher auf grobe Fakten. Es genügte zu wissen, dass es Autos, Flugzeuge, Raumschiffe, Telefone und Internet gab. Aber die meisten Engel kannten keine Details. Hätte man sie über Benzin, Erdöl, Stromerzeugnisse, Smartphones oder Apps gefragt, dann hätten sie damit rein gar nichts anzufangen gewusst und vermutlich sogar noch gedacht, das wäre so eine Art neue Fremdsprache oder geheime Codewörter. Da Metatron außerdem als König der Engel stets einen vollen Terminkalender hatte und sich um unzählige andere Dinge kümmern musste, hatte er kaum Zeit und Gelegenheit, überhaupt die Schulungen zu besuchen. Das kam halt davon, wenn man sich die ganze Zeit außerhalb der Erde aufhielt und nichts von all dem mitbekam, was da unten so von statten ging. Jemand wie Malachiel, der seit seiner Erschaffung auf der Erde unter Menschen lebte, war bestens über diese Dinge informiert. Vor allem wenn sie die Arbeitsläufe bequemer gestalteten. Nazir selbst konnte nur darüber schmunzeln und meinte „Ist schon witzig, dass es bei euch Engeln fast genauso ist wie in der Hölle. Dort unten haben die meisten von uns auch Schwierigkeiten, mit dem ganzen technologischen Kram hinterherzukommen.“ „Überrascht mich kein bisschen“, meinte Malachiel trocken und begann das Regelwerk durchzublättern. „Der Großteil von denen sind ja gefallene Engel. Da bringt man automatisch sämtliche Probleme aus dem Himmel nach unten. Meist sind es die jüngeren Dämonengenerationen, die deutlich besser angepasst sind. Andererseits ist es bei den Menschen ja auch nicht anders…“ Metatron schaute Nazir forschend an und begann zu überlegen, ob er ihn vielleicht von früher noch kannte. Ganz gleich wie viele Engel auch vom Glauben abgefallen und in die Hölle verbannt worden waren, er kannte all ihre Gesichter. Aber dieser Dämon erschien ihm nicht allzu vertraut. „Sag mal, du bist kein gefallener Engel, oder?“ fragte er ihn deshalb. „Du bist eines von Liliths Kindern, oder nicht? Was bewegt einen reinblütigen Dämon dazu, ein Engel zu werden?“ Dass ein gefallener Engel versuchte, in den Himmel zurückzukehren und all seine Laster wieder abzulegen, war ja noch halbwegs verständlich. Immerhin war ein Leben in der Hölle nicht unbedingt das angenehmste. Aber es war für den Himmelsregenten absolut unverständlich, dass jemand, der in der Hölle geboren und aufgewachsen war, nicht dort bleiben wollte. Immerhin waren sie die Ausgeburt von Sünde und Verderben. Hinzu kam auch noch, dass reinblütige Dämonen an sich eine Seltenheit waren. Das alles war auf den Zeitraum nach dem siebentägigen Schöpfungsakt geschehen, als Lilith sich zur Emanze erklärte und Adam eiskalt abservierte, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Nachdem sie das Paradies verlassen hatte, wollte Gott dieses Desaster in Ordnung bringen und die beiden wieder miteinander versöhnen. Also schickte er zwei Engel los, um Lilith aufzusuchen und sie dazu zu bewegen, ins Paradies zurückzukehren, damit man vernünftig über alles reden könnte. Leider scheiterte das Ganze an der miserablen Kommunikation, denn dieses bürokratische Stille-Post-Spiel hatte schon damals existiert und auch in die andere Richtung funktioniert. Das Ergebnis war gewesen, dass die beiden Engel Lilith verfolgt und sie dann genötigt hatten, augenblicklich zurückzukehren. Andernfalls würde sie bitter für ihren Ungehorsam zahlen. Doch Lilith hatte keine Lust, das brave Hausfrauchen für einen sexistischen und selbstsüchtigen Kerl wie Adam zu spielen. Selbst wenn er tatsächlich der einzige Mann auf der Welt war. Also hatten die Engel eigenmächtig einen heiligen Fluch ausgesprochen, um sie für ihre Sturheit zu bestrafen. Dieser Fluch bestand darin, dass jeden Tag 1000 ihrer Kinder, die sie gebären würde, sterben mussten. Das hatte nicht unbedingt dafür gesorgt, dass sich Liliths Verhältnis zu Gott und Adam in irgendeiner Art und Weise besserte. Wie es eine Frau überhaupt schaffen konnte, täglich 1000 Babys in die Welt zu setzen, mochte nicht einmal der Allmächtige selbst nachzuvollziehen. Und vermutlich hatten die beiden Engel auch nicht unbedingt Ahnung von der menschlichen Anatomie. Jedenfalls waren Liliths Kinder aufgrund des Fluchs allesamt Fehlgeburten. Um überhaupt lebende Kinder in die Welt zu setzen, musste sie also in der Lage sein, mehr als 1000 an einem Tag zu gebären. Das schaffte sie nur, indem sie zu einem Dämon wurde und sich entsprechend von diesen schwängern ließ. Da der Fluch sie also zu einer extremen hohen Kindersterberate verdammte und Lilith so ziemlich die einzige gebärfähige Dämonin war, gab es nur äußerst wenige direkte Nachkommen von ihr. Diese sogenannten „Vollblütigen“ waren geborene Dämonen, die nie in ihrem Leben irgendetwas Himmlisches in sich gehabt hatten. Aus diesem Grund galten sie als besonders mächtig und genossen besonderes Ansehen in der Hölle. Ein solcher Dämon war auch Nazir und da er nie mit irgendetwas Himmlischem in Berührung gekommen war, klang es umso verrückter, dass jemand wie er auf den Gedanken kam, ein Engel zu werden. Vor allem jemand wie Metatron tat sich schwer, so etwas überhaupt nachzuvollziehen. Malachiel hingegen hatte sich nie großartig darum geschert. Für ihn zählte es, dass er einen Haushälter hatte, der ihm den Großteil der lästigen Arbeiten abnahm. Alles andere war für ihn zweitrangig gewesen. Nazir schaute den König der Engel mit seinen rot glühenden Augen an und stellte mit Erstaunen fest, dass sein Gegenüber nicht mehr so abgeneigt gegen dieses Projekt zu sein schien wie vor ein paar Stunden. Stattdessen versuchte dieser einfach nur zu verstehen, was jemanden von solch verdorbener Herkunft zu solch einer Entscheidung bewegen konnte. Also beschloss er, auf ihn zuzugehen und erklärte „Ich mag zwar ein Kind von Lilith sein, aber ich war noch nie ein sonderlich guter Dämon. Es war mir immer zuwider, Menschen zu quälen oder Chaos anzurichten und ich war deswegen ständig der Prügelknabe für alle. Ich wollte „gut“ sein und Gutes tun, wusste aber nicht wie ich das anstellen sollte. Es gibt Dämonen in der Hölle, die mitfühlend sind und ein Gewissen haben. Manche von ihnen sind es auch leid, dort unten zu leben und sie haben Sympathie für die Menschen. Aber sie glauben alle, dass es aussichtslos ist, sich zu bessern. Ich dachte mir, man kann erst wissen, ob es wirklich aussichtslos ist, wenn man es wenigstens versucht. Also habe ich als Erster diesen Schritt gewagt, damit ich nicht nur selbst einen Ort für mich finden kann, wo ich wirklich hinpasse. Ich will auch meinen Brüdern und Schwestern in der Hölle zeigen, dass es selbst für uns Hoffnung gibt.“ Metatron schwieg, war aber sehr bewegt von diesen einfachen, aber klaren Worten. Zwar hatte er selbst noch große Skepsis an diesem Plan und glaubte nicht wirklich daran, dass es tatsächlich funktionieren würde, aber Wunder geschahen ja immer wieder. Und vielleicht wurde er ja sogar eines Besseren belehrt. Unschlüssig darüber, was er dazu noch großartig sagen konnte, räumte er mit einem kurzen Räuspern ein: „Nun, wenn den Menschen die Erbsünde dank des Opfers Jesu Christi vergeben werden konnte, spricht vermutlich nicht allzu viel dagegen, dass auch den Dämonen ihre Sünden irgendwann vergeben werden können.“ Es war ein bewegender und zugleich historischer Moment, dass ein so hochrangiger Engel einem Dämon derartige Zugeständnisse machte. Vor allem wenn dieser auch noch Gottes Sprachrohr war. Doch dieser Augenblick wurde sogleich von Malachiels bissiger Bemerkung zerstört. „Ach hör mir bloß mit dem Erbsündenquatsch auf!“ rief er genervt und machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Den ganzen Ärger hätte die Welt gar nicht erst gehabt, wenn Gott seine Schöpfung nicht als billigen Melodrama-Ersatz missbraucht hätte.“ Augenblicklich wich sämtliche Farbe aus Metatrons Gesicht und entsetzt schaute er den mürrischen Mediator an, als ihm diese gottlose Blasphemie zu Ohren kam. Zugegeben, dieser Apfel-Vorfall war damals selbst im Himmel etwas kontrovers gewesen, aber man hatte halt nie darüber gesprochen. Mit Gott ließ sich ja ohnehin schwer diskutieren und nachdem dieser so empfindlich auf Adams und Evas Vergehen reagiert hatte, wollte niemand ihn noch mehr provozieren. „Der Sündenfall war das Verschulden der Menschen weil sie ungehorsam waren!“ protestierte er sofort aus reinem Reflex heraus. „Sie haben gegen Gottes Gebot verstoßen und damit seinen Zorn auf sich gezogen!“ „Selber schuld, wenn er den Baum direkt vor deren Nase pflanzen musste“, gab Malachiel unbeeindruckt zurück und begann sich gelangweilt an der Nase zu kratzen. „Wenn du ein Kleinkind davor bewahren willst, Rohrreiniger zu schlucken, dann lässt du die Flasche ja auch nicht offen und in greifbarer Nähe herumstehen. Entweder war Gott einfach nur schlampig, er hatte eine extrem schlechte Menschenkenntnis oder es war pure Absicht. Und sein Sohnemann durfte die Scheiße für ihn wieder ausbügeln, indem er sich eine Dornenkrone aufsetzen und dann ans Kreuz nageln lassen musste. Ist doch kein Wunder, dass der arme Kerl danach sauer auf ihn war. Also erzähl mir bloß nichts von Erbsünde. Die einzige Sünde, die ich in der ganzen Anekdote sehe, ist derjenige, der dieses Apfeldilemma erst ins Rollen gebracht hat!“ „Da ist schon was dran“, stimmte Nazir nach kurzer Überlegung zu. Metatron wollte darauf etwas erwidern, doch seine einzigen Gegenargumente waren bloß der unergründliche Plan und die eventuelle Möglichkeit, dass Gott die Menschen einfach nur testen wollte. Doch selbst in diesem Fall hatte er kaum eine Chance, dieses angeknackste Image wieder zu retten. Außerdem hatte er weitaus wichtigere Prioritäten als diese Apfeldebatte. Also konzentrierte er sich wieder auf die Gesetzestexte und wartete gespannt darauf, was Malachiel für ein Urteil fällen würde. Nachdem Malachiel das Regelwerk durchgelesen hatte, schlug er es geräuschvoll zu und schnaufte kurz. Man sah ihm deutlich an, dass er ziemlich verstimmt über den Inhalt war und am liebsten gehörig losgewettert hätte. Wahrscheinlich wären noch so einige andere Blasphemien über seine Lippen gekommen, doch zur Abwechslung war er derart fassungslos und verärgert, dass ihm schlichtweg die Worte fehlten. Nazir, der bislang nur geduldig neben ihm zu seiner Linken gesessen hatte, fragte nun neugierig „Habt Ihr etwas herausgefunden, Meister?“ Geräuschvoll seufzte der Halb-Engel und hatte sichtlich Mühe, seinen Ärger im Zaum zu halten. „Ihr wollt mich doch wohl alle verscheißen, oder? Sag mir bitte, dass nicht du für die Regelwerke verantwortlich bist, Matt.“ Sofort schüttelte der Himmelsregent den Kopf und versicherte hastig „Nein, dafür ist jemand anderes zuständig. Aber ich kann dir versichern, dass die Reaktionen beim Meeting nicht weniger verstimmt gewesen waren. Es gab eine – nun ja – hitzige Auseinandersetzung darüber. Vor allem weil Michael das Regelwerk wortwörtlich nimmt.“ „Ist ja kein Wunder, dass ihr eine Krise habt, wenn ihr ausgerechnet den Levitikus als Regelwerk nehmt“, meinte Malachiel nur und schüttelte den Kopf. Nazir, der sich bislang nur Teile des Alten Testaments kannte, weil er sich fast ausschließlich mit dem Neuen Testament beschäftigte, runzelte etwas verwirrt die Stirn und fragte unsicher „Was genau steht denn im Levitikus drin?“ „Allerhand Regeln und Vorschriften, die heutzutage keiner mehr braucht“, erklärte Malachiel knapp. „Angefangen davon, welche Tiere man essen sollte, wann man ernten sollte bis hin zu Hygieneregeln, Priesterweihen und wer wann mit wem Sex haben darf. Und fast immer läuft es auf Todesstrafe hinaus. Da steht übrigens auch sehr ausführlich beschrieben, wie man mit Sklaven zu verfahren hat. Nur mal so als Beispiel, wie aktuell die Regeln sind.“ „Oh…“, entfuhr es dem jungen Dämon und er brauchte keine weiteren Ausführungen mehr um zu verstehen, warum sein Mentor so reagierte. Es war ihm auch ziemlich unverständlich, warum die Regeln gar nicht erneuert wurden. In der Hölle hatte man sich zumindest darauf eingestellt, dass die Standards von vor 2000 Jahren nicht mehr so ganz zutrafen und es heutzutage ganz andere Formen von Verbrechen und Sünden gab, die in der Bibel keinerlei Erwähnung fanden. Auch Malachiel konnte es kaum fassen und beschloss, seinem Unmut freien Lauf zu lassen. „Wie zum Henker soll man denn bitte ein Regelwerk ernst nehmen, das Elternbeleidigung, Mord und Totschlag, Wahrsagerei, Sex während der Periode und Homosexualität auf eine Stufe stellt? Mal im Ernst: was sind das denn bitteschön für Prioritäten? Die haben doch ein Rad ab, die Leviten. Vor allem aber spinnt die Himmelsbürokratie, die nicht mal das Neue Testament im Regelwerk hat!“ Stille kehrte ein. Metatron hatte etwas peinlich berührt den Blick gesenkt und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er hatte ja bis vor kurzem selbst nicht gewusst, wie rückständig die Gesetze eigentlich waren und was für einen Rattenschwanz das alles nach sich gezogen hatte. Als oberster Engel musste er dafür trotzdem geradestehen und sich diese Tirade anhören. Malachiel hatte ja nicht Unrecht. Diese ganzen alten Regeln stießen ihm genauso sauer auf. Aber einfach so aushebeln konnte man sie leider auch nicht. Das wäre erstens nicht in Gottes Sinne und zweitens würde das nur zu Chaos und Anarchie führen. Dann würde plötzlich jeder anfangen, Gottes heilige Gesetze zu missachten und sich darauf zu berufen, dass diese nicht mehr zeitgemäß waren. Genau deshalb war es ja so eine delikate Angelegenheit. „Ich gebe zu, wir hinken etwas hinterher, weil unsere Verwaltungsabläufe etwas ausbaufähig sind“, räumte er verlegen ein. „Aber hast du vielleicht schon eine Idee, wie wir das Problem auf möglichst diplomatische Art lösen können?“ „Ganz ehrlich?“ fragte Malachiel unverblümt. „Die einzige diplomatische Lösung, die ich hier sehe ist, das Buch auf den nächsten Scheiterhaufen zu werfen und dazu noch am besten Michael und den Typ, der für diese Regelwerke zuständig ist. Naja… für mich ist die Sache recht eindeutig und eigentlich hättet ihr alle längst von selbst darauf kommen können, wenn ihr euer eigenes Buch besser kennen würdet.“ Da aber sowohl Nazir als auch Metatron nicht wirklich verstanden, worauf der Pseudo-Pfarrer ansprechen wollte, gab dieser ihnen einen kleinen Denkanstoß: „Was glaubt ihr wohl, wann es die ersten Christen gab, hm?“ Allmählich begannen die Zahnräder im Getriebe ihrer Gedanken zu arbeiten und sie dröselten nach und nach das Ganze auf. Während Nazir selbst noch etwas auf der Stelle tappte, da er das Alte Testament noch nicht gut genug kannte, ging Metatron ein Licht auf und er verstand nun endlich Malachiels Andeutung. „Aber ja doch!“ rief er als er den rettenden Geistesblitz hatte. „Die ersten Christen waren Anhänger von Jesus.“ „Ganz genau“, stimmte Malachiel nickend zu und erklärte es noch mal ausführlicher, damit ihm sein Schüler folgen konnte. „Alle Personen im Alten Testament einschließlich Jesus waren allesamt Juden. Das heißt, dass alles, was bis zu Jesus‘ großem Auftritt gepredigt wurde, somit jüdisches Gesetz ist. Und da Jesus‘ Anhänger die ersten Christen waren, gelten somit Jesus‘ Worte und Gebote als eigentliches Regelwerk für das Christentum. Heißt also einfach ausgedrückt: Christen sollten nicht nach jüdischem Gesetz gerichtet werden, weil sie sich selbst klar abgegrenzt haben.“ „Ah verstehe“, murmelte Nazir und nickte nachdenklich. „Aber was genau hat denn Jesus eigentlich an Gesetzen festgelegt?“ „Naja… als Jude hat er sich eigentlich an die Gesetze aus dem Alten Testament gehalten“, antwortete Metatron, war aber etwas unschlüssig darüber. Auch wenn Gottes Sohnemann die Gebote hoch in Ehren gehalten hatte, war er auch berüchtigt für seine rebellischen Ausfälle. Ganz zu schweigen davon, wie oft er sich mit den Schriftgelehrten in den Haaren gelegen hatte, weil er sie als Paragraphenreiter und Erbsenzähler bezeichnet hatte. „Andererseits… er war auch nicht unbedingt dafür bekannt, dass er alles blind befolgt hat. Er war der Überzeugung gewesen, dass es okay war, die Regeln zu brechen, wenn es dem Wohl anderer Menschen gedient hat. Allein wenn man sein Vorstrafenregister bedenkt, weil er illegal am Sabbat gearbeitet hat, wäre er schon längst in der Hölle gelandet. Wenn ich es so recht bedenke, hat ihn bloß Vetternwirtschaft vor solch einer Strafe bewahrt.“ „Das ist der springende Punkt“, führte Malachiel weiter aus. „Das Leben und Wohl anderer Menschen hatte für ihn mehr Priorität als irgendwelche Vorschriften. Heutzutage sind die Menschen selbst so weit, dass sie die Bibel nicht mehr wortwörtlich befolgen, sondern nur nach ihrem Sinn leben um Gutes zu tun und anständige Menschen zu sein. Und da Jesus der Ursprung des Christentums ist, greift somit seine lasche Interpretation.“ Metatron war sprachlos über diese Offenbarung und konnte kaum glauben, dass die Lösung so simpel war und die ganze Zeit vor seiner Nase gelegen hatte. Es war so verdammt offensichtlich gewesen und trotzdem hatte er den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen. Er hätte sich wirklich dafür ohrfeigen können, dass er nicht von selbst darauf gekommen war. Aber nun hatte er endlich die Lösung in den Händen und musste dafür nicht einmal die alten Gesetze umschreiben. „Das heißt also: wenn wir alle Regeln raussuchen, die Jesus aufgestellt hat, dann können wir…“ „Falscher Ansatz“, unterbrach Malachiel ihn und begann nun ein knallbuntes Puzzle-Spiel auf seinem Smartphone zu spielen, da ihm ein wenig langweilig wurde. Jetzt, da er die Bücher nicht mehr zu lesen brauchte, konnte er sich genauso gut mit irgendetwas anderem beschäftigen. „Klar können wir die zehn Gebote immer noch als geltende Grundregeln nehmen, aber das ist totaler Nonsens. Kein Mensch schafft es, ausnahmslos alle Gebote einzuhalten. Das ist schlichtweg unmöglich.“ „Ja aber wenn es doch unmöglich ist, gibt es doch keine Chance für sie, in den Himmel zu kommen“, wandte Nazir ein, der die Konversation aufmerksam verfolgte. „Wenn die Ansprüche unmöglich hoch sind, kann man doch gleich sagen, dass jeder nach seinem Tod in die Hölle kommt.“ „Meine Fresse… alle sind immer so von Regeln und Vorschriften besessen, dass man glatt meinen könnte, die Bibel wäre von Deutschen geschrieben worden“, stöhnte der Halb-Engel genervt und verlor so langsam aber sicher die Geduld. Vielleicht hatte er aber auch einfach keine Lust mehr, auf alles eine passende Antwort zu finden. „Warum predige ich den Leuten dann überhaupt, dass es darauf ankommt, einfach nur ein guter Mensch zu sein, wenn’s am Ende eh keine Sau im Himmel interessiert? Dann hätte ich doch gleich sagen können, dass es scheißegal ist, was sie machen, weil sie eh keiner da oben haben will.“ „Verstehe“, murmelte Metatron und nickte bedächtig. „Also sollten wir nach moralischen Grundwerten urteilen und nicht nach dem reinen Gesetz. Etwas sehr gewagt und progressiv, aber ich denke, dass ich das durchgesetzt kriege. Aber dann stehen wir vor dem Dilemma, dass sich die Zeiten ändern. Ehebruch ist nach wie vor ein absolutes Tabu aber heutzutage halten die Ehen kaum noch. Ganz zu schweigen davon, dass die Familienkonstellationen schon längst nicht mehr den Vorstellungen von vor 2000 Jahren entsprechen…“ „Solange niemand ernsthaft zu Schaden kommt, sollte es kein großes Drama sein“, beschloss Malachiel ohne großartig nachzudenken. „Da hast du deine Antwort. Problem gelöst, ich habe fertig, ich habe keine Lust mehr und wichtiger noch: ich habe endlich Feierabend!“ Damit legte er sein Handy beiseite und legte mit einem missmutigen Grummeln den Kopf zurück und schloss die Augen, als wolle er in dieser mehr als unbequemen Position einschlafen. Zumindest Nazir hätte es nicht sonderlich verwundert, denn sein Mentor war schon in weitaus merkwürdigeren Situationen einfach eingeschlafen. Naja, es schien zumindest alles dafür zu sprechen, dass das Problem beseitigt war und die Krise somit abgewendet war. Auch wenn Malachiel sich nicht mal großartig verausgaben musste um das Problem zu lösen, wollte der junge Dämon ihm seine Ruhe vorerst gönnen. Es grenzte ja schon an ein Wunder, dass Malachiel nicht einmal versucht hatte, sich mit irgendwelchen fadenscheinigen Ausreden aus der Affäre zu ziehen. Er hatte sich nicht einmal allzu viel darüber beschwert, dass er an seinem freien Tag arbeiten musste. Dieser Metatron musste ihm wirklich einiges bedeuten, wenn er für ihn über seinen Schatten sprang. Doch beide hatten die Rechnung nicht mit dem Himmelsregenten gemacht, der zwar sichtlich erleichtert über die schnelle und schlüssige Lösung für das Regelwerk war, aber trotzdem sein wichtigstes Anliegen noch nicht gelöst hatte. „Ich fürchte, es ist noch zu früh um über Feierabend nachzudenken“, gab er zu bedenken. „Wir haben zwar das Regelwerkproblem geklärt, aber da gibt es noch eine Baustelle, an der wir arbeiten müssen.“ „Och nee… bitte nicht“, jammerte Malachiel wehleidig und zog eine verzweifelte Miene. „Komm schon, Matt. Was soll ich denn noch alles machen? Den Rest kriegst du doch auch ohne meine Hilfe hin.“ „Wenn dem so wäre, dann säße ich doch nicht hier“, konterte Metatron, senkte aber schuldbewusst die Miene. „Die Hölle ist immer noch völlig überlaufen, weil wir zu viele Seelen zu Unrecht nach unten geschickt haben. Zwar wissen wir jetzt, wie wir es in Zukunft besser machen können, aber wir haben nicht die entsprechenden Ressourcen, um alle Verurteilungen noch mal neu aufzuarbeiten. Ganz zu schweigen davon, dass Verdammte nicht einfach so in den Himmel geschickt werden können.“ Ein genervtes Stöhnen kam von Malachiel, der eindeutig keine Lust darauf hatte, sich auch noch mit diesem Thema zu beschäftigen. Vor allem das vermutlich eine längere Diskussion nach sich ziehen würde und darauf konnte er wirklich verzichten. Nazir ahnte, dass es vielleicht noch etwas dauern könnte und beschloss, noch einen Kaffee zu machen um seinen Mentor wenigstens ein bisschen zu motivieren. Inzwischen wurde es auch langsam spät und das Wetter wurde auch immer schlechter. Ein dichter Nebel zog draußen auf und er merkte, wie seine Konzentration langsam nachließ. Etwas benommen rieb er sich seine Augen und wunderte sich, dass er müde wurde. So etwas war ihm schon seit längerem nicht passiert. Vielleicht hatte er sich bei seinen heutigen Studien aber auch viel zu sehr verausgabt. Kapitel 14: Sternenstunden der Dummheit --------------------------------------- Nazir gähnte als er mit schlurfenden Schritten die Küche erreichte. Sein Körper fühlte sich ungewohnt schwer an und es gelang ihm nur mit Mühe, halbwegs Haltung zu bewahren. Immer wieder drohten ihm die Augen zuzufallen und ihm war so, als würde er einen merkwürdigen Geruch von irgendwo wahrnehmen. Andererseits hatte es auch erst vor wenigen Stunden stark geregnet und da hing immer ein eigenartiger Geruch in der Luft. Aber irgendetwas war seltsam. Normalerweise war er doch gar nicht so schläfrig, also warum überkam ihn jetzt plötzlich das Verlangen, sich einfach hinzulegen und die Augen zuzumachen? Das war doch absolut schwachsinnig. Er brauchte doch gar keinen Schlaf. Das machte doch überhaupt keinen Sinn. Er versuchte seine Gedanken zu sortieren und sich zu konzentrieren, doch sein Kopf wollte da einfach nicht mitmachen. Sein ganzer Körper und sein Verstand wurden von einer lähmenden Trägheit befallen, die zusehends schwerer wurde. In der Hoffnung, dass Koffein vielleicht die Lösung für sein Problem sein könnte, goss er heißes Wasser in eine Tasse und gab ein paar Löffel starken Instant-Kaffee dazu. Er trank alles in wenigen Schlucken aus, doch leider schien auch dies nicht allzu gut zu wirken. Vielleicht war es doch das Beste, wenn er sich ein bisschen schlafen legte. Schaden konnte es ja nicht. Warte… was konnte nicht schaden? Wer wollte wem schaden? Nazir stand apathisch da, die Dose mit dem Instantkaffee in der einen Hand und der leeren Tasse in der anderen Hand und versuchte sich angestrengt zu erinnern, woran er gerade noch gedacht hatte. Aber es wollte ihm einfach nicht mehr einfallen und er konnte nicht einmal sagen, was er als nächstes tun sollte. Als er dann auf den Kaffee in seiner Hand starrte, glaubte er, sich wieder erinnern zu können. Ja richtig! Er wollte doch Getränke servieren gehen damit sie weiterarbeiten konnten. Also machte er für jeden eine Tasse fertig, stellte diese dann auf ein Tablett und kehrte ins Wohnzimmer zurück wo Malachiel und Metatron darüber grübelten, wie sie das Dilemma in der Hölle lösen könnten. Und wie es aussah, war auch der König der Engel ein wenig erschöpft von der ganzen Diskussion. Bei Malachiel war es hingegen etwas schwer zu sagen, weil er immer aussah, als hätte er viel zu wenig Schlaf abgekriegt. Als Nazir jedem eine Tasse reichte und sich schließlich selbst wieder setzte, beäugte ihn sein Mentor aufmerksam mit seinen von Schatten umrandeten Dämonenaugen. „Du siehst müde aus“, stellte der Halb-Engel fest. „Hast du dich mit deinen Studien wieder übernommen?“ „Eigentlich nicht“, antwortete der Dämon und gähnte wieder. „Ich bin einfach nur müde, das ist alles…“ „Eine kleine Pause würde wirklich nicht schaden“, stimmte Metatron zu und wurde von Nazirs Gähnen regelrecht angesteckt. Schläfrig rieb er sich die Augen und trank einen Schluck von seinem Kaffee, aber es half nicht wirklich dabei, seine Lebensgeister wiederzuerwecken. „Es war ein anstrengender Tag und eine Pause muss auch mal gut sein…“ Doch Malachiel war der Einzige, der sich davon nicht anstecken ließ. Ironischerweise wirkte er stattdessen hellwach und putzmunter im Gegensatz zu den beiden anderen, die aussahen als würden ihnen jeden Augenblick die Augen zufallen. Genervt seufzte er und konnte nicht fassen, dass das hier gerade wirklich passierte. „Also echt jetzt mal“, beschwerte er sich lauthals. „Soll das hier etwa ein Wettbewerb werden, wer hier der trägste Schnarchsack ist? In diesem Haus kann es nur einen Faulenzer geben und das bin immer noch ich. Also reißt euch mal zusammen.“ Doch seine Worte zeigten nicht wirklich Wirkung. Stattdessen schien es sogar schlimmer zu werden. Metatron schaffte es nicht mal seinen Kaffee auszutrinken und legte den Kopf einfach auf dem Tisch ab und benutzte das himmlische Regelwerk einfach als Kopfkissen. Es dauerte auch keine 30 Sekunden bis er laut zu schnarchen begann und durch nichts mehr zu wecken war. Auch Nazirs Augen wurden zusehends schwerer und er schaffte es kaum, aufrecht sitzen zu bleiben. Er wollte einfach nur die Augen schließen und schlafen. Sein Mentor tat es ja sowieso tagein und tagaus, also konnte da vermutlich nichts Schlechtes dran sein. Wer weiß… vielleicht gefiel es ihm sogar, auch wenn er immer dachte, dass Schlafen völlig unnötig sei. Jetzt in diesem Augenblick erschien es ihm einfach zu verlockend zu sein. Als ihm schon die Augen zugefallen waren und sein Oberkörper kraftlos zusammenzusacken drohte, wurde ihm aus heiterem Himmel ein kräftiger Klopfer auf den Rücken verpasst und mit einem Male war er plötzlich hellwach. Erschrocken über diesen plötzlichen Schlag riss er die Augen auf und fuhr auf. „Wa-was ist los? Bin ich etwa eingenickt?“ fragte er hastig und schaute abwechselnd zum schlafenden Metatron, der auf den Buchrücken zu sabbern begann und dann zu Malachiel, der den Gesichtsausdruck eines misslaunigen alten Mannes hatte. „Tut mir leid, Meister. Ich habe es vielleicht mit meinen heutigen Studien übertrieben.“ „Nein, hast du nicht“, winkte Malachiel ab, stand mit einem leisen Ächzen auf und streckte sich. „Das ist dieses verdammte Wetter da draußen. Ich habe zwar gehört, dass Religion Opium fürs Volk ist, aber dass es auch Gras tut, ist mal was Neues.“ Nazir, der nicht wirklich etwas mit dieser kryptischen Anspielung anfangen konnte, zog verwirrt die Augenbrauen zusammen und fragte unsicher „Meister? Gibt es vielleicht Ärger?“ Zwar hatte Nazir während seiner gesamten Zeit bei Malachiel noch keine übernatürlichen Vorfälle erlebt, aber er wusste trotzdem, dass sein Brotherr so einige Leichen im Keller hatte. Auch wenn es wirklich viel Feingefühl und einen äußerst guten Spürsinn brauchte, war ihm nicht entgangen, dass dutzende Gegenstände im Pfarrhaus von Dämonen besessen waren. Naja, Besessenheit war vielleicht etwas zu weit hergeholt. Die passende Bezeichnung wäre eher gewesen, dass Dämonen in ihnen eingesperrt waren. Darüber gesprochen hatten sie beide nie und Malachiel hatte dieses Thema auch selbst nie zur Ansprache gebracht. Er hatte nur lediglich die Bemerkung fallen gelassen, dass er in der Vergangenheit Ärger mit ein paar Unruhestiftern hatte, die auf Krawall gebürstet waren. Der dämonische Haushälter hatte beschlossen, nicht weiter nachzufragen, da er sich schon selber denken konnte, was das bedeutete. Warum Malachiel nie über seine Angewohnheit gesprochen hatte, Eindringlinge in Haushaltsgegenstände einzusperren, war Nazir nie ganz klar gewesen. Vielleicht weil es keinen triftigen Grund gab, darüber zu reden oder einfach weil er seinem Schüler keine Angst einjagen wollte. Immerhin war dieser ja selbst ein Dämon und es hätte vielleicht wie eine unterschwellige Bedrohung klingen können. Und nun, als er den ernsten Blick in den Augen seines Mentors sah, ahnte Nazir, dass er mit seinem Gefühl richtig lag. Ärger war im Anmarsch und diese plötzliche Schläfrigkeit und der merkwürdige Geruch in der Luft waren höchstwahrscheinlich dämonischer Natur. „Bleib du ruhig hier sitzen und pass auf, dass Matt nicht auch noch meine Bibel vollsabbert“, wies Malachiel ihn an, ohne auf die Frage seines Schülers einzugehen und ging in Richtung Wohnzimmertür. „Ich gehe nur mal eben schnell den Müll rausbringen. Bin gleich wieder da.“ Einen Moment lang saß sein Haushälter völlig verdattert da und wusste nicht, was er davon halten sollte. Was hatte das alles bloß zu bedeuten und was auf einmal in Malachiel gefahren? Sonst war er doch nie so aktiv und übernahm freiwillig Arbeit. Irgendetwas Unheilvolles musste sich anbahnen, so viel stand fest. Und es war stark genug, um sogar einen Seraph wie Metatron beeinflussen. Besorgt stand der dämonische Haushälter auf als die Tür hinter seinem Mentor ins Schloss fiel und er wollte ihm hinterhereilen um ihm Unterstützung zu leisten. Doch kaum, dass er den Türgriff berührte, durchfuhr ein heftiger Schlag seine Hand und er zog sie blitzschnell wieder zurück. Das war eindeutig heilige Kraft. Anscheinend hatte Malachiel die Tür mit einem äußerst mächtigen Segen belegt, damit keine ungebetenen Gäste hereinkamen. Leider bedeutete das auch, dass Nazir genauso wenig hinaus konnte. Er war hier drin eingesperrt und ihm blieb nichts anderes übrig, als zusammen mit dem immer noch schlafenden Metatron zu warten und zu hoffen, dass er bald wieder rauskam. Geschlagen seufzte er und machte es sich wieder auf dem Sofa bequem. Er hasste es, nichts ausrichten zu können und zur Untätigkeit verdammt zu sein. Aber andererseits zeigte es auch, dass er sich in solchen Momenten auf seinen Herrn verlassen konnte. Alles, was er nun tun konnte war, ihm zu vertrauen und auf das Beste zu hoffen. Malachiel seufzte genervt als er sich seine Jacke anzog und nach draußen ging. Anscheinend war selbst einem armen Arbeitsverweigerer wie ihm kein ruhiger Tag vergönnt. Warum nur mussten all die Problemfälle und Bittsteller auch immer ausgerechnet dann auf der Matte stehen, wenn er sich einfach nur ausruhen wollte? Faulenzerei musste eben auch gelernt sein. Vor allem war es ihm ein absolutes Rätsel, warum immer wieder Dämonen aufkreuzen und ihn herausfordern mussten, obwohl sie doch inzwischen wissen sollten, dass sie sich nur Ärger einhandelten. Selbst Satan hatte diese Lektion gelernt und der hatte die schlimmste Abreibung kassiert seit Michael ihn hochkant aus dem Himmel geworfen hatte. Aber anscheinend waren die Menschen nicht die Einzigen, die sich mit ihrem grenzenlosen Maß an Dummheit den Darwin Award verdienten, weil sie bei den dämlichsten Aktionen draufgingen. Vielleicht war ja ein derart gewaltiges Maß an geistiger Beschränktheit eine Sünde. Etwas anderes hätte ihn auch sehr gewundert. Als er die Haustür öffnete, schlug ihm der intensive Geruch von Cannabis entgegen und er rümpfte die Nase. Na super… als wäre der ganze Ärger heute nicht schon genug, musste es auch noch ausgerechnet Indica sein. Wenn es wenigstens Sativa wäre, dann würde er wenigstens ein bisschen gute Laune dabei bekommen. „Na klasse… ausgerechnet Northern Lights. Und so wie es stinkt, ist es auch noch ziemlich schlechtes Gras“, murmelte er und versuchte den Geruch von Kiefern und Zitrone mit der Hand von seiner Nase wegzufächeln und diesen ekelhaften Gestank wieder loszuwerden. „Für ein ordentliches Super Silver Haze hat’s wohl nicht gereicht, was?“ Der Nebel war so dicht, dass es schier unmöglich war, auch nur die eigene Nasenspitze zu sehen. Doch Malachiels Augen konnten trotzdem zwei Silhouetten in dem weißen Dunst ausfindig machen. Und sie kamen direkt auf ihn zu. Na, das war mal was Neues. Es war schon etwas länger her, seit mehr als nur ein größenwahnsinniger Möchtegern-Abenteurer zur gleichen Zeit aufgetaucht war. Na das konnte ja nur lustig werden. Als sich der Nebel ein kleines bisschen klärte, konnte Malachiel die beiden Besucher etwas besser erkennen. Und ihre Aufmachung sorgte nicht gerade dafür, dass sich seine Stimmung besserte. Es waren zweifelsohne zwei Dämonen, allerdings sahen sie eher aus wie zwei außer Kontrolle geratene Jugendliche, die MTV von der Leine gelassen hatte. „Ach du Scheiße, aus welcher Freakshow seid ihr zwei Flitzpiepen ausgebüxt?“ wunderte er sich und konnte nicht glauben, was für ein Anblick sich ihm da bot. Der eine sah aus wie der weißeste Rapper seit Eminem, der verzweifelt versuchte, sich wie ein schwarzer Rapper zu kleiden. Und seine Begleiterin erinnerte ihn unfreiwillig an eine außer Kontrolle geratene Miley Cyrus in einem dicken weißen Zuhältermantel. Zusätzlich trugen sie beide Atemmasken. Vermutlich um nicht selbst diesem betäubenden Nebel zum Opfer zu fallen. So etwas war ihm bislang noch nicht untergekommen und wenn der Anblick nicht so verdammt erbärmlich wäre, würde er vielleicht darüber lachen. Die Hölle musste ja wirklich ihre Ansprüche heruntergeschraubt haben, was die jüngere Generation anging. Eine andere Erklärung konnte es für diesen Wanderzirkus unmöglich geben. Der Rapper kam auf ihn zu und zückte sogleich ein Klappmesser hervor und richtete die Spitze der Klinge direkt zwischen seine Augen. Das Mädchen mit dem wasserstoffblonden Haar und den Pimp-Klamotten hatte hingegen einen Baseballschläger in der Hand, der mit Nägeln bestückt war. Die Hölle schien deutlich kreativer mit den neuen Waffendesigns zu werden. Allerdings bezweifelte er, dass diese auch wirklich so nützlich waren wie die traditionellen Modelle. „Ey Arschloch, bist du der verfickte Pfaffe der hier lebt?“ blaffte ihn der Rapper an und ein kurzer Blick auf seine Hände verriet, dass er dicke goldene Schlagringe mit der Aufschrift „THUG“ und „SWAG“ trug. Also noch klischeehafter konnte diese Aufmachung nun wirklich nicht mehr werden. Selbst die goldene Kette mit dem Dollarzeichen war da. Hatte der Kerl etwa eine Checkliste abgearbeitet oder gab es vielleicht eine Art Starterpaket für Möchtegern-Rapper? „Und wer will das wissen?“ fragte Malachiel unbeeindruckt und konnte nicht glauben, dass er seine Zeit mit diesen zwei Witzfiguren verschwenden musste. Andererseits wollte er auch nicht unhöflich sein und den beiden wenigstens eine Chance geben. Es war ohnehin nicht seine Art, Kinder herumzuschubsen und offensichtlich hatten diese armen Irren nicht die geringste Ahnung, worauf sie sich da eigentlich einließen. „Ist die Hölle inzwischen so verzweifelt, dass man euch zwei Pappnasen hergeschickt hat? Tut euch selbst einen Gefallen und geht wieder nach Hause. Ich habe keine Lust, mich mit Grünschnäbeln wie euch herumzuärgern. Außerdem macht ihr euch mit diesem Aufzug mehr als lächerlich.“ „Fuck mich nicht so von der Seite an, Alter!“ schrie der Rapper wütend und packte den Halb-Engel grob am Kragen und drückte ihn mit Gewalt gegen die Tür um ihn einzuschüchtern. „Wir sind die berüchtigten New Age Dämonen und zukünftige Erzdämonen der sieben Todsünden, schreib dir das mal gefälligst hinter die Ohren, du Wichser! Wir sind hier um deinen abartigen Kinderschänderverein auseinanderzunehmen und dir die Fresse einzuschlagen. Also zeig gefälligst mehr Angst und Respekt hier!“ „Ach… zukünftige Erzdämonen also?“ erwiderte Malachiel und konnte sich ein spöttisches Lachen nicht verkneifen. Diese Drohungen, die ihm um die Ohren gehauen wurden, nahm er schon gar nicht mehr sonderlich zur Kenntnis. Inzwischen hatte er sie alle so oft zu hören gekriegt, dass er sogar schon mal darüber nachdachte, einfach mal ein Trinkspiel daraus zu machen. Dann würde das ganze Prozedere zumindest einen gewissen Unterhaltungswert bekommen. „Also schickt man jetzt heutzutage die Azubis vor oder ist das bloß so eine Art Challenge, die ihr euch Kids mal wieder ausgedacht habt?“ „Schnauze halten!“ brüllte sein Gegenüber und verlor endgültig die Beherrschung. Offenbar hatte der Gute ein ziemlich mieses Temperament. Malachiel brauchte nicht wirklich sein Hirn anzustrengen um zu erraten, dass dieser Choleriker Kandidat für die Todsünde des Zorns war. Passte ja wie der Faust aufs Gretchen. Nun, damit konnte er schon mal arbeiten. Und er hatte auch schon so eine gewisse Vorstellung, welche Todsünde seine Begleitung verkörpern könnte. Dem Aussehen nach hätte er zuerst auf Lust getippt, aber da passte die Angriffslust nicht dazu. Außerdem hätte sie sich deutlich aufreizender angezogen wenn sie es wirklich gewesen wäre. Nein, es musste etwas anderes sein und er hatte auch schon eine Vorahnung. So wie die beiden zusammen auf ihn losgingen, konnten es eigentlich nur Stolz und Zorn sein. Stellte sich nur die Frage, wer diesen Kiffernebel produzierte. Das konnte eigentlich nur ein Dämon der Trägheit sein, aber anscheinend hielt dieser sich versteckt. Wäre ja auch verwunderlich gewesen, wenn ausgerechnet diese Todsünde wirklich aktiv werden würde. Naja, es gab weitaus Schlimmeres und zum Glück wusste er, wie man mit den einzelnen Todsünden umzugehen hatte. Wütend holte sein Angreifer aus um ihm das Messer in den Hals zu rammen, doch Malachiel reagierte schnell genug, um seine Hand wegzuschlagen und die Attacke einfach in eine andere Richtung zu lenken. Völlig aus seiner Haltung gebracht kam sein Gegenüber ins Wanken und mit einem Stoß in den Brustkorb riss der Pseudo-Pfarrer ihn von den Füßen und schleuderte ihn ein paar Meter weg, bis der Rapper gegen den Briefkasten prallte und ächzend zu Boden sank. „Dex!“ rief die Blondine und drehte sich kurz erschrocken zu ihm um, doch nachdem sie sich kurz darauf von ihrem ersten Schreck erholt hatte, verzerrte sich ihr stark geschminktes Gesicht zu einer wutverzerrten Grimasse. „Du scheiß Penner, ich mach dich fertig!“ schrie sie und schlug mit ihrer provisorischen Nagelkeule nach ihm, doch Malachiel wich mühelos zur Seite aus und packte sie daraufhin am Handgelenk. „Ich wiederhole mich noch ein letztes Mal“, sprach er ruhig und eindringlich. „Geht nach Hause und lasst den Blödsinn. Ich habe keine Lust, mich mit Kindern zu prügeln.“ Doch das Mädchen dachte gar nicht daran, einfach so aufzugeben. Wütend darüber, dass Malachiel sie am Handgelenk festhielt, holte sie mit der anderen Hand aus um ihm eine Backpfeife zu verpassen, doch er blockte den Schlag ab und schien dabei nicht unbedingt viel an Energie zu benötigen. „Lass mich gefälligst los, du perverses Schwein!“ kreischte sie und trat ihm vors Schienbein. Etwas irritiert über diese plötzliche Unterstellung ließ Malachiel sie los und wich einer weiteren Attacke mit dem Schläger aus. „Seit wann ist Selbstverteidigung bitteschön pervers?“ fragte er irritiert und trat nun auf seine Kontrahentin zu wobei er missmutig und vorwurfsvoll die Fäuste in die Seiten stemmte. „Ihr taucht hier auf, greift mich an und pöbelt rum wie die Asozialen. Und nur weil ich keine Lust habe, mich von einer billig angezogenen und völlig übergeschnappten Furie erschlagen zu lassen, macht mich das noch lange nicht…“ „Deine sexistischen Kommentare kannst du dir sonst wo hinstecken!“ keifte die Blondine wütend und baute sich mit ihrer DIY-Nagelkeule vor ihm auf. „Solche chauvinistischen Kommentare sind ja mal wieder so typisch für frauenhassende, homophobe und transfeindliche Cis-Männer wie dich. Ihr scheiß Katholiken seid das Symbol für Diskriminierung und Intoleranz in unserer Gesellschaft und ihr habt uns Frauen viel zu lange unterdrückt! Und ich schlag dir die Birne ein, damit das endlich mal in eure Köpfe reingeht!“ Ach du Scheiße, also mal wieder so eines von diesen so genannten Schneeflöckchen, dachte sich Malachiel und spürte, wie ihm die Galle hochkam. Einerseits war es mal eine erfrischende Abwechslung zu den sonstigen Drohungen und großen Reden, die seine früheren Gegner vom Stapel gelassen hatten. Andererseits machte das selbstgerechte Gerede einer auf Krawall gebürsteten Zicke den Braten auch nicht fett. Wenn das wirklich die neue Generation von zukünftigen Erzdämonen der Todsünden war, konnte er verstehen, warum die Leute heutzutage komplett am Rad drehten. Jetzt machte der ganze Aufriss um Cancel-Culture, politisch korrekte Zensur und Rassismusdebatten in den Medien wenigstens einen Sinn. Einerseits konnte Malachiel nicht umhin, diese überraschende Kreativität anzuerkennen und insgeheim zuzugeben, dass sich die Hölle ziemlich effektive Methoden einfallen ließ. Andererseits war es auch einfach nur pures Fremdscham-Material und er konnte sich dieses selbstgerechte Gefasel dieser Dämonin kaum eine Sekunde länger mit anhören. Die schmiss garantiert mit Anschuldigungen um sich, wenn es überhaupt nichts gab, worüber sie sich beschweren konnte. Und das ging ihm so richtig gegen die Hutschnur. Als seine Kontrahentin zu einem kräftigen Schlag ausholte um ihm den Schädel einzuschlagen, packte Malachiel sie am Arm und schleuderte sie in die Richtung, in welche er zuvor schon Dex befördert hatte. Die beiden dämonischen Zwillinge prallten zusammen und blieben einen Moment lang benommen auf dem Boden liegen. Sie hatten zwar mit Gegenwehr gerechnet, aber gewiss nicht damit, dass ihr Gegner derart stark sein würde. Stöhnend kamen sie wieder auf die Beine, brauchten aber einen Moment um sich wieder zu sammeln. Irritiert tauschten sich die beiden an und verstanden die Welt nicht mehr. „Ich kapier’s echt nicht“, murmelte Deeda benommen und hob ihre Waffe auf. „Warum zum Teufel macht ihm Lucys Nebel nichts aus? Er hätte schon längst einschlafen müssen.“ „Ganz einfach!“ rief Malachiel ihnen zu, der alles mitgehört hatte. „Ich bin schon immer von Natur aus ein Faulpelz gewesen. Noch träger kann ich gar nicht mehr werden!“ „Der will uns doch wohl verarschen“, knurrte Dex zerknirscht und richtete seine Schlagringe. Er weigerte sich zu glauben, dass eine so dämliche Erklärung wirklich der Grund dafür war, warum ihm die verheerende Macht der Todsünde Trägheit nichts anhaben konnte. Das musste doch ein Scherz sein. Der Nebel wurde wieder dichter und Malachiel konnte selbst mit seinen Dämonenaugen die beiden Raufbolde nicht mehr sehen. Dafür konnte er sie aber ziemlich gut hören, denn von Anschleichen hatten die beiden offensichtlich noch nie gehört. Naja… Stolz und Zorn waren ja auch nicht unbedingt für Subtilität und Lautlosigkeit bekannt. Laut schreiend stürmten die beiden auf ihn zu und griffen ihn an, stellten sich aber nicht geschickter an als irgendwelche gewöhnlichen Rowdys, die in Gruppen auf wehrlose Leute einprügelten. Normalerweise waren Dämonen, die sich auf Kämpfe verstanden, in besonderen Kampfkünsten ausgebildet und extrem zähe Gegner. Aber diese beiden Querulanten waren wirklich ein Witz und besaßen nicht den leisesten Hauch von Finesse. Kein Wunder, dass die beiden bloß Azubis und keine richtigen Erzdämonen waren. Bei einem so primitiven Kampfstil machte es wirklich keinen Spaß, überhaupt zurückzuschlagen. Also begnügte sich Malachiel einfach damit, ihren Angriffen auszuweichen und den beiden zwischendurch lediglich einen Fuß zu stellen um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es war ja schon das reinste Trauerspiel, dass die beiden derart überzeugt davon waren, dass diese Pausenhofschlägerei sie tatsächlich weiterbringen würde. Naja, vielleicht hatte er Glück und die beiden wurden bald müde. „Also damit ich es richtig verstehe“, sagte er schließlich, packte Dex am Kragen und hielt ihn fest. „Du spielst hier den streitlustigen Rassisten…“ Als dann ein weiterer Angriff von Deeda folgte und sie sich mit bloßen Händen auf ihn stürzen wollte, stieß er sie von sich und schleuderte ihren Bruder in ihre Richtung. „Und du machst hier einen auf Social Justice Dingens… Oh Mann, die Hölle muss wirklich unterbesetzt sein, wenn sie nicht mal vernünftiges Personal nach oben schicken kann. Aber ich wette die Kids lieben euch.“ „Fick dich, Motherfucker! Ich stech dich so was von ab!“ brüllte Dex wütend und startete einen Frontalangriff und hielt sein Klappmesser bereit zum Angriff. Da Malachiel aber keine Lust mehr auf diese vulgären und niveaulosen Beleidigungen hatte, beschloss er, dem Bengel mal eine Lektion zu erteilen und verpasste ihm einen kräftigen Schlag in die Magengrube. Das war endgültig zu viel für den Rapper und mit einem gequälten Stöhnen sank er in sich zusammen wie ein nasser Sack und blieb auf dem Boden liegen. Der würde vorerst nicht mehr aufstehen. Nun wandte er sich Deeda zu, deren Kopf so rot angelaufen war, dass nicht mal ihr Makeup es weiter verstecken konnte. In ihren dämonischen Augen glomm pure Mordlust und sie war bereit, bis aufs Äußerste zu gehen. „Der Schlag vorhin ging voll auf meine Titte, du sexistischer Bastard!“ wetterte sie und hielt mit beiden Händen ihre selbstgebastelte Nagelkeule. „Macht es Cis-Abschaum wie dir etwa Spaß, Frauen zu objektifizieren und zu glauben, man kann sie angrabbeln wann immer es euch gerade passt?“ Jetzt war die Grenze endgültig überschritten. Malachiel hörte sich ja so einige Beleidigungen an, aber das war nun wirklich zu viel des Guten. Er konnte es wirklich nicht ab, wenn die Person, die ernsthaft versuchte ihm den Schädel einzuschlagen, sich nun plötzlich als das eigentliche Opfer darstellte. Das war ja nun wirklich mehr als lächerlich. „Bei der dicken Suppe kannst du erstens kaum von mir erwarten, dass ich alles sehe. Und zweitens versucht ihr die ganze Zeit, mich umzubringen. Also brauchst du dich nicht zu wundern, wenn ich mich zur Wehr setze.“ „Steck dir deine Ausreden in deinen frauenhassenden Arsch und hör gefälligst auf, auf mich herabzusehen nur weil ich keinen Schwanz mehr hab!“ schrie sie und stürzte mit der Nagelkeule zum Schlag bereit auf ihn zu. Nun wurde ihm diese ganze Scharade wirklich zu blöd. Er ließ sich ja so einiges vorwerfen aber das war zu viel des Guten. Es wurde mal langsam Zeit, dass diese übergeschnappte Furie mal eine Kostprobe ihrer eigenen Medizin bekam. „Du willst also Gleichberechtigung? Kannst du gerne haben!“ Und damit verpasste er seiner Angreiferin einen kräftigen Schlag zwischen die Augen. Jetzt war die Spielstunde endgültig vorbei. Wenn die beiden unbedingt schmutzig spielen wollten, dann konnten sie das gerne so haben. Kapitel 15: Angst essen Seele auf --------------------------------- Völlig benommen von dem Schlag stolperte Deeda zurück und presste sich mit einem Schrei, in welchem sich Schmerz mit Wut mischte, eine Hand auf ihre lädierte Nase. „Du verdammter Hurensohn!“ kreischte sie und fluchte dazwischen immer wieder „Scheiße“, während sie ihr Gesicht wieder zu richten versuchte. Blut floss aus ihrer Nase und für gewöhnlich hätte ein solcher Schlag einem Menschen das Nasenbein komplett gebrochen. Da Dämonen aber weitaus robuster waren, konnte diese Verletzung notdürftig wieder geflickt werden. Trotzdem war die Influencerin stinkwütend und wollte sich das nicht so einfach gefallen lassen. „Sag mal, stehst du etwa darauf, Frauen ins Gesicht zu schlagen oder was?“ „Du wolltest, dass ich aufhören soll, dich wie eine Frau zu behandeln. Also tue ich das auch“, meinte Malachiel und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Normalerweise war so etwas nicht unbedingt sein Stil, aber manche Leute lernten es nur auf diese Art und Weise. Und es gab nur eine vernünftige Methode, um mit einer derart problematischen Todsünde wie Stolz fertigzuwerden. Hochmut konnte man nur klein kriegen, wenn man ihm den Spiegel vorhielt und all die Falschheit und Heuchelei darunter zutage brachte. Wenn man einen derart verblendeten Gegner erst mal auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht hatte und ihn erkennen ließ, wie schwach er war, dann überlebte selbst der größte Stolz nicht lange. Und wenn er etwas mehr liebte als vorlauten Rotzgören den Hintern zu versohlen, dann war es eine verbale Zerfleischung. Wenn es darum ging, jemanden allein mit Worten auseinanderzupflücken, war er regelrecht in seinem Element und hatte zugegebenermaßen auch seinen sadistischen Spaß dabei. „Feministen wie du posieren für Erotikmagazine auf denen sich notgeile Teenager und verzweifelte Junggesellen einen runterholen und ihr kettet euch nackig an Zäune um gegen Objektifizierung anzukämpfen. Und ihr glaubt allen Ernstes, dass Diskriminierung der Männer euer gutes Recht sei, weil ihr euch derart wohl in eurer Opferrolle fühlt, dass es euch gar nicht mehr um Fairness geht. Auf der einen Seite verlangt ihr besonderen Schutz für Frauen, prangert aber gleichzeitig jeden an, der Frauen eine Sonderbehandlung zukommen lassen will. Ihr wollt immer nur die guten Seiten der Gleichberechtigung, aber sobald ihr die Schattenseiten der absoluten Gleichberechtigung zu spüren bekommt, dann revidiert ihr plötzlich alles wieder. Feminismus ist weder ein Wunschkonzert, noch eine Entschuldigung für eure Diskriminierung gegen Männer, kapiert?“ Malachiel hatte endgültig genug von diesem Affenzirkus und wollte dieser arroganten Ziege eine Lektion erteilen, die sie ihr Leben lang nicht vergessen würde. Bislang hatte er sich noch ziemlich zurückgehalten und Gewalt vermieden, weil er es hasste, Schwächere anzugreifen. Aber diese beiden Kindsköpfe ließen ihm kaum eine andere Möglichkeit. Wenn er nicht bald mal ernst machte, würden sie ihm ständig auf der Nase herumtanzen. Manchmal musste man eben etwas grob werden, um sich einigermaßen Respekt und Gehör zu verschaffen. „Mal ganz ehrlich: du beschimpfst mich hier als frauenhassenden, homophoben Cis-Mann und denkst, dass du als Verfechterin der sozialen Gerechtigkeit über alle Zweifel und Fehler erhaben bist. Aber soll ich dir mal was verraten? Ich gebe einen Scheiß auf solchen Kinderkram wie Rasse, Hautfarbe und was weiß ich noch alles. Für mich seid ihr alle gleichermaßen nervtötende und anstrengende Heulsusen, für die immer die anderen die Bösen sind aber niemals sie selbst!“ Dies wollte sich Deeda natürlich nicht gefallen lassen und als sie sich wieder halbwegs von dem Schlag ins Gesicht erholt hatte, umklammerte sie wieder ihren Schläger und stürzte sich wieder mit einem wütenden Kampfschrei auf Malachiel, um ihm den Schädel einzuschlagen. Doch dieser hatte nun endgültig genug von dem ganzen Kindergartenspielchen, duckte sich zur Seite als die Nagelkeule niedersauste und schlug mit der Handkante auf Deedas Finger. Als sie kurzzeitig die Kontrolle in ihren Händen verlor, entriss er ihr die Waffe und beschwor einen heiligen Segen, der die konzentrierte Bosheit in dieser Dämonenwaffe läuterte. Und diese Kraft reichte aus, um den Schläger in reinigenden Flammen aufgehen und zu Staub zerfallen zu lassen. „Nein!!!“ rief die stolze Pop-Ikone entsetzt als sie sah, wie ihre Waffe vor ihren Augen buchstäblich aufgelöst wurde und nicht einmal ein Häufchen Asche übrig blieb. Da himmlische und höllische Waffen übernatürlich waren, galt es normalerweise als extrem schwierig, sie zu vernichten. Immerhin waren sie mächtig genug, um Engel und Dämonen ernsthaft zu verletzen und im schlimmsten Fall sogar zu töten. Noch nie in ihrem relativ jungen Leben hatte Deeda Darvon so etwas erlebt. Sie hatte nicht einmal gewusst, ob es überhaupt möglich war, solche Waffen derart restlos zu vernichten. Und doch war es gerade geschehen. Das Schlimmste war vor allem, dass es nicht einmal danach aussah, als hätte sich Malachiel großartig anstrengen müssen. In diesem Moment dämmerte es ihr so langsam, dass sie und Dex sich gewaltig verschätzt hatten und ihr Gegner weitaus mächtiger war als sie sich vorstellen konnten. Was wenn sie am Ende tatsächlich keine Chance hatten und rein gar nichts auszurichten vermochten? Nach einem kurzen Augenblick der Angst und des Zweifels schluckte sie hastig ihre aufkeimende Panik wieder herunter. Nein, so schnell ließ sie sich nicht unterkriegen. Sie war immerhin noch die zukünftige Erzdämonin des Hochmuts. Sie war zusammen mit ihrem Bruder die gnadenloseste, mächtigste und brutalste Dämonin von Psychodelia und sie würde diesem arroganten Fatzke beweisen, dass sie sich nicht so leicht einschüchtern ließ. Sie hatte die junge Generation dieser Welt auf ihre Seite gebracht und eine Bewegung ins Leben gerufen, die niemand aufhalten konnte. Da war es doch klar, dass sie auch in diesem Fall als Gewinnerin hervorgehen würde. „Tu hier mal nicht so als hättest du die Weisheit mit Löffeln gefressen, du ignorantes Arschloch“, wetterte sie zurück und holte nun ein Springmesser hervor, welches sie eigentlich nicht gerne nutzte. Aber da ihre Lieblingswaffe sich soeben restlos aufgelöst hatte, musste sie eben auf Alternativen zurückgreifen. „Wenn du wirklich so tolerant wärst wie du behauptest, wärst du kein Pfarrer und schon gar kein verschissener Katholik! Und dann wäre dir die Diskriminierung und Ausgrenzung von Randgruppen auch nicht egal! Also spar dir deine Lügen!“ Damit holte sie zum Angriff aus und stach immer wieder mit der langen und dünnen Klinge nach ihm, um Malachiel wenigstens genug zu verletzen, dass sie ein klein wenig Genugtuung daraus ziehen konnte. Doch egal wie oft und wie schnell sie auch zuschlug, er wich jedem einzelnen Schlag aus als kannte er bereits jeden ihrer Schritte oder als könnte er Gedanken lesen. Wie zum Teufel machte er das bloß? Ein kräftiger Stoß gegen ihren Fußknöchel, auf den sie ihr Gewicht verlagert hatte, brachte Deeda aus der Balance und sie stolperte nach vorne. In diesem Augenblick verpasste der Halb-Engel ihr eine kräftige Kopfnuss und raubte ihr mit diesem heftigen Schlag gegen die Stirn fast das Bewusstsein. Nicht nur, dass er verdammt flink und stark war, er hatte auch einen unfassbaren Dickschädel. „Um ehrlich zu sein hab ich diesen Job nur angenommen, weil ich ernsthaft gedacht hatte, ich könnte mir ein bequemes Leben machen“, gestand er ohne Umschweife und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. „Zugegeben… ich nehme es mit der Arbeit auch nicht so genau. Ich zieh mir meist nur irgendwelche halbgaren Anekdoten aus dem Arsch und hoffe bloß, dass die Leute nicht merken, dass ich nur Blödsinn erzähle. Und von Ignoranz brauchst du mir gar nichts zu erzählen. Du versuchst doch die ganze Zeit, die Leute in irgendwelche Schubladen zu stecken. Als ob es mich großartig juckt, ob du eine Frau oder was weiß ich noch was bist. Alles was ich bloß sehe, ist einen ziemlich verkorksten Charakter, sonst nichts.“ „Also gibst du zu, dass du meine Identität als lesbische Transfrau gar nicht anerkennst!“ Jetzt hatte sie ihn erwischt. Endlich hatte sie ihn an der Angel und seine ganze Falschheit aufgedeckt. Triumphierend grinste sie und fühlte sich nun deutlich überlegener. Wenn sie ihm schon körperlich nicht das Wasser reichen konnte, dann konnte sie zumindest auf moralischer Ebene die Oberhand behalten. Wäre doch gelacht, wenn ein dahergelaufener Halb-Halb-Freak die zukünftige Herrin des Stolzes und Hochmuts einfach so mit ihren eigenen Waffen schlagen konnte. Wenn es um Wortgefechte ging, war sie immer noch die unangefochtene Meisterin. Mit diesem neuen Motivationsschub stürzte sie sich wieder auf ihn und versuchte, ihm die Klinge direkt in die Halsschlagader zu rammen. Doch anstatt einfach nur auszuweichen, wandte Malachiel einen kleinen Trick an. Wieder bekam er sie am Handgelenk zu fassen, drehte ihr erst das Messer aus der Hand und wandte dann genug Kraft auf, um ihr den Arm auf den Rücken zu drehen und ihr Gesicht gegen die Hauswand zu drücken. Deeda versuchte sich zu befreien, doch dieses Mal hielt Malachiel sie eisern fest und umklammerte ihren Arm wie einen Schraubstock. So langsam wurde ihm dieses Ausweichspiel doch ein bisschen langweilig und er beschloss, die Spielstunde ein wenig abzukürzen. Immerhin hatte er genug andere lästige Pflichten, die auf ihn warteten. „Wie gesagt, mir ist es egal als was du dich identifizierst weil ich nur nach dem miesen Charakter der Leute urteile“, erklärte er mit spürbar kälterem Ton. „Du führst dich hier als ignorant auf, weil du so sehr in deinem Schubladendenken gefangen bist, dass dir diese einfache Lösung gar nicht in den Sinn gekommen ist. Also denk hier bloß nicht, dass du irgendetwas Besonderes bist, nur weil du meinst, du würdest mit deiner Identität und deinem Lebensstil aus der Reihe tanzen. Letzten Endes bist du genauso klein und unbedeutend wie der ganze Rest von uns. Du diskriminierst mich hier als Cis-Mann und vergisst dabei eine Kleinigkeit: ich bin genauso wie jeder Dämon und Engel in erster Linie nichtbinär und kann jederzeit mein äußeres Geschlecht wechseln, wenn ich Lust dazu habe. Also ist deine Anschuldigung vollkommen haltlos.“ Deeda gefror das Blut in den Adern. Sie ahnte, dass gleich etwas Schlimmes auf sie zukommen würde, wenn es ihr nicht gelang, sich schnell zu befreien. Mit aller Macht versuchte sie sich aus dem eisernen Griff des Halb-Engels loszureißen, doch dieser hielt sie mit einer enormen Kraft fest, die man ihm so nicht zugetraut hätte. Sie versuchte zu schreien, fluchte lauthals und begann blindlings nach ihm zu treten, aber nichts wollte funktionieren. Und als sie realisierte, dass sie vollkommen machtlos war und nicht nur körperlich, sondern auch auf allen anderen Ebenen nicht gegen ihren Gegner ankam, übermannte sie Angst und nackte Panik. „Verdammt noch mal, lass mich los! Lass mich gefälligst los!“ rief sie, doch ihr Protest stieß auf taube Ohren. Malachiel machte endgültig Ernst und es war zu spät um es aufzuhalten. Mit noch größerem Entsetzen musste sie erkennen, dass sie nichts mehr hatte, was sie ihm noch an Worten entgegensetzen konnte, um ihre eigene Position zu stärken. Stattdessen war sie selbst als diskriminierende und sexistische Heuchlerin entlarvt worden und all ihre Worte hatten an Macht verloren. Sie war ihm nun vollkommen hilflos ausgeliefert. „Ein bisschen mehr Selbstreflexion würde dir mal ganz gut tun“, meinte Malachiel daraufhin. „Vielleicht wirst du dadurch endlich ein bisschen erwachsener.“ Damit materialisierte er einen kleinen Kosmetikspiegel, machte ein kurzes Kreuzzeichen und sprach dann den heiligen Bannfluch, woraufhin Deedas Körper in den Spiegel hineingesaugt und eingeschlossen wurde. Mit einem mürrischen Seufzer steckte Malachiel den kleinen Spiegel wieder ein und war einfach nur froh, dass er zumindest ein Problem bewältigt bekommen hatte. Fehlte nur noch die andere Pappnase. Als Dex langsam wieder zu sich kam, konnte er nur noch hilflos mit ansehen wie seine Schwester in den kleinen Kosmetikspiegel gesperrt wurde. Es geschah so schnell und plötzlich, dass er einen Moment brauchte um überhaupt zu begreifen, was da eigentlich passiert war. Und als ihm klar wurde, dass Deeda weg war und dieser Pfarrer dafür verantwortlich war, übermannten ihn der blinde Zorn und die Mordlust. Er würde diesen Kerl für dieses Vergehen bluten lassen und jeden anderen, der mit ihm in Verbindung stand. „Du verdammter Wichser, ich bring dich um!“ Damit sprang er auf und holte zum Schlag aus. Einfach abstechen kam für ihn nicht mehr infrage. Nein, er würde den Pfaffen zu Brei schlagen und ihn für die Schmach büßen lassen, die er ihnen beiden zugefügt hatte. Malachiel, der an dieser Stelle keine Geduld mehr hatte um seine Angreifer mit Samthandschuhen anzufassen, fing den Schlag ab, verdrehte Dex‘ Arm und schlug ihn kurzerhand mit seiner eigenen Faust mitten ins Gesicht. „Krieg dich mal wieder ein. Ich hab sie nur eingesperrt und nicht umgebracht. Bin ja kein Unmensch“, erwiderte dieser nur halbherzig und verpasste ihm einen Tritt in die Magengrube, die den Rapper von den Füßen riss. Hart prallte er auf dem Pflaster auf und stöhnte vor Schmerz auf. Doch selbst die Tatsache, dass seine Schwester noch lebte, vermochte den vor Wut rasenden Dämon nicht mehr zu besänftigen. Er wollte Köpfe rollen sehen und in diesem Moment war es ihm herzlich egal, wer seinem Zorn zum Opfer fallen würde. In dieser Situation hätte er jeden getötet, der das Pech hatte, ihm über den Weg zu laufen. Dieser Tatsache war sich Malachiel durchaus bewusst, denn er hatte schon mal Bekanntschaft mit dem derzeitigen Titelhalter als Erzdämon des Zorns gemacht: Satan persönlich. Auch wenn er diesen während der Beinahe-Apokalypse besiegt hatte, wusste er eines: Zorn war unberechenbar, irrational und brandgefährlich. Selbst wenn seine Chancen auf einen Sieg ziemlich gut standen, war dennoch Vorsicht geboten und er musste aufpassen, dass niemand sonst ins Kreuzfeuer geriet. Zwar hatte er Metatron und Nazir sicher eingeschlossen und kein Dämon würde sein Siegel so leicht lösen können, aber es brauchte nur ein ahnungsloser Passant vorbeikommen. Andererseits bezweifelte er, dass bei diesem dichten Kiffernebel noch irgendjemand in diesem Dorf bei Bewusstsein war. Trotzdem war es klüger, mit Vorsicht und Bedacht vorzugehen. Jede Todsünde hatte eine Schwäche und war auf eine relativ simple Art zu besiegen wenn man wusste, wie es gemacht wurde. Dazu musste man nur die jeweilige Sünde verstehen und ihren Ursprung erkennen. Hochmut entstammte mangelnder Selbstreflexion, Ignoranz und manchmal auch fehlendem Selbstbewusstsein. Wenn Hochmut und Neid zusammenhingen, war der Stolz nur eine Kompensation für ein schwaches Ego. Doch wenn sich zu Stolz stattdessen Zorn dazugesellte, war es meistens pure Selbstüberschätzung und eine ziemlich narzisstische Persönlichkeitsstörung. Wenn man die Wurzel aufspüren konnte, hatte man zugleich auch den Schwachpunkt des jeweiligen Dämons offengelegt. Zorn war relativ simpel und hatte für gewöhnlich zwei mögliche Quellen: Geltungsdrang oder Angst. Im Moment war Dex offensichtlich von Rache für seine Schwester besessen, aber Malachiel bezweifelte, dass dies der eigentliche Antrieb war. „Na du nimmst das aber ziemlich persönlich, dass ich deine Begleiterin weggesperrt habe“, bemerkte er mit gespielter Überraschung und blockte die Schläge ab, die auf ihn einprasselten. Sein Kontrahent hatte deutlich an Schlagkraft dazugewonnen, was aber auch nicht verwunderlich war. Dämonen, die einer bestimmten Todsünde zugeordnet hatten, waren immer dann am stärksten, wenn sie in ihrem Element waren. Aber auch das war kein Grund zur Panik. Malachiel hatte aus Erfahrung gelernt, dass man seinen Gegner am besten besiegen konnte, wenn man die Ruhe bewahrte und einen klaren Kopf behielt. Außerdem war er eh meist zu faul dazu, um durchzudrehen und in Panik zu geraten. Er wusste, dass dieser Bengel nicht den Hauch einer Chance hatte und eigentlich hätte er ihm schon längst den Garaus machen können. Aber es war erstens nicht seine Art, jemanden zu töten und zweitens war es unter seinem Niveau, seine volle Kraft gegen jemanden zu nutzen, der sowieso keine Chance hatte. Also zog er alles lieber ein bisschen in die Länge und versuchte stattdessen, einfach etwas mehr mit dem Kopf zu denken. Dex schien gar nicht zu merken, dass sein Gegner nur mit ihm spielte und sich nicht die Mühe machte, ernsthaft zu kämpfen. Es interessierte ihn auch schlichtweg gar nicht und er wollte einfach nur Blut sehen. „Natürlich nehme ich’s persönlich. Sie war immerhin meine Schwester, verdammt!“ „Ach so ist das“, meinte Malachiel unbeeindruckt, packte den Rapper an den Kragen und schleuderte ihn durch die Luft, bis dieser gegen den Zaun prallte. „Na dann passt ihr beiden ja echt gut zusammen. Ihr seid beide nicht gerade die Hellsten und seid gleichermaßen vollkommen blind.“ „Was laberst du da für einen Müll, Alter?“ rief Dex wütend und rappelte sich wieder auf. Da Malachiel ihn in diesen dichten Nebelschwaden nur schwer erkennen konnte, kam er mit langsamen Schritten auf ihn zu und steckte die Hände in den Jackentaschen. Inzwischen war es finstere Nacht geworden und ihm wurde ein bisschen kalt. „Ganz einfach“, rief der Halb-Engel seinem Kontrahenten zu. „Während deine Schwester nicht wahrhaben wollte, wie ignorant und engstirnig sie selbst war, bist du vollkommen unfähig zu erkennen, warum du überhaupt so zornig bist. Du spielst dich hier als rassistisches Arschloch auf, der gegen sämtliche Randgruppen der Gesellschaft hetzt und überall Hass schürt. Aber weißt du auch, warum die Leute so empfänglich für Zorn sind? Ganz einfach: weil sie Angst haben. Ganz genauso wie du.“ „Ich hab vor nix und niemandem Angst!“ protestierte Dex energisch, riss eine Latte vom Zaun ab und schlug damit nach seinem Gegner. Malachiel wehrte den Angriff mit einem Faustschlag ab und zerschlug die Holzlatte in zwei Teile. Kurz darauf bereute er die Aktion aber sofort, denn ihm fiel ein, dass Nazir erst vor kurzem den Zaun frisch lackiert hatte und garantiert ausrasten würde, wenn der jetzt plötzlich demoliert wurde. Dann durfte er sich wieder einen Vortrag von seinem Haushälter anhören und das konnte ziemlich unangenehm werden. Na hoffentlich ließ sich die Zaunlatte mit einem kleinen Wunder wieder flicken. Die kurze Ablenkung verschaffte seinem Gegner den entscheidenden Vorteil und Dex schaffte es tatsächlich, einen Faustschlag in den Brustkorb zu landen. Dieser Angriff brachte Malachiel ins Straucheln und reflexartig stieß er ein leises Stöhnen aus, als die Luft aus seinen Lungen gepresst wurde. „Okay, der hat gesessen“, keuchte er und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Doch der Rapper wollte ihm keine Pause gönnen und griff erneut an. Er hoffte, noch einen Glückstreffer landen zu können, aber Malachiel kam ihm zuvor und verpasste ihm einen Kinnhaken, der den jungen Dämon erneut von den Füßen riss. Mit einem leisen Grummeln rieb sich Malachiel seine Brust und holte tief Luft. Auch wenn der Schlag nicht wirklich ausgereicht hatte, um ihm die Rippen zu brechen, hatte es trotzdem wehgetan. Naja, diesem kleinen Triumpf wollte er seinem Gegner lassen. Es brachte ja ohnehin nichts, nachtragend zu sein. Stattdessen beschloss er, genau an der Stelle weiterzumachen wo er aufgehört hatte. „Klar hast du Angst“, erwiderte er und schaute auf seinen benommenen Kontrahenten herab. „Du versuchst derart verzweifelt, so viel Hass und Feindseligkeit in der Bevölkerung zu schüren, weil das die einzige Art und Weise ist, wie du Bekanntheit erlangst. Die Menschen sind derart sensationsgeil, dass du dich immer wieder selbst übertrumpfen musst, damit sie überhaupt Notiz von dir nehmen. Ohne deine ständigen Kontroversen und Hasstiraden würde sich kein Schwein um dich scheren. Menschen sind Rassisten, weil sie Existenzängste haben. Sie fühlen sich in ihrem eigenen Lebensraum bedroht und reagieren deshalb mit Hass. Leute sind homophob und transfeindlich, weil es ihren beschränkten Horizont erschüttert und ihr Spießerbild von Normalität durcheinanderbringt. Du flüchtest dich in den Zorn, weil es das Einzige ist, was dich ausmacht. Du bist abhängig davon, genauso wie du von deiner Schwester abhängig bist.“ „Fuck mich nicht an mit deinen Psychospielchen!“ erwiderte Dex wütend und ballte die Fäuste. „Ich brauche nichts und niemanden und ich werde dir zeigen, dass ich dich ganz alleine schlagen kann!“ „Versuch’s ruhig“, meinte Malachiel gleichgültig und zuckte mit den Achseln. „Tief drin weißt du selbst, dass du ohne deine Schwester nicht lange durchhalten kannst. Ihr existiert in einer Art Co-Abhängigkeit, in der ihr zwei am stärksten seid, solange ihr euch gegenseitig anstacheln könnt. Deine Schwester kann nur dann ihre selbstgerechte und sinnfreie Predigt halten, wenn sie einen vollkommen irrationalen Gegenpart hat, der auf alles anspringt. Auf sich allein gestellt kann Stolz eine Weile überleben, aber Zorn… tja…“ Mühelos wehrte der Halb-Engel einen weiteren Angriff ab, packte den Rapper am Kragen und riss ihn mit erschreckender Leichtigkeit von den Füßen. Der Jungdämon versuchte, sich loszureißen doch wie zuvor schon seine Schwester Deeda war auch er nicht in der Lage, Malachiels gewaltiger Kraft etwas entgegenzusetzen. Und mit Entsetzen musste nun auch er feststellen, dass dieser Kerl bislang nur mit ihm gespielt und nicht einmal ernst gemacht hatte. Aber jetzt war die Spielzeit vorbei und ihm würde das gleiche Schicksal blühen wie Deeda und all den anderen Dämonen vor ihm, die erfolglos versucht hatten, den Mediator von Himmel und Hölle zu töten. Mit größerem Entsetzen musste er aber noch eine viel schlimmere Erkenntnis machen: er hatte Angst. Er fühlte sich machtlos und egal wie sehr er sich auch wehrte und sträubte, nichts schien irgendetwas zu bewirken. „Zorn kann nur fortbestehen, wenn es eine entsprechende Nahrungsquelle hat“, fuhr Malachiel weiter fort. „Hass überlebt nur, wenn man stetig Öl in die Flamme gießt. Und du hast Angst davor, deine Macht zu verlieren weil Menschen im Gegensatz zu dir die Fähigkeit haben, ihre Ängste zu überwinden. Du spielst dich hier als Möchtegern-Rapper und Gangster auf, dabei bist du nichts als ein paranoider Scheinriese, der wie ein tollwütiger Chihuahua herumkläfft. Es wird Zeit, dass du dich mal deinen eigenen Ängsten stellst und mit dir ins Reine kommst.“ Damit materialisierte er eine kleine Plastikspinne in seiner freien Hand, umklammerte sie als er das Kreuzzeichen machte und murmelte leise den heiligen Bannspruch. Dex, der mit Entsetzen erkannte, was da gerade passierte, versuchte sich panisch loszureißen, strampelte mit den Füßen und schrie immer wieder „Nein, hör auf! Lass mich runter, Mann!“ Doch es war vergebens. Als Malachiel den Bannspruch beendet hatte, wurde Dex von einer gewaltigen Kraft gepackt und ins Innere der kleinen Plastikspinne hineingezerrt. Mit einem etwas nachdenklichen Blick betrachtete Malachiel das kleine Gruselspielzeug und begann sich zu wundern, wie viele versiegelte Dämonen er inzwischen im Pfarrhaus gebunkert hatte. Na hoffentlich war seine unfreiwillige Sammelgewohnheit nicht der eigentliche Grund dafür, dass die Hölle derart unterbesetzt war. Ansonsten könnte das noch wirklich zum Problem werden. Nun gut, er könnte rein theoretisch ein paar seiner Gefangenen freilassen. Manche von ihnen hatte er schon seit mehr als 300 Jahren eingesperrt und irgendwann würde sein Heim noch wie eine Messiewohnung aussehen, wenn er nicht endlich mal damit aufhörte, diese ganzen Eindringlinge einzusperren. Andererseits hatte er auch keine Lust darauf, unnötig Blut zu vergießen. Letzten Endes taten Dämonen halt nur das, was ihre Natur ihnen vorschrieb und sie waren alle nur kleine Zahnräder in einem größeren Getriebe. Ohne sie würde die Welt aus dem Gleichgewicht geraten und sie waren somit ein notwendiges Übel, darüber war er sich durchaus bewusst. Ansonsten hätte es keinen Sinn gemacht, dass Gott ihn in dieser Form erschaffen hatte. Naja, er konnte sich ja zu einem anderen Zeitpunkt darüber Gedanken machen, was er mit seinen Gefangenen anstellen würde. Erst einmal musste er den Dämon finden, der für diese ganze Nebelaktion verantwortlich war. Und hoffentlich war dieser nicht auch noch zum Kämpfen aufgelegt. Von diesen jämmerlichen Pausenhofschlägereien hatte er für die nächsten 50 Jahre die Schnauze voll. Trotz des dichten Nebels brauchte er überraschenderweise nicht lange zu suchen. Der dritte Dämon im Bunde, ein knallbunt gekleidetes Mädchen das aussah, als käme sie von einer wilden Rave-Party, lag laut schnarchend auf dem Dach eines Autos, das auf dem Parkplatz vor der Kirche geparkt hatte. Sie war so weggetreten, dass sie nicht einmal mehr ansprechbar war. Offenbar hatte ihr eigener Nebel sie völlig zugedröhnt. Für einen Moment überlegte Malachiel, ob er sie nicht einfach laufen lassen sollte. Immerhin hatte sie nicht direkt versucht gehabt, ihn umzubringen. Andererseits hatte sie mit ihrem Nebel das ganze Dorf schlafen geschickt und es war vielleicht keine sonderlich gute Idee, sie weiterhin frei herumlaufen zu lassen. Also beschloss er, sie vorerst ebenfalls wegzusperren, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichtete. Und so materialisierte er einen Rauchmelder, dem die Batterie fehlte und sperrte sie darin ein. Mit diesen Gegenständen in der Jackentasche kehrte er wieder ins Pfarrhaus zurück und auf dem Weg dorthin begann sich der Nebel wieder langsam zu lichten. Es würde aber vermutlich noch etwas dauern, bis seine Wirkung endgültig verflogen war. Mit einem lauten Gähnen rieb er sich müde die Augen, hing seine Jacke an den nächsten Kleiderhaken an der Garderobe und brachte den Kosmetikspiegel, die Plastikspinne und den Rauchmelder vorerst in sein Schlafzimmer und schloss sie in die Schublade seines Schreibtischs. Nun war der Tag endgültig gelaufen und er konnte wirklich ein kleines Nickerchen vertragen. Nach so viel Arbeit hatte er sich das auch wirklich verdient. Aber vorher musste er noch nach Metatron und Nazir sehen. Also ging er zum Wohnzimmer, löste den Segensspruch von der Tür und öffnete sie. Er war nicht allzu überrascht als er nun auch seinen Haushälter tief schlafend auf dem Sofa liegend vorfand. Es war ja nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ihm der Kifferdunst wieder zu Kopf steigen würde. Normalerweise würde er sich darüber ärgern, dass die beiden seelenruhig schliefen während er die ganze Arbeit machen musste. Aber ausnahmsweise war das dieses Mal nicht der Fall. Er fand es irgendwie süß, die beiden so tief schlafen zu sehen. „Oh Mann… ihr macht es einem Faulenzer aber auch wirklich nicht leicht…“, seufzte er und beschloss, den beiden ihre Ruhe zu lassen. Sie hatten sich die Erholung wirklich verdient bei all der harten Arbeit, die sie tagein tagaus leisteten. Also deckte er seinen Schüler mit einer vernünftigen Decke zu und trug den schnarchenden Metatron, der immer noch das Regelwerk vollsabberte, in sein Schlafzimmer und legte ihn aufs Bett. Es geziemte sich für den König der Engel, wenigstens in einem vernünftigen Bett zu schlafen statt auf einem Sessel. Da Sofa und Bett belegt waren, entschied er sich, noch einen Kaffee zu kochen und ein bisschen in seiner Bibel zu stöbern. Wenn alle anderen tief und fest schliefen, kam er sowieso nicht in die richtige Stimmung für ein Nickerchen. Da konnte er genauso gut wach bleiben und aufpassen, dass nicht noch jemand versuchte, heute Nacht hier aufzukreuzen. Kapitel 16: Gelegenheit macht Teufel ------------------------------------ Als die lähmende und einschläfernde Wirkung des dämonischen Nebels nachgelassen hatte, war es schon längst Morgen. Das erste, was Nazir nach dem wohl tiefsten Schlaf seines Lebens aufweckte, war nicht etwa der verlockende Kaffeegeruch oder die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fielen. Nein, es war ein lauter donnernder Knall, der die friedliche Stille und das liebliche Vogelgezwitscher jäh unterbrach. Schlagartig war er wach und riss die Augen auf. Er setzte sich auf und konnte sich nicht einmal mehr vernünftig daran erinnern, was gestern Abend geschehen war und warum er zugedeckt auf der Couch gelegen hatte. Angestrengt versuchte er die zerstreuten Puzzlestücke seiner Erinnerungen wieder zusammenzufügen und ihm fiel wieder ein, dass er plötzlich so schläfrig geworden war und Malachiel daraufhin gegangen war und das Wohnzimmer versiegelt hatte. Anscheinend war er dann kurz danach eingeschlafen und keiner hatte ihn seitdem aufgeweckt. Verdammt noch mal, wie spät war es? Wieder knallte es und kurz darauf noch ein drittes Mal. Schlagartig fiel dem Dämon wieder ein, was dieses Geräusch bedeutete und eilte hastig aus dem Wohnzimmer. Auf dem Flur stieß er fast mit Metatron zusammen, dessen goldenes Haar ziemlich zerzaust war und er sah auch etwas übernächtigt aus. Verschlafen rieb er sich seine blauen Augen und schaute sich verwundert um. „Was ist los? Was ist passiert und was war das für ein Geräusch?“ Doch der dämonische Haushälter hatte nicht den Kopf dafür, irgendetwas zu erklären. Er musste sich beeilen, bevor es noch endgültig zu spät war. Also rannte er hastig an den verschlafenen Seraph vorbei, eilte die Stufen hinunter und Metatron, der aus der Reaktion schloss, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein musste, folgte ihm kurzerhand und sparte sich seine Frage erst mal für später auf. Gemeinsam verließen sie das Pfarrhaus und eilten zum Glockenturm der Kirche, wo auch schon der nächste Knall ertönte. Sie stiegen die Treppen hinauf und sahen dann auch schon Malachiel mit einer Schrotflinte bewaffnet stehen und auf das Dachgebälk zielen. Ein paar Federn und leere Patronenhülsen lagen verstreut auf dem Boden. Ein aufgeregtes Flattern und Gurren war zu hören und als Metatron nach oben schaute, sah er eine Schar von Tauben, die nun panisch umherflogen und versuchten, hastig wieder aus dem Glockenturm zu flüchten. Doch nicht alle fanden auch durch das kleine Loch im Mauerwerk wieder nach draußen, durch das sie zuvor reingekommen waren. Nazir war der Erste, der reagierte und dem schießwütigen Pfarrer schnell das Gewehr aus der Hand nahm. „Seid Ihr vollkommen übergeschnappt, Meister? Wie oft soll ich Euch denn noch sagen, dass Ihr gefälligst damit aufhören sollt, ständig Löcher ins Dach zu ballern?“ „Dann sag du diesen Spatzenhirnen doch, sie sollen gefälligst damit aufhören, mir ständig die Glocken vollzukacken!“ erwiderte Malachiel und wollte das Gewehr wieder an sich reißen und noch mal einen Schuss abfeuern. Aber dazu ließ es sein Schüler gar nicht erst kommen und er brachte das Gewehr schnell in Sicherheit. „Wo habt Ihr das hier überhaupt her?“ fragte Nazir wütend und schlug seinem Herrn strafend auf die Finger, als dieser sich seine Waffe zurückholen wollte. „Ich habe doch erst letztens die Schrotflinte konfisziert!“ „Ich hab mir halt ein neues Gewehr gekauft“, antwortete der Halb-Engel schulterzuckend und schmollte wie ein Kind, dem man soeben das Spielzeug weggenommen hatte. „In den USA nennt man so etwas übrigens sein Heim vor Einbrechern schützen. Ich habe es satt, dass mir diese Kackvögel ständig alles vollscheißen und wenn ich sie nicht vertreibe, fangen die hier noch an, sich Nester zu bauen.“ Metatron, der von dieser Aktion mehr als geschockt war, schüttelte fassungslos den Kopf darüber. Inzwischen wusste er ja, dass Malachiel etwas speziell in manchen Dingen war und manchmal etwas drastische Methoden bevorzugte. Aber das hier ging doch etwas zu weit und da musste er Nazir in dieser Angelegenheit zustimmen. „Du kannst doch nicht auf Tauben schießen“, versuchte er ihm deshalb ins Gewissen zu reden. „Weißt du denn nicht, dass sie Gottes Friedensboten sind?“ „Friedensboten am Arsch“, schimpfte Malachiel und war immer noch sichtlich beleidigt. „Schon mal was von Vogelgrippe gehört? Das sind bloß Ratten mit Federn und keiner wird diese Biester vermissen. Die können froh sein, dass ich eine derart miese Trefferquote habe.“ Vereinzelt rieselte Staub runter und es dauerte nicht lange, bis kleine Splitter von zerstörten Dachziegeln hinunterfielen. Schnell zog Metatron seinen Liebsten beiseite und kurz darauf fielen auch schon ein paar Splitter von Holz und Dachziegeln hinunter. Licht fiel durch die Löcher, die Malachiel ins Dach geschossen hatte und als sie die Bescherung sahen, seufzte Nazir genervt und meinte „Ich werde das ganz sicher nicht reparieren!“ Doch der Himmelsregent hatte da eine Idee, die sie alle zufrieden stimmen sollte. „Ich werde das erledigen und auch das Loch im Gemäuer reparieren, wenn du in Zukunft damit aufhörst, auf diese armen Tauben zu schießen. Wie klingt das für dich?“ Zugegeben, das Angebot klang verlockend, doch so ganz überzeugt war der Halb-Engel noch nicht. Eigentlich hätte er dieses Problem ja selbst längst beheben können, da er genauso Wunder bewirken konnte wie jeder Engel und Dämon. Der Unterschied war nur, dass er im Gegensatz zu allen anderen keine vorherige Genehmigung brauchte oder irgendwelchen Papierkram dafür erledigen musste. In Wahrheit war diese Taubenballerei seine eigentümliche Art, um ab und zu mal Dampf abzulassen. Selbst wenn er zu faul war, um sich bei jeder Kleinigkeit aufzuregen, musste selbst jemand wie er ab und zu mal Stress abbauen. Manche Leute machten Sport, er hingegen bevorzugte es, auf die Tauben im Dachgebälk zu feuern. Dieses Hobby hatte seinem Haushälter schon viel zu oft Nerven gekostet, ganz zu schweigen davon, dass das Dach ständig repariert werden musste. Da es aber Metatron war, der ihm dieses Angebot unterbreitete und diesem offenbar das Wohl dieser Flugratten am Herzen lag, willigte er mit einem geschlagenen Seufzer ein. Während Nazir mit hochrotem Kopf mit dem Gewehr in der Hand den Glockenturm verließ, blieb Metatron zurück um mit einem kleinen Wunder sämtliche Schäden im Dach und im Gemäuer zu reparieren. Malachiel beobachtete ihn schweigend dabei und wartete, bis der Seraph mit der Arbeit fertig war. Nachdem das letzte Loch verschlossen war, nutzte der Halb-Engel die Gelegenheit und umarmte seinen Liebsten. „Weißt du eigentlich, wie verdammt süß du aussiehst, wenn du schläfst?“ fragte er ihn und grinste amüsiert, als er sich wieder an den gestrigen Anblick zurückerinnerte. Neckisch kniff er Metatron dabei in die Nase. „Du hast tief und fest geschnarcht und das ganze Regelwerk dabei vollgesabbert. Zu schade, dass ich kein Foto davon gemacht habe.“ Trotz der kleinen Stichelei musste selbst Metatron schmunzeln, auch wenn ihm dieser Vorfall mehr als peinlich war. Nicht nur weil er eines der wichtigsten Bücher des Himmels beinahe ruiniert hätte, sondern weil er derart leicht überrumpelt worden war, ohne dass er etwas gemerkt hatte. So etwas war ihm bisher noch nie passiert und vom höchsten aller Engel sollte man eigentlich etwas anderes erwarten. „Du kannst manchmal echt fies sein, weißt du das?“ erwiderte er mit gespielt beleidigtem Ton, schaffte es aber nicht, seine Schmollmiene konsequent durchzuziehen und küsste Malachiel stattdessen. „Tut mir leid, dass ich dir gestern überhaupt keine Hilfe war. Ich hätte wirklich etwas merken müssen aber ich hätte nie gedacht, dass Dämonen heutzutage mit solchen Tricks arbeiten…“ „Ach was, mach dir keinen Kopf deswegen“, winkte Malachiel ab, um seinem Freund die Schuldgefühle zu nehmen. „Das war eh nichts Besonderes gewesen. Bloß ein paar frühreife Kids, die ein bisschen Ärger machen wollten. Ich habe dich auch deshalb nicht geweckt, weil ich mir dachte, dass du nach all dem ganzen Ärger eine kleine Pause gebraucht hast. Zumindest meinen die Menschen immer wieder, dass ein bisschen Schlaf Wunder bewirken kann.“ „Das ist aber wirklich süß von dir. Warum kannst du nicht immer so sein?“ fragte Metatron und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Auch wenn er genauso wenig wie alle anderen Engel keinen Schlaf brauchte, musste er zugeben, dass ihm diese Ruhepause wirklich gut getan hatte. Er fühlte sich tatsächlich etwas weniger gestresst und es schien ihm auch so, als hätte er mehr Energie und Elan als die letzten Tage. Es war wirklich eine gute Idee gewesen, hierher zu kommen. Auch wenn er stolz auf seine Stellung als König der Engel war und sich alle auf ihn verließen, sehnte er sich hin und wieder nach Momenten, wo nicht die ganze Welt auf seinen Schultern lastete. Manchmal war er es einfach leid, immer das Sagen zu haben, alle Entscheidungen alleine treffen zu müssen und ständig Krisenbrände zu löschen. Hier bei Malachiel in diesem kleinen unscheinbaren Dorf wo sich kaum jemand dorthin verirrte, konnte er auch mal das Leben genießen und zur Ruhe kommen. Wann immer er hierher kam, hatte er das Gefühl, seinen inneren Frieden zu finden und sich keine Sorgen mehr machen zu müssen. Zumindest wenn man von kleineren Ausfällen seitens seines Liebsten absah. Auch wenn ihm die Zeit in Hollingsworth immer schrecklich kurz erschien, war ihm dennoch so, als würde dieser Ort seine Lebensgeister wieder zurückholen. Hand in Hand kehrten sie zusammen ins Pfarrhaus zurück und nahmen ein kleines Frühstück zu sich. Malachiel begnügte sich lediglich mit schwarzem Kaffee während Nazir und Malachiel beschlossen, die Gelegenheit zu nutzen um mal ein ausgiebiges englisches Frühstück auszuprobieren. Eine kleine Sünde konnte ja ab und zu mal nicht schaden. Und sonst hatte der Seraph ja nie wirklich Zeit und Muße, um solche Dinge ausgiebig zu genießen. Als sie zu dritt zusammen saßen, nutzte der Himmelsregent die Gelegenheit, um eine wichtige Angelegenheit anzusprechen. „Wir haben gestern sehr gute Fortschritte gemacht und einen wunderbaren Lösungsansatz gefunden, um das Regelwerk zu korrigieren ohne über die Stränge zu schlagen. Allerdings haben wir immer noch das Problem, dass Millionen und vielleicht sogar Milliarden von Seelen zu Unrecht in der Hölle festsitzen. Eine Generalamnestie wäre zwar durchaus denkbar, allerdings bedeutet das unfassbar viel Arbeit und Zeitaufwand und das stellt uns vor enorme Schwierigkeiten.“ „Wieso?“ fragte Nazir verwirrt, während er genüsslich eine große Portion Rührei mit Bacon aß. „Kann man die Seelen nicht einfach in den Himmel oder für die Wiedergeburt auf die Erde zurückschicken?“ „Das geht leider nicht, weil die Hölle sozusagen Endstation bedeutet“, erklärte Malachiel und nahm sich nach kurzer Überlegung einen Apfel, um sich an der Frühstücksgesellschaft zu beteiligen. „Wer einmal unten ist, sitzt fest. Immerhin muss es ja Gründe geben, warum diese Leute unten sind. Das letzte Mal, als eine Generalamnestie erlassen wurde war, als Jesus gestorben ist. Und ich glaube kaum, dass Gott genug Kinder produzieren kann, um derart viele Fehlurteile wieder auszubügeln. Nach dem letzten Debakel bezweifle ich auch, dass Jesus sich noch mal nageln lassen will.“ „Vorsicht bei der Wortwahl bitte!“ ermahnte Metatron sofort und räusperte sich. „Wir haben das Thema nur kurz angesprochen, aber es wird schwer werden, sich auf eine Lösung zu einigen. Ich wäre dir deswegen wirklich dankbar, wenn du mit mir kommen würdest…“ „Und was soll ich da machen?“ fragte der Halb-Engel widerwillig und verzog die Miene bei dem Gedanken, stundenlang mit einem Haufen engstirniger, verklemmter und selbstgerechter Narzissten zusammensitzen zu müssen und sich irgendwelche langweiligen Diskussionen anzuhören. Er konnte sich weitaus Schöneres vorstellen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er bis jetzt noch nicht zu seinem Nickerchen gekommen war und ihm sein freier Tag flöten gegangen war. „Ich habe heute Abend noch eine Andacht und ehrlich gesagt ist mir eine Stunde mit einem Haufen alter Leute deutlich lieber als mit dem Irrenhaus da oben.“ Etwas verlegen senkte Metatron den Blick und seine Wangen wurden rot um die Wangen. Er biss ein Stück von seinem Marmeladentoast und kaute eine Weile darauf herum, bis er endlich den Mut fand, den wahren Grund für seine Bitte auszusprechen. „Ich möchte nur, dass du als emotionale Stütze mitkommst“, gestand er und verzog dabei peinlich berührt die Miene. „Am Ende des Tages muss ich die ganzen Entscheidungen treffen und ich habe Angst, dass alles noch schlimmer eskalieren wird, wenn wir zu keinem Ergebnis kommen. Du musst ja nichts zu der Unterhaltung beisteuern. Aber wenn du da bist, sind die anderen vielleicht etwas kooperativer.“ Mit einem geschlagenen Seufzer verdrehte Malachiel die Augen und ärgerte sich sichtlich, dass er nicht imstande war, seinem Liebsten einen Gefallen abzuschlagen. Seine Liebe zu Metatron war da halt viel stärker als sein Drang zur Faulheit. „Du kannst echt von Glück reden, dass du so verdammt süß bist, wenn du mich so bittest! Na schön, ich komme mit dir. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich mich auch artig benehmen werde.“ „Das hoffe ich sogar“, erwiderte der König der Engel mit einem schelmischen Zwinkern. „Vielleicht tut denen eine kleine Unterrichtsstunde in Sachen Bescheidenheit mal ganz gut.“ Nazir schaute abwechselnd zu den beiden und war erstaunt, dass sein Herr derart schnell nachgegeben hatte. Normalerweise hätte er sich längst mit irgendeiner fadenscheinigen Ausrede aus der Affäre gezogen oder sich zumindest über die ganze Arbeit herumgejammert, die man ihm zumutete. Doch stattdessen hatte es nicht wirklich viel gebraucht um ihn weichzukochen. Diese Dynamik zwischen ihm und Metatron war schon faszinierend. Anfangs hatte er sich ja gewundert, wie zwei derart unterschiedliche Persönlichkeiten überhaupt miteinander klarkommen konnten. Aber anscheinend ergänzten sie sich ganz gut und die Verbundenheit zwischen ihnen beiden reichte zumindest aus, um über all die Unterschiede hinwegzusehen. Doch dann kam etwas, das selbst den dämonischen Haushälter völlig überraschte. Malachiel hob mahnend wie ein Lehrer den Zeigefinger hoch und seine Miene wurde ernst. „Aber ich komme nur unter einer Bedingung mit dir mit: mein Schüler wird mich begleiten. Dann hat er wenigstens die Möglichkeit, sich diesen Sauhaufen da oben anzusehen und kann sich überlegen, ob er sich die Ewigkeit da oben wirklich antun will.“ Bei diesen Worten verschluckte sich Metatron fast an seinem Kaffee. „Wie bitte?“ fragte er erschrocken. „Du willst ihn mit in den Himmel bringen? Bei aller Liebe Malachiel, aber hast du vergessen, dass dort oben seit Anbeginn der Zeit eine strikte Anti-Dämon-Politik herrscht? Wie sieht das denn aus, wenn dein Schüler einfach so frei herumläuft? Hast du eine Ahnung davon, wie die anderen Engel reagieren werden?“ „Na und?“ meinte sein Gegenüber schulterzuckend und war offenbar nicht von seiner Meinung abzubringen. „Ihr lasst ja auch Samael frei herumlaufen und keiner beschwert sich. Mach dir mal keine Sorgen, es wird schon gut gehen. Nazir bleibt an meiner Seite und ich verbürge mich für ihn. Sollte also irgendetwas passieren, übernehme ich die volle Verantwortung und biege das wieder hin.“ Metatron sträubte sich allein bei dem Gedanken, was für eine Streiterei das wieder nach sich ziehen würde, wenn die Erzengel davon Wind bekamen. Andererseits konnte er schlecht Nein sagen, wo doch auch Luzifer trotz seiner derzeitigen Position als Teufel wieder im Himmel aufgekreuzt war. Außerdem hatte Nazir ja bereits bewiesen, dass er kein schlechter Charakter war und durchaus eine Chance verdient hatte. Und wie konnte er Malachiel diese eine Bitte abschlagen, wenn dieser ihm schon so viel geholfen hatte? Also entschloss er sich dazu, das Risiko in Kauf zu nehmen. „Also gut. Wenn er sich unauffällig verhält und an deiner Seite bleibt, darf er mitkommen. Aber das bleibt eine Ausnahme, okay?“ Nazir saß da wie vom Blitz getroffen und konnte nicht glauben, dass das hier gerade wirklich passierte. Er durfte mit in den Himmel kommen und das obwohl er ein Dämon war. So etwas hätte er sich nicht einmal zu träumen gewagt und ihm kamen sogar fast die Tränen vor Freude. „Vielen Dank. Ich verspreche hoch und heilig, dass ich keinen Ärger machen werde. Ihr werdet es nicht bereuen!“ „Jetzt fang hier bloß nicht an zu heulen“, beschwichtigte ihn Malachiel. „Es ist ja nur ein Ausflug nach oben und glaub mir… du wirst schon früh genug bereuen, dass du mir gedankt hast. Wir werden stundenlang nur da sitzen und uns das übliche Gezanke dieser übergeschnappten Egomanen anhören.“ „Ruiniere deinem Schüler doch nicht immer gleich die ganze Vorfreude“, warf Metatron leicht vorwurfsvoll ein, der sichtlich gerührt von Nazirs unschuldiger Begeisterung war. „Lass ihm doch den Spaß. Siehst du nicht wie überglücklich er ist?“ „Ein gesunder Pessimismus mit einer Portion Absurdismus hat noch keinem geschadet“, meinte der Pfarrer bloß, der bei seiner Meinung blieb und sich auch nicht anderweitig überzeugen lassen wollte. Er war halt ein leidenschaftlicher Spaßverderber aus Überzeugung. „Der Vorteil daran ist, dass man immer eines Besseren belehrt werden kann. Miesepeter sein will gelernt sein.“ Der Himmelsregent beschloss, es lieber dabei zu belassen und widmete sich wieder seinem Frühstück. Es war schon so viele Jahre her, seit er sich zuletzt den irdischen Genüssen hingegeben hatte und er wollte jeden einzelnen Moment davon genießen, bevor er wieder auf unbestimmte Zeit in den Himmel zurückkehrte. Dabei ließ er einen kurzen Blick zu Nazir schweifen, der übers ganze Gesicht strahlte wie ein kleines Kind an Weihnachten. Und Metatron konnte nicht umhin, bei diesem Anblick ein wenig zu schmunzeln. Irgendwie war ihm dieser Dämon in dieser kurzen Zeit ein wenig ans Herz gewachsen und er konnte schon verstehen, warum Malachiel ihn als Schüler aufgenommen hatte. Dieser Junge hatte tatsächlich nicht unbedingt dämonische Qualitäten und wenn er ganz ehrlich war, würde auch er gerne sehen, ob dieser es schaffen würde, sein Ziel zu erreichen. Als sie mit dem Frühstück fertig waren und alles für ihre Abreise vorzubereiten begannen, überkam den dämonischen Haushälter so langsam die Nervosität. Während Metatron Kontakt zum Himmel aufnahm, um einen Engel als Vertretung für Malachiel herunter auf die Erde zu beordern, war dieser hauptsächlich damit beschäftigt, ein wenig vor sich hinzudösen. Nach der ersten Euphorie überkamen den Dämon erste Zweifel, ob es tatsächlich eine gute Idee war und ob sein Meister und Metatron nicht vielleicht noch seinetwegen in Schwierigkeiten geraten würden. Etwas verunsichert trat er auf seinen Mentor zu und flüsterte leise, damit Metatron nichts mitbekam: „Meister, glaubt Ihr wirklich, dass auch nichts schief gehen wird? Ich will wirklich keine Probleme machen!“ Der Halb-Engel öffnete seine Augen und gähnte beherzt. Er schien sich nicht unbedingt Sorgen zu machen, aber ihm war ja auch egal, wie viele Feinde er sich machte. „Ach was, mach dir da mal keine Sorgen, ich hab alles im Griff“, versicherte er und versuchte eine etwas bequemere Sitzposition zu finden. „Nur weil die da oben alle Engel sind, brauchst du dich noch lange nicht von diesen Paragraphenreitern und Moralaposteln herumschubsen zu lassen. Du wirst es ihnen schon zeigen, weil du nämlich die Krise lösen wirst.“ „Was? Ich?!“ rief der Haushälter entsetzt und wich erschrocken zurück. Einfach nur als Begleitung mitzukommen und still bei einer Versammlung dabeizusitzen war ja eine Sache und das traute er sich durchaus zu. Doch eigenhändig ein Problem zu lösen, an welchem sich Luzifer und die Erzengel schon die Zähne ausgebissen hatten, war völlig unmöglich. Er war noch nicht einmal mit seinen Studien soweit, dass er überhaupt daran denken konnte, irgendeine Art von nützlichem Beitrag zu leisten. „Das… das kann doch nicht Euer Ernst sein. Warum ausgerechnet ich? Wie soll ich das überhaupt schaffen? Das ist vollkommen unmöglich.“ „Ach… aus einem Dämon einen Engel zu machen, hältst du für machbar. Aber diese kleine Herausforderung ist für dich unmöglich? Mit dieser Einstellung wirst du nicht weit kommen.“ „Ich habe ja nicht einmal die Bibel zu Ende gelesen. Wie soll ich denn mehr wissen als die Engel?“ hielt Nazir beinahe verzweifelt entgegen. Ihm wurde allmählich angst und bange bei dem Gedanken, völlig auf sich gestellt da zu stehen und sich noch zum Gespött des gesamten Himmels zu machen. Ganz zu schweigen davon, dass niemand einem Dämon wie ihm überhaupt zuhören würde. „Meister, normalerweise habe ich vollstes Vertrauen in Euch. Aber das ist vollkommen verrückt. Wie soll ich das schaffen wenn ich nicht mal weiß, wo ich überhaupt ansetzen soll? Während meiner Studien habt Ihr mir auch immer die Richtung gewiesen. Wenn Ihr also von mir verlangt, dieses Problem zu lösen, dann helft mir bitte dabei.“ Malachiel überlegte kurz und sah dann ein, dass es vielleicht angebracht war, seinem Schüler einen kleinen Denkanstoß zu geben. Er wollte es ihm aber auch nicht zu einfach machen, denn wo blieb denn da der Lerneffekt und das Erfolgserlebnis, wenn er ihm alles auf dem Silbertablett präsentierte. „Na schön, wenn du dir so unsicher bist, dann denke einfach an Dante: wenn du ganz tief unten angekommen bist, geht es nur noch bergauf.“ „Was soll das denn bedeuten?“ fragte Nazir irritiert und konnte mit diesem mehr als sinnlosen Ratschlag überhaupt nichts anfangen. Das mit dem bergaufgehen war ja eine nett gemeinte Art, um ihn wieder aufzubauen. Aber was hatte Dante bei der ganzen Sache zu tun? Doch sein Mentor hüllte sich in tiefstes Schweigen und so blieb dem jungen Dämon nichts anderes übrig, als sich vorerst mit diesen Worten zufrieden zu geben. So wie er Malachiel inzwischen kannte, hatte dieser irgendwelche obskuren Hintergedanken und plante mal wieder etwas, das sie alle zusammen in eine peinliche Situation bringen würde. Andererseits hatte dieser ihn noch nie in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht und sonst immer auf ihn aufgepasst. Also konnte er davon ausgehen, dass alles schon irgendwie gut gehen würde. Allerdings konnte er sich weitaus Besseres vorstellen, als ständig in Malachiels dubiose Spielchen hineingezogen zu werden. „Also gut, Meister. Aber bitte versprecht mir wenigstens, dass es nicht in einem totalen Desaster endet.“ „Versprechen kann ich nichts.“ „Meister!“ „Du hast halt keine Ahnung, wie die da oben alle ticken“, verteidigte sich der Halb-Engel, doch Nazir konnte ihm direkt am Gesicht ablesen, dass dies nicht der einzige Grund war. In Wahrheit juckte es Malachiel bloß gewaltig in den Fingern, die Engel allesamt vorzuführen und bloßzustellen. Was das betraf, konnte er manchmal ein richtiges Arschloch sein. Das kam wohl davon, wenn auch zur Hälfte Dämon war. Dann brachte man automatisch auch ein paar schlechte Charaktereigenschaften mit. Manchmal fragte sich der dämonische Haushälter, wie man überhaupt mit solch einer negativen Einstellung leben konnte. Aber andersherum hatte er auch nie erlebt, dass sich Malachiel sonderlich an seinem eigenen Pessimismus störte. Er schien eher zu der Sorte zu zählen, die einfach aus purer Leidenschaft Miesepeter waren weil es ihnen zu viel Spaß machte, einfach ungefiltert alles auszusprechen, das ihnen durch den Kopf ging. Auf der einen Seite war so etwas durchaus bewundernswert, aber andererseits besaß Nazir selbst einen viel zu friedliebenden Charakter, als dass er sich das Verhalten seines Mentors abgekupfert hätte. Blieb nur zu hoffen, dass dieser ihn auch dieses Mal nicht im Stich ließ und seine kryptische Nachricht bald Sinn ergeben würde. Auch wenn er die Lösung noch nicht direkt erkennen konnte, hatte er zumindest das Gefühl, eine ungefähre Vorstellung zu haben, was der Hinweis bedeutete. Stellte sich nur die Frage, ob er auch die Chance bekommen würde, im richtigen Moment bei den Engeln Gehör zu finden. Höchstwahrscheinlich nicht, aber wenn man jemanden wie Malachiel im Schlepptau hatte, konnte alles Mögliche passieren und das machte die ganze Sache recht spannend. Kapitel 17: Engel und Pharisäer ------------------------------- Nazirs Augen waren groß vor Staunen und Ehrfurcht als er die unendlichen Weiten des himmlischen Königreichs erblickte. Er fühlte sich wie im Traum als er zusammen mit Malachiel und Metatron durch das goldene Tor schritt, welches noch viel gewaltiger war als er es sich vorgestellt hatte. Es war so riesig, dass er nicht einmal mit dem bloßen Auge erkennen konnte, wo es eigentlich aufhörte. Und auch das Innere des Himmels war noch prachtvoller als er es sich zu träumen gewagt hätte. Alles strahlte einem so hellen Glanz, dass er fast geblendet wurde. Vollkommen überwältigt von diesem Anblick fiel es ihm schwer, mit den anderen Schritt zu halten. Um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, hielt er sich möglichst hinter seinem Mentor versteckt und versuchte dicht bei ihm zu bleiben. Um möglichst unerkannt zu bleiben, trug er eine Sonnenbrille, die seine Dämonenaugen versteckte und ihm wurde auch eingeschärft, seine Flügel möglichst verborgen zu halten, damit keine Massenpanik ausbrach. Auch wenn Metatron eine Ausnahme für ihn gemacht hatte und ihm einen Besuch im Himmel gestattete, bedeutete es noch lange nicht, dass auch alle Engel dabei mitspielten. Die meisten von ihnen würden vollkommen durchdrehen, wenn sie einen Dämon sahen und der Himmelsregent hatte nicht wirklich Lust darauf, wieder eine Massenpanik mitzuerleben wie schon bei Luzifers Rückkehr. Außerdem gab es durchaus ein paar Kriegsengel, die frei nach der Devise „Erst schießen, dann Fragen stellen“ lebten. Ihr Anführer waren immerhin Michael und der himmlische General Anahel und beide waren nicht unbedingt für diplomatisches Geschick bekannt. Also hieß es, äußerste Vorsicht walten lassen und möglichst unerkannt bleiben. Trotz dieses großen Risikos war Nazir euphorisch bei dem Gedanken, als erster höllengeborener Dämon den Himmel zu erblicken. Er konnte sich an diesem prächtigen Anblick gar nicht satt sehen und sah sich mit großem Staunen den wundervollen Garten mit dem Springbrunnen, aus dem Weihwasser floss. In diesen dichten Wolken, die höher reichten als das Auge zu erfassen vermochte, befanden sich prunkvolle Paläste und Schlösser. Es war wie ein wahr gewordener Traum und Nazir konnte sich sein überglückliches Grinsen kaum verkneifen. Immerhin war ihm als ersten Dämon der Hölle die einmalige Ehre zuteil geworden, diesen Anblick erleben zu dürfen. „Wow, hätte nicht gedacht, dass der Himmel noch nicht in Flammen aufgegangen ist“, kommentierte Malachiel und stieß Metatron neckisch in die Seite. „Hast sie ja richtig gut dressiert bekommen.“ „Schön wär’s“, seufzte der göttliche Botschafter und war nicht unbedingt begeistert von dem, was ihm noch blühen würde. „Aber so wie ich meine Schäfchen kenne, wird es erst richtig knallen, wenn das Meeting losgeht. Ich schlage vor, ihr beide geht besser schon mal in den Versammlungssaal im ersten Himmel, damit euch das Sicherheitspersonal nicht bemerkt. Wenn die Kriegsengel nämlich Wind bekommen, dass ein Dämon hier oben ist, gibt das nur wieder haufenweise Kollateralschäden und lästigen Papierkram. Ich gehe schon mal die anderen Engel rufen.“ „Geht klar“, bestätigte Malachiel und winkte ihm zum Abschied. Damit trennten sich vorerst ihre Wege und Nazir folgte seinem Mentor den Weg am Garten vorbei durch einen riesigen Torbogen, an dem eine gewaltige Statue des heiligen Petrus stand und mit seinen leeren Augen und mit erhobener Hand auf all jene herabschaute, die durch das Tor schritten. Staunend schaute sich der Dämon weiterhin neugierig um und versuchte so viel wie möglich von all dem zu erfassen, was sich vor seinen Augen erstreckte. Dabei kam ihm auch sogleich eine Frage auf. „Meister, was meinte Metatron eigentlich mit dem ersten Himmel? Ist das so wie mit den zehn Kreisen der Hölle?“ „Im Prinzip ja“, bestätigte der Halb-Engel während sie an einer Reihe von Elfenbeinsäulen vorbei durch den langen Korridor schritten. Eine große Schar Engel niederen Ranges war dort auch anzutreffen. Manche standen in Gruppen da und redeten miteinander, andere waren auf den Weg zum Haupttor und andere wiederum folgten der Beschilderung, die den Weg in die oberen Himmelsetagen wies. „Insgesamt gibt es sieben an der Zahl: Shamayim, Raquina, Shehaqim, Machonon, Mathey, Zebul und Araboth. Shamayim ist der Wohnsitz der vier Erzengel und der Wächter der Naturgesetze. Raquina ist mehr oder weniger ein Gefängnis für gefallene Engel, die das Sexleben mit den Menschen etwas zu locker genommen haben. Shehaqim ist sozusagen der himmlische Zoo, weil dort der Garten Eden liegt. Außerdem ist dort auch das Hauptquartier der Wachen stationiert, die auf alles feuern, was nicht wie ein Engel aussieht. Machonon ist die heilige Partymeile des himmlischen Königreichs, wo man mal so richtig die Sau rauslassen kann. Die Menschen nennen es auch das himmlische Jerusalem, aber wenn du mich fragst, ist es eher eine christliche Version von Las Vegas und dort treibt auch Metatrons Bruder Sandy sein Unwesen. Mathey ist bloß ein weiteres Gefängnis für gefallene Engel, die allerdings nicht verdorben genug für die Hölle sind. Also werden sie resozialisiert, was also heißt, dass man ihnen eine Gehirnwäsche verpasst und wieder zur Drohne macht. In Zebul sammelt man alle Infos zur Erde und dort werden auch die Schulungen für sämtliche Engel abgehalten, die zur Erde hinabsteigen müssen. Araboth ist das Bonzenviertel des Himmels, wo die höchste Elite lebt. Und dort haust auch Gott wie ein agoraphobischer Eigenbrötler in seiner Kammer. Grob gesagt heißt es also: je höher der jeweilige Himmel, desto luxuriöser lebt man. Und wo genau du leben wirst, hängt allein von deinem Rang ab.“ Das waren ziemlich viele Informationen auf einmal und Nazir hätte nicht gedacht, dass der Himmel derart strukturiert war und über solch ein Klassensystem verfügte. Zumindest hörte sich das Ganze wesentlich übersichtlicher als der Aufbau in der Hölle an, wo kein halbwegs vernünftiges Klassensystem herrschte. Stattdessen mischten sich gewöhnliche Dämonen mit dem höllischen Adel und das machte es umso schwerer, überhaupt nachzuvollziehen, wer jetzt genau lebte. Vielleicht hatte sich dieses Chaos aus der Tatsache ergeben, dass die Gründerdämonen allesamt gefallene Engel waren und vielleicht eine Abneigung gegen das himmlische Klassensystem hatten. Während sie den Korridor entlangschritten, schauten immer wieder ein paar Engel erschrocken zu ihnen herüber und begannen aufgeregt miteinander zu reden. Dabei lag es weniger an Nazir, sondern viel eher an Malachiel, der aufgrund seiner Rolle in der Beinahe-Apokalypse recht prominent war. Naja… berüchtigt traf es eigentlich eher weil er ziemlich grob mit denen umgegangen war, die den Waffenstillstandspakt nicht akzeptieren wollten. Dabei hatte er auch einige sehr hochrangige Cherubim und Seraphim aufs Übelste verdroschen und das hatte natürlich für einiges an Gesprächsstoff gesorgt. Ganz zu schweigen davon, dass sich Malachiel so einige eher unrühmliche Titel verdient hatte. Aus diesem Grund war sein Beliebtheitsgrad auch nicht sonderlich hoch und viele sahen ihn eher als Bedrohung an. Schließlich blieben sie vor einer großen goldenen Tür stehen, auf der „Versammlungssaal 1 – Reserviert“ stand. Malachiel öffnete sie und ging hindurch. Nazir folgte ihm eilig und fand sich in einem riesigen Raum mit weißen Wänden, goldenen Ornamenten und prunkvollen Gemälden im Renaissance-Stil wieder. An einem großen ovalen Tisch waren mehrere Stühle aufgestellt und Nazir wunderte sich, ob es eine bestimmte Sitzordnung gab. „Meister, gibt es irgendetwas, das ich beachten sollte?“ Einen kurzen Augenblick überlegte der Halb-Engel und kratzte sich bedächtig am Hals, setzte sich dann aber auf einem der Stühle und wies seinen Schüler mit einer Handbewegung, sich ebenfalls zu setzen. „Metatron sitzt immer am Kopfende des Tisches und neben ihm die nächsten in der Rangfolge. Also ich und Samael. Der Rest ist gewissermaßen optional, weil sich die vier Erzengel sowieso ständig um die Rangfolge in ihren Reihen zanken. Es gibt Regeln, wer sich zuerst setzen darf, wer als Erster das Wort hat und so weiter und so fort. Da ich aber nicht fürs Einhalten der Etikette bezahlt werde und sowieso nicht für diesen Laden arbeite, ist mir das alles völlig schnurz.“ „Wow“, murmelte Nazir und nahm nun ebenfalls Platz. Er war immer noch vollkommen überwältigt von alledem und brauchte eine Weile, um das überhaupt erst mal zu verarbeiten. „Ich hätte nicht gedacht, dass es hier so viele Regeln gibt.“ „Willkommen im Himmel!“ rief Malachiel mit sarkastisch-theatralischem Ton, verschränkte dann die Arme auf dem Tisch und bettete mit einem lauten Stöhnen seinen Kopf darauf, als wolle er ein Nickerchen abhalten. „Das hier ist das Paradies der Gebote und Vorschriften. Hier ist alles durch irgendein Gesetz geregelt weil die Engel es lieben, ständig neue Regeln zu erfinden. Wenn du mich fragst, ist das hier die reinste Paragraphenhölle! Und trotzdem klappt hier rein gar nichts, weil die Bürokratie ein Witz ist und keiner wirklich weiß, welche Regeln noch aktuell sind.“ „Immer noch besser als das anarchistische Chaos in der Hölle“, meinte Nazir und ließ sich von der negativen Stimmung seines Mentors nicht beeinflussen. Bis jetzt war es noch gar nicht so schlimm wie er befürchtet hatte. Aber vielleicht würde es erst so richtig zur Sache gehen, wenn erst die anderen Engel eingetroffen waren. Aufgeregt wie ein Kind am ersten Schultag saß der junge Dämon auf seinem Platz und rutschte unruhig hin und her, während Malachiel bereits leise vor sich hin schnarchte. Der schien auch keine anderen Sorgen zu haben… Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufging und Metatron hereintrat. Ihm folgte eine Schar Engel und Luzifer persönlich. Bevor sich Nazir darüber wundern konnte, was der Prinz der Hölle hier zu suchen hatte, kam auch schon der erste Aufschrei von Michael, als er die beiden zusätzlichen Gäste sah. Ohne vorher nachzufragen, was das Ganze überhaupt zu bedeuten hatte, preschte er auf Nazir zu und erschrocken sprang der dämonische Haushälter von seinem Platz auf. „Na warte du Dämon!“ rief der Kriegsengel wütend, beschwor eine silberne Hellebarde herauf und machte sich zum Angriff bereit. „Warte Michael!“ rief Metatron und wollte ihn aufhalten, doch der erste Erzengel hörte gar nicht zu und hätte den armen Nazir schlimmstenfalls aufgespießt, wenn Malachiel nicht rechtzeitig reagiert und den Griff der Waffe festgehalten und den Angriff somit abgebremst hätte. Mürrisch und verschlafen schielte er zu dem hitzköpfigen Kriegsengel hoch und grummelte „Pass mit dem Ding da auf, sonst stichst du jemandem noch ein Auge aus.“ Michael versuchte vergeblich, seine Waffe von Malachiels Griff loszureißen, doch dieser war wesentlich stärker als er. Und als Metatron ihn mit einem deutlich strengeren Ton ermahnte „Nimm die Waffe weg. Dieser Dämon ist kein Feind, sondern Malachiels Schüler!“ waren nun auch die anderen Anwesenden verwirrt. „Schüler?“ echote der erste Erzengel irritiert und verstand nun gar nichts mehr. Da ihm aber sein Pflichtbewusstsein gebot, dem Himmelsregenten zu gehorchen, ließ er seine Waffe wieder verschwinden und ballte aufgebracht die Hände zu Fäusten. Wütend wandte er sich Metatron zu und war kurz davor zu explodieren. „Ein Schüler? Das ist immer noch ein Dämon. Wie kann eine derart niederträchtige und verlogene Kreatur der Schüler von irgendjemandem sein? Das ist ein absoluter Skandal! Ich weigere mich, in einem Raum mit einer solchen Ausgeburt der Verderbtheit zu bleiben und verlange, dass er auf der Stelle in das Loch zurückgeschickt wird, aus welchem er gekrochen kam.“ Diese Worte trafen Nazir hart. Auch wenn er gewusst hatte, dass er nicht mit offenen Armen empfangen werden und man ihn anfeinden würde, war diese Beleidigung mehr als grausam. Er hatte es sich doch nicht ausgesucht, als Dämon geboren zu werden. Warum also machte man ihm so etwas jetzt zum Vorwurf? Gerade als die anderen Engel auch etwas dazu sagen wollten, unterbrach sie ein sarkastisches Klatschen von Malachiel und sofort wurde alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Mit einem herablassenden Blick verzog er die Mundwinkel zu einem lustlosen und unehrlichen Lächeln und meinte nur „Bravo. Wirklich beeindruckende Performance. Aber an der Aussprache musst du noch etwas feilen, mein Lieber. Ansonsten wirkt es nicht authentisch genug.“ „Wovon redest du bitteschön?“ fragte der Kriegsengel irritiert und verstand nicht, worauf der Mediator anspielte. Dieser hob mit gespieltem Erstaunen die Augenbrauen und meinte mit geheuchelter Verwunderung „Na deine Hitler-Darstellung. Die war so überzeugend, dass ich sie dir echt abgekauft habe. Wirklich eine Meisterleistung. Ich hätte echt schwören können, ich hätte das Original vor mir stehen!“ Ein leises Prusten war von Gabriel zu hören, der die Blamage seines Kollegen viel zu sehr genoss, als dass er sich über die Anwesenheit eines Dämons ärgerte. Auch Raphael und Uriel konnten sich eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen. Samael und Luzifer wirkten eher weniger begeistert über den zusätzlichen Besuch und versuchten sich diskret im Hintergrund zu halten. Metatron war hingegen deutlich anzusehen, dass er stolz darauf war, Malachiel an seiner Seite zu haben und auf ihn zählen zu können. Seine Stellung als König der Engel verbot es ihm zwar, sich derlei Gefühle anmerken zu lassen, aber eine kleine Schwäche war ja verzeihbar. Malachiel, der sich dieses selbstgerechte Gefasel nicht mehr anhören konnte, strafte Michael mit einem verächtlichen Blick. „Mein Schüler hat wesentlich mehr Qualitäten als Engel als ihr traurigen Gestalten. Und an deiner Stelle würde ich mal ganz kleine Brötchen backen, Michi. Immerhin war Nazir nicht derjenige, der diese Krise verzapft hat.“ „Der Himmel verkommt aber auch immer mehr zur Lachnummer“, kommentierte Samael spöttisch und setzte sich auf seinen Platz. „Wenn hier jetzt schon Dämonen ein- und ausgehen können wie ihnen gerade lieb ist, wird es ja nicht mehr lange dauern, bis unser Reich zu einem zweiten Sodom und Gomorrha verkommt. Und wie schon damals hast du eine unverschämte große Klappe, Malachiel. Sag mal, wie geht es denn eigentlich deiner Narbe, die ich dir vor 700 Jahren bei unserem Kampf verpasst habe? Tut sie immer noch weh?“ Doch dieser Einschüchterungsversuch stieß bei dem Halb-Engel auf taube Ohren, denn dieser erwiderte daraufhin mit dem gleichen Maß an Spott und Gehässigkeit: „Nicht so sehr wie dein Stolz, nachdem ich dich dir nach deiner feigen Attacke vor versammelter Mannschaft einen polnischen Fahrradsattel verpasst hatte.“ Damit entgleisten Samaels Gesichtszüge und in seinen blinden Augen loderten Flammen des Hasses auf. Auch wenn Nazir sein Leben in der Hölle verbracht hatte, kannte er Samael und hatte so einige Geschichten über ihn gehört. Und sein Gefühl verriet ihm, dass er sich besser nicht mit ihm anlegen sollte, wenn ihm sein Leben lieb war. Dieser Kerl war ihm mehr als unheimlich und diese Aura, die er ausstrahlte, erinnerte ihn mehr an einen Teufel als an einen Engel. Um endlich zum Punkt zu kommen, räusperte sich Metatron und versuchte die Aufmerksamkeit wieder auf das Wesentliche zu lenken. „Ich war auf der Erde gewesen und habe Malachiel um Hilfe bei der Bewältigung dieser Krise gebeten. Wir haben das Regelwerk analysiert und festgestellt, dass es unvollständig ist, da es noch nicht um das Neue Testament ergänzt wurde. Da wir ausschließlich nach christlichem Recht urteilen, gilt ab heute offiziell das Gesetz Jesu Christi: Die Sünden der Menschen werden von nun an mit ihren guten Taten aufgewogen. Jesus hat festgelegt, dass der Bruch von Regeln nicht als Schuld angelastet werden darf, wenn dadurch Menschen gerettet werden können und es ihrem Wohl dient. Aus diesem Grund wird der Levitikus ab dem heutigen Tag keine Anwendung mehr finden.“ Blicke wurden untereinander ausgetauscht und es gab kurzes Gemurmel. Ein einstimmiges Nicken kam von den Erzengeln, die mit diesem Beschluss sichtlich zufrieden waren. Auch Luzifer schien nichts einzuwenden zu haben und ihm konnte es auch nur recht sein, wenn in Zukunft niemand mehr wegen belangloser Sachen in die Hölle geschickt wurde. Metatron atmete erleichtert durch und war froh, dass diese Reformation positiven Anklang fand. Letzten Endes hatte er diese Neuerung einfach nur gut genug verkaufen müssen und er war froh, dass Malachiel auf dieses Schlupfloch gestoßen war. Letzten Endes bedeutete es zwar, dass die neuen Gesetze wieder auf vagen Interpretationen beruhten, aber wenigstens hatte er dann eine Möglichkeit, sie so zu gestalten, dass möglichst wenige Menschen in die Hölle gehen mussten. In der heutigen Zeit konnte man auch nicht mehr erwarten, dass die Menschen jemanden wegen Elternbeleidigung zu Tode steinigten. Doch dann meldete sich Samael zu Wort, dem das alles überhaupt nicht passte. „Das heißt also, wir sollen Gottes Gebote mit Füßen treten?“ fragte er geradeheraus und faltete die Hände wie ein stereotypischer Cartoon-Bösewicht, der einen finsteren Plan ausheckte. „Wenn wir tatsächlich nach dieser lapidaren Ansichtsweise leben, dann können wir genauso gut das gesamte Regelwerk entsorgen und sagen, dass jeder Mörder und Triebtäter in den Himmel kommt, wenn Gottes Gesetze dann eh keine Bedeutung mehr haben. Bei allem Respekt, aber das ist der größte Humbug, der mir je untergekommen ist.“ „Das ist doch gar nicht der Sinn und Zweck der Sache“, konterte Metatron energisch. „Aber ein Mensch, der jemanden tötet um hundert Menschen zu retten, sollte nicht mit der gleichen Härte bestraft werden wie ein Mörder, der aus reiner Selbstsucht tötet. Wir müssen uns das Gesamtbild vor Augen halten und nicht immer nur aus dem Kontext gerissene Fakten. Wer gehört eurer Meinung nach in den Himmel? Ein Sünder der gestohlen hat um seine Familie vor dem Hungertod zu bewahren, oder ein Dieb der nur sich selbst bereichern wollte?“ „Keiner von beiden“, antwortete Samael sofort, ohne den anderen überhaupt die Chance auf eine Antwort zu lassen. „Eine Sünde ist und bleibt immer noch eine Sünde. Und Sünder haben im Himmel keinen Platz, ganz gleich wie edelmütig ihre Absichten sein mögen. Wenn wir die Regeln derart auflockern, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir die Tore für den größten Abschaum öffnen und wir nicht besser sind als die Hölle! Der Himmel ist ein Ort der absoluten Reinheit und ich werde alles daran setzen, dass dies auch weiterhin so bleibt!“ Eine hitzige Diskussion begann in welcher jeder seine Meinung in den Raum warf. Nazir verfolgte die ganze Debatte mit großem Interesse und musste zugeben, dass jeder von ihnen gute Argumente auf den Tisch brachte. Selbst Samael, dem es eigentlich nur darum ging, die Menschen komplett aus dem Himmel rauszuhalten, hatte mit seinen Bedenken nicht ganz Unrecht. Eine Sünde war eine Sünde, daran war nicht zu rütteln. Und Sünder durften den Himmel nicht betreten. Aber diese Vergehen waren nicht schwer genug, um sie in die Hölle zu schicken. Es musste eine andere Lösung geben. Etwas, das auch diesen Menschen den Eintritt in den Himmel ermöglichte. Aber wie sollte das gehen? Nazir dachte angestrengt nach und musste wieder an die Worte seines Mentors denken, die dieser ihm vor ihrer Abreise mit auf den Weg gegeben hatte. Dante war ganz unten angekommen und von da an ging es nur noch bergauf… Konnte das etwa eine Anspielung auf die göttliche Komödie sein? Angestrengt versuchte er sich an den genauen Verlauf des Buches zu erinnern, doch es war schon eine Weile her, seit er diese Lektüre gelesen hatte. Malachiel hatte es als Rache-Fanfiction eines griechenhassenden Römer-Patrioten bezeichnet, der die falschen Pilze gefuttert hatte. Es war eine der ersten Lektüren gewesen, die er zu Anfang seiner Ausbildung erhalten hatte, um einen kleinen Einstieg zu bekommen. Da das Buch keine heilige Schrift gewesen war, hatte er es problemlos innerhalb weniger Tage durchgelesen. Er selbst hatte die Lektüre gar nicht so schlecht gefunden, auch wenn er selbst zugeben musste, dass das Buch echt merkwürdig war. Vor allem wenn man bedachte, wie die Hölle selbst dargestellt wurde. Nun begann er den Gedanken weiter auszuführen und fragte sich, ob es diesen Ort tatsächlich gab, der zwischen Himmel und Hölle lag. Er selbst hatte jedenfalls noch nie davon gehört und auch Malachiel selbst hatte nichts Spezifisches dazu verlauten lassen. Aber wenn er ihm einen derartigen Ratschlag gab, dann musste es ihn geben. Stellte sich nur die Frage, warum niemand anderem diese Idee kam. Eigentlich sollten die Engel doch darüber Bescheid wissen, oder etwa nicht? Die Streiterei untereinander wurde immer hitziger und vor allem Metatron und Samael hatten sich in der Wolle weil sie ganz unterschiedliche Ansichten vertraten. Der eine war für Reformen, der andere wollte alles beim Alten lassen. Und der Rest der Versammlung zankte sich untereinander und meist ging es nur um persönliche Anschuldigungen. Als Nazir sich diese Wortfetzen genauer anhörte, konnte er schon verstehen, warum sein Mentor nicht unbedingt begeistert davon gewesen war, am Meeting teilzunehmen. Tatsächlich waren einige der Argumente, die auf den Tisch gebracht wurden, nicht einmal richtige Argumente sondern bloß niveaulose Beleidigungen gegen den unliebsamen Kollegen. Ging das hier etwa immer so zu? Als Metatron diese Zankerei zu bunt wurde, unterbrach er die Streitereien und richtete alle Aufmerksamkeit auf sich. „Okay, wir kürzen das Ganze ab. Wer von euch der Ansicht ist, das Regelwerk solle nach den Grundsätzen im Neuen Testament angepasst werden, erhebe bitte die Hand.“ Alle Anwesenden mit der Ausnahme von Samael hoben die Hand. Nazir, der offiziell nicht zur Runde dazuzählte, hielt sich dezent zurück. Schließlich wollte Gabriel wissen „Was sagt der Mediator zu der ganzen Sache?“ und alle Blicke wanderten zu Malachiel. Doch der hatte seinen Kopf wieder auf seinen Armen gebettet und schnarchte schon seit einer ganzen Weile vor sich hin. Offenbar war er direkt eingeschlafen, nachdem die ganze Diskussion angefangen hatte. Eines musste Nazir ihm jedenfalls anrechnen: nicht jeder schaffte es, bei einer derart lauten Geräuschkulisse einzuschlafen. Während Metatron mit so etwas schon irgendwie gerechnet hatte und es deswegen relativ gelassen sah, waren die anderen Anwesenden weniger begeistert darüber. Sichtlich beleidigt darüber stieß Michael ihn kräftig an und rief „Hey, wach gefälligst auf!“ Langsam schaute Malachiel auf, gähnte beherzt und sah desinteressiert in die Runde. „Was ist?“ fragte er verschlafen. „Ist es schon vorbei?“ „Nein“, antwortete Gabriel, der genauso ungehalten über dieses Benehmen war. „Wir waren gerade bei der Abstimmung, ob wir das Regelwerk anpassen sollen.“ „Echt jetzt? Und für so was weckt ihr mich auf? Ihr habt doch wohl nicht mehr alle Zacken an der Krone“, gab der Halb-Engel gereizt zurück. „Mal ehrlich… weckt mich bitte erst, wenn was Interessantes passiert. Euer Gelaber kann sich doch keine Sau anhören. Da stirbt ja jeder vor Langeweile.“ „Na dann bring du doch etwas Konstruktiveres vor, wenn du es doch besser weißt als wir alle. Von dir ist bisher noch rein gar nichts gekommen“, rief Michael gereizt und sah aus, als würde er sich jeden Moment auf ihn stürzen um ihm den Hals umzudrehen. Wahrscheinlich hätte er das auch versucht, wenn er wenigstens eine Chance gehabt hätte. „Wozu denn? Damit ihr weiter stundenlang diskutieren und mir meine wertvolle Zeit rauben könnt? Nein danke. Genau das ist nämlich das Problem mit euch Engeln: ihr zankt die ganze Zeit nur rum, weil euch euer eigenes Ego wichtiger ist als das Seelenheil von Milliarden von Menschen, die zu Unrecht in die ewige Verdammnis verbannt wurden und Qualen erleiden müssen. Ihr schimpft euch Engel und benehmt euch allesamt wie die Pharisäer. Sorry, aber so viel Heuchelei und Verlogenheit macht selbst der Hölle Konkurrenz. Ihr haltet euch für das absolute Non-Plus-Ultra, dabei könnt ihr nicht mal so ein simples Problem lösen. Ich wette, dass selbst mein Schüler es schafft, euer Problem ohne Anstrengung zu lösen weil er im Gegensatz zu euch Pappenheimern weitaus mehr von Moral, Nächstenliebe und Verantwortung versteht.“ „Das ist doch lächerlich!“ erwiderte Michael und lachte spöttisch. „Also ob ein dahergelaufener Dämon überhaupt das geistige Fassungsvermögen dazu hätte.“ „Musst du Vollpfosten gerade sagen!“ konterte Malachiel sofort. „Bei dem Kollateralschaden, den du mit deiner Inkompetenz angerichtet hast, hätte man dich besser durch einen Schellenaffen ersetzt und dann wären weitaus weniger Menschen in die Hölle geschickt worden.“ „Du dreckiger Bastard hast dich zum letzten Mal über mich lustig gemacht!“ schrie der Kriegsengel und sein Gesicht lief knallrot wie eine Tomate an. Er war gerade drauf und dran, wieder auf Malachiel loszugehen, doch dieses Mal ging Metatron rechtzeitig dazwischen und ihm war die Geduld nun endgültig ausgegangen. Obwohl er sonst so still und sanftmütig war, wuchs er in diesem Augenblick über sich hinaus und verhielt sich so, wie man es von einem himmlischen König erwarten konnte. Mahnend deutete er auf den angriffslustigen Erzengel und warnte mit seiner donnernden Seraphstimme „Setz dich sofort wieder hin und sei still, Michael. Ich will keinerlei Diskriminierung mehr von dir oder von irgendjemand anderem hören. Nazir steht unter dem heiligen Schutz des Asylrechts, das Malachiel ihm gewährt hat. Solange dieser sich für ihn verbürgt und seine schützende Hand über ihn hält, wird jeder Verstoß schwere Strafen nach sich ziehen. Der nächste, der sich in abfälliger Weise über ihn äußert oder Gewalt gegen ihn anwendet, wird nach Mathey geschickt und kann die nächsten paar Jahrhunderte im Gefängnis verbringen.“ Diese Warnung reichte aus, um die Anwesenden zum Schweigen zu bringen. Selbst Michael wagte es nun nicht mehr, etwas zu sagen und schwieg stattdessen. Nazir war sprachlos und konnte nicht glauben, dass er derart in Schutz genommen wurde. Und es rührte ihn auch sehr, dass sich Metatron so sehr für ihn einsetzte, obwohl er derart große Schwierigkeiten hatte, mit all diesen Engeln einigermaßen fertig zu werden. Dafür, dass er so ängstlich darauf bedacht war, kein Aufsehen zu erregen, setzte er sich ziemlich energisch für einen Dämon ein, den er gerade erst mal einen Tag lang kannte. Und in dem Moment begann Nazir den Grund zu verstehen, warum ein einzelgängerischer Miesepeter wie Malachiel derart hinter ihm stand und ihn unterstützte. Tief in seinem Inneren war Metatron das, was man sich als einen richtigen Engel vorstellte: jemand, dem das Wohl anderer am Herzen lag und der sich nicht von alten Vorurteilen blenden ließ. Stattdessen hatte er erkannt und akzeptiert, dass nicht alle Dämonen gleich waren und tat nun das, was er als richtig ansah. Ganz gleich ob es sich mit den jeweiligen Gesetzen im Himmel vereinbaren ließ oder nicht. Vielleicht hatte er auch bloß den richtigen Motivationsschub gebraucht, um diesen Schritt zu gehen. Nun richtete Malachiel das Wort an die Runde und nickte dabei seinem Liebsten anerkennend zu. „Ihr zankt euch alle die ganze Zeit rum und interessiert euch bloß für euren eigenen Stolz. Bisher hat nicht ein einziger aus dieser Runde einen vernünftigen Vorschlag vorgebracht, will aber vorschreiben, wer hier zu Wort kommen darf und wer nicht. Falls ihr es noch nicht gemerkt habt: die Hölle steht kurz vor einer erneuten Revolte gegen euch und da habt ihr einfach nicht den Luxus, euch eure Problemlöser auszusuchen! Ihr Pappnasen könnt froh und dankbar sein, dass sich überhaupt jemand dazu bereit erklärt, den Scherbenhaufen aufzuräumen den ihr verzapft habt! Wenn ihr also meint, dass euer sinnloses Gelaber wichtiger ist als das, was mein Schüler euch zu sagen hat, dann können wir gleich nach Hause gehen und euch mit eurem Krisenherd allein lassen. Dann braucht ihr mir aber nachher nicht rumjammern, wenn Satans Truppen plötzlich auf der Matte stehen. Ich werde euch dann garantiert nicht mehr helfen!“ Diese Drohung schlug tatsächlich an und keiner wagte mehr etwas zu sagen. Stattdessen wandte sich Metatron nun mit einem würdevollen aber durchaus freundlichen Lächeln an Nazir und nickte ihm zu. „Jeder Lösungsvorschlag ist willkommen, auch deiner. Wenn du uns bei diesem Problem helfen kannst, hören wir deiner Idee herzlich gerne zu.“ Kapitel 18: Alle Wege führen zur Hölle -------------------------------------- Schwer schluckend schaute Nazir nervös in die Runde und kam sich mit einem Mal vor wie bei einem Kreuzverhör. Die feindseligen Blicke der Erzengel lösten nicht unbedingt Vertrauen ein und auch wenn Metatron ihn zum Reden ermuntert hatte und klar Position gezogen hatte, fühlte er sich dennoch ziemlich unsicher. Insbesondere Luzifer, der bisher nur geschwiegen und sich komplett zurückgehalten hatte, schaute ihn mit einem Blick an, der alles andere als freundlich war. Schon seit Metatron verkündet hatte, dass er Malachiels Schüler war, hatte Luzifer ihn unentwegt angeschaut und eine bedrohliche Aura ging dabei von ihm aus. Als wäre das nicht schon verstörend genug, hatte der Prinz der Hölle ein Lächeln auf den Lippen, welches eindeutig sagte „Warte nur bis dein Herrchen weg ist, dann wirst du wahre Schmerzen kennen lernen!“ Ehrlich gesagt machte ihm das weitaus mehr Angst als das rassistische Gekeife der Erzengel. Doch er wollte Malachiel nicht enttäuschen, denn immerhin hatte dieser genug Vertrauen zu ihm, dass dieser ihm in dieser Krise eine derart wichtige Rolle gab. Er musste es nur noch schaffen, sich gut genug zu verkaufen und sich nicht von den anderen einschüchtern zu lassen. Blieb nur zu hoffen, dass die anderen auch gewillt waren, seinen Vorschlag anzunehmen. Andersherum konnte es ihm theoretisch egal sein, weil Metatron derjenige war, der die endgültigen Entscheidungen traf. Und dieser war weitaus vernünftiger als der ganze Rest. Also holte er tief Luft und sammelte seinen Mut zusammen. „Also ich finde, dass beide Seiten gewissermaßen Recht haben: nicht alle Menschen verdienen es, wegen kleinerer Sünden in die Hölle zu gehen, aber andererseits kann man sie nicht so ohne weiteres in den Himmel schicken. Es müsste also eine Art Rehabilitationsmaßnahme geben, die es genau solchen Leuten ermöglicht, sich nach ihrem Tode von diesen Sünden zu befreien, damit sie für den Himmel würdig sind. Es ist nur so eine Idee, aber hat jemand schon mal etwas über das Fegefeuer gehört?“ „Woher weißt du denn etwas über das Fegefeuer?“ fragte Metatron verwundert und der Erste, der darauf eine Antwort zu haben glaubte, war Luzifer, der mit einem selbstsicheren Lächeln meinte „Mit Sicherheit hat Malachiel die ganze Zeit schon die Antwort gewusst und sie bloß vorenthalten. Er hat sein Dienstmädchen hier vor der Versammlung über alles eingeweiht, damit er uns allesamt vorführen und uns somit lächerlich machen konnte.“ „Als ob ich extra meinen Schüler dazu bräuchte“, warf Malachiel ein, der eigentlich weiterschlafen wollte, aber diese Frechheit wollte er nicht auf sich sitzen lassen. „Das kriegt ihr auch wunderbar ohne uns hin. Nazir arbeitet seit vier Jahren hart daran, eines Tages ein Engel zu werden und nur weil er ein Dämon ist, bedeutet es noch lange nicht, dass er rein gar nichts beitragen kann. Ich brauchte ihm die Antwort gar nicht vorzusagen, weil er ganz von selbst drauf gekommen ist.“ Einen Moment lang herrschte verwirrtes Schweigen, denn sie konnten zuerst nicht ganz glauben, was sie da hörten. Doch dann brachen Samael und Luzifer in ein lautes Gelächter aus, als hätten sie gerade den besten Witz des Tages gehört. Kurz darauf stimmte auch der Rest der Versammlung mit ein und nur Metatron, Nazir und Malachiel war nicht wirklich zum Lachen zumute. Vor allem Luzifer kriegte sich vor Lachen kaum ein und kugelte sich regelrecht dabei. „Ein Dämon will ein Engel werden? Das wäre vielleicht ein guter Witz, wenn es nicht so hundserbärmlich wäre“, rief der Höllenprinz und schlug dabei laut mit der Handfläche auf die Tischplatte, woraufhin Nazir erschrocken zusammenzuckte. Mit einem Mal verzerrte sich Luzifers Gesicht zu einer wutverzerrten Fratze und seine Dämonenaugen funkelten mörderisch vor Zorn als er den jungen Dämon direkt anschaute. „Du willst mir allen Ernstes weismachen, dass ein Verräter ohne Stolz und Ehrgefühl im Leib wie du ein Engel werden kann? Eher friert die Hölle zu als dass so etwas jemals passiert. Offenbar bist du nicht nur ein nichtswürdiger Verräter, sondern auch noch ein naiver Träumer dazu!“ „Ich dachte auch zuerst, dass es unmöglich sei“, ging Metatron dazwischen, der seinerseits fest der Überzeugung war, dass es durchaus möglich war. „Aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass durch harte Arbeit selbst ein vollblütiger Dämon rehabilitiert werden kann und halte diese Option für durchaus denkbar. Es heißt zwar es wäre unmöglich, aber woher sollen wir das wissen, wenn wir nicht mal versuchen, das Gegenteil zu beweisen? Wo kämen wir dahin, wenn wir den Menschen immerzu Vergebung und Nächstenliebe predigen, aber selbst an der Umsetzung scheitern? Aus diesem Grund habe ich Nazir die Teilnahme an unserer Versammlung erlaubt. Und jetzt will ich keine weiteren Diskussionen darüber hören, wer eine Rettung verdient und wer nicht. Ansonsten kommen wir nie zum Punkt!“ „Naja… ich habe über das Fegefeuer in der Göttlichen Komödie von Dante Aligheri gelesen“, erklärte der dämonische Haushälter nach kurzem Zögern um unnötige Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Zwar wäre er vermutlich nicht auf diese Idee gekommen, wenn Malachiel ihm nicht diesen kleinen Denkanstoß gegeben hätte, aber es war besser, wenn er das nicht erwähnte. Ansonsten würde es die Situation nur unnötig komplizierter machen. „Ich wusste ehrlich gesagt nicht einmal, ob es diesen Ort tatsächlich gibt und dachte mir, dass es eigentlich der beste Kompromiss für beide Seiten wäre.“ Kurze Blicke wurden in der Runde ausgetauscht und ein leises Gemurmel ging durch den Raum. Metatrons Worte schienen zum Glück Anklang gefunden zu haben und es kehrte wieder ein klein wenig Ruhe ein. Nur Luzifer schaute immer noch mit einem Ausdruck purer Verachtung auf Nazir und wartete offenbar nur auf eine Gelegenheit, um ihm den Garaus zu machen. Wenn der Lichtbringer etwas nicht ausstehen konnte, dann waren es Verräter und es war kein großes Geheimnis in der Hölle, dass er mit absoluter Grausamkeit gegen jeden vorging, der auch nur daran dachte, Ungehorsam zu zeigen. Er hatte Stress mit Gott und war sauer auf ihn, also musste das auch für alle anderen in der Hölle so gelten. Und jeder, der nicht mit vollem Herzen bei der Sache war, verdiente es nicht, als Dämon bezeichnet zu werden. Schließlich meldete sich Michael zu Wort, der sich nun so auf das Thema Fegefeuer konzentriert hatte, dass er alles andere erst einmal ausgeklammert hatte. Außerdem hatte Metatron eine klare Ansage gemacht und das reichte erst einmal aus, damit er wieder zu seinem Pflichtbewusstsein zurückkehrte. „Das Fegefeuer ist nie wirklich in Betrieb gewesen und seit Ewigkeiten stillgelegt“, gab er zu bedenken. „Ich weiß nicht mal, ob es überhaupt noch funktioniert.“ „Warum ist es eigentlich noch mal geschlossen worden?“ wunderte sich Raphael stirnrunzelnd. Der ganze Fall lag schon ein paar Jahrhunderte zurück und es war in der Zwischenzeit so viel passiert, dass keiner so wirklich die ganzen Einzelheiten noch im Gedächtnis hatte. „Ich kann mich nur daran erinnern, dass irgendetwas vorgefallen ist und dann wurde es verschlossen und nie benutzt.“ Metatron beschwor eine Reihe von Dokumenten hervor und überflog sie um sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, was mit dem Fegefeuer passiert war und wieso es niemand benutzt hatte. Nach ein paar Zeilen fiel ihm aber alles wieder ein und er legte die Papiere mit einem ernüchterten Seufzer beiseite. „Damals, als das Fegefeuer noch in der Planung war, sind streng geheime Informationen zu den Menschen durchgesickert“, erklärte er den anderen. „Es kam zu einem großen Skandal weil Panik in der Bevölkerung geschürt wurde. Die kirchlichen Institutionen verkauften Ablassbriefe zu hohen Summen unter dem Vorwand, dass diese den Menschen die Zeit im Fegefeuer nach dem Tod ersparen oder zumindest verkürzen würde. Diese Korruption führte schließlich dazu, dass der Augustinermönch Martin Luther eine 95-seitige Petition verfasste, um der Sache einen Riegel vorzuschieben. Das Resultat war schließlich eine Spaltung der Kirche in die katholische und protestantische Bewegung. Nach diesem niederschmetternden und peinlichen Desaster wurde das Fegefeuer-Projekt auf Eis gelegt und die Akte dazu geschlossen.“ „Ach ja, der gute alte Martin. Ein echter Rebell und Reformist, der Jesus in nichts nachstand“, meinte Luzifer amüsiert und konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen, als er wieder über die alten Zeiten nachdachte. Obwohl dieses Problem auch große Auswirkungen auf die Hölle hatte, schien er sich prächtig zu amüsieren und hatte ein wenig zu viel Spaß an der ganzen Sache. Nazir schaute kurz zu den anderen Engeln und wurde in seinem Gefühl bestätigt, dass diese schon ahnten, was diese Reaktion zu bedeuten hatte. „Hab mich ja echt gewundert, dass eure Leute ihn nicht auch ans Kreuz genagelt oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt haben“, fuhr der Höllenprinz ungehindert fort, um noch mehr Salz in die Wunde zu streuen. „Oder war die Feuerhinrichtung ausschließlich so ein Frauending bei euch?“ „Das ist nicht witzig, Luzifer!“ erwiderte Gabriel genervt und schlug mit der Faust kräftig auf den Tisch. „So wie ich dich kenne, warst du garantiert derjenige, der den Menschen diese Infos gesteckt hat!“ „Ach komm schon, als ob das so unfassbar schwer war, diese Fegefeuer-Sache an den Mann zu bringen“, meinte der teuflische Heerführer mit einem verschlagenen Grinsen und genoss es richtig, dass sein kleiner Streich derart hohe Wellen geschlagen hatte. „Alles was ich getan habe war bloß, ein klein wenig die Fakten auszuschmücken, mehr war nicht nötig. Den Rest haben die Menschen selbst gemacht, allen voran eure Priester und Päpste. Ist ja schon recht peinlich, dass ausgerechnet diese raffgierigen und machthungrigen alten Säcke mir die ganze Arbeit abnehmen, wo sie doch eigentlich für euch arbeiten.“ „Und letzten Endes hast du dir selbst ins Knie geschossen und nicht nur den Himmel, sondern auch die Hölle gewaltig sabotiert“, fügte Malachiel hinzu und klatschte erneut sarkastisch Beifall. „Super gemacht, Luzifer. Da hast du es dem Alten aber mal so richtig gezeigt. Kannst dir gleich ein Sternchen in dein Heft kleben.“ „Da hat er nicht ganz Unrecht“, stimmte Raphael zu, der im Gegensatz zu Michael und Gabriel deutlich besser die Contenance bewahren konnte. „Deine Aktion hat letztendlich auch zu der aktuellen Krise beigetragen. Und ich wette, Satan wird alles andere als erfreut darüber sein, wenn er Wind davon kriegt, dass dein Streich zur Schließung des Fegefeuers und zur derzeitigen Überlastung der Hölle geführt hat.“ Augenblicklich schwand das siegessichere Lächeln aus Luzifers Gesicht als auch ihm so langsam klar wurde, dass seine Aktion gewaltig nach hinten losgegangen war. So weit hatte er zugegebenermaßen nicht gedacht. Nun waren es die Engel, die sich köstlich amüsierten und sich schadenfroh darüber ausließen, dass der stolze Prinz der Lügen es derart verbockt hatte, dass er jetzt von seinen eigenen Taten eingeholt wurde. Vor allem Gabriel und Michael, die sich sonst immer in den Haaren lagen, lachten gemeinsam über diese Ironie und der erste Erzengel wandte sich dabei an seinen sonst so verhassten Sitznachbarn. „Hey Gabi, wie war das noch mal mit dem Karma? Scheint so als hätte unser Luzifer auch ne Ladung davon abgekriegt!“ Missmutig schmollte der Lichtbringer und war sichtlich zerknirscht. Es passte ihm so gar nicht, dass er jetzt auf einmal zum Gespött der ganzen Versammlung wurde. Um diese schadenfrohe Runde endlich zu beenden, brachte er das Gespräch wieder auf den Hauptfokus zurück. „Das alles ändert trotzdem nichts an der Tatsache, dass das Fegefeuer verschlossen und zudem noch ausgeschaltet ist. Wenn wir es also reaktivieren wollen, braucht es entsprechend jemanden, der dazu in der Lage ist.“ „Damit wären wir bei der nächsten Hürde“, fuhr Samael fort, der sich nicht an dem Gelächter beteiligt und sich stattdessen diskret zurückgehalten hatte. Außerdem hatte er eher etwas zerknirscht gewirkt, weil der Ablassskandal seiner Ansicht nach nicht weit genug eskaliert war. „Das Fegefeuer erreicht man nur, wenn man alle zehn Höllenkreise passiert und dann über den gefrorenen See der Verräter schreitet und dann die Treppen hinaufsteigt. Ein Dämon würde problemlos durchkommen, aber für Engel ist es das reinste Selbstmordkommando. Bei derart viel Verderbtheit und Bosheit würde keiner von uns lange genug dort unten in dieser giftigen Atmosphäre überleben.“ Das waren natürlich schlechte Neuigkeiten, denn wie sollten sie jemals das Fegefeuer in Gang bringen, wenn sie vermutlich nicht einmal die Reise überleben würden? Das war natürlich noch kniffliger zu lösen. Doch dann meldete sich der Lichtbringer zu Wort und fand sein charmantes und zugleich listiges Lächeln wieder. „Für mich ist es kein Problem, immerhin lebe ich ja in der Hölle. Ich könnte das Tor öffnen und das Fegefeuer wieder in Gang bringen. Für diesen kleinen Freundschaftsdienst verlange ich natürlich nicht viel. Wenn ihr mir diesen miesen Verräter da freiwillig ausliefert, werde ich dieses Unterfangen gerne auf mich nehmen. Bei der Gelegenheit kann ich ihn ja als erstes Testsubjekt für das Fegefeuer nehmen. Vielleicht hat er ja Glück und das reinigende Feuer macht ihn tatsächlich zum Engel. Wenn er aber Pech hat, wird er als ein klägliches Häufchen Asche enden. Zumindest haben wir dann den endgültigen Beweis, ob sein naives Gefasel über Läuterung und Besserung tatsächlich stimmt.“ Ein eiskalter Schauer durchfuhr Nazir, als er das hörte. Ihm wurde sofort klar, dass Luzifer die anderen dazu bringen wollte, ihn einfach so auszuliefern damit er in der Hölle für seinen „Verrat“ hingerichtet werden konnte. Allein schon die Vorstellung, welch schreckliche Qualen er dann durchleiden würde bis ihm endlich der erlösende Tod gewährt wurde, machte ihm fürchterlich Angst. Und so wie er die meisten Anwesenden einschätzte, würden die nicht lange fackeln um ihn ans Messer zu liefern. Immerhin hatten sie ja kein Geheimnis daraus gemacht, was sie von Dämonen hielten. Hilfesuchend schaute er zu Malachiel, der seinerseits eher gleichgültig dreinschaute und keine Miene verzog. Stattdessen wirkte er etwas gelangweilt von Luzifers Drohung. Um seinen Schüler etwas in Schutz zu nehmen, drehte er den Spieß einfach um. „Warum nehmen wir dich nicht stattdessen als Versuchskaninchen, Luzifer? Du warst ja schon mal ein Engel, bis der Alte dich rausgeschmissen hat. Bei dir würde es mit Sicherheit viel besser funktionieren. Stell dir mal vor, du wärst dann wieder ein Engel und müsstest bei Daddy wieder auf der Matte stehen weil du obdachlos geworden bist. Das wird sicher eine hollywoodreife Szene.“ „Selbst wenn Luzifer persönlich geht, kann er das Tor nicht öffnen“, mischte sich Metatron ein und versuchte auf diese Weise einen erneuten Streit zu unterbinden. Ansonsten würden sie bis zur nächsten Beinahe-Apokalypse hier sitzen. „Es benötigt heiliges Feuer, um wieder in Gang gebracht zu werden und das Tor wurde durch göttliche Macht verschlossen. Da Luzifer als gefallener Engel nur noch Macht dämonischer Natur anwenden kann, wird es so nicht funktionieren.“ „Das heißt also… wir sterben höchstwahrscheinlich auf den Weg dorthin bevor wir das Tor überhaupt erreichen können und wir können uns auch nicht auf die gefallenen Engel verlassen, dass sie es schaffen könnten?“ fragte Uriel nervös, der die ganze Zeit über noch kein einziges Wort gesagt hatte. Aber selbst wenn er etwas zu der Debatte beigetragen hätte, wäre er bloß wieder mundtot gemacht worden. Seine plötzliche und überraschende Beteiligung bereute er aber sehr schnell, als Michael mit folgenden Vorschlag ankam: „Ich hab’s! Wir schicken einfach Uriel. Er ist ein Engel, kann somit das Tor öffnen und das Fegefeuer anschalten. Außerdem ist er jederzeit ersetzbar und keiner wird es bemerken, wenn er weg ist.“ „Was?“ rief der Sternenregent erschrocken und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Das hatte er nun wirklich nicht beabsichtigt. „Aber… das könnt ihr doch nicht machen. Ich bin immer noch ein Erzengel!“ „Nein, bist du nicht“, erwiderte Michael herablassend. „Du bist nur unser Ersatz-Schutzschild für den Fall, dass Gabriel mal im Kampf die Puste ausgeht, sonst nichts. Nicht mal zum Maskottchen taugst du.“ „Wir werden hier niemanden einfach gegen seinen Willen opfern“, ging Metatron energisch dazwischen und ließ die Dokumente über das Fegefeuer-Projekt wieder verschwinden. Die Situation war nicht so einfach zu lösen, aber er würde garantiert nicht damit anfangen, mit dem Leben anderer zu pokern, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. „Wenn jemand sich freiwillig meldet, diese mehr als riskante Mission anzutreten und die Welt vor einem erneuten Kollaps zu bewahren, der darf sich gerne melden. Aber wir brauchen gar nicht erst anfangen, darüber zu sinnieren, wer ersetzbar ist und wer nicht. Das ist der vollkommen falsche Ansatz. Wer nach unten geht, soll es aus freien Stücken tun!“ Eine Weile herrschte Schweigen und Blicke wurden untereinander ausgetauscht. Keiner wollte so wirklich in die Hölle gehen, wenn die Überlebens- und Erfolgschancen derart schlecht standen. Das war ein absolut verrücktes Unterfangen und das reinste russische Roulette. Der Einzige in der Runde, der vielleicht infrage kommen würde, wäre Samael weil er als Todesengel eine weitaus größere Immunität gegen böse Mächte hatte und auch hin und wieder mal in der Hölle gewesen war. Doch als Gabriel den Vorschlag äußerte, dass er diesen Job übernehmen könnte, verschränkte der blinde Seraph die Arme und erwiderte „Auf keinen Fall werde ich das tun. Ich persönlich lehne das ganze Projekt ab und mache ganz bestimmt nicht bei etwas mit, das gegen meine Überzeugungen verstößt. Die Menschen sollen in der Hölle bleiben und ich lasse mich auch nicht umstimmen!“ „Und ich kann nicht gehen“, meldete sich Michael sofort als müsse er sich für irgendetwas rechtfertigen. „Als erster Erzengel, Verteidiger des Himmels und der Menschen und als großer Drachenbezwinger kann ich ein solches Risiko nicht eingehen.“ „Nennt sich Drachenbezwinger und hat nicht mal einen einzigen Drachen richtig getötet“, kommentierte Luzifer spöttisch. „Jeder von euch ist auf irgendeine Art und Weise ersetzbar. Wenn einer von euch draufgeht, kann der Alte noch mehr geflügelte Arschkriecher am Fließband produzieren.“ Tja, diese harte Nuss würde wahrscheinlich niemand so leicht knacken. Nazir kratzte sich nachdenklich am Kopf und begann zu überlegen, wie man das Problem lösen konnte. Er selbst hätte sich vielleicht dazu bereit erklärt, wenn ihm wenigstens keine Gefahr drohen würde, als Verräter festgenommen zu werden. Ganz zu schweigen davon, dass er eh nicht die Macht besaß, das Tor zu öffnen. Also schied er von vornherein aus. Und die Engel würden nach wenigen Minuten in der Hölle verenden, was also auch nicht als Option infrage kam. Während er so darüber nachdachte, fiel ihm eine kleine Ungereimtheit auf, die ihn stutzig machte. „Da ist etwas, das ich nicht so ganz verstehe: wenn es quasi unmöglich für einen Engel ist, hinunterzugehen und das Tor zu öffnen… wie konnte man es damals überhaupt verschließen, geschweige denn daran arbeiten?“ „Es gab tatsächlich jemanden, der in der Lage gewesen war, die Hölle zu betreten“, gab Metatron zu, doch an seinem Gesichtsausdruck war bereits abzulesen, dass die Geschichte kein gutes Ende hatte. „Chananel war damals als Wächter des Fegefeuers auserkoren worden. Er sollte der Torwächter sein und den geläuterten Seelen den Weg zum Himmel weisen. Als das Projekt dann aber auf Eis gelegt wurde und man ihn nach der Schließung des Fegefeuers zurückbeorderte, begann er zu rebellieren und wurde zu einem gefallenen Engel. Deshalb haben wir jetzt aktuell niemanden im Himmel, der entsprechend gewappnet ist, in die Hölle hinabzusteigen.“ „Oh…“, murmelte Nazir bloß und begann nun zu verstehen, wie verzwickt die Lage war. Das war natürlich mehr als ungünstig, wenn nicht einmal mehr der ursprüngliche Wächter des Fegefeuers in der Lage war, etwas auszurichten. Schließlich meldete sich ganz überraschend Malachiel zu Wort, der mit einem geschlagenen Seufzer meinte „Scheint so, als bliebe da nur ich übrig. Ich bin halb Dämon und somit immun gegen die giftige Atmosphäre in der Hölle. Und da ich auch halb Engel oder besser gesagt halb Seraph bin, kann ich das heilige Feuer wieder entzünden.“ „Das würdest du wirklich für uns tun?“ fragte Metatron überrascht über diesen plötzlichen Arbeitseifer seines sonst so faulen Freundes und faltete dankbar die Hände. „Damit würdest du uns alle retten!“ „Ja, ja… schon kapiert“, winkte der Mediator ab, der überhaupt keine Lust auf einen weiteren Ausflug hatte, allerdings selbst keine anderen Möglichkeiten sah um dieses Problemchen aus der Welt zu schaffen. Niemand sonst im Himmel hätte sich freiwillig für diesen Selbstmordtrip gemeldet und er war logisch betrachtet der Einzige, der das überhaupt bewerkstelligen konnte, ohne gleich den Löffel abzugeben. Also hatte er nicht wirklich eine andere Wahl. Immerhin war es seine Aufgabe dafür zu sorgen, dass Himmel und Hölle im Gleichgewicht waren und da gehörte so etwas vermutlich zu seinem Job dazu. „Trifft sich eigentlich ganz gut. Ich hatte da sowieso noch was mit Satan abzuklären, da kann ich also noch was auf meine To-Do-Liste setzen, damit sich der Ausflug wenigstens lohnt. Ich mache es aber nur unter der Voraussetzung, dass keiner von euch Flitzpiepen auf den Trichter kommt, Nazir an Luzifer oder an irgendjemanden sonst auszuliefern. Ich mag vielleicht nicht der motivierteste Lehrer sein, aber auch ich habe meinen persönlichen Stolz. Wer sich mit meinem Schüler anlegt, der legt sich mit mir an. Und wenn ihr euch an jemanden vergreift, der unter meinem Schutz steht, dann wird euch kein Messias oder Gott vor meiner Rache schützen können.“ Da sich die Anwesenden noch zu gut an die Abreibung während der Beinahe-Apokalypse erinnern konnten, beschlossen sie lieber, es nicht auf eine weitere gewalttätige Auseinandersetzung ankommen zu lassen. Also akzeptierten sie seine Bedingung und damit war die Sache geklärt. Da alle Punkte soweit geklärt waren und es vorläufig nichts Weiteres zu besprechen gab, wurde die Versammlung aufgelöst und alle gingen wieder ihrer Wege. Malachiel, Nazir und Metatron warteten, bis alle den Saal verlassen hatten, denn es wäre zu riskant gewesen, direkt rauszugehen. Andernfalls hätte die Möglichkeit bestanden, dass irgendeiner von denen noch versucht hätte, Nazir hinterrücks umzubringen. Dem dämonischen Haushälter war sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen als der Stress und der Druck mit einem Mal von ihm abfielen und er endlich erleichtert durchatmen konnte. Er hatte es geschafft und er lebte noch. „Endlich ist es vorbei“, seufzte er und sank erschöpft zusammen. „Das war ja echt heftig gewesen… Geht das hier immer so zu?“ „Bei den Meetings leider ja“, gab Metatron zu und wirkte etwas beschämt über die Szene, die sich vorhin geboten hatte. Es war nicht unbedingt der beste Zeitpunkt für einen ersten Eindruck gewesen. „Früher haben sich die vier Erzengel sehr gut verstanden und Michael und Gabriel waren lange Zeit enge Kollegen. Aber irgendwann haben sie sich alle immer weiter zerstritten und ihre Attitüden sind ebenfalls immer schlimmer geworden.“ „Sie haben irgendwie dämonische Züge angenommen“, meinte Nazir nachdenklich und dachte an die ganzen Streitereien zurück, die er während des Meetings erlebt hatte. „Ich weiß nicht wieso, aber ein wenig erinnern sie mich mehr an gefallene Engel, die durch die Todsünden geblendet wurden. Warum hat der Himmel keine Streitschlichter für solche Fälle? Es müsste doch genügend Menschen im Himmel geben, die eine psychologische Qualifizierung haben.“ „Leider nein“, seufzte Metatron und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Diese Versammlung hatte auch ihm so einiges abverlangt und er hasste es auch, derart durchgreifen zu müssen. Dazu war er einfach zu sanftmütig. „Nachdem die Familientherapie für Gott und Jesus nach dem Kreuzigungsvorfall dazu geführt hat, dass Jesus für immer den Himmel verlassen hat, bekamen wir die Order, jeden umgehend in die Hölle zu schicken, der sich als Streitschlichter oder Therapeut bezeichnet.“ „Jesus ist nicht im Himmel?“ wunderte sich der dämonische Haushälter überrascht und hatte im Leben nicht damit gerechnet, dass so etwas überhaupt möglich war. Er dachte immer, diese ganze Kreuzigungsgeschichte war Jesus von Anfang an bewusst gewesen und er hatte es als notwendiges Übel hingenommen um die Menschen von der Erbsünde zu befreien. Wenn das also gar nicht stimmte und Gott hatte seinen Sohn gewissermaßen ins offene Messer laufen lassen, dann war es ja kein Wunder, dass dieser schlecht auf seinen Vater zu sprechen war. „Nein, er lebt seit langer Zeit auf der Erde und wir konnten ihn nicht finden“, antwortete Metatron und stützte seinen Kopf auf seiner Hand ab. „Leider war er als Schlüsselfigur für die Apokalypse vorgesehen. Gott hat geplant, seinen Sohn in den Kampf gegen Satan zu schicken. Die ganze Welt wäre vernichtet worden, die Hölle gleich mit dazu und alle aufrichtigen Menschen wären in den Himmel geholt worden. Der Rest hätte die Ewigkeit in den Trümmern der verwüsteten Welt verbringen müssen. Da Jesus aber schon nach der Kreuzigung sauer auf Gott war und keine Lust hatte, weiterhin seine Spielfigur zu sein und sich alles gefallen zu lassen, hatten wir ein großes Problem. Ohne Jesus wäre die Apokalypse zum reinsten Desaster geworden und wir hätten haushoch verloren. Gott wusste, dass uns eine Katastrophe ins Haus stehen würde und erschuf deshalb Malachiel. Wenn es uns gelingt, die Apokalypse zu verhindern, brauchen wir Jesus gar nicht zurückzuholen.“ „Heißt also im Klartext: ich war die Notlösung nur weil Gott seinen Job als himmlischer Vater verkackt hat“, schloss Malachiel, der seinerseits nicht allzu überrascht darüber zu sein schien. Wahrscheinlich war ihm das schon von Anfang klar gewesen und das war der Grund, warum er immer so zynisch und unmotiviert war. Wenn man wusste, dass man eigentlich nur geboren worden war um die Fehler des Vaters auszubügeln, dann hatte man mit Sicherheit nicht die beste Meinung über das Leben im Allgemeinen. „Klingt ziemlich deprimierend“, gab Nazir zu. Aber eigentlich war er genauso wie all seine anderen Geschwister auch nur zu dem Zweck geboren worden, um den gefallenen Engeln zu dienen. Genau das machte die Menschen so beneidenswert, weil sie nicht mit diesem Stigma geschaffen worden waren. Malachiel seufzte und ging nicht weiter darauf ein. Er hatte jetzt andere Sorgen, um die er sich kümmern musste. „Also dann geh ich mal gleich los um euer Fegefeuer in Gang zu bringen. So schwer sollte es ja nicht sein. Problem ist nur, dass ich nur ein einziges Mal unten war. Wenn ich also so etwas wie eine Karte bekommen könnte, wäre das schon praktisch.“ „Warum nimmst du nicht Luzifer mit?“ schlug Metatron vor, doch damit war der Halb-Engel nicht sonderlich zufrieden und er meinte „Diesem Kerl würde ich nicht mal meine gebrauchte Unterwäsche anvertrauen. Letztes Mal hat er versucht, mich im Teer-See absaufen zu lassen um mich loszuwerden. Noch mal mache ich den Zirkus nicht mit! Also wie sieht’s mit einer Karte aus?“ Mit einem reumütigen Gesichtsausdruck schüttelte das göttliche Sprachrohr den Kopf und musste gestehen, dass es nirgendwo eine Karte für die Hölle gab. Es war auch absolut unmöglich gewesen, eine anzufertigen, weil die meisten Engel nach kürzester Zeit in dieser feindlichen Atmosphäre gestorben waren. Und jene, die den Abstieg überlebt hatten, waren nicht zurückgekehrt weil sie selbst zu gefallenen Engeln wurden. Also war die einzige Möglichkeit, einfach auf Geratewohl hinabzusteigen und zu hoffen, dass man am Ziel ankam. Wahrscheinlich war das auch einer der Gründe, warum niemand freiwillig diesen Trip machen wollte. Auch wenn es eine verdammt riskante Idee war, beschloss Nazir, sich ein wenig nützlich zu machen. „Ich könnte die Führung übernehmen. Ich kenne mich in der Hölle bestens aus und kenne den Weg zum zehnten Höllenkreis.“ „Das ist aber mordsgefährlich“, gab Malachiel zu bedenken. „Wenn du unten bist, werden dich die anderen garantiert angreifen und als Verräter festnehmen wollen. Ich kann dich zwar beschützen, aber willst du dir das ernsthaft antun?“ Doch der dämonische Haushälter war weitaus optimistischer und meinte „Ich habe das Meeting überlebt, da werde ich das auch durchstehen. Außerdem ist das die beste Gelegenheit, um meinen Brüdern und Schwestern zu erzählen, dass ich tatsächlich Fortschritte gemacht habe und es doch nicht gänzlich unmöglich ist, als Dämon zum Glauben zu finden. Vielleicht finden sie dann auch endlich den Mut, ihr Leben zu ändern.“ Dazu konnte Malachiel nun wirklich nicht Nein sagen, also gab er sich geschlagen und erklärte sich einverstanden. Also war es beschlossene Sache, dass sie beide nach ihrem Aufstieg in den Himmel in die Hölle hinabsteigen würden um das Fegefeuer zu reaktivieren. Blieb nur zu hoffen, dass auch alles so funktionieren würde, wie sie sich das vorstellten und sie auf diese Weise tatsächlich all die zu Unrecht verurteilten Seelen retten konnten. Kapitel 19: Spiel mir das Lied vom Mord --------------------------------------- Nachdenklich ging Michael zu seinem Quartier zurück und war mehr als verstimmt. Obwohl sie trotz der ganzen Streiterei eine Lösung für das aktuelle Problem finden konnten, ärgerte er sich trotzdem mehr als darüber. Es passte ihm überhaupt nicht, dass man ihm die Schuld an der ganzen Sache in die Schuhe schieben wollte und er jetzt wie ein Trottel dargestellt wurde. Alles, was er je getan hatte war doch nur, die Regeln und Gesetze des Herrn zu befolgen und ihm ein treuer und ergebener Diener zu sein. Er war derjenige gewesen, der Satan besiegt und aus dem Himmel geworfen hatte. Die ganze Zeit war er immer wie ein Held gefeiert worden und nun war er nur noch ein Stümper, der seine Arbeit nicht vernünftig machen konnte. Warum war es auf einmal falsch, absoluten Gehorsam zu leisten und blind zu vertrauen? Wieso musste man jetzt plötzlich alles hinterfragen, ohne auch nur ein wenig Vertrauen zu haben? Er begriff es einfach nicht. War es denn seine Schuld, dass die Menschen sich immer wieder zum Bösen verleiten ließen? Michael verwarf die kurz aufkeimenden Zweifel und rief sich seinen persönlichen Leitsatz ins Gedächtnis: Gott hat immer Recht und alle Regeln sind unmissverständlich und absolut. Er hatte sein ganzes Leben nach dieser simplen Philosophie gelebt und mit der Gewissheit gehandelt, dass er somit das Richtige tat. Dieses Gerede davon, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gab, war bloß das Gefasel rebellischer Engel, die früher oder später in die Hölle hinabstürzen würden. Und er würde sich von so etwas gewiss nicht verleiten lassen. Was zählte waren bedingungslose Hingabe und absoluter Gehorsam, alles andere war nur eine gefährliche Versuchung. Mit dieser felsenfesten Überzeugung waren alle Unsicherheiten und Zweifel verschwunden und mit neuer Selbstsicherheit stieg Michael die Wendeltreppen in die höheren Etagen des ersten Himmels hinauf. Dort hatte er auch sein Quartier im Wachturm. Es war nicht nur seine Aufgabe, die Seelen der Verstorbenen gerichtlich zu verteidigen, sondern auch das Tor zu bewachen und im Hauptquartier entsprechend Report zu machen. Da er jederzeit darauf vorbereitet sein musste, in einen Kampf verwickelt zu werden, hatte er hier auch all seine Rüstungen und Waffen gelagert. Als Kriegsengel hatte er so einige verschiedene Waffen. Da sie regelmäßig durch Kämpfe verunreinigt wurden, musste er sie danach für eine gewisse Zeit zu den Reinigungskammern gebracht werden, in denen himmlische Waffen und Reliquien geläutert wurden. Normalerweise erinnerte er sich auch daran, welche Waffen er wann benutzt hatte. Aber irgendwie war er wohl in letzter Zeit durch die Krise neben der Spur, denn als er bei seiner Rückkehr den Waffenschrank öffnete und noch mal einen prüfenden Blick durch sein Arsenal schweifen ließ, war es immer noch weg. Sein berühmtes Schwert „Drachenschlächter“, mit dem er einst Satan niedergestreckt hatte, war nicht an seinem Platz. Waffen, die sich nicht an der Stelle befanden wo sie verwahrt wurden, befanden sich für gewöhnlich in der Reinigungskammer. Aber Michael konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, es vor kurzem benutzt zu haben. Etwas verwirrt kratzte er sich am Kopf und begann sich zu wundern, dass er mit einem Mal so vergesslich wurde. Naja, es hatte so viel Ärger gegeben (vor allem mit Gabriel), dass es wohl nicht allzu fern lag, dass er solche Kleinigkeiten vergaß. Der Reinigungsdienst würde es ihm schon zurückliefern, wenn alles fertig war. Bisher konnte er sich immer darauf verlassen. Damit tat der erste Engel das mysteriöse Verschwinden seines Schwertes als eine reine Vergesslichkeit seinerseits ab und hielt sich nicht mehr weiter damit auf. Er beschloss, nach diesem frustrierenden Meeting ein wenig Dampf abzulassen und den Kriegsengeln im Hauptquartier einen Besuch abzustatten. Ein paar Kriegssimulationen heiterten ihn immer auf, vor allem weil er stets mit Bestleistungen glänzen konnte. Wenigstens wurde er dort besser geschätzt als von seinen eigenen Kollegen, die sich entweder über ihn lustig machten oder ihn schamlos erpressten. Er war sich sicher, dass sie noch früh genug feststellen würden, wie sehr sie sich irrten und das er es war, der von Anfang an Recht gehabt hatte. Und dann würde er es umso mehr genießen, sie die nächsten Jahrhunderte daran zu erinnern. Wäre Michael an diesem Morgen nicht nach Shehaqim aufgebrochen um am Übungskampf der Kriegsengel teilzunehmen, hätte das Schwert seinen Platz vermutlich erst viel später verlassen. Was der erste Erzengel nämlich nicht wusste war, dass jemand in sein Quartier eingebrochen war und seine legendäre Waffe gestohlen hatte. Und Uriel seinerseits wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er bei seinem Diebstahl beobachtet wurde. Obwohl er mit äußerster Vorsicht darauf geachtet hatte, dass ihn niemand sah, hatte er eben wegen dieses merkwürdigen Verhaltens Raphaels Aufmerksamkeit erregt. Dieser hatte sich zwar wegen einer Shoppingtour in Deutschland im Himmel abgemeldet, war aber wegen unvorhergesehener Ereignisse auf der Welt früher als geplant zurückgekehrt. Rein zufällig war er beinahe Samael und Uriel über den Weg gelaufen, die sich unterhalten hatten. Zwei Engel die miteinander redeten, waren eigentlich nichts Besonderes. Aber als schnell klar geworden war, dass zwischen den beiden irgendetwas Intimeres lief und Uriel hoffnungslos verliebt war, hatte Raphael genauer hingesehen. Und sein erster Gedanke war, dass da irgendetwas seltsam war weil die beiden so viel gemeinsam hatten wie Feuer und Wasser. Kurz darauf folgte sein zweiter Gedanke darüber, wie er sich diese Entdeckung zunutze machen konnte. Also hatte der dritte Erzengel seinen Kollegen heimlich beschattet um zu sehen, was genau zwischen Uriel und Samael lief. Denn eines stand fest: Samael ließ nur jemanden an sich ran, der Macht hatte. Und Uriel war so ziemlich das genaue Gegenteil davon. Die logische Schlussfolgerung war also, dass Samael mal wieder so eines seiner komischen Psychospiele spielte, das wieder nur Ärger bringen würde. Und wenn er es clever genug anstellte, konnte er vielleicht sogar aus beiden Profit schlagen. Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis er Uriel bei etwas beobachtete, das förmlich nach Ärger schrie: den Diebstahl von Michaels Schwert. Zwar hatte Raphael keine Ahnung, was Samael mit diesem Schwert anfangen wollte, aber so wie er ihn kannte, hatte es irgendetwas mit der totalen Ausrottung der Menschheit zu tun. In der Hinsicht war dieser blinde Todesengel etwas eindimensional veranlagt. Seine Beobachtung hatte er erst einmal geheim gehalten, auch wenn das gegen einige Regeln verstieß. Außerdem sprang für ihn nichts dabei heraus, wenn er Uriel als Dieb meldete. Man hätte es als Selbstverständlichkeit behandelt und es würde nicht einmal so etwas wie eine Belohnung dafür geben. Und von nichts konnte er sich auch nichts kaufen. Also hatte er sich während des Meetings größtenteils zurückgehalten und gewartet, bis er nach der Versammlung die perfekte Gelegenheit bekommen würde um Uriel festzunageln. Dem armen Kerl war deutlich anzusehen, wie furchtbar nervös er war. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass man ihm sein Verbrechen an der Stirn ablesen konnte. Nun ja… so paranoid, wie er sich immer umgesehen hatte, hätte es selbst ein Blinder wie Samael bemerkt. Aber da alle so beschäftigt damit gewesen waren, sich gegenseitig die Augen auszukratzen, hatte niemand auf Uriel geachtet. Als sich die Versammlung nach ewigem hin und her endlich aufgelöst hatte, stürmte Uriel als Erster nach draußen als wäre er auf der Flucht. Neugierig darüber, ob der Sternenregent noch etwas Kriminelles vorhatte, folgte Raphael ihm und malte sich schon aus, was er aus seinem Kollegen wohl rausquetschen konnte. Immerhin wollte er sich sein Schweigegeld gut bezahlen lassen. Doch stattdessen ging Uriel direkt zu seinem eigenen Quartier zurück, welches sich in der Nähe der Sternenwarte befand. Von dort aus bewachte Uriel die Sterne und deutete die göttlichen Zeichen aus den Konstellationen. Mit anderen Worten: er war so etwas wie der himmlische Astrologe und machte Horoskope oder spielte das Orakel. Da Gott aber schon vor langer Zeit aufgehört hatte, Sternenkonstellationen als Kommunikationsmittel zu benutzen, bestand Uriels einzige Tätigkeit bloß darin, irgendwelche ungewöhnlichen Entdeckungen zu melden. Auch das geschah so gut wie nie weil die meisten Sterne nur leere Planeten waren und sich die Konstellationen auch nicht großartig änderten. Es blieben immer wieder dieselben Bilder. Im Grunde genommen lag Michael also gar nicht so fern mit seiner Behauptung, dass Uriel ersetzbar war. Sein Job war völlig aus der Mode gekommen weil Astronomie und Astrologie schon seit knapp 800 Jahren kaum noch Anwendung im Himmel fand. Was interessierte es die Engel denn auch bitteschön, ob es Leben auf anderen Sternen gab? Mit so einem Schwachsinn konnten sich die Menschen die Zeit totschlagen. Da es in der Sternenwarte nicht viel von Interesse gab, bezweifelte Raphael, dass sein Schweigegeld hoch ausfallen würde, aber er war kreativ und fand immer einen Weg. Michaels Siegelring hatte sich als ziemlich nützlich erwiesen und er würde sich etwas Zeit lassen, ihn wieder seinem rechtmäßigen Besitzer wieder zurückzugeben. Vielleicht hatte Uriel auch irgendwelche unerwarteten Schätze in seinen Besitztümern. Man musste halt nur ein Auge fürs Detail haben und einigermaßen mitdenken können. Nachdem Uriel in sein Quartier verschwunden war, wartete Raphael noch einen Augenblick, bevor er an die Tür klopfte. Es sollte nicht so aussehen, als wäre er ihm die ganze Zeit heimlich hinterhergelaufen und wollte ihm auflauern. Also ließ er eine Minute verstreichen und klopfte dann an die Tür der Sternenwarte. Es dauerte eine Weile und er hörte bereits lautes Scheppern als dann endlich ein gedämpftes „Ich komme schon!“ zu hören war und kurz darauf endlich geöffnet wurde. Uriel, der sichtlich durch den Wind war, lugte durch den Türspalt und war so nervös, als hätte er den Leibhaftigen vor sich stehen. Er hatte noch nie wirklich ein gutes Pokerface gehabt. Man konnte ihm schon immer direkt ansehen, dass er irgendetwas auf dem Herzen hatte und es war Raphael wirklich ein Rätsel, wie Samael bloß dazu kam, ausgerechnet so jemanden in seine Machenschaften hineinzuziehen. „Raphael, was… was machst du hier?“ fragte der vierte Erzengel verwundert, denn normalerweise besuchten ihn seine Kollegen so gut wie nie. Außer vielleicht, wenn sie etwas von ihm wollten. Dementsprechend war er ein wenig misstrauisch, als er ausgerechnet den Heiler im Quartett vor sich sah. Doch Raphael lächelte charmant und verstand es wesentlich besser, sich seine Absichten nicht anmerken zu lassen. „Ich dachte mal, ich schaue mal kurz vorbei. Ist das okay für dich?“ Einen Moment lang zögerte der Sternenregent und schien bereits zu ahnen, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Da es aber weitaus verdächtiger wirkte, wenn er seinen Kollegen fortschickte, knickte er schnell ein und ließ ihn widerwillig herein. Neugierig schaute sich Raphael um und sah eine Reihe von Büchern, alter Pergamente und Sternenkarten. Ein riesiges Sternenteleskop war in der Mitte des Raumes aufgestellt und bestand aus purem Gold. Von der Decke hingen kleine Modelle von Planeten und Sonnensystemen und in einer kleinen Ecke stand ein ziemlich altes Pult, auf dem einige handgefertigte Skizzen zu den Sternenkonstellationen lagen. Nahe des goldenen Teleskops gab es wiederum einen weitaus moderneren Schreibtisch, auf denen allerhand geschriebene Horoskope und Kristallamulette verstreut herumlagen. Es war immer wieder faszinierend zu sehen, wie das jeweilige Quartier der Erzengel auf ihre Jobs und Eigenschaften zugeschnitten war. Michael hatte seine Soldatenunterkunft und Waffenkammer, Uriel sein Astrologiezimmer, Raphaels Quartier sah wie eine Mischung aus Apotheke, Arztpraxis und Chemielabor aus und Gabriel hatte seine Räumlichkeiten mit Andenken an all die Kinder vollgestopft, die es nicht ins Erwachsenenalter geschafft hatten. Es war schon ziemlich nostalgisch, sich die Sternenwarte nach so langer Zeit wieder mal von innen anzusehen und daran zurückzudenken, wie gefragt diese Jobs damals noch waren. Aber irgendwann hatte man doch erkennen müssen, dass göttliche Kommunikation per Sternenbilder doch nicht so ganz praxistauglich war. Es war schön anzusehen, daran bestand kein Zweifel! Allerdings gab es so viele Sterne, dass selbst das geschulte Astrologenauge oft den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen konnte und die Botschaft einfach nicht fand. Also hatte man den Astrologiedienst weitestgehend eingestellt und Uriel war der Einzige, der weiterhin pflichtbewusst seiner Tätigkeit nachging weil es das Einzige war, das er tadellos beherrschte. „Hey Uriel“, grüßte ihn Raphael mit einem Lächeln, das zwar höflich aber nicht allzu freundschaftlich war. „Ich weiß es ist ein bisschen kurzfristig aber würdest du mit mir auf einen kleinen Spaziergang gehen? Es gibt da ein paar Dinge, die ich gerne mit dir bereden möchte.“ Es war wesentlich klüger, die Sache nicht in Uriels Räumlichkeiten zu besprechen. Zwar glaubte er nicht, dass sein Kollege ernsthaft den Mut aufbringen könnte, um aus eigenem Antrieb etwas Dummes zu tun. Aber Raphael war nicht jemand, der mit dem Glück spielte. Außerdem hatten seine Taktiken durchaus mehr Effekt, wenn er die Oberhand hatte und das klappte nur, wenn sein „Klient“ sich außerhalb seines Terrains befand. Solange Uriel sich in seiner Sternenwarte befand, würde die geplante Erpressung eventuell nicht die Art von Wirkung erzielen, die er wollte. Also musste er seinen Kollegen aus seinem Versteck hervorlocken. Uriel seinerseits beäugte ihn misstrauisch und war sich nicht ganz sicher, was er von dieser Einladung halten sollte. „Was willst du mit mir bereden?“ „Ich wollte mal in Ruhe mit jedem Einzelnen über die aktuelle Situation reden“, antwortete Raphael und ging damit geschickt der Wahrheit aus dem Weg, ohne gleich lügen zu müssen. „Weißt du, es gibt da so einige Dinge, die mich beschäftigen und da wollte ich auch mal deine Meinung dazu hören. Also was ist? Kommst du mit?“ Wieder zögerte der Sternenregent und war sich immer noch nicht sicher, ob er dem Braten wirklich trauen konnte. Aber da er sonst immer nur von oben herab behandelt wurde, konnte er einer solchen Einladung nicht widerstehen und nickte. Gemeinsam spazierten sie durch die Ebenen des ersten Himmels und unterhielten sich anfangs über das Meeting und die einzelnen Gesprächsinhalte. Sie tauschten Meinungen über die Krisenlösung aus und brachten eigene Ideen und Lösungsansätze ein, die sie bislang für sich behalten hatten. Im Großen und Ganzen reichten sie nicht unbedingt an das heran, was sich Metatron und Malachiel zusammengesponnen hatten, aber er wollte auch keine politische Debatte halten. Er wollte bloß sicherstellen, dass Uriel keinen Verdacht schöpfte und gar nicht merkte, wie sie einen kleinen Umweg zu Raphaels Räumlichkeiten machten. Das machte nämlich die ganze Sache einfacher. Außerdem war es ohnehin nicht sonderlich schwer, andere an der Nase herumzuführen wenn man wusste, wie man es richtig anstellte. „Weißt du Raphael, ich denke es war ein gewaltiger Fehler, ausgerechnet Michael zum Verteidiger der Menschen zu wählen“, sagte Uriel schließlich mit einem verzagten Seufzer. „Wir wissen doch alle, dass jemand wie er kaum eine Chance gegen jemanden wie Samael hat.“ „Ja das stimmt“, pflichtete Raphael bei während er die Richtung ihres Spaziergangs vorgab. „Und ich glaube auch nicht, dass er noch lange in dieser Position bleiben wird. Nicht nach dem Schlamassel, der sich ereignet hat. Zwar trägt er nicht die gesamte Schuld daran, aber er fällt durch seine Inkompetenz auf. Da hätte man den Menschen gleich einen Fahrschein zur Hölle geben können.“ „Stellt sich nur die Frage, wer besser geeignet wäre“, murmelte Uriel nachdenklich und merkte immer noch nicht, dass sie in eine sehr vertraute Richtung steuerten. Er war zu sehr in seinen Gedanken versunken, als dass er auf die Umgebung hätte achten können. „Ehrlich gesagt weiß ich da nicht so wirklich, wer sonst den Job machen könnte.“ „Mir würde allerhöchstens Gabriel einfallen“, meinte der Heiler schulterzuckend und tat so, als wäre er genauso in dieses Gespräch vertieft wie sein Begleiter. „Er hat ja viel mit Menschen zu tun und ist absolut vernarrt in Kinder. Außerdem hat er sich ja schon bei unserem ersten Meeting so lautstark gegen Michael und Samael durchgesetzt. Problem ist aber, dass Gabi viel zu sehr mit seinen Komplexen beschäftigt ist und das bremst ihn jedes Mal aus. Glücklicherweise ist es nicht unsere Aufgabe, ein Urteil darüber zu fällen. Darum muss sich Metatron kümmern und der darf es mit Gott ausdiskutieren. In seiner Haut will ich nicht unbedingt stecken…“ Schließlich erreichten sie die oberen Terrassen der Westseite und war damit fast an seinem Zuhause angekommen. So langsam schien Uriel zu begreifen, wohin sie eigentlich gelaufen waren und blieb einen Augenblick stehen und schaute seinen Kollegen verwundert an. Doch Raphael behielt sein professionelles Lächeln und bot ihm an, auf einen Drink mitzukommen. Das reichte aus, um den vierten Erzengel zu überzeugen und so traten sie in Raphaels Unterkunft ein. Alles war absolut sauber und perfekt aufgeräumt. In den hohen Regalen befanden sich allerhand Tinkturen, Kräuter und Wurzeln, Bücher über Heilkunde und Auflistungen aller Krankheiten der Welt, Salben und noch vieles mehr. Obwohl Raphael sich in letzter Zeit mehr auf seine persönliche Bereicherung fokussiert hatte, nahm er seine Kernaufgabe als wichtigster Heiler immer noch sehr ernst. Nachdem sie es sich etwas bequemer gemacht hatten, schenkte Raphael sich und seinem Kollegen ein Glas Wein ein und ließ die Falle zuschnappen. „Also Uriel, erzähl mal was da eigentlich zwischen dir und Samael läuft. Zwischen euch scheint’s ja gefunkt zu haben.“ Entsetzt weiteten sich Uriels Augen als diese Bemerkung fiel und beinahe wäre ihm das Glas aus der Hand geglitten. Es war wirklich so furchtbar einfach, ihm Geheimnisse zu entlocken und es war ihm ein absolutes Rätsel, warum ausgerechnet er in irgendwelche Verschwörungen hineingezogen wurde. „Wovon redest du da?“ fragte der vierte Erzengel und merkte gar nicht, dass seine Reaktion ihn bereits verraten hatte. „Ach Uriel, du weißt genau wovon ich rede“, seufzte Raphael und trank einen Schluck aus seinem Glas. „Ich habe euch zwei rein zufällig gesehen als ich gerade von meiner Shoppingtour zurückkam. War ehrlich gesagt schlecht zu übersehen, so wie du dich an ihn geklammert und wie ein kleines Hündchen angebettelt hast.“ Augenblicklich schwand jegliche Gesichtsfarbe aus Uriels Gesicht und wie zur Salzsäule erstarrt saß er da und war wie weggetreten. Natürlich war das erst mal ein großer Schock für ihn, aber was hatte er denn bitteschön erwartet? Ihm müsste doch eigentlich klar sein, dass er und sein Lover jederzeit gesehen werden könnten, wenn sie genau dort miteinander flirten oder weiß der Teufel sonst was machten, wo jederzeit jemand vorbeikommen konnte. Da Uriel nichts sagte und immer noch wie hypnotisiert ins Leere starrte, fuhr Raphael unbeirrt fort. „Was mich ja echt wundert ist, was du an ihm so anziehend findest. Schon klar, er ist stark und einflussreich, aber vom Charakter her gesehen nicht unbedingt der beste Einfluss. Ein bisschen arg misanthropisch, wenn du mich fragst.“ „Er hat auch andere Qualitäten“, warf der Sternenregent ein, nachdem er sich einigermaßen von seinem ersten Schock erholt hatte. „Er lässt sich zumindest nicht von seiner Blindheit unterkriegen und ist trotz allem der zweitmächtigste Engel im gesamten Himmelreich. Außerdem hat er eine unglaubliche Ausstrahlung.“ Ausstrahlung schön und gut. Hilft aber auch nichts, wenn sein liebstes Hobby Massenmord an Menschen ist, dachte sich Raphael, sprach es aber lieber nicht laut aus. Er wollte sich nicht mehr als nötig in diese Beziehung einmischen und seine Meinung größtenteils lieber für sich behalten. Ansonsten handelte er sich nur Ärger ein und das konnte er so gar nicht gebrauchen. „Ja er kann die Leute echt gut um den Finger wickeln“, stimmte er zu, um eine geschickte Überleitung zum Hauptthema zu machen. „Vor allem wenn es darum geht, sie zu Verbrechen anzustiften.“ Sein Kollege presste die Lippen zusammen und fühlte sich eindeutig ertappt. Es war so furchtbar einfach, ihm solche Dinge zu entlocken, dass es schon fast traurig war. Man wollte am liebsten Mitleid mit ihm haben. „Samael würde so etwas nicht tun“, versuchte der vierte Erzengel zu protestieren, doch es war schon längst zu spät. Aus diesem Schlamassel kam er nicht mehr wieder raus. Raphael hatte auch nicht unbedingt die Geduld für eine weitere Diskussion an diesem Tag und trank noch einen Schluck Rotwein. „Ich bitte dich, Uriel. Jeder im Himmel weiß, dass Samael mit äußerster Vorsicht zu genießen ist. Eines würde mich aber schon interessieren: warum hat er ausgerechnet dich mit hineingezogen und dich dazu gebracht, Michaels Schwert zu stehlen?“ Hieraufhin entgleisten dem armen Sternenregent endgültig die Gesichtszüge und er stand kurz vor einer Panik. Er hatte Samael doch versprochen, sich nicht erwischen zu lassen. Und jetzt hatte ihn ausgerechnet Raphael bei seinem Diebstahl beobachtet und nutzte das jetzt natürlich schamlos aus. Und um der ganzen Sache noch mehr Würze zu verleihen, ermahnte ihn der dritte Erzengel „Weißt du eigentlich was passiert, wenn jemand von deinem kleinen Verbrechen Wind bekommt? Du wirst zum gefallenen Engel werden. Vielleicht hast du ja Glück und du kommst lediglich nach Mathey und musst an diesem Resozialisierungskurs teilnehmen. Ich weiß ja nicht wie der aussieht, aber man hat sich schon Geschichten erzählt, dass manche Teilnehmer freiwillig in die Hölle gegangen sind, damit sie ihrem Leid ein Ende setzen konnten.“ „Warum erzählst du mir das?“ rief Uriel panisch und seine Hände begannen schon nervös zu zittern. „Sag schon, was willst du haben damit du das für dich behältst?“ „Tja…“, begann Raphael zu murmeln und dachte nach. Um ehrlich zu sein wusste er selbst nicht, was er seinem Kollegen aus dem Kreuz leiern konnte, weil dieser in recht bescheidenen Verhältnissen lebte. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass er ihn so leicht von der Angel ließ. Nein, der würde schön berappen damit sein kleines Geheimnis auch geheim blieb. „Das überlasse ich ganz dir, mein Lieber. Überlege du dir, wie viel dir mein Schweigen wert ist und ich überlege dann, ob ich dein Angebot annehmen werde.“ Siegessicher stand Raphael auf und durchwanderte langsam den Raum. Er wusste, dass er in diesem Spiel die Oberhand hatte und Uriel gar nicht den Mut besaß, es auf ein Risiko ankommen zu lassen. Der würde schön brav das tun, was man ihm sagte und wie immer klein bei geben. Es war ja schon fast zu einfach. Es war aber auch so verdammt einfach, die eigenen Kollegen abzuzocken, wenn sie eine derart einfache Schwäche hatten, die man sich zunutze machen konnte. „Nichts für ungut, Uriel. Aber ein kleiner, gut gemeinter Ratschlag am Rande: vielleicht solltest du dir noch mal ernsthaft Gedanken machen, ob du dich wirklich auf jemanden wie Samael einlassen solltest. Seien wir doch mal ehrlich, er benutzt dich doch nur für eine seiner üblichen Ma…“ Weiter kam Raphael nicht als er plötzlich einen rasenden Schmerz spürte, der sich durch seinen Rücken direkt in seinen Brustkorb hineinbohrte. Ein ersticktes Keuchen entwich ihm und als er verwirrt über den plötzlichen Schmerz auf seine Brust schaute, sah er eine blutverschmierte Klinge herausragen. Er versuchte etwas zu sagen, doch alles was er zustande brachte, was ein verzweifeltes Röcheln. Dann sank er kraftlos in die Knie und brach auf dem Boden zusammen. Uriel, der in einer Kurzschlussreaktion sein eigenes Schwert herausbeschworen und Raphael damit angegriffen hatte ohne nachzudenken, stand fassungslos da und konnte nicht glauben, was er da getan hatte. Noch nie in seinem langen Leben hatte er die Waffe auf seine eigenen Kollegen gerichtet, geschweige denn jemanden ernsthaft verletzt. Und nun hatte er Raphael wie ein feiger Attentäter von hinten mit dem Schwert durchbohrt. Als er sah, dass der dritte Erzengel sich nicht bewegte, wich er entsetzt zurück und Panik überkam ihn. „Ra-Ra-Raphael?“ brachte er stammelnd hervor. „Hey… sag doch was…“ Doch es kam keine Antwort. Nichts regte sich. Scheiße Mann, was mache ich denn jetzt?, fuhr es dem Sternenregent durch den Kopf und er konnte nur mit extremer Selbstbeherrschung einen Schrei unterdrücken. Das hier war bitterernst und er musste sich schleunigst etwas einfallen lassen. Das hier war eine ganz andere Hausnummer als bloß ein Diebstahl, der ihm ein Besserungsseminar einbrocken würde. Nein, das hier war Hochverrat und dafür würde er zweifelsohne in die Hölle verbannt werden. Und wenn er sich nicht schleunigst etwas einfallen ließ, dann würde er schneller unten landen als ihm lieb war. Als er Raphael regungslos mit dem Schwert im Körper auf dem Boden liegen sah, kam ihm eine Idee. Eigentlich hatte Samaels Plan ja ganz anders ausgesehen, aber wenn er den Mord einfach Michael in die Schuhe schob, sollte es doch auch funktionieren. Alles was er tun musste war, das Schwert zu holen, ein bisschen Verwüstung anzurichten um es wie einen Kampf aussehen zu lassen und dann das Schwert neben der Leiche liegen lassen. Dann würde Michael verhaftet werden und der selbst war aus dem Schneider. Ja, so würde er es machen! Schnell zog Uriel sein Schwert aus dem Rücken seines leblosen Kollegen und ließ es schnell wieder verschwinden. Stattdessen beschwor er nun das gestohlene Schwert „Drachenschlächter“ herauf, welches er zuvor aus der Waffenkammer gestohlen hatte. Das Beschwören von Objekten war leider immer nur dann möglich, wenn man genau wusste, wo es sich befand. Das machte Diebstähle nicht sonderlich einfach, wenn die Besitzer ihr Eigentum gut versteckt hatten. Ganz zu schweigen davon, dass es entsprechende Schutzmaßnahmen gab, die es unmöglich machten, Gegenstände aus fremden Unterkünften auf diese Art und Weise zu stehlen. Aber da sich das Schwert nun in Uriels momentanem Besitz befand, konnte er es jetzt problemlos materialisieren. Das machte die ganze Sache deutlich einfacher. Mit dem „Drachenschlächter“ in der Hand begann Uriel nun wild um sich zu schlagen. Er ließ die Klinge auf das Regal niedersausen und zerstörte dabei mehrere Gläser mit gelbbraunen Tinkturen, die einen strengen Geruch absonderten. Papier flog umher als er eines der vielen Bücher erwischte und mit einem Streich zerfetzte. Zu guter Letzt stieß er das Schwert in die blutende Wunde hinein und schaute sich ein letztes Mal prüfend um. Es sah wirklich so aus, als hätte ein Kampf stattgefunden. Na hoffentlich war es überzeugend genug, damit niemand ihn verdächtigte. Verdammt noch mal. Das brachte alles komplett durcheinander und er konnte nur hoffen, dass Samael ihm nicht allzu böse sein würde. Das war nämlich ganz und gar nicht vorgesehen gewesen. Aber vielleicht klappte es ja auch so und Michael würde verhaftet werden. Wenn man sich im Himmel auf eines verlassen konnte, dann mit großer Sicherheit auf schlampige Detektivarbeit. Jetzt musste er nur noch schnell Samael warnen gehen und schnellstmöglich vom Tatort verschwinden, bevor ihn noch jemand dabei beobachtete. Er hatte nämlich nicht sonderlich Lust dazu, die Lage noch komplizierter zu machen. Also flüchtete er schnell aus dem Raum, ohne auch nur ein zweites Mal auf die Leiche seines Kollegen zu werfen und machte sich direkt auf den Weg hinauf in den siebten Himmel, um Samael zu informieren. Na hoffentlich war dieser ihm nicht allzu böse… Kapitel 20: Was sich liebt, das hasst sich(?) --------------------------------------------- Das Meeting hatte Gabriel genauso genervt und gestresst wie den Rest seiner Kollegen. Um sich wenigstens ein bisschen nach dieser hitzigen Diskussion aufzumuntern, beschloss er kurzfristig, nach Shehaqim zu gehen und in Eden nach dem Rechten zu sehen. Also machte er sich ohne große Umwege direkt auf den Weg nach oben, nicht ahnend was zwischen Raphael und Uriel passieren würde. Während die meisten Engel in den vierten Himmel gingen, um dort etwas Spaß zu haben, wusste sich jemand wie Gabriel ganz anders zu amüsieren. Er hielt nicht viel davon, sich zu betrinken und Party zu machen als gäbe es keinen Morgen mehr. Stattdessen hatte er ganz andere Prioritäten. Er hatte sich seinen Beruf quasi zur Berufung gemacht und lebte voll und ganz für seine Schützlinge, die er selbst nach deren Ableben weiterhin besuchte. Da Gabriel schon immer ein besonderes Feingefühl für Menschen hatte, war er mit dem Schutz von Kindern und Ungeborenen betraut worden. Er hatte Kinder schon immer geliebt und wann immer er Zeit fand, verbrachte er am liebsten Zeit mit ihnen. Ganz gleich ob es darum ging, Spiele mit ihnen zu spielen oder sie zu trösten, er war so oft für sie da wie es ihm möglich war und er hatte sich ihnen voll und ganz verschrieben. Da war es ihm völlig egal, wenn ihn Idioten wie Michael als „Kindermädchen“ bezeichneten und sich darüber lustig machten. Wenigstens zeigte er weitaus mehr Nächstenliebe als diese arroganten Arschlöcher. Außerdem war dieser Besuch auch eine perfekte Gelegenheit, um mal ein bisschen Frust bei seinen Untergebenen abzulassen. Da er nämlich nicht rund um die Uhr in Eden sein konnte und der Schutz sämtlicher Kinder auf der Welt für einen einzigen Engel nicht machbar war, hatte er dafür nämlich Untergebene. Unter seinem Kommando stand ein ganzes Heer von Schutzengeln, die zwar nicht gegen Michaels Kriegsengel ankamen, aber trotzdem sehr kompetent in ihrem Job waren. Sie waren loyal, hart arbeitend und einfühlsam und Gabriel konnte sich stets darauf verlassen, dass sie ihre Arbeit so erledigten wie er es haben wollte. Er selbst hatte über all die Jahrhunderte und Jahrtausende unzählige Reformen durchgeboxt und persönlich dafür Sorge getragen, dass die abberufenen Kinder nicht von irgendwelchen Todesengeln geholt wurden, die nicht das nötige Feingefühl für den Job besaßen. Er hatte es lieber, wenn er möglichst viel Kontrolle über all diese Entscheidungen hatte. Er war äußerst leidenschaftlich wenn es um seine Berufung ging und hätte sich mit jedem angelegt, der es gewagt hätte, seinen Schützlingen etwas anzutun. Auf diese Tatsache war er besonders stolz und er konnte mit Fug und Recht behaupten, dass die Kinder ihn dafür liebten. Als er Shehaqim erreichte, hörte er bereits den Lärm im Hauptquartier der himmlischen Wache und fragte sich, warum diese Barbaren ständig ihre Kriegssimulationen neben dem Garten Eden durchführen mussten, wo die Menschen in Frieden die Ewigkeit verbrachten. Das war nicht nur Ruhestörung, sondern auch noch ziemlich geschmacklos. Aber von einer Bande rüpelhafter Kriegsengel, die viel Muskeln und wenig Hirn hatten, konnte man keine Rücksichtnahme erwarten. Am Tor grüßte er die beiden Cherubim, die für den Wachdienst eingeteilt worden waren und betrat das Paradies. Obwohl der Garten Eden von außen relativ klein wirkte, war er in Wahrheit gewaltig und seine Grenzen zu erfassen war selbst für Engel nur schwer möglich. Dieses Paradies besaß die besondere Kraft, die Herzenswünsche seiner Bewohner zu erfüllen und damit alle irdischen Sorgen hinter sich zu lassen. Was früher mal lediglich ein riesiger Zoo war wo Gott seine Schöpfungen zur Belustigung eingepfercht hatte, war nun vergleichbar mit der Matrix. Nur halt mit dem Unterschied, dass es in diesem Fall keine Maschinen gab und die Menschen kein organischer Batterieersatz waren. Traurigerweise hatte der Himmel bis heute keine funktionierende Elektrizität und damit nicht einmal W-LAN. Zwar hatte es schon einige Anträge gegeben, aber die waren irgendwo im Bermuda-Dreieck der Himmelsbürokratie verschwunden und nie wieder zurückgekehrt. Nachdem er eine Weile umhergestreift war und mit großer Zufriedenheit die glücklichen Gesichter seiner Schützlinge sah, kam ihm ein Schutzengel entgegen, der als einer der Oberaufseher innerhalb des Paradieses zuständig war. Zarastiel war von allen am längsten in Gabriels Diensten und beide verband schon ein freundschaftliches Verhältnis. Er hatte immer ein offenes Ohr für seinen Vorgesetzten, wenn dieser sich mal wieder über den Bürokratiewahnsinn oder das Verhalten seiner Kollegen auslassen wollte. „Hallo Gabriel, wie ist das Meeting gelaufen?“ erkundigte sich der Schutzengel und grüßte ihn mit einem fröhlichen Lächeln. „Gib es schon etwas Neues?“ „Kann man so sagen“, seufzte der zweite Erzengel und dachte mit eher gemischten Gefühlen daran zurück. „So wie es aussieht, wird das Fegefeuer wieder in Gang gebracht, sodass die unschuldigen Menschen doch noch in den Himmel kommen können. Malachiel soll sich darum kümmern und wie es aussieht, wird auch das Regelwerk an die Vorschriften aus dem Neuen Testament angepasst.“ „Das ist doch großartig“, rief der Schutzengel begeistert und klatschte aufgeregt in die Hände. In Momenten wie diesen beneidete Gabriel den unschuldigen und naiven Enthusiasmus seiner Untergebenen. Sie besaßen von Natur aus große Zuversicht und viel Optimismus, aber vor allem plagten sie sich nicht mit Sorgen herum. Sie waren einfach gestrickt, was es leichter machte, ihnen Anweisungen zu erteilen. Andererseits fühlte sich Gabriel in manchen Momenten relativ alleine mit all seinen Sorgen. „Ja das schon, aber der ganze Ärger hätte von Anfang an nicht sein müssen, wenn die Verwaltung das Regelwerk mal hin und wieder geprüft hätte. Ganz zu schweigen davon, dass Michael es nicht mal hingekriegt hat, einfach mal vernünftig nachzudenken!“ wetterte Gabriel frustriert und stapfte mit dem Fuß auf den Boden. „Er hat überhaupt keine Vorstellung davon, wie viele Kinder jeden Tag weinend zu mir kommen und fragen, warum ihre Eltern in der Hölle sind, obwohl sie keine schlechten Menschen sind. Er interessiert sich doch nur für sich selbst und alles andere ist ihm völlig egal.“ Um ein wenig Dampf abzulassen, spazierte Gabriel ein wenig umher und Zarastiel folgte ihm. Er ließ seinen Blick über das Paradies schweifen und beobachtete die Menschen, die glücklich und zufrieden hier lebten. Manche von ihnen waren schon seit ewigen Zeiten hier während andere wiederum ihres Glücks irgendwann überdrüssig wurden und entschieden, noch mal wiedergeboren zu werden. Gabriel hatte hier schon so einiges erlebt, auch großen Kummer. Er hatte die weinenden Kinder gesehen, die ihre Familien vermissten und wussten, dass diese in die Hölle geschickt worden waren. So viel Schmerz hatte Michael mit seiner Leichtfertigkeit verursacht und er sah es nicht einmal. Er wollte es nicht einmal sehen und das war einfach unverzeihlich. „Jedes Mal, wenn ich seine Visage sehe, kommt mir direkt der Kotzreiz“, knurrte der himmlische Botschafter verbittert und knirschte dabei mit den Zähnen. „Hält sich hier für den Helden und hat dabei fast die nächste Apokalypse raufbeschworen.“ „Oh Mann, zwischen euch scheint es immer noch ziemlich zu knallen, was?“ meinte Zarastiel. „Ich dachte, ihr habt euch mal ziemlich gut verstanden und seid ziemlich dicke miteinander gewesen. Oder irre ich mich da?“ „Zeiten ändern sich, genauso wie der Charakter“, seufzte Gabriel. Es stimmte schon, dass er und Michael früher ein unzertrennliches Duo waren, weil ihre Dynamik so perfekt war. Er war immer derjenige, der die Feinde in Schach hielt und Rückendeckung gab, während Michael den entscheidenden Schlag ausführte. Das waren noch Zeiten gewesen, wo er über die kleinen Charakterschwächen seines Kollegen hinwegsehen konnte. Aber mit der Zeit war Michael immer arroganter geworden und hatte sich irgendwann nichts mehr sagen lassen. Stattdessen begann er jeden herumzukommandieren und war selbst absolut kritikunfähig und beratungsresistent. Mit der Zeit war es Gabriel immer schwerer gefallen, ihn in Schutz zu nehmen und er selbst begann sich zu fragen, warum immer Michael den ganzen Ruhm für sich beanspruchte. „Wie oft habe ich diesem Blödmann aus der Patsche geholfen und ihn vor dem sicheren Tod bewahrt und musste selbst dabei viel einstecken? Hat er es mir ein einziges Mal gedankt oder mir mal ein bisschen Wertschätzung entgegengebracht? Nein, er tut stattdessen so als wäre alles selbstverständlich weil das meine Aufgabe ist, ihm den Arsch zu retten!“ „Und warum lässt du ihn nicht einfach auflaufen?“ fragte Zarastiel spitzfündig. „Wenn du ihm jedes Mal zur Hilfe eilst, wenn er in der Klemme steckt, geht er doch davon aus, dass du das immer so machen wirst. Warum rettest du ihn überhaupt, wenn er es dir sowieso nicht dankt?“ „Würde ich ja selber gerne wissen“, rief Gabriel wütend und kickte einen herumliegenden Stein von sich. Es ärgerte ihn ja selbst, dass er anscheinend nicht in der Lage war, einfach mal konsequent zu sein und Michael seinem Schicksal zu überlassen. Dabei hatte es dieser Kerl doch mehr als verdient, dass er mal eine gehörige Breitseite bekam. Nein, stattdessen zofften sie sich beide immer wieder und es lief trotzdem jedes Mal darauf hinaus, dass er zur Stelle war, wenn Michael in Gefahr war. Er verstand selbst nicht, warum er sich so schwer damit tat. Vielleicht weil sein Pflichtbewusstsein stärker war als sein persönlicher Stolz. „Stell dir nur mal vor, der Kerl wäre endlich weg vom Fenster. Dann hätten wir einen wesentlich kompetenteren Verteidiger und wir hätten weitaus weniger auseinandergerissene Familien im Paradies. Ganz zu schweigen davon, dass ich wenigstens sein dämliches Grinsen nicht mehr sehen muss…“ Hieraufhin blieb Zarastiel stehen und schaute seinen Vorgesetzten etwas skeptisch an. „Also das ist vielleicht doch etwas harsch, oder? Klar sind Beziehungskrisen unschön, aber gleich an so etwas zu denken, ist doch etwas morbide.“ Nun blieb auch Gabriel abrupt stehen und brauchte einen Moment um diese Worte zu verarbeiten. So ganz konnte er es auch nicht glauben und dachte zuerst, sich bloß verhört zu haben. Vielleicht hatte sich Zarastiel auch nur unglücklich ausgedrückt oder versucht, einen kleinen Scherz zu machen. Dennoch hatte es ihn tief erschüttert und zudem noch ziemlich verstört. „Wie bitte was?“ fragte er, nachdem er sich halbwegs vom ersten Schock erholt hatte. Nun war auch sein Untergebener etwas verwirrt und meinte „Na ihr beide seid doch in einer Beziehung, oder etwa nicht?“ Nun entgleisten dem Erzengel endgültig die Gesichtszüge und er starrte den irritierten Schutzengel fassungslos an. „Wie um alles in der Welt kommst du darauf?!“ platzte es aus ihm heraus. Etwas unsicher zuckte Zarastiel mit den Schultern und antwortete „Naja, diese ewige Streiterei zwischen euch sieht halt aus, als hättet ihr sexuelle Spannungen und so. Außerdem jammerst du doch die ganze Zeit herum, dass er dich kaum beachtet und nie zu schätzen weiß, was du für ihn tust. Das klang für uns halt danach, als hättet ihr was am Laufen.“ „Was meinst du mit uns?“ fragte Gabriel nach, fürchtete sich aber jetzt schon vor der Antwort. „Wer denkt sonst noch, dass wir irgendwas am Laufen haben? Und wieso glaubst du allen Ernstes, ich würde etwas mit jemandem anfangen wollen, der mich ständig dermaßen zur Weißglut treibt?“ „Naja…“ murmelte Zarastiel etwas unsicher und verschränkte die Arme, wobei er ein wenig nervös zur Seite schaute. „Ehrlich gesagt kenne ich keinen Engel, der nicht denkt, dass ihr zwei ein Paar seid. Manche haben sogar Wetten am Laufen ob eure ständigen Streitereien bloße Meinungsverschiedenheiten oder sogar eine Art Rollenspiel bei euch sind.“ Gabriel fehlten die Worte und insgeheim hoffte er immer noch, dass das alles bloß ein selten dämlicher Scherz war. Er brauchte einen Moment, bevor er überhaupt Worte dafür fand, was ihm da gerade offenbart wurde. „Wer kommt denn bitteschön auf so eine Schwachsinnsidee?“ rief er aufgebracht. „Was für eine Logik ist das denn, eine Beziehung zwischen zwei Leuten zu vermuten, die sich nicht mal ausstehen können?!“ „Naja… vermutlich sexuelle Spannung oder so“, vermutete Zarastiel und zuckte unsicher mit den Schultern. „Die Menschen sind da besonders versessen darauf. Aber du musst schon zugeben, dass es echt merkwürdig ist, dass du dich ständig über Michael beschwerst und trotzdem jedes Mal da bist, um ihm den Hals zu retten. Jophiel und Azrael haben schon gemeint, ihr zwei solltet euch endlich mal ein Zimmer nehmen, anstatt die ganze Zeit eine mexikanische 80er-Jahre-Telenovela abzuziehen. Israfil und Jerahmeel haben auch schon drum gewettet, wann ihr zwei euch endlich scheiden lasst, weil ihr euch wie ein altes Ehepaar benehmt.“ Das war nun endgültig zu viel und dem zweiten Erzengel platzte bei diesen Worten der Kragen. Als hätte er nicht schon genug Ärger am Hals, musste er auch noch erfahren, dass sämtliche Engel im Himmel offenbar hinter seinem Rücken lästerten und allen Ernstes glaubten, er hätte Gefühle für so einen Hornochsen. Vor allem da Zarastiel vergaß, mit wem er hier gerade eigentlich sprach. Wütend packte er seinen Untergebenen am Kragen und schaute ihn finster an. „Eher wird die Hölle zufrieren, als dass ich diesen ignoranten, aufgeblasenen und selbstsüchtigen…“ Weiter kam er mit seinen Ausführungen nicht, als plötzlich ein Speer dicht an seinem Ohr vorbeiflog, sich seinen Weg durch den Stamm eines Baumes schnitt und dann endlich durch eine dicke Eiche abgebremst wurde. Sofort ließ Gabriel Zarastiel los, sah den Speer und schaute sich sofort nach dem Besitzer dieser Waffe um, damit er diesem Engel gehörig einen Einlauf verpassen konnte. Das Schicksal hatte es an diesem Tag wirklich nicht gut gemeint, denn es war ausgerechnet Michael, der den Speer geworfen hatte. „Sorry, der gehört mir!“ rief dieser ihnen zu als er auf sie zuflog. Nun war es um Gabriel geschehen und er verlor das letzte bisschen Selbstbeherrschung, das er sich bis dahin noch bewahrt hatte. „Sag mal, geht’s noch?“ rief er ihm wütend zu und streckte angriffslustig die Faust in die Luft. „Könnt ihr eure verdammten Kriegssimulationen nicht woanders abhalten? Ständig werden meine Schutzengel beinahe von euren Waffen getroffen weil keiner von euch halbwegs vernünftig zielen kann. Selbst ein Blindfisch wie Samael zielt besser!“ „Jetzt krieg dich mal nicht so ein“, gab Michael genervt zurück und flog einfach an den beiden Engeln vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. „Das Hauptquartier ist nun mal direkt nebenan, da kann ich auch nichts dran machen.“ „Nichts dran machen?“ wiederholte Gabriel, stapfte auf seinen Kollegen zu und packte ihn grob an der Schulter. „Das hier ist das Paradies und kein Übungsplatz für eure Trainingskämpfe. Die Menschen sollen hier in Frieden die Ewigkeit verbringen und das geht leider nicht, wenn hier ständig Speere, Schwerter und weiß Gott noch was für Waffen durch die Luft fliegen. Das hier ist das Paradies und kein Übungsplatz für eure Kriegsmanöver.“ „Na und? Die sind doch schon tot. Ist ja nicht so, als würde es sie großartig umbringen oder so.“ Genau das war es, was Gabriel jedes Mal so aufregte. Er verstand einfach nicht, wie ausgerechnet jemand, der so unsensibel und uneinsichtig war, der Verteidiger der Menschen sein sollte. Das war einfach nicht fair! Hatte er überhaupt eine Vorstellung davon, wie viel Leid er den Menschen mit seiner Inkompetenz und seiner Sturheit angetan hatte? In seiner Wut und Ratlosigkeit wusste Gabriel nicht anders zu reagieren. Doch als statt eines Faustschlags eine schallende Ohrfeige folgte, war selbst er für einen Moment genauso verwirrt wie Michael. So etwas war doch eigentlich nicht seine Art. Aber der zweite Erzengel hatte in diesem Moment einfach keine Lust dazu, wieder diese übliche Streiterei zu führen, die eh nur wieder in einer sinnlosen Prügelei endete. Das hier war weitaus persönlicher. Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln und er musste sich wirklich zusammenreißen, um nicht noch völlig die Fassung zu verlieren. „Hörst du dich eigentlich selbst reden?“ fragte er und sah Michael direkt in die Augen. Der erste Erzengel realisierte nun, dass dies nicht das übliche Herumgezicke von Gabriel war. Nein, das hier war wirklich ernst und obwohl er sich keiner Schuld bewusst sein wollte, verriet ihm sein Gefühl, dass er deutlich zu weit gegangen war. „Hast du eine Ahnung davon, wie viele Familien wegen dieser dämlichen Gesetze auseinandergerissen wurden? Kannst du dir vorstellen, wie viele aufgelöste Kinder ich trösten musste, weil sie mit ansehen mussten, wie ihre Eltern zur Hölle geschickt wurden? Wie kannst du so etwas nur unterstützen? Wo sind denn da bitte Güte, Vergebung, Nächstenliebe und Gerechtigkeit, wenn die Mutter eines kleinen Jungen nicht in den Himmel durfte, nur weil sie keinen Mann an ihrer Seite hatte? Sie haben alle schon genug Leid durch diese unmenschlichen Gesetze durchmachen müssen. Sollen sie jetzt auch noch miterleben, wie der Garten Eden zu einem Kriegsschauplatz verkommt?“ Gabriel bebte am ganzen Körper und Tränen rannen seine Wangen hinunter. Er rechnete damit, dass Michael sich über ihn lustig machen und ihn als Mädchen oder Heulsuse bezeichnen würde. Es hätte ihn nicht einmal überrascht, wenn sein Kollege ihn sogar noch auslachte und ihm unter die Nase rieb, dass er genau aus diesen Gründen immer die Nummer zwei bleiben würde. Doch es kam keine solche Reaktion. Stattdessen geschah etwas, womit er im Leben nicht gerechnet hätte. Michael senkte den Blick, atmete geräuschvoll aus und erwiderte nichts darauf. Konnte es etwa wirklich sein, dass er endlich mal auf andere hörte? „Okay, hab verstanden. Ich werde mit den Jungs reden.“ Das kam jetzt ziemlich überraschend und auch Zarastiel, der das von der Seitenlinie aus beobachtete, war sprachlos und konnte nicht glauben, was er da hörte. Der stolze Erzengel Michael gab klein bei und hörte zur Abwechslung mal auf jemanden? Wie war das denn möglich? Was war passiert, dass er plötzlich diesen Geisteswandel hatte? Gabriel konnte es genauso wenig fassen und war zunächst überzeugt, dass Michael bloß versuchen wollte, ihn irgendwie abzuwürgen und dass er es nicht im Geringsten ernst meinte. Doch seine Miene hatte nicht diesen sonst so überheblichen und abschätzigen Ausdruck. Verwirrt starrte Gabriel ihn an und begriff nicht, was hier gerade vor sich ging. Geschah das hier gerade wirklich? „Ist… ist das dein Ernst?“ fragte er, so als könne er dem Braten nicht trauen. Etwas genervt seufzte Michael und zog seinen Speer wieder aus dem Baumstamm heraus. „Es nervt mich bloß, meine Waffen ständig wieder in diesem Garten suchen zu müssen. Dauert sowieso verdammt ewig, sie alle wiederzufinden“, erwiderte der erste Erzengel und versuchte desinteressiert und herablassend zu klingen, aber nach dieser Reaktion war es klar, dass dieses Verhalten gespielt war. „Außerdem kann man sich dein Geflenne echt nicht geben.“ „Kannst mich auch kreuzweise“, gab Gabriel trocken zurück, verzichtete aber ausnahmsweise mal auf eine saftige Provokation. Er ärgerte sich, dass er so emotional geworden war und damit Schwäche gezeigt hatte. So etwas war eigentlich nicht seine Art, aber vielleicht lagen seine Nerven einfach nur blank. „Aber mal ernsthaft, Michael: warum siehst du nicht, wie viele Probleme dieses veraltete Regelsystem verursacht? Oder ist es dir wirklich so egal, dass es dich völlig kalt lässt, wenn du Erwachsene vor den Augen ihrer Kinder in die Hölle schickst? Ich verstehe das einfach nicht!“ „Es ist mir nicht egal“, erwiderte der erste Erzengel gereizt und schaute seinem Kollegen direkt in die Augen. „Und ich muss mir so etwas von dir nicht anhören. Im Gegensatz zu dir kenne ich meine Pflichten und führe mich nicht wie ein gefallener Engel auf!“ Damit war die Diskussion für den ersten Erzengel beendet und er wandte sich zum Gehen. Gabriel, der das nicht so einfach auf sich beruhen lassen wollte, wollte ihm nachlaufen und den nächsten Streit vom Zaun brechen. Doch zum Glück ging Zarastiel dazwischen und versuchte ein wenig die Wogen zu glätten. „Hey, ihr beide gebt alles für euren Job und das ist wirklich bewundernswert. Wie wäre es, wenn wir das Kriegsbeil vorerst mal begraben und uns zusammensetzen und bei einer Tasse Tee ganz ruhig und zivilisiert miteinander sprechen? Vielleicht könnt ihr zwei eure Meinungsverschiedenheit ohne Blutvergießen klären.“ „Danke fürs Angebot, aber ich verzichte“, winkte Michael ab. „Ich bin nachher erst mal bei Raphael. Dieser verdammte Aasgeier hat mich schamlos abgezockt, nachdem du mir die verdammten Kronjuwelen zerschmettert hast, Gabi. Und wenn ich mit ihm erst mal fertig bin, wirst du für diese Demütigung büßen!“ Etwas überrascht hob Gabriel eine Augenbraue, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass die Kopfnuss derart gesessen hatte. Insgeheim ärgerte er sich auch, dass er nicht lange genug geblieben war um sich Michaels gedemütigten Anblick in aller Ruhe auf sich wirken zu lassen. Allein die Vorstellung, den sonst so stolzen und unerschütterlichen Kriegsengel in erbärmlichster Art und Weise auf dem Boden kauernd zu sehen, war wirklich eine Versuchung wert. „Kannst dir jederzeit einen Nachschlag holen, wenn du willst. Mal schauen, ob Raphael den nächsten Hodenbruch überhaupt noch geflickt kriegen wird.“ Kaum war Michael verschwunden, atmete Gabriel geräuschvoll aus und verdrehte genervt die Augen. „Gott, wie ich diesen Kerl hasse…“, stöhnte er laut und ließ sich auf einen mit Moos bewachsenen Stein nieder. Zarastiel bevorzugte es hingegen lieber zu stehen. Der Schutzengel verschränkte die Arme und schaute seinen Boss etwas skeptisch an. „Dafür bist du aber gerade ganz schön rot im Gesicht geworden.“ „Bin ich überhaupt nicht!“ protestierte der göttliche Botschafter lautstark und schlug mit der Faust auf die moosbedeckte Oberfläche des Steinbrockens. „Und wenn du dir noch mal so eine Frechheit erlaubst, dann schiebst du Sonderschichten im Außendienst! Dann darfst du die nächsten 10 Jahre in Detroit verbringen.“ Damit war der Schutzengel sofort ruhig und wagte lieber nicht, sein Glück noch weiter zu riskieren. Er wusste, dass Gabriel nicht unbedingt zu jenen Engeln gehörte, die leere Drohungen verlauten ließen. Dennoch fand er es mehr als merkwürdig, was da eigentlich zwischen den beiden Erzengeln ablief. Auf der einen Seite lagen sie sich ständig in den Haaren und erweckten den Anschein, als würden sie sich am liebsten gegenseitig umbringen wollen. Aber dann geschahen wieder solche Szenen, wo es für einen kurzen Augenblick so aussah, als würden sie sich endlich wieder vertragen oder zumindest Sympathie für den anderen hegen. Aus den beiden wurde man echt nicht schlau. Es war ihm sowieso ein Rätsel, was die beiden überhaupt dazu geritten hatte, diesen Streit erst anzufangen. Lange Zeit war er wirklich davon ausgegangen, dass es so ein Ding zwischen ihnen war und es in Wahrheit gar nicht mal so ernst gemeint war. Immerhin waren sie lange Zeit unzertrennlich gewesen und hatten sich bloß zum Spaß gegenseitig geneckt. Aber jetzt war es zu einem regelrechten Zickenkrieg ausgeartet. Schön anzusehen war es jedenfalls nicht. Eines Tages war Michael plötzlich total abgehoben und hielt sich für den großen Retter des Himmels und Gabriel fühlte sich davon jedes Mal derart auf den Schlips getreten. Wohin das noch alles führen würde… Die Erzengel waren mal eine unschlagbare Einheit gewesen und jetzt verbrachten sie fast jeden Tag damit, sich gegenseitig fertig zu machen. Ob das wohl mit dem Job zusammenhing? Tja, das kam aber auch davon, dass Gott keine Therapeuten und Streitschlichter im Himmel haben wollte. Zum Glück war er selbst nur ein einfacher Schutzengel und musste sich diese peinliche Keilerei nicht tagein tagaus mit ansehen. Stattdessen würde er sich einfach damit begnügen, zusammen mit seinen Kollegen zu tratschen und sich zu wundern, worauf es letzten Endes hinauslief. Er hatte nämlich eine Wette mit Jerahmeel, Jophiel und Azrael am Laufen und hatte so einiges darauf gewettet, dass der Streit zwischen Michael und Gabriel derart eskalieren würde, dass sie von Gott noch strafversetzt wurden. Andererseits waren Sex oder Scheidung natürlich auch eine interessante Option, die für einiges an Gesprächsstoff sorgen würde. Kapitel 21: Per Anhalter durch die Hölle ---------------------------------------- Nervös und mit rasendem Herzschlag wartete Nazir in der Nähe des großen Höllentors versteckt hinter ein paar Felsen. Nachdem er und Malachiel aufgebrochen waren, hatte der Halb-Seraph kurz innegehalten und gemeint, ihm wäre da noch etwas eingefallen was er erledigen müsse. Also hatte er seinen Schüler schon mal vorausgeschickt und ihn angewiesen, sich erst mal zu verstecken. Über die Details hatte Malachiel ihn im Dunkeln gelassen aber so wie Nazir ihn inzwischen kannte, war es garantiert wieder irgendeine Verrücktheit. Gleich nachdem er schon von weitem das dunkle mit Schädeln und Knochen dekorierte Tor gesehen hatte, war er in Deckung gegangen und hoffte nur, dass er nicht allzu lange warten musste. Vier Jahre war es her, seit er einst durch diese Pforte gegangen und die Hölle hinter sich gelassen hatte. Nie im Leben hätte er es für möglich gehalten, eines Tages wieder hierher zurückzukehren und ihm war auch nicht sonderlich wohl bei diesem Gedanken. Allein das Schild an der Pforte war alles andere als einladend: Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren! Dieses „Begrüßungsschild“ hatte sich damals Dante einfallen lassen, nachdem er der gesamten Höllenbelegschaft mit seinen vielen Reformationsideen für die Hölle auf den Zeiger gegangen war. Ein paar kreative Dinge waren schon dabei gewesen, aber im Großen und Ganzen viel zu viel griechische Mythologie und zu wenig tatsächlich christlicher Einfluss. Aber zumindest das Eingangsschild hatte positiven Anklang gefunden. Sonderlich wohl war dem dämonischen Haushälter nicht unbedingt dabei, als er das Tor betrachtete. Aber er sah es auch als seine Pflicht an, seinen Herrn durch die Hölle zu führen und hoffentlich in einem Stück in der Dämonenhauptstadt Pandämonium anzukommen. Diese lag im Zentrum der Hölle und dazu musste man durch sämtliche neun Kreise gehen. Zumindest war es ein kleines Trostpflaster, dass der erste Höllenkreis eher ein harmloser Spaziergang war und sich im sechsten Höllenkreis die brennende Stadt Dis befand. Dort war Nazir aufgewachsen und er war guter Dinge, dass ihn seine Geschwister dort mit offenen Armen empfangen würden. Naja… zumindest ein paar von ihnen. Zumindest hoffte er das. Die meisten von ihnen waren wesentlich älter als er und er konnte sich nur allzu gut daran erinnern, wie seine älteren Brüder ihn immer wieder gehänselt hatten. Aber er bezweifelte, dass sie ernsthaft versuchen würden, ihn den Vollstreckern auszuliefern. Seine Geschwister mochten nicht gerade die Sozialsten sein, aber sie waren immer noch seine Familie und er hoffte darauf, dass ihnen das auch etwas bedeutete. Und dann war da auch noch seine Mutter. Bei ihr machte er sich keine allzu großen Sorgen, aber die Sache konnte unter Umständen schwierig werden, wenn sein Vater von irgendetwas Wind bekam. Nazir spürte, wie ihm vor Aufregung flau im Magen wurde und er versuchte ruhig zu atmen, um nicht gleich durchzudrehen. Verdammt… wo blieb Malachiel eigentlich und was hatte er überhaupt vor? Es kam ihm fast wie eine Ewigkeit vor, seit er sich hier versteckt hatte. Eine plötzliche Berührung auf seiner Schulter genügte um den jungen Dämon erschrocken zusammenfahren zu lassen und für einen Moment fürchtete er, dass seine Deckung aufgeflogen war. Ruckartig drehte er sich um und sah einen in knappem Lederoutfit und hochhackigen Stiefeln gekleideten Succubus mit aschblondem Haar vor sich. Beinahe hätte sein Herz vor Schreck einen Schlag ausgesetzt und das Weite gesucht, doch dann bemerkte er die glutroten von Schatten umrandeten Augen, deren Ausdruck ihm ziemlich vertraut war. Sein Schreck schlug dann kurzzeitig in Verwirrung um und einen Moment lang starrte er ungläubig die recht aufreizend gekleidete Dämonin an. Dann klappte ihm die Kinnlade herunter und ein „Meister? Seid Ihr das etwa?“ entwich ihm. Malachiel war kaum wiederzuerkennen und schien sichtlich stolz auf sein Erscheinungsbild zu sein. Er nahm eine kokette Pose ein und grinste breit. Zwar wusste Nazir, dass Engel und Dämonen ihre Gestalt anpassen konnten, aber er hatte seinen Meister noch nie in knapper Ledermontur und engem Korsett gesehen. Es kam aber auch sonst eher selten vor, dass sein Mentor sich in Frauengestalt herumtrieb. Meist nur dann, wenn ihm dieser Aufzug besondere Vorteile in Clubs verschaffte. Zugegeben, er sah wirklich wie ein waschechter Succubus aus, aber man musste sich trotzdem erst mal an den Anblick gewöhnen. Vor allem weil man ihn sonst nur in Priesteruniform sah. „Na, was meinst du? Wie sehe ich aus?“ fragte der Halb-Seraph und war sichtlich stolz auf seine Aufmachung. „Ich dachte mir es wäre wesentlich leichter, wenn wir incognito reisen könnten. Vor allem weil ich keine Lust habe, alle fünf Schritte von irgendwelchen leichtsinnigen Halbstarken überfallen zu werden. Ansonsten kommen wir nie zum Fegefeuer.“ „Und da musste es ausgerechnet eine Succubus-Verkleidung sein?“ „Ich hatte halt Lust darauf“, meinte Malachiel und richtete sich dabei ein wenig sein Outfit. „Ist schon lange her, dass ich endlich mal wieder dazu komme, hautenge Lederklamotten und Absätze zu tragen. Vielleicht wäre Latex ja besser gewesen, aber ich habe dann immer das Gefühl, wie eine Presswurst auszusehen. Ganz zu schweigen davon, dass mein Arsch darin immer so fett aussieht…“ „Die Verkleidung passt perfekt“, versicherte Nazir. „Ich denke, Ihr werdet mit dieser Aufmachung garantiert nicht auffallen. Ich hoffe nur, dass keiner merkt, dass ich ein Deserteur bin…“ Damit zog er sich nervös die Kapuze seiner Jacke tiefer ins Gesicht. Zwar glaubte er kaum, dass sich die Nachrichten derart weit herumgesprochen hatten, aber eine gewisse Angst war trotzdem da. Außerdem hatte er wirklich keine Lust, seinem alten Herrn zu begegnen. Der würde alles andere als erfreut sein, ihn wiederzusehen. Malachiel entging die Angst seines Schülers nicht und mit einem leisen Seufzer meinte er „Du musst nicht mitkommen, wenn du dich fürchtest. Ich kriege das auch schon so irgendwie hin. Vielleicht kann ich ja per Anhalter reisen.“ „Nein, es ist schon in Ordnung“, versicherte der dämonische Haushälter hastig und sah sich nervös um. Er wollte wirklich helfen und beweisen, dass er auch in solchen Situationen nützlich und verlässlich war. Außerdem wollte er unbedingt den anderen Dämonen erzählen, welche Fortschritte er gemacht hatte, damit sie nicht die Hoffnung aufgaben. Das hier war viel zu wichtig um einfach den Schwanz einzuziehen. Allerdings bereitete ihm das bevorstehende Familiendrama gewisse Bauchschmerzen. Er hatte mit Malachiel nie über seine genaue Herkunft gesprochen weil er nicht sonderlich stolz darauf war und ihn sein Vater sowieso enterbt und verstoßen hatte. Allerdings ließ sich dieses Wiedersehen leider nicht vermeiden und es war besser, reinen Wein einzuschenken. „Die Sache ist die, Meister… Mein Vater ist ein ziemlich hohes Tier in der Hölle und das könnte Schwierigkeiten geben.“ „Ach mach dir da mal keine Sorgen“, versicherte Malachiel und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. „Ich kriege das schon gedeichselt. Notfalls auch mit roher Gewalt, wenn diese Spatenköpfe nicht zuhören wollen.“ „Ja aber… mein Vater ist gewissermaßen Satan persönlich“, gestand der junge Dämon und senkte beschämt den Kopf. „Er wollte aus mir so eine Art Antichrist machen, aber das hat leider nicht so funktioniert wie er es sich vorgestellt hat. Also hat er mich verstoßen und gesagt, ich solle mich nie wieder blicken lassen. Und wenn er weiß, dass Ihr mich als Euren Schüler aufgenommen habt, wird er fuchsteufelswild werden. Tut mir leid, dass ich das nicht früher gesagt habe, aber ich wusste nicht ob Ihr mich dann überhaupt als Schüler aufgenommen hättet wenn ich gesagt hätte, dass ich Satans Sohn bin. Aber ich will nicht, dass Ihr meinetwegen…“ „Schon gut“, unterbrach Malachiel ihn und sah nicht einmal überrascht aus, dass sein Schüler ausgerechnet der Sohn von Gottes ärgstem Feind war. Er hätte wenigstens mit Erstaunen oder Verwirrung gerechnet, aber nicht mit einem solchen Maß an Gelassenheit. Kümmerte es Malachiel denn überhaupt nicht, dass er etwas derart Wichtiges verschwiegen hatte? War er denn gar nicht erstaunt darüber, dass Satans Sohn ein derart jämmerliches Bild abgab? Alles, was er dazu nur sagte war „Man kann sich die Eltern halt nicht aussuchen. Aber trotzdem danke für die Info und für dein Vertrauen. Und mach dir keinen Kopf wegen deines Vaters. Wir kriegen das schon hin.“ Das beruhigte den nervösen Dämon fürs Erste und so gingen sie gemeinsam in Richtung Höllentor, um ihren Abstieg zu beginnen. Von ganz weit außen betrachtet sah die Hölle mehr oder weniger wie ein riesiger Abgrund aus, der immer tiefer ging. Insgesamt gab es zehn Ebenen, die auch schlichtweg „Kreise“ genannt wurden, da sie rings um diesen Abgrund errichtet worden waren. Der Gedanke lag natürlich nahe, einfach hinabzufliegen und direkt nach unten zu gelangen. Allerdings waren die Schwefeldämpfe, Lavaströme und Rauchschwaden so extrem, dass nicht einmal Dämonen diesen direkten Abstieg so leicht überstanden. Außerdem wollten Malachiel und Nazir lieber unerkannt bleiben und da war es wesentlich einfacher, die zehn Ringe nacheinander zu durchschreiten und auf den Grund des Abgrunds zu gelangen, wo sich die Dämonenhauptstadt Pandämonium befand. Je tiefer man gelangte, desto ungemütlicher wurde es. Erschwerend kam hinzu, dass jeder Kreis an sich so gigantisch war, dass man schnell die Orientierung verlieren konnte. Jede Ebene war mehrere Kilometer breit und ganze Zivilisationen hätten dort Platz gehabt. Auch wenn die Hölle nicht unbedingt einladend für Besucher war, bot sich ein nicht weniger gewaltiger und majestätischer Anblick wie im Himmel. Die erste Ebene, die sich quasi an der Oberfläche und dicht darunter befand, war ein leichter Spaziergang und hatte nicht einmal annähernd etwas Düsteres oder Bedrohliches an sich. Es wirkte sogar überraschend friedlich und überall sah man Menschen, die frei von irgendwelchen dämonischen Folterknechten ihr Dasein fristeten. Es waren all jene arme Seelen, die nicht rein genug für den Himmel waren, allerdings auch nicht genug auf dem Kerbholz hatten, um bis in alle Ewigkeit gequält zu werden. Der sogenannte Limbus war eine Art neutrale Zone, in der sie friedlich leben durften, bis sie eines Tages endlich durch das Fegefeuer gereinigt werden und in den Himmel aufsteigen konnten. Gleich als sie den Limbus betraten, mussten Malachiel und Nazir feststellen, dass der Ort hoffnungslos überfüllt war und es schlimmer zuging als auf einem Großstadt-Basar. Überall drängte sich dicht an dicht und ein paar Dämonen, die als Ordnungshüter eingeteilt worden waren, hatten sichtlich Mühe, um das Durcheinander unter Kontrolle zu halten. In einer solchen Umgebung, wo sich alles dicht an dicht drängte, war die Stimmung verständlicherweise gereizt und überall konnten sie Proteste und Geschrei hören. Malachiel und Nazir hatten erhebliche Mühe, sich durch diese ganzen Menschenmassen durchzudrängen und den Überblick zu behalten. In der Hoffnung, über die Nebenstraßen besser voranzukommen, bogen sie von der Hauptstraße links ab und quetschten sich durch eine Reihe von verwinkelten Gassen, bis der Weg durch einen großen Karren blockiert wurde, der von zwei Skelettpferden gezogen wurde. Ein Schild hing am Wagen und geschrieben stand „Freuds Mobiler Therapieservice“. Drei sehr vertraute Gestalten saßen auf dem Wagen, von denen sich zwei hitzig am Streiten waren. Der Patient, der auf einer provisorisch gezimmerten Couch lag und die Hände auf dem Bauch gefaltet hatte wie ein Toter, war ein bleicher und etwas nervös ausschauender Mann in einem etwas abgenutzten Anzug. Die beiden Streithähne links und rechts von ihm waren eine alte Dame, die wie eine indische Ordensschwester gekleidet war und ein bärtiger Mann mit Brille, Halbglatze und schwerem österreichischen Akzent. „Und ich sage es dir zum letzten Mal, Sigmund: die Alpträume und Pein sind Gottes Strafe für seine blasphemischen Werke!“ rief die alte Dame wütend und schwang dabei ihre Faust in der Luft, als wolle sie jeden Moment zuschlagen. Mit der anderen Hand hielt sie einen Rosenkranz fest, den sie um ihre Fingerknöchel gewickelt hatte, als wolle sie diese als Schlagringersatz benutzen. „Was da hilft sind Buße und Gebete! Teufelsaustreibung und Selbstkasteiung sind der einzige Weg zum Heil für diese verlorene Seele!“ „Und ich sage dir zum tausendsten Mal, dass ich die Nase voll habe von deinen infantilen Illusionen, meine liebe Agnes!“ gab der alte Mann gereizt zurück und lief dabei hochrot im Gesicht an. „Immerzu musst du meine Patienten mit deinem Geschwätz von Buße und Bekehrung belästigen und glaubst allen Ernstes, Weihwasser würde eine vernünftige Therapie ersetzen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass du vollkommen hysterisch bist. Hast du nicht noch irgendwelche Spendengelder, die du unterschlagen kannst? Vielleicht hast du ja Glück und du findest unterwegs noch ein paar halbtote Leprakranke, die du zu Tode quälen und gegen ihren Willen bekehren kannst.“ „So etwas muss ich mir von einem kokainabhängigen Quacksalber nicht anhören, für den alles nur ein Sexkomplex ist!“ giftete die alte Dame zurück und es sah nicht wirklich danach aus, als würde ihr Streit bald ein Ende finden. Selbst dem armen Kerl, der auf der Couch lag und darauf wartete, endlich therapiert zu werden, wurde es langsam doch etwas zu bunt. Etwas verzagt seufzend meinte er in einem leichten Bostoner Akzent. „Dürfte ich die Herrschaften bitten, sich endlich darauf zu einigen, wer mich von meinen Alpträumen befreit und wer nicht?“ fragte er und rieb sich etwas nervös die Stirn. „Ich habe schon wieder diese furchtbaren Visionen von schrecklichen Ungeheuern aus der Tiefe und es treibt mich noch irgendwann um den Verstand. Ich kann schon keinen Fisch mehr sehen, ohne gleich Panik zu bekommen.“ „Da hörst du es, Agnes. Diese Alpträume sind nicht verarbeitete Traumata zu den tragischen Umständen seiner Mutter und der Perspektivlosigkeit durch seinen Jobverlust und der Krankheit seiner Ex-Frau“, meinte der alte Mann und nahm seine Brille ab, um sie mit seinem Taschentuch zu putzen. „Herr Lovecraft leidet unter einer besonders stark ausgeprägten Kombination verschiedener Phobien, die seinen neurotischen Zustand erheblich verschlechtert haben. Ein derartiges Hirngespinst wie Gott hat damit überhaupt nichts zu tun. Herr Lovecraft mag fremdenfeindlich, misogynistisch und paranoid sein, aber er ist ganz gewiss nicht von Dämonen besessen. Also verschone mich mit deinem lächerlichen Hokuspokus.“ „Sag das mal meinem Friedensnobelpreis, du alter Zausel!“ „Ein Preis, der an ausbeuterischen Heuchlern, Gaunern und Kriegstreibern verliehen wird, ist nicht einen Groschen wert. Und für eine Mutter, mit der niemand freiwillig schlafen würde, solltest du den Mund nicht so weit aufreißen!“ „Hey, könnt ihr den Wagen beiseite fahren?“ unterbrach Malachiel die beiden Zankenden, die vermutlich nicht so schnell damit aufhören würden, sich gegenseitig verbal zu zerfleischen. Naja, was hatte man von der Vorhölle auch anderes erwartet? „Wir wollen hier vorbei und ihr blockiert hier den Weg!“ Nun hielten die zwei inne und schauten die beiden Hinzugekommenen an. Etwas erstaunt und verwundert rückte Dr. Freud seine Brille zurecht und brauchte einen Moment um zu erkennen, wen er da vor sich hatte. „Oh, entschuldigen Sie bitte, werte Dame. Ich werde sofort weiterfahren.“ Dann wandte er sich wieder Mutter Teresa zu und baute sich zu seiner ganzen Größe auf. „Und du verschwindest jetzt augenblicklich aus meiner Praxis. Und lass gefälligst deine Finger von meinen Patienten!“ Sichtlich zerknirscht entschied sich die alte Ordensschwester dann doch für den Rückzug und stieg vom Wagen herunter. Nachdem sie gegangen war, nahm Dr. Freud die Zügel und die Peitsche in die Hand und brachte die beiden Skelettpferde, die vor den Wagen gespannt waren, dazu, sich in Bewegung zu setzen. „Wohin geht denn die Reise, wenn ich fragen darf?“ erkundigte sich der Psychologe dabei. Malachiel und Nazir tauschten kurz einen Blick aus und dann antwortete der Halb-Seraph „Wir wollen weiter nach unten, aber leider scheint hier viel los zu sein. Deshalb versuchen wir es abseits der Hauptstraße.“ „Wenn ihr wollt, könnte ich euch gegen eine kleine Bezahlung in meiner mobilen Praxis ein Stückchen mitnehmen“, bot Dr. Freud an und hielt die Pferde an. „Ich fürchte, dass die gute Agnes sonst wieder auftauchen wird und mir schlimmstenfalls auch noch diesen alten Rassisten Gandhi auf den Hals hetzen wird. Und dann darf ich sowohl ihm als auch Herrn Lovecraft diese verrückte Vorstellung von der weißen Vorherrschaft austherapieren.“ „Ich bin kein Rassist, ich habe bloß Angst vor Ausländern“, verteidigte sich der Horrorschriftsteller, fand aber wenig Zustimmung mit seiner Entschuldigung. Da eine Reise mit dem Wagen vielleicht keine so schlechte Idee war, nahmen Malachiel und Nazir das Angebot an und kletterten hinauf. Nachdem sie Platz genommen hatten, ließ Dr. Freud die Pferde wieder loslaufen und der Wagen setzte sich in Bewegung. Malachiel, der schon seit der Beinahe-Apokalypse nicht mehr in der Hölle gewesen war, fand allmählich Gefallen an diesem Ort. Zwar war es ziemlich dicht besiedelt und etwas ungemütlich, aber man traf hier zumindest ein paar interessante Leute. Gemächlich fuhr der Wagen durch die engen Gassen und schaffte es, sich überall durchzuquetschen. Während Lovecraft damit begann, Nazir von seinen schrecklichen Alpträumen und Visionen zu erzählen, wandte sich Malachiel an Dr. Freud. „Selbst der Tod scheint Sie nicht von der Arbeit abzuhalten, wie?“ „Selbstverständlich nicht“, verkündete der Psychologe mit einer Mischung aus Stolz und Ernst. „Dieser Ort ist voller Menschen, die dringend Hilfe benötigen. Und weil der Ort so groß ist, habe ich meine mobile Praxis gegründet. So finde ich nicht nur zu meinen Patienten, sondern kann mich auch mit Kollegen austauschen. Die Schulmedizin hat sich seit meiner Zeit stark verändert… Meine Methoden sind nicht mehr die modernsten, aber ich gebe trotzdem mein Bestes, um zu helfen.“ „Macht Ihnen das nicht zu schaffen, dass Sie aus der Mode gekommen sind und zudem noch in der Vorhölle festsitzen, obwohl Sie nicht an Gott glauben?“ Der alte Mann schnaubte amüsiert bei diesen Worten und schüttelte den Kopf. „Das ist ja das Wunderbare an der Medizin und der Wissenschaft: sie ist immer im stetigen Wandel und passt sich an. Es ist nur ein natürlicher Schritt, dass meine Methoden irgendwann widerlegt werden, aber es erfüllt mich mit Stolz, dass ich genug Vorarbeit leisten konnte, um den nächsten Generationen den Weg zu ebnen. Und nur weil ich an diesem Ort gelandet bin, heißt das noch lange nicht, dass ich meine Meinung zur Religion geändert habe. Ich glaube nach wie vor nicht an diesem infantilen Hirngespinst.“ Nazir, der das trotz des Gejammers von Lovecraft gehört hatte, runzelte irritiert die Stirn und konnte nicht so ganz verstehen, wie jemand immer noch nicht an die Existenz von Himmel und Hölle glauben konnte, wenn er sich doch eindeutig in der Hölle befand… oder zumindest im überfüllten Vorhof. So etwas musste doch an Trotz und Ignoranz grenzen. Doch Dr. Freud war da anderer Ansicht und meinte „Wie man diesen Ort hier bezeichnen will, ist reine Ansichtssache. Für die einen ist es die Vorhölle, für andere ist es bloß eine Zwischenstufe zur nächsten Existenzebene. Für mich ist es eine Chance, dort weiterzumachen wo ich aufgehört habe. Die Hölle wird nur dann zur Hölle, wenn wir sie dazu machen.“ „Eine Antwort, wie man sie von einem Psychologie-Urgestein erwarten kann“, kommentierte Malachiel und beließ es dabei. Er war nur heilfroh, zumindest für die erste Ebene einen fahrbaren Untersatz zu haben. Sie würden noch genug laufen müssen, bis sie endlich ihr Ziel erreichen würden. Als sie dann nach einer Weile auf die Hauptstraße abbogen, um die Abzweigung zum nächsten Höllenkreis zu erwischen, sahen sie allerhand vertraute Gesichter. Prominente Schauspieler und Sänger, die die Bewohner unterhielten oder Schriftsteller und Dichter, die Poetry Slams veranstalteten und Politiker, die angeregte Diskussionen miteinander führten. Es wirkte tatsächlich nicht unbedingt wie die Vorstufe zur Hölle wie man es vielleicht vermutet hätte. Vielleicht war ja etwas Wahres an dem dran, was Dr. Freud gesagt hatte und die Hölle wurde erst dann wirklich zur Hölle, wenn man sie dazu machte. Es war zumindest beruhigend zu sehen, dass die Menschen hier nicht irgendwelche Höllenqualen durchstehen mussten. „Meine Güte, ich fühl mich hier fast wie auf einer Promi-Gala“, kommentierte Malachiel als sie an der Musikergasse vorbeikamen, wo sich eine Gruppe weltberühmter Komponisten hitzig über neue Opern und Sinfonien unterhielten. Mit der Ausnahme von Beethoven, der von all diesen Gesprächen nicht das Geringste mitbekam und nur schweigend da saß. Nazir folgte seinem Blick und meinte „Ja hier gibt es so einige berühmte Leute. In den unteren Ebenen werden wir vermutlich auch noch ein paar von denen begegnen. Allerdings sind die eher weniger freundlich gesonnen.“ „Lass mich raten: Mörder, Vergewaltiger, Kriegstreiber, Diktatoren und Faschisten.“ „Ganz richtig“, bestätigte der dämonische Haushälter. „Der Abschaum der menschlichen Gesellschaft halt. Aber da sie größtenteils in Gefängnissen untergebracht sind, sollten wir nicht allzu vielen von denen über den Weg laufen. Wir laufen durch bis wir die brennende Stadt im sechsten Kreis erreichen. Dort leben meine Freunde und Geschwister und das wäre eine gute Zwischenstation, bevor wir weitergehen.“ Klingt nach viel Lauferei, dachte sich Malachiel und war eher wenig begeistert davon. Aber es ließ sich halt nicht vermeiden. Wenigstens brauchten sie dann keine unnötigen Umwege gehen, da die unteren Ebenen eigentlich etwas dünner besiedelt sein sollten. Zumindest hoffte er das, denn er hatte nicht wirklich eine Ahnung davon, wie sich die Hölle seit seinem letzten Besuch verändert hatte. Wenn ihn nicht alles täuschte, waren der erste und zweite Kreis durch einen riesigen kochenden Teer-See voneinander getrennt, den man mit dem Boot überqueren musste, wenn man keine Flügel hatte. Er erinnerte sich noch lebhaft daran, wie Luzifer und seine Gang versucht hatten, ihn in den See zu schubsen und damit auszuschalten. Natürlich hatte das nicht funktioniert, aber es hatte auch nicht unbedingt dafür gesorgt, dass sich Malachiel in der Nähe von Teer sonderlich wohl fühlte. Aber manche Dinge ließen sich halt schlecht vermeiden. Nachdem sie an der Grenze zum zweiten Höllenkreis angekommen waren, stiegen Malachiel und Nazir vom Wagen ab. Der Halb-Seraph materalisierte ein kleines Kokstütchen und drückte es dem Psychologen mit einem Augenzwinkern und dem gut gemeinten Rat „Nicht alles auf einmal aufschnupfen, Siggy“ in die Hand und verabschiedete sich damit von ihm und dem neurotischen Mr. Lovecraft, der nun endlich seine Therapiestunde fortsetzen konnte. Zusammen mit seinen Schülern ging er zu den Docks, wo die nächste Fähre abfahren würde. Und um sich die Kräfte gut einzuteilen, entschieden sie sich, lieber mit diesem Transportmittel den Teer-See zu überqueren anstatt drüberzufliegen. Die Luft war sowieso nicht unbedingt das beste Klima dafür. Glücklicherweise war auf der Fähre nicht allzu viel los und keiner erkannte sie. Die Fahrt war erstaunlich ruhig und auch die Durchquerung der nächsten Kreise war nicht allzu schwer. Nazir fand sich hervorragend zurecht und erwies sich als ziemlich gute Führung durch die Hölle. Im Großen und Ganzen waren die zweiten bis fünften Höllenkreise nicht wirklich spektakulär. Viele Lavaflüsse, Gefängnisse mit verdammten Seelen und Schwefelgruben. Hier und da kamen sie an ein paar Siedlungen vorbei, in denen die dämonischen Vollstrecker ihre Feierabende nach der harten Arbeit verbrachten. Im fünften Höllenkreis gerieten sie in einen riesigen Auflauf, denn eine Gruppe Dämonen setzte sich lautstark für die Freilassung für Baal, Beelzebub und Eurynome ein, die nach ihrem Versuch, eine Gewerkschaft zu gründen und gerechte Löhne für die schwer arbeitenden Höllenbewohner zu fordern, in Haft genommen worden waren. Trotz der Gefahr einer weiteren Verhaftung waren die treuen Anhänger der eingesperrten Dämonenfürsten nun dabei, Unterschriften für ihre Petition zu sammeln. Wie sich durch ein paar kleine Gespräche mit den Gewerkschaftsbefürwortern herausstellte, hatten sie sich dabei Inspiration von den Umweltaktivisten und Gewerkschaftsvertretern aus dem ersten Höllenkreis geholt. Kaum, dass sie auch nur in geringer Sichtweite waren, hatten sich die Protestler wie die Aasgeier auf sie gestürzt und sie um eine Unterschrift gebeten. Um sich schnellstmöglich wieder aus dem Staub zu machen, hatten sie mit falschen Namen unterschrieben und hastig das Weite gesucht, bevor sie noch tiefer hineingezogen wurden. Sie hatten durchaus Wichtigeres zu tun, als sich um Arbeitsrechte für Dämonen Sorgen zu machen. Aber zumindest musste man der Hölle anrechnen, dass sie in Sachen Veränderungen deutlich progressiver war als der Himmel. Nachdem sie die Demonstranten erfolgreich abgeschüttelt hatten, waren sie an der Pforte zum sechsten Höllenkreis angelangt. Eine hohe Mauer erstreckte sich vor ihnen und das Tor war fest verschlossen. Also flogen sie hinauf und kaum, dass sie die Spitze der Mauer erreichten, schlug ihnen eine starke Hitzewelle entgegen. Hinter der Mauer erstreckte sich eine riesige Stadt, die von einem riesigen Lava-See eingeschlossen war und deren Hausdächer und Bäume in Flammen standen. Der Boden glühte wie heiße Asche und die Atmosphäre war erdrückend und hochgiftig. Es war bei weitem der ungemütlichste und düsterste Ort, den Malachiel in seinem Leben gesehen hatte und jeder Nicht-Dämon wäre allein schon beim Überqueren der Mauer augenblicklich gestorben. „Tja… da wären wir nun“, meinte Nazir mit gemischten Gefühlen. „Das hier ist meine Heimat: die brennende Stadt Dis.“ Kapitel 22: Verrat und Verräter ------------------------------- Die brennende Stadt Dis war eine der größeren Städte innerhalb der Hölle und existierte lange Zeit bloß als schlichtes Gefängnis für Ketzer und korrupte Priester, was die ungemütliche und heruntergekommene Umgebung erklärte. Da sich aber immer mehr gefallene Engel häuslich dort niedergelassen hatten, wurden Wohnviertel neben den Gefängnissen errichtet, was natürlich den praktischen Effekt hatte, dass man nicht zu weit weg vom Arbeitsplatz wohnte. Mit der Zeit war Dis immer weiter ausgebaut worden, während die Gefängnisse selbst immer kleiner wurden, da Ketzerei und Blasphemie mit der Zeit immer mehr an Bedeutung verlor. Stattdessen waren andere Sünden und Verbrechen in den Fokus gerückt, weshalb die brennende Stadt irgendwann stillgelegt wurde und nur noch die Wohnviertel zurückblieben. Der Ort war eine verwahrloste Arbeiterstadt, in der man von Prunk und Glanz wie in der Hauptstadt Pandämonium nur träumen konnte. Es war nicht unbedingt ein malerischer Anblick und es gab durchaus schönere Plätze in der Hölle, aber zumindest konnte man sagen, dass Dis so etwas wie Charakter hatte. Als Nazir und Malachiel die Stadt betraten, kam ihnen sogleich schon ein groß gewachsener Dämon entgegen, der ziemlich wichtig aussah. Mit einem freundlichen Lächeln trat er auf sie zu und breitete in einer begrüßenden Geste die Arme aus. „Herzlich Willkommen in Dis! Ich bin Belaf, der Herzog des sechsten Kreises und Schutzherr dieser Stadt. Kann ich euch irgendwie behilflich sein?“ Im starken Kontrast zum Gesamteindruck dieses Ortes sah dieser Dämon überraschend wohlhabend aus. Er passte so ganz und gar nicht ins Bild der Stadt und sein Erscheinungsbild ließ erahnen, dass das Klassensystem in der Hölle genauso unfair war wie bei den Menschen. „Äh danke“, murmelte Malachiel und winkte ab. „Aber wir…“ Weiter kam nicht, denn da nahm Nazir seine Kapuze ab, rief mit heller Aufregung „Onkel Belaf!“ und umarmte den Stadthalter stürmisch. „Ist das schön, dich wiederzusehen. Ich hab euch alle so vermisst.“ „Nazir, das ist ja mal eine Überraschung“, meinte dieser überrascht und erwiderte die Umarmung. „Du hast dich ja schon ewig nicht mehr hier blicken lassen. Gut siehst du aus!“ Nach der innigen Begrüßung löste sich der dämonische Haushälter wieder von ihm, wandte sich dann seinem Mentor zu und erklärte „Onkel Belaf hat immer auf mich aufgepasst wenn meine Mutter nicht zuhause war und mir so einiges beigebracht. Oh… Onkel Belaf, das ist übrigens…“ „Morgas“, unterbrach Malachiel hastig, damit Nazir sich nicht dazu hinreißen ließ, unüberlegt irgendwelche Dinge auszuplaudern. Selbst wenn die Bewohner dieser Stadt zu Nazirs engstem Freundes- und Familienkreis zählten, hatte er keine Lust, unnötige Risiken bezüglich seiner Identität einzugehen. Denn so wie er die Dämonen einschätzte, ließen sie sich viel zu schnell zu irgendwelchen Dummheiten hinreißen. Außerdem brachte das letzten Endes auch Nazir in Schwierigkeiten, wenn sie zu viel Aufmerksamkeit erregten. „Normalerweise bin ich ausschließlich in der Menschenwelt unterwegs, aber Nazir hat regelrecht darauf bestanden, mir seine Heimatstadt zu zeigen. Und bei so einem niedlichen Gesicht kann man unmöglich Nein sagen! Freut mich sehr, dass ich auch Gelegenheit bekomme, seine Familie kennen zu lernen.“ Der Dämonenherzog lachte beherzt und klopfte seinem Schützling dabei scherzhaft auf die Schulter. „Na du bist mir vielleicht einer. Verschwindest erst vier Jahre lang spurlos und kommst dann mit so einer reizenden Schönheit zurück. Du wirst ja langsam erwachsen, mein Junge. Hey, wieso gehst du nicht mal nach deinen Geschwistern sehen? Die freuen sich garantiert, dich endlich mal wiederzusehen. Ich kann unseren Gast ja noch ein wenig herumführen.“ Malachiel wollte zuerst etwas sagen, denn er hielt es für eine bessere Idee, wenn sie zusammenblieben. Doch Nazir versicherte ihm, dass sie in Dis nichts zu befürchten hatten und alles gut gehen würde. Also beschloss der Halb-Seraph, dem Urteil seines Schülers zu vertrauen und nahm Belafs Angebot an. Mit einem überglücklichen Lächeln verschwand Nazir in Richtung der Wohnviertel und versprach, nicht allzu lange wegzubleiben. Malachiel seinerseits war zwar nicht unbedingt an Sightseeing interessiert, aber er wollte seinem Schüler auch die Zeit gönnen, mit seiner Familie zu reden. Wer wusste schon, wann er das nächste Mal Gelegenheit dazu haben würde. Und er schien den Bewohnern von Dis genug zu vertrauen. „Oh Mann, bei diesen Welpenaugen wird man immer wieder schwach“, seufzte er und musste tatsächlich schmunzeln. „Er scheint sich hier trotz allem wirklich zuhause zu fühlen.“ „Ja das stimmt“, antwortete Belaf nickend und sah Nazir mit einem fast wehmütigen Lächeln hinterher. „Aber der Junge ist auch erst 24 Jahre alt und noch ein Kind. Es hat mich ja schon genug gewundert, dass er es aus eigener Kraft bis zur Menschenwelt hinaufgeschafft hat. Also dann… wollen wir mit der Tour beginnen?“ Die Rundführung stellte sich für Malachiel schnell als eine nicht gerade erfreuliche Erfahrung heraus, denn Belaf machte kein großes Geheimnis daraus, dass er ein Auge auf seinen Gast geworfen hatte. Und kaum, dass sie alleine waren, zeigte dieser bereits nach kurzer Zeit sein wahres Gesicht und all die Freundlichkeit und Autorität, die er bis dahin ausgestrahlt hatte, war mit einem Schlag verflogen. Stattdessen kristallisierte sich schnell heraus, dass er etwas zu aufdringlich war und nicht unbedingt subtil dabei vorging. Immer wieder grabschte der Herzog ihn am Hintern und starrte lüstern auf seinen Ausschnitt. Von dem gastfreundlichen und zuvorkommenden Stadthalter war nichts mehr zu sehen. Anscheinend gehörte er zu jener Sorte, die sich perfekt verstellen konnte um nicht sofort Verdacht zu erregen. Vielleicht war eine Succubus-Tarnung doch keine so gute Idee, dachte er sich und versuchte die ständigen Annäherungsversuche zu ignorieren. Naja, was hatte er von der Hölle auch anderes erwartet? Da konnte er nicht unbedingt mit einem Mindestmaß an Anstand und Sittsamkeit rechnen. Außerdem war ihm so etwas nicht zum ersten Mal passiert, dass ihn ein schmieriger Lustmolch angrabschte, während er sich in Frauengestalt herumtrieb. Trotzdem war es mehr als nervig, die ganze Zeit über so betatscht und angegafft zu werden. Doch er beherrschte sich und ließ von seinem Verlangen ab, Belaf die Finger zu brechen. Nazir zuliebe war er bereit, über diese Unannehmlichkeiten hinwegzusehen solange es nicht allzu sehr ausuferte. Er hoffte nur, dass sein Schüler wenigstens seinen Spaß hatte, wo auch immer er sich in diesem Moment herumtrieb. Nach einer Weile erreichten sie schließlich die Schwefelsümpfe, die offenbar so etwas wie der romantische Hotspot der Stadt waren. Zugegeben, die Aussicht war nicht von schlechten Eltern, allerdings ein wenig zu düster und stinkend für Malachiels Geschmack. Auch sonst konnte er dieser ganzen negativen und ungemütlichen Atmosphäre in der Hölle nicht viel abgewinnen. Vor allem weil Dis nicht unbedingt das war, das man als höllische Touristenattraktion bezeichnen konnte. Es war größtenteils dreckig, heruntergekommen, verarmt und auch sonst ziemlich trostlos. Eine klassische Arbeiterstadt, die nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch am Hungertuch nagte und schleichend vor die Hunde ging. Fairerweise musste man aber auch sagen, dass die Städte im Himmel mit ihrem ganzen Prunk und Protz auch nicht wirklich seinem persönlichem Geschmack entsprachen. Beides war ihm viel zu extrem und da war ihm das Chaos auf der Erde viel lieber. Dort hatte man zumindest genügend Abwechslung um sich nicht zu Tode zu langweilen. Schließlich blieben sie am Rand der Sümpfe stehen und betrachteten die Aussicht, wobei der Dämonenherzog seine vermeintliche Herzensdame näher an sich heranzog. Zwar hatte Letzterer nichts gegen ein wenig Flirten, aber erstens war er schon vergeben und zweitens hatte das hier gerade wenig mit Flirten zu tun. Außerdem gab es hier auch genügend andere weibliche Dämonen in Dis, an denen sich dieser Kerl ranschmeißen konnte. Warum also musste es ausgerechnet ihn erwischen? Lag es an den Lederklamotten? Hätte er doch besser Latex tragen sollen? Oder war dieser Belaf etwa so ein schmieriger Zuhälter, der sich alles krallte, was nicht bei drei auf den Bäumen war? In dem Fall würde es noch echt Ärger geben, vor allem für diesen Perversling, wenn dieser nicht endlich mal seine Finger bei sich behielt. „Eine schöne Aussicht, nicht wahr?“ fragte Belaf und seine Hand wanderte wieder zu Malachiels Hintern. „Es ist zwar nicht das Pandämonium, aber selbst eine einfache Arbeiterstadt wie diese hier hat durchaus ihre schönen Ecken.“ Jetzt hatte der Halb-Seraph endgültig genug. Er packte den Herzog am Handgelenk und drückte kräftig zu. „Sorry aber ich lass mich nicht gerne ungefragt angrabschen“, erwiderte er kühl, doch das schien seinen Begleiter nur noch mehr zu ermuntern. Ein widerliches Grinsen zierte sein Gesicht und lüstern leckte er sich dabei über die Lippen. Ein kalter Schauer durchfuhr den Halb-Seraph dabei und er fürchtete, gleich kotzen zu müssen. „Oho, da ist aber jemand widerspenstig. Genau nach meinem Geschmack~“ „Finger weg, sonst setzt es was!“ warnte Malachiel nun mit etwas mehr Nachdruck und stieß Belaf von sich weg. „Oder hat man dir nicht beigebracht, vernünftig mit Damen umzugehen?“ Doch sein Gegenüber ließ nicht locker und packte ihn grob an der Schulter. Okay, langsam wurde es wirklich unangenehm und der Mediator begann zu ahnen, dass er diesen Lüstling nicht mit einer einfachen Warnung auf Abstand halten konnte. Der brauchte schon überzeugendere Argumente. „Ich glaube, du hast zu viel Zeit unter den Menschen verbracht, meine Teure“, sprach der Dämonenherzog in einem mahnenden Ton und sein Blick verfinsterte sich. „Als Herzog des sechsten Höllenkreises und Stadthalter von Dis habe ich hier das Sagen und an deiner Stelle wäre ich mal ganz vorsichtig. Wenn du keinen Ärger haben willst, dann solltest du deine rebellische Haltung noch mal ernsthaft überdenken, meine Liebe.“ Na hervorragend, da habe ich ja den Jackpot erwischt, dachte sich der falsche Succubus und war nicht unbedingt beeindruckt von diesem Einschüchterungsversuch… höchstens ziemlich genervt. Er hatte durchaus Besseres zu tun, als sich mit einem Widerling herumzuschlagen, der seine Machtposition ausnutzte um Spaß mit Frauen zu haben. Und vielleicht war es mal an der Zeit, dass er einen ordentlichen Denkzettel verpasst bekam. Es war nicht das erste Mal, dass er in Frauengestalt mit irgendwelchen Lustmolchen Ärger bekam und sich zur Wehr setzen musste. Außerdem hatte er sich schon mit weitaus unangenehmeren Zeitgenossen herumschlagen müssen und dieser dahergelaufene Möchtegern-Herzog war da ein relativ kleiner Fisch. Unbeeindruckt von dieser Drohung stieß Malachiel ihm den Absatz seines Stiefels auf den Fuß und rammte ihm dann den Ellenbogen in den Brustkorb. „Und du gehörst offenbar zu den Schwachmaten, die allen Ernstes denken, dass bei Frauen ein Nein eigentlich Ja bedeutet und ein Verpiss Dich eine Liebeserklärung ist!“ erwiderte er und ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte nicht wenig Lust, diesem Widerling in diesem Frauenkörper so richtig den Arsch aufzureißen und ihm ein paar Manieren beizubringen. Verdient hatte er es jedenfalls. Aber im schlimmsten Fall stand der Kerl auch noch auf so etwas. „Mal im Ernst, ich kapier echt nicht wie eine gute Seele wie Nazir einen Schmierlappen wie dich Onkel nennt.“ „Ach, sag bloß du hast eine Schwäche für ihn“, meinte Belaf spöttisch. „Diese Heulsuse kann von Glück reden, dass seine Mutter so eine scharfe Braut ist. Ansonsten hätte ich ihn schon längst in die nächste Grube geworfen und zum Schweigen gebracht. Mal im Ernst, diese kleine Kackbratze ist so verdammt verweichlicht, dass er schon zu heulen anfängt, wenn man ihm die Daumenschrauben anlegt.“ Okay, das war genug. Mit einem kräftigen Tritt in die Eier zwang Malachiel seinen Gegenüber in die Knie und rammte ihm dann den Absatz seines Stiefels in die Seite. „Du hältst jetzt besser die Kauleiste still, ansonsten werfe ich dich noch irgendwo rein. Mir reicht’s, Nazir und ich werden von hier verschwinden!“ Damit wandte sich Malachiel zum Gehen, doch als Belaf trotz seiner Verletzung zu lachen anfing, blieb er stehen. Mit dieser Reaktion hätte er jetzt nicht unbedingt gerechnet, doch wenn plötzlich jemand anfing zu lachen, nachdem er verdroschen worden war, verhieß das für gewöhnlich nichts Gutes. Sein Verdacht bestätigte sich als der dämonische Herzog meinte „Daraus wird leider nichts werden. Oder glaubst du allen Ernstes, wir lassen einfach so jemanden gehen, auf den Satan ein Kopfgeld ausgesetzt hat?“ Einen Moment war Malachiel wie erstarrt als er das hörte. Zwar hatte er damit gerechnet, dass es unter Umständen Probleme geben könnte weil Nazir ein Deserteur war. Aber dass ihn ausgerechnet seine eigenen Leute ausliefern würden, war selbst für ihn zu viel. In diesem Augenblick, als ihm klar wurde, dass sein Schützling ausgerechnet von den Leuten verraten wurde, für die er so ein Risiko eingegangen war und denen er vertraute, übermannte ihn die Wut. Er konnte über viele Dinge hinwegsehen, die seine eigene Person betrafen. Aber das hier war etwas ganz anderes. Wutentbrannt packte er Belaf am Kragen und zerrte ihn hoch. „Sag mir, dass das ein Scherz ist und ihr nicht allen Ernstes vorhabt, Nazir auszuliefern. Ihr seid seine Familie, verdammt noch mal!“ „Selbst schuld, wenn er desertiert. Passt ja zu einem Feigling wie ihm.“ Damit stürzte sich der dämonische Stadthalter auf ihn und hätte ihn beinahe zu Boden gerungen. Doch zum Glück reagierte der Halb-Seraph noch rechtzeitig und fing den Angriff ab. „Und du, meine Süße, bist jetzt besser mal schön brav und tust was ich sage. Ansonsten fahre ich noch ganz andere Seiten auf!“ „Versuchs doch“, erwiderte Malachiel und hatte nun endgültig genug. Er war nun richtig sauer und hatte keine Lust mehr, weiterhin mit Samthandschuhen zu kämpfen. Während er sich mit der einen Hand den aufdringlichen Dämonenherzog vom Leib hielt, beschwor er mit seiner freien Hand sein Flammenschwert und stieß es seinem Gegner direkt in den Bauch. Ein schmerzerfülltes Keuchen entrann dem Stadthalter und als er sah, was für eine Waffe ihn da gerade durchbohrt hatte, realisierte er, wen er da gerade vor sich hatte. „Ve… verdammt das… gibt’s doch nicht…“, keuchte er. Bevor er jedoch dazu kam, noch irgendetwas zu sagen, stieß der Halb-Seraph ihn mit einem kräftigen Fußstritt hinunter in die Schwefelsümpfe. Schreiend vor Schmerz versank der Höllenherzog, bis nichts mehr von ihm zurückblieb. Immer noch mit dem Flammenschwert in der Hand eilte Malachiel zurück ins Zentrum von Dis um nach seinem Schützling zu suchen. Vielleicht hatte er ja Glück und er kam noch nicht zu spät. „Nazir?“ rief er so laut er konnte und sah sich um. Doch nirgendwo war eine Spur von ihm zu sehen. „Nazir!!!“ Schließlich erreichte er das Wohnviertel, in welches sein Schüler verschwunden war, nachdem sich ihre Wege getrennt hatten. Doch auch dort fand er nicht die geringste Spur von ihm. Verdammt, wo war er nur? War er von den Vollstreckern verschleppt worden oder hatte man ihn irgendwo eingesperrt? Oder war es endgültig zu spät und man hatte ihn bereits beseitigt? „Verdammte Scheiße!“ fluchte Malachiel wütend und kickte einen Stein weg. Er ärgerte sich, dass er derart nachlässig geworden war und allen Ernstes gedacht hatte, Nazir wäre in seiner Heimatstadt sicher genug. Stattdessen hatten ihn seine eigenen Leute eiskalt verraten. Er hätte es besser wissen müssen und seine Leichtsinnigkeit würde Nazir nun den Kopf kosten. Und das Schlimmste war, dass er nicht einmal wusste, wo er nach ihm suchen sollte. In diesem Fall blieb eigentlich nur eines zu tun: jeden in dieser Stadt aufzumischen bis er endlich die Antworten bekam die er brauchte. „Hey, warte mal!“ rief plötzlich jemand hinter ihm und Malachiel war schon drauf und dran, den armen Trottel gehörig in den Schwitzkasten zu nehmen und sämtliche Infos gewaltsam rauszuquetschen. Als er sich dann aber umdrehte und eine attraktive junge Dämonin mit dunklem Haar, welches im Licht lilafarben schimmerte, sah, hielt er kurz inne. Ihre Augen waren so dunkelrot, dass man fast meinen könnte, sie wären schwarz. Vom Aussehen her schien sie zu den Succubi zu zählen, allerdings konnte er sich auch irren. Allzu viel hatte er ja nicht mit Dämonen zu tun, wenn diese nicht gerade versuchten, ihn umzubringen. „Was willst du?“ fragte er gereizt. „Ich bin gerade ziemlich schlecht in Stimmung für Smalltalk.“ „Hat man gemerkt“, kommentierte die Dämonin unbeeindruckt und schien nicht einmal großartig durch das Flammenschwert eingeschüchtert zu sein. Sie wirkte stattdessen besorgt und etwas rastlos und war wohl nicht zu Späßen aufgelegt. „Du suchst doch Nazir, oder? Ich habe gehört, dass er festgenommen und ins Gefängnis im neunten Höllenkreis gebracht wurde. Leider war ich nicht schnell genug, um sie abzufangen.“ „Und wer zum Teufel bist du, wenn ich fragen darf?“ fragte Malachiel misstrauisch. Nach so einem Desaster war er nicht unbedingt gewillt, irgendwelchen wildfremden Dämonen zu vertrauen, die plötzlich auftauchten. Etwas verstohlen schaute sich die Schönheit um, wurde plötzlich ganz ernst um sicherzugehen, dass niemand sie belauschen konnte und trat näher an den Halb-Seraph heran. Mit gedeckter Stimme erklärte sie „Ich bin Lilith, Nazirs Mutter. Sorry für diese Aufmachung, aber eigentlich war ich icognito unterwegs gewesen. Als ich erfuhr, dass mein Sohn wieder in der Hölle ist, habe ich mir Sorgen gemacht und bin hierhergekommen. Leider bin ich zu spät gekommen und habe sie nicht mehr erwischt…“ Das war jetzt mal echt eine Überraschung. Mit so einer Enthüllung hatte Malachiel nicht unbedingt gerechnet aber andererseits kam ihm das genau recht. Denn wenn er sich auf jemanden in der Hölle verlassen konnte, dann war es die Dämonenmutter Lilith persönlich. Während der Beinahe-Apokalypse hatte sie gute Unterstützung geleistet, um das Ende aller Tage zu verhindern und war für den Himmel eine verlässliche Informantin, wenn es um wichtige Ereignisse in der Hölle ging. Diese Neuigkeit war erleichternd für den Halb-Seraph und er entschied, dass es vielleicht ratsam war, ebenfalls die Karten offen auf den Tisch zu legen. „Merkwürdiger Zufall, dass wir beide eine Tarnung nutzen“, bemerkte er halb im Scherz. „Ich bin übrigens…“ „Malachiel, ich weiß“, unterbrach Lilith ihn sofort. „ Wie könnte ich denn nicht denjenigen wiedererkennen, der gewissermaßen mein Zwilling ist? Hoffentlich hast du in den letzten vier Jahren gut auf meinen kleinen Schatz aufgepasst.“ „Ich hab mein Bestes gegeben“, meinte Malachiel schulterzuckend. „Nur hätte ich nicht erwartet, dass er von seinen Leuten derart schnell hintergangen wird. Also, wenn du mich zum neunten Kreis bringen könntest, damit ich Nazir befreien kann, wäre ich dir wirklich dankbar. Den Rest kriege ich dann schon hin.“ Doch so ganz war Lilith nicht überzeugt und starrte ihn skeptisch an, wobei sie die Arme vor der Brust verschränkte. „Nimm’s mir nicht übel, aber du kannst nicht mit roher Gewalt da ein. Das Gefängnis im neunten Kreis besteht aus zwei Hochsicherheitstrakten und du musst erst mal durch den ersten durch um zu den Zellen für die Deserteure zu gelangen. Wenn du da einfach so reinrennst und alle aufmischst, riskierst du schlimmstenfalls Nazirs Leben und das lasse ich ganz sicher nicht zu. Außerdem ist er immer noch mein Sohn, also ziehe ich das mit dir durch, ob du willst oder nicht!“ Da er sich lieber nicht mit einer wütenden Mutter anlegen wollte, gab er lieber nach und willigte ein. So wie es klang, kannte sich Lilith einigermaßen aus was das Gefängnis betraf und konnte somit eine große Hilfe sein. Er fürchtete auch, dass sie noch rabiat werden könnte, wenn er sie weiter abzuwimmeln versuchte. Gemeinsam ließen sie die brennende Stadt Dis hinter sich und machten sich auf den Weg um Nazir zu befreien. Immer noch ärgerte sich Malachiel, dass es überhaupt erst dazu gekommen war und er konnte nur hoffen, dass sie nicht zu spät kamen. Während sie sich auf den Weg zum nächsten Höllenkreis machten, wandte sich der Halb-Seraph an seine Begleiterin und fragte nach einigem Zögern „Wie stehen die Chancen, dass er noch lebt?“ „Keine Sorge, er wird erst mal längere Zeit eingesperrt werden, bis er dann vor das Höllentribunal gezerrt wird. Glücklicherweise sind die bürokratischen Abläufe hier genauso katastrophal wie im Himmel und das verschafft uns genügend Zeit“, versicherte Lilith und das zwar zumindest ein kleiner Trost. Allerdings wollte er seinen Schüler auch nicht allzu lange warten lassen, denn es gab keine Garantie dafür, dass ihm nicht noch irgendetwas angetan wurde. Hier musste man immerhin mit allem rechnen. Selbst mit Verrat aus den eigenen Reihen. „Das alles wäre nicht passiert, wenn ich besser aufgepasst hätte…“, murmelte er zerknirscht und biss sich wütend auf die Unterlippe. „Zugegeben, ich hätte auch nicht erwartet, dass dieser elende Wichser Belaf so eine linke Tour abzieht“, meinte Lilith und schien ihm nicht wirklich böse zu sein. „Ich konnte diesen widerlichen Grabscher noch nie ab. Aber er war zumindest ein guter Babysitter für meinen kleinen Engel gewesen, solange ich ihm hin und wieder mal schöne Augen gemacht habe. Typen wie er sind da ziemlich einfach gestrickt.“ Ja, was Verführung anbetraf, war Lilith der ungeschlagene Champion in der Hölle. Es gab kaum einen Dämon, der nicht von ihrer Schönheit und ihrem Sexappeal verzaubert wurde. Ganz gleich ob Männlein oder Weiblein, sie verdrehte allen die Köpfe und nutzte ihre Reize geschickt aus. Auch wenn sie eine ungebundene Frau war, die weder an Macht noch an Reichtum interessiert war und nur das tat, wonach ihr gerade der Sinn stand, galt sie als unbestrittene Königin der Hölle. Sie ließ sich durch nichts und niemanden aufhalten und wehe dem, der ihren Zorn auf sich zog. Lilith war nicht nur eine wichtige Informantin für den Himmel, sie war quasi die Vorlage für Malachiel gewesen als er erschaffen wurde. Was nämlich nur Gott, Jesus, Malachiel, Lilith und Metatron wussten war, dass die ganze Story um Liliths Bestrafung für ihren Ungehorsam bloß fingiert war, damit sie problemlos als Spionin in die Hölle eingeschleust werden konnte. Tatsächlich verband Lilith eine sehr enge Freundschaft mit Gott persönlich und sie war eine der wenigen Begünstigten, die seinen wahren Namen kannte. Dadurch besaß sie nahezu göttliche Kräfte, trotz der Tatsache, dass sie eine Dämonin war. Da sie aber keine Lust darauf hatte, die ganze Verantwortung eines Weltenretters zu stemmen, hatte Gott daraufhin ein Wesen nach ihrem Vorbild erschaffen, das sowohl himmlische als auch höllische Attribute verkörperte. Aus diesem Grund bezeichnete Lilith ihn gerne als ihren Zwilling und selbst Malachiel musste zugeben, dass sie sich in vielen Dingen erschreckend ähnlich waren. Und vielleicht war das auch einer der Gründe, warum Lilith ihm ihren Sohn anvertraut hatte. Und nun mussten sie sich zusammenschließen um Nazir aus dem Gefängnis zu befreien. „Schon einen Plan, wie wir am besten zu deinem Sohnemann kommen?“ erkundigte sich Malachiel beiläufig, denn so wie er Lilith kannte, hatte sie vermutlich schon eine Idee. Immerhin hatte sie ihr Kind bereits vor vier Jahren erfolgreich aus der Hölle rausgeschmuggelt um ihm zu helfen, sich seinen Traum zu erfüllen. Da lag es nicht allzu fern, dass sie bereits an einem Plan arbeitete. Ihr verschwörerisches Grinsen ließ jedenfalls so einiges erahnen. „Kann man so sagen“, antwortete sie. „Das Gefängnis ist in zwei Trakten aufgeteilt: Sheol und Gehenna. In Sheol werden die Sünder gefangen gehalten, die entweder zu einflussreich oder allgemein zu gefährlich sind, um auf den Rest der Hölle losgelassen zu werden. Wenn wir diesen Teil durchquert haben, kommen wir zu Gehenna, wo die Deserteure und Verräter der Hölle eingesperrt werden. Wenn es uns gelingt, Chaos in Sheol zu stiften, sollte das als Ablenkung ausreichen. Alles was wir tun müssen ist bloß, die richtigen Leute rauszulassen.“ „Wäre es nicht einfacher, du würdest dich zu erkennen geben und einfach verlangen, dass man deinen Sohn freilässt?“ gab Malachiel zu bedenken, auch wenn er zugeben musste, dass die Idee mit der Ablenkung recht verlockend war. Hauptsächlich aber auch nur deshalb, weil ihm der Gedanke gefiel, ein wenig Unruhe in der Hölle zu stiften. Lilith erging es da nicht anders und sie gab ohne Umschweife zu: „Natürlich wäre es einfacher. Aber wo bliebe dann der Spaß? Außerdem ist das der perfekte Denkzettel dafür, dass man ein Kopfgeld auf meinen kleinen Liebling ausgesetzt hat!“ Dieser Argumentation konnte der Halb-Seraph nun wirklich nicht widersprechen und er musste zugeben, dass auch er Spaß an dem Gedanken hatte, die Hölle aufzumischen. Und ehe sie sich versahen, hatten sie auch schon den neunten Höllenkreis erreicht und erblickten in der Ferne bereits das riesige Hochsicherheitsgefängnis. Kapitel 23: Revolution für Anfänger ----------------------------------- Das Gefängnis Abaddon im neunten Höllenkreis war ein riesiges Gebäude, welches auf den ersten Blick uneinnehmbar zu sein schien. Eine riesige Mauer, die mit unheiligen Bannflüchen versehen war, machte ein Eindringen auf dem ersten Blick unmöglich und nur ein einziges Tor führte ins Innere. Zwei wild dreinschauende Höllenhunde mit rotglühenden Augen hielten davor Wache und es sah auch nicht danach aus, als könnte man so leicht an ihnen vorbei. Malachiel wusste aus einigen uralten Schriften, dass Höllenhunde selbst für Dämonen gefährlich werden konnten und sie waren nahezu unbezwingbare wilde Bestien, die ganze Dörfer ausmerzen konnten. Es war unfassbar schwer, sie einigermaßen gezähmt zu bekommen und noch schwieriger war es, sie zu dressieren. Obwohl Malachiel und Lilith mit diesen Biestern fertig geworden wären, hatten sie keine sonderlich große Lust darauf, ein Risiko einzugehen. Außerdem würden sie durch den ganzen Lärm die Vollstrecker herlocken und dann würde es umso schwerer werden, nach Abaddon zu gelangen. Glücklicherweise kannte Lilith einen kleinen Geheimweg, durch den sie doch noch hineingelangen konnten. Nicht weit von der Mauer entfernt gab es einen versteckten Zugang zu einer unterirdischen Kammer, die zwar durch ein mächtiges Siegel verschlossen war, aber für sie war es keine große Anstrengung, es zu öffnen. Durch den sehr niedrigen und dunklen Tunnel gelangten sie nach einer Weile in eine Kammer, in der es kein Licht gab und der es nach Pest und Verwesung stank. Die Luft war so faul und widerwärtig, dass es selbst nach höllischen Standards nahezu unerträglich war. Lilith entzündete an der Wand befestigte Fackeln und erleuchtete somit die steinerne Kammer. Was sie erwartete, war ein grauenhafter Anblick von riesigen Leichenbergen hingerichteter Dämonen. Der einzige Weg war ein schmaler Schacht, durch den die Toten nach der Exekution hinuntergeworfen wurden. Es war schon ziemlich makaber, ausgerechnet über solch einen Weg einzubrechen. „Und du bist sicher, dass wir auf diese Weise ins Gefängnis gelangen?“ fragte Malachiel skeptisch und ließ Lilith als erstes hinaufklettern. „Ehrlich gesagt wäre mir ein Luftschacht oder eine Wanderung durch die Kanalisation lieber…“ „Keine Sorge, ich weiß genau was ich tue“, versicherte die Dämonin und kletterte mit überraschender Leichtigkeit hinauf. Dabei ließ sie sich auch nicht sonderlich von den Leichenbergen stören, über die sie klettern musste. „Die Falltür befindet sich im Exekutionsraum des Tribunals und die Hinrichtungen werden nur sonntags durchgeführt. Ansonsten wird sie nicht benutzt, was also heißt, dass wir ungehindert reinkommen können.“ Das klang etwas verdächtig danach, als wäre das nicht der erste Einbruch, den sie durchzog. Irgendwie passte es auch zu ihrem Charakter, dass sie des Öfteren solche verrückten Aktionen abzog, um anderen aus der Patsche zu helfen oder einfach um irgendein anderes krummes Ding durchzuziehen. Naja, solange es ihnen dabei half, Nazir zu befreien, konnte es ihm auch egal sein, was diese Frau in ihrer Freizeit so trieb. Ein unsterbliches Leben konnte mit Sicherheit hin und wieder mal langweilig werden und jeder brauchte irgendein Hobby. „Du scheinst dich hier ziemlich gut auszukennen“, stellte Malachiel fest und tat sich ein wenig schwerer damit, die glatten Wände hinaufzuklettern und sich entsprechend festzuhalten. Er kam ja auch nicht alle Tage dazu, irgendwelche Schächte hinaufzuklettern, die zu Gefängnisfalltüren führten. „Sag bloß, du musst deine Kinder öfter mal aus dem Knast befreien.“ „Zum Glück nicht. Aber ich lasse ab und zu mal ein paar Gefangene raus, wenn Satan mal wieder die Grenzen überschreitet. Du hättest mal dabei sein müssen, als ich Shaka Zulu und seine Konsorte rausgelassen habe. Es hat ewig gedauert, bis die Milch- und Weizenkrise ausgebügelt wurde. Für ein Muttersöhnchen hat der gute Shaka ganz schön Stimmung gemacht.“ „Böses Mädchen“, gab der Halb-Seraph schmunzelnd zurück. Er konnte sich das ganze Chaos bildhaft vorstellen. Vor allem den Spaß, den Lilith dabei gehabt haben musste. Diese war sichtlich stolz auf ihre kleinen Missetaten und meinte amüsiert „Das war noch nichts im Gegensatz zu dem Spektakel, als ich den guten alten Marquis de Sade freien Zugang zur Druckerei gelassen habe.“ Nach einer schier endlosen Kletterpartie hatten sie endlich die Falltür erreicht und gelangten durch den Exekutionsraum ins Höllentribunal. Dieses war am heutigen Tag leer und deshalb war es kein sonderlich großes Kunststück, unerkannt in den ersten Trakt des Gefängnisses zu gelangen. Sheol war ziemlich heruntergekommen, trostlos und auch sonst alles andere als hygienisch. Ratten krochen durch die Schlupflöcher, an einigen Ecken stach der Schimmel hervor und es war auch sonst dreckig und ungemütlich. Hier waren die Seelen eingesperrt, die zu den blutrünstigsten, manipulativsten und einflussreichsten Menschen ihrer Zeit zählten. Diktatoren, Terroristen, Eroberer, Könige, aber auch Sektenführer, Wissenschaftler und Schreiber, deren Werke andere Menschen zu schrecklichen Taten aufgestachelt hatten. Es waren aber auch ein paar Leute dabei, die man lieber nicht auf den Rest der Hölle loslassen wollte. Dazu zählten unter anderem skandalöse Pornoschreiber wie der Marquis de Sade oder hundsmiserable Komiker. Als sie an den Zellen vorbeigingen, schaute Malachiel neugierig durch die kleinen Sichtfenster und sah dabei einige berühmte Gesichter und er fragte sich, wen Lilith wohl im Visier hatte. Vorsichtig schlichen sie sich durch den weit verzweigten Gefängnistrakt und mussten immer wieder den Wärtern und blutrünstigen Höllenhunden ausweichen, sodass sie nur langsam vorankamen. Aber leider gab es sonst keine Möglichkeit. „Und was hast du jetzt genau vor?“ erkundigte sich der Halb-Seraph nach einer Weile. „Hast du schon eine Idee, wen wir freilassen sollen?“ „Das habe ich in der Tat und ich weiß auch so ungefähr wo wir hin müssen“, antwortete die Dämonenmutter und lugte vorsichtig um die Ecke um zu sehen, ob da jemand in ihre Richtung kam. Zum Glück war aber die Luft rein und sie konnten weiter. „Wir brauchen jemanden, der ein Talent dafür hat, die Leute gehörig aufzumischen und Stimmung zu machen.“ „Hitler?“ Abrupt blieb Lilith stehen und sah Malachiel entgeistert und auch ziemlich gekränkt an. „Wofür hältst du mich denn bitteschön?“ fragte sie beleidigt. „Wir haben immer noch so etwas wie Anstand, mein Lieber. Also bitte!“ „Ja und was hast du dir sonst vorgestellt? Die spanische Inquisition etwa?“ „Ach was. So etwas würden die Leute erwarten“, winkte die Dämonin ab und ging weiter. „Denk doch mal nach: die Hölle ist eine völlig chaotische Monarchie und die Dämonen beschweren sich seit Beginn der Krise über unfaire Arbeitsbedingungen, schlechte Behandlung und miserable Bezahlung. Also brauchen wir jemanden, der exakt für solche Fälle bestens spezialisiert ist und auf das Thema anspringt wie ein ausgehungerter Hund auf einen Knochen.“ Malachiel überlegte und versuchte sich vorzustellen, wer denn dafür bekannt war, sich gegen die Monarchie aufzulehnen und bessere Lebensbedingungen für die Leute einzufordern. Er brauchte tatsächlich nicht lange zu überlegen, bis er da den einen oder anderen Kandidaten hatte. Die Frage stellte sich nur, ob es auch die gleichen Leute waren, die Lilith vorgesehen hatte, denn die Auswahl war nicht gerade klein. Schließlich aber erreichten sie eine Zelle, vor der die teuflische Spionin stehen blieb. Zur Sicherheit, ob sie auch die richtige Tür erwischt hatte, lugte sie durch das kleine Sichtfenster und lächelte zufrieden. „Perfekt, da haben wir sie ja“, meinte sie und entriegelte das Schloss mit dämonischer Magie. Leise öffnete sie die Tür gerade mal weit genug, dass sie hindurchschlüpfen konnte und ohne großartig nachzufragen folgte Malachiel ihr. Der Raum war karg eingerichtet und in einem schlechten Zustand so wie der Rest des Gefängnisses. Doch das hielt seine Insassen nicht davon ab, fleißig miteinander zu diskutieren. Insgesamt mochten es an die 20 Leute sein, aber der Hauptfokus ruhte allein auf vier ganz bestimmten Leuten, die rein äußerlich nicht unterschiedlicher sein konnten. Der erste von ihnen saß mit nichts als mit einer Badehose und einem Tuch um den Kopf gewickelt in einer mit Wasser gefüllten Badewanne und hatte fast schon etwas Koboldhaftes an sich. Er war sehr klein geraten und sein Kopf wirkte etwas zu massig, ganz zu schweigen davon dass eines seiner Augen höher lag als das andere. Wahn, Ehrgeiz und Zorn hatten sein Gesicht entstellt und ließen ihn noch mehr wie eine hässliche kleine Kreatur erscheinen als einen normalen Menschen. Neben ihm saß ein sehr elegant gekleideter Mann in feinster Rokoko-Kleidung, gepuderter Perücke und mit Stolz erhobener würdevoller Miene. Durch die Perücke wirkte sein Kopf etwas unförmig und man konnte ihn wohl kaum als ansehnlich bezeichnen, aber zumindest sah er sehr wichtig aus. Gegenüber von ihnen an einem Tisch saß ein groß gewachsener, kräftiger und nicht sonderlich intelligent erscheinender Kerl in Militäruniform aus den 1940er Jahren. Sein Gesicht war rund und durch seinen buschigen Schnauzbart erinnerte er entfernt an ein Walross. Seine linke Hand war etwas verkümmert aber ansonsten machte er eine sehr imposante Erscheinung. Die zusammengekniffenen Augen strahlten nicht unbedingt großen Intellekt aus, aber dafür wilde Entschlossenheit und eisernen Willen. Sein Sitznachbar war etwas älter und schmächtiger und wirkte im Gegensatz zum Walross weitaus gebildeter. Auch wenn er nicht weniger Erhabenheit und Überzeugung ausstrahlte, wurde man unfreiwillig bei seinem Anblick an die Fernsehfigur Bernd Stromberg erinnert, auch wenn die Bartfrisur nicht so ganz übereinstimmte. Diese vier skurrilen Gestalten waren sich emsig am Unterhalten und die anderen Leute im Raum waren so in ihren Bann gezogen worden, dass niemand Notiz von den zwei Eindringlingen nahm. Die vier eifrigen Redner waren mitten in einer leidenschaftlichen Debatte und es war fast schon bedauerlich, dass Lilith und Malachiel den Anfang verpasst hatten. „Ich sage, wir müssen diese verdammten Anhänger der Bourgeoise an die Wand stellen und mit Bleikugeln durchlöchern. Das ist der einzige Weg, um die Revolution voranzutreiben“, rief das Walross energisch und schlug mit der verkümmerten Hand auf den Tisch. „Wir erschießen jeden, der sich der proletarischen Revolution entgegenstellt und zeigen dem Volk, dass wir keine Kompromisse machen.“ „Kugeln sind doch viel zu teuer und leicht verschwendet“, gab der elegante Franzose zu bedenken. „Wir benutzen die Guillotine um uns den Konterrevolutionären, Klerikern und Adligen zu entledigen. Es geht kurz und schmerzlos und ist die effizienteste Hinrichtungsmethode. Kugeln kann man ja überleben. Wenn der Kopf ab ist, dann gibt es keine Chance.“ „Außerdem können wir ihre Köpfe dann aufspießen und sie dem Volke zur Schau stellen“, fügte der Badewannen-Gollum hinzu und nickte eifrig. „Ich verspreche es dir, mon ami! Nichts sorgt für mehr Stimmung als Enthauptungen und aufgespießte Köpfe. Die Leute jubeln dir dann in Massen zu! Und man setzt damit ein Zeichen, dass sich nichts der Freiheit und Gleichberechtigung entgegenstellt.“ „Also das ist etwas zu primitiv und barbarisch“, wandte der Stromberg-Verschnitt ein und zeigte sich etwas skeptischer, was das Vorhaben anbelangte. „Ich bin genauso wie alle dafür, dass wir die Gründung unserer gemeinsamen Revolution vorantreiben und alle Gegner restlos ausmerzen müssen. Aber aufgespießte Köpfe sind ja wohl doch etwas zu hinterwäldlerisch. Wir leben nicht mehr im 18. Jahrhundert. Ganz zu schweigen davon, dass euer Kalender überhaupt keinen Sinn ergibt und alles in einem unübersichtlichen Chaos und Massaker endet. Was wir brauchen sind klare Strukturen und Ziele, damit die proletarische Revolution erfolgreich ist.“ „Was ihr vorhabt, ist doch nichts weiter als eine Militärdiktatur“, gab der Kerl mit der gepuderten Perücke beleidigt zurück, denn er hatte sich eigentlich schon darauf gefreut, ein paar Köpfe rollen zu sehen. Immerhin hatte das zu seinen Lebzeiten zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gezählt. „Was hat denn das bitteschön mit Revolution zu tun, wenn ihr nicht mal Köpfe aufspießen wollt?“ „Für die einen ist es eine Militärdiktatur, für die anderen ist es die wahrscheinlich längste Revolution der Welt!“ winkte das Walross halbherzig ab, bekam aber sogleich einen Seitenstoß von seinem Sitznachbarn, der offenbar gar nicht so gut auf ihn zu sprechen war. „Du brauchst mir gar nichts von Revolution erzählen, Josef. Du hast alles in den Dreck gezogen, wofür ich so hart gearbeitet hatte. Hätte ich gewusst, dass du mir als Sekretär so viel Ärger machen würdest, hätte ich dich besser für den Putzdienst eingeteilt. Glaub bloß nicht, ich hätte dir die Sache mit Trotzki verziehen!“ „Du bist doch bloß neidisch, weil ich es tatsächlich zum Diktator gebracht hatte, im Gegensatz zu dir! Du musstest dir doch von den verdammten Deutschen helfen lassen, um überhaupt wieder nach Hause zu kommen!“ Es sah danach aus, als wollte ein Streit losbrechen zwischen den beiden Sitznachbarn am Tisch. Und auch deren Gefolgsleute begannen sich auf einmal anzubrüllen und zu prügeln. Zum Glück aber gelang es dem Rokoko-Franzosen, die beiden Streithähne wieder zu beruhigen und das Gespräch wieder in eine konstruktive Richtung zu lenken. „Meine Brüder, meine Freunde! Es bringt nichts, wenn wir uns zerstreiten, wo doch in uns allen das Herz der Revolution und Freiheit schlägt. Wir alle haben einen gemeinsamen Feind: die Herrscherklassen, die den einfachen Mann unterdrücken und verhungern lassen! Es ist unsere heilige Verantwortung, uns zu vereinen und gemeinsam gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen.“ „Max hat Recht“, stimmte der Badewannen-Gollum zu. „Als Väter der Revolution müssen wir an einem Strang ziehen. Ganz gleich ob Französisch oder Russisch. Gemeinsam werden wir die Welt verändern!“ Begeisterter Beifall ertönte und laute Rufe „Vive la liberté!“ und „Vive la révolution!“ waren zu hören. Diese leidenschaftliche kurze Rede hatte selbst die sich prügelnde russische Fraktion dazu gebracht, mit ihrer Zankerei innezuhalten und Beifall zu klatschen. Die beiden Russen, die sich nicht von zwei Franzosen in den Schatten stellen lassen wollten, beschlossen daraufhin, noch eine Schippe draufzusetzen und den Jubel für sich zu gewinnen. Energisch klatschte das Walross in die Hände und wirkte dabei so wild entschlossen und bitterernst, als wäre das hier eine Art Wettbewerb, den er um jeden Preis gewinnen musste. „Genossen, ihr seid wahrhafte Anhänger des revolutionären Geistes und eine Inspiration für das russische Proletariat. Gemeinsam werden wir die Mauern dieses Gefängnisses bezwingen und die Vorherrschaft der Bourgeoisie ein für alle Mal zerschlagen. Es lebe das Proletariat! Es lebe die Freiheit des einfachen Mannes!“ „Auf die Französisch-Marxistische Revolutionspartei!“ riefen alle begeistert und die Leute waren gar nicht mehr zu beruhigen. Es herrschte eine solche Feierstimmung als wäre die Revolution schon längst gewonnen. Malachiel beobachtete das ganze stirnrunzelnd und war gewissermaßen sprachlos, denn mit so etwas hätte er nicht gerechnet. Ungläubig wandte er sich an seine Begleiterin und fragte „Gehört das etwa zu deinem Plan?“ Liliths verschlagenes Grinsen sagte mehr als tausend Worte und diebischer Vorfreude meinte sie „Das sind doch die perfekten Kandidaten. Wo sonst findest du jemanden, der besser polarisieren könnte als Marx‘ Fanboy Nummer 1 Lenin oder den revolutionären Badewannendompteur Jean Paul Marat? Und solch kluge Köpfe brauchen entsprechende Leute, die die Beschlüsse in die Tat umsetzen. Dann hätten wir noch den Einfaltspinsel Stalin und den unbestechlichen Anwalt mit Größenwahn Maximilien “Mad Max“ Robespierre. Diese beiden sind die perfekten Leute für die grobe Arbeit. Das Beste daran ist: alle vier haben ein derart gewaltiges Ego, dass sie selbst Satan vor Neid erblassen lassen würden. Alles was wir tun müssen ist, sie auf die Hölle loszulassen und der Rest regelt sich von selbst. Überlass das ruhig mir.“ Als Lilith sich mit ihrer blassen und zierlichen Hand durchs Haar fuhr, begann sich langsam ihr gesamter Körper zu verändern. Sie gewann mehr an Größe und ihr kurzes schwarzes Haar mit dem lilafarbenen Schimmer wich nun hellen Locken, die im Licht wie silberne Kristalle glänzten. Ihre Augen nahmen einen wunderschönen Bernsteinton an und auch ihre Körperform wandelte sich von dem einer etwas unauffälligen jungen Frau zu einer makellosen Schönheit mit elfenbeinfarbener Haut. Es war, als würde sie einen Glanz ausstrahlen, der jeden augenblicklich in ihren Bann zog, der sie erblickte oder nah genug war, um ihn zu spüren. Mit einem Mal waren alle Augenpaare im Raum auf sie gerichtet und alle Anwesenden verstummten. Fast schon ehrfürchtig nahmen die Männer ihre Hüte ab und starrten sie an, als hätten sie eine Göttin erblickt. Das war die Wirkung, die Lilith auf alle Menschen, Dämonen und Engel dieser Welt ausübte. Sie war in ihren Augen das Sinnbild von Perfektion und Schönheit, die Verkörperung ihrer tiefsten Sehnsüchte und Träume. Und durch die Tatsache, dass sie als Eingeweihte bezüglich Gottes wahren Namen über eine fast schon engelhafte Aura ausstrahlte, wurde diese Wirkung nur noch verstärkt. Lilith war sich ihrer Wirkung auf andere durchaus bewusst. Ganz gleich ob Mann oder Frau, niemand konnte ihrem Charme widerstehen, der nicht direkt blutsverwandt mit ihr war. Und sie nutzte diese Anziehungskraft gerne zu ihrem Vorteil aus, wenn es die Dinge einfacher für sie machte. Da sie aber meist unnötige Aufmerksamkeit vermeiden wollte und lieber unbehelligt blieb, wählte sie stattdessen eine Gestalt, die nicht so begehrenswert auf andere wirkte. „Schönen guten Tag, meine Herren“, grüßte Lilith und schritt anmutig in die Mitte des Raums auf die vier Redner zu. Hastig machte man ihr Platz, manche verneigten sich sogar ehrfürchtig vor ihr. „Das war wirklich eine beeindruckende Rede, die Sie gehalten haben. Man sieht, dass das einfache Volk Ihnen wirklich am Herzen liegt.“ Robespierre war der Erste, der sich von Liliths Glanz erholt hatte und etwas halbwegs Vernünftiges zusammengestottert bekam. Hastig verneigte er sich und murmelte „Excuse-moi, Madame. Ich hatte Sie bislang nicht bemerkt.“ „Schon gut“, winkte die Dämonenmutter ab und kam direkt zum Punkt. „Ich bin hergekommen weil ich dachte, dass Sie für Ihre Sache dringende Unterstützung gebrauchen könnten. Sie alle leben hier eingepfercht wie eine Herde Schweine im Schlachterbetrieb, wo Sie doch noch so viel für das Volk bewegen könnten. Deshalb will ich Ihnen die Chance geben, die Sie zu Lebzeiten verspielt haben: ich befreie Sie aus diesem trostlosen Gefängnis, damit Sie erneut etwas bewegen können. Die Hölle leidet unter dem erbarmungslosen und selbstsüchtigen Regiment der Monarchie. Während der einfache Dämon unter der Last der Arbeit zusammenbricht, sitzt Satan als König der Hölle in seinem goldenen Palast und will von all diesen Dingen nichts wissen. Alle, die versucht haben sich gegen diese Ungerechtigkeit aufzulehnen, wurden gnadenlos verfolgt und weggesperrt oder exekutiert. Was die Hölle jetzt braucht sind wahre Helden der Revolution, die selbst den Teufel das Fürchten lehren können. Also meine Herren… kann ich mit Ihrer Unterstützung rechnen?“ Keiner stellte Fragen. Niemanden schien es überhaupt zu wundern, wer diese Frau war und warum sie so plötzlich aufgetaucht war. Sie alle waren so sehr von ihrer Schönheit und ihrer Ausstrahlung in Bann gezogen worden, dass sie zu allem Ja und Amen gesagt hätten, was Lilith von ihnen verlangt hätte. Es brauchte nicht einmal großartige Überzeugungskünste um diese vier schrägen Vögel für sich zu gewinnen. Sie alle hingen an ihren Lippen und waren wie hypnotisiert. Darum brauchte es auch keine allzu großen Reden und alle brachen in einen begeisterten Jubel aus. Stalin, der sich nur zu gerne ins Rampenlicht drängelte um seinen Kollegen den Rang abzulaufen, rief sofort „Genossen, vereint werden wir die Mauern des Kapitalismus einreißen und die Säulen der Bourgeoisie in ihren Grundfesten erschüttern. Auf in den Kampf!“ Die französische Fraktion um Robespierre und Marat stimmten gemeinsam mit den Russen in einen tosenden Beifall und erhoben ihre Bajonette, Fackeln, Speere und Heugabeln während die Kommunisten ihre Gewehre und Pistolen mit einem wilden Kampfschrei in die Luft hielten. Sie hatten Blut geleckt und wollten nun Köpfe rollen sehen. Lilith ging daraufhin zur Tür, öffnete sie und wies sie mit einer Handbewegung nach draußen. „Der Weg steht euch frei!“ Robespierre und Lenin waren die Ersten, die nach draußen stürmten und die wilde Meute laut brüllend anführten. Kurz darauf folgte Stalin und das Schlusslicht bildete Marat, der seine Badewanne selbst in dieser Situation nicht verlassen wollte. Stattdessen befahl er vier französischen Revolutionären, die Wanne an einer Art Tragegestell zu befestigen und ließ sich einfach in seiner nun mobilen Badewanne hinaustransportieren. Mit lautem Geschrei waren die Revolutionäre und Kommunisten binnen weniger Sekunden aus der Zelle verschwunden und begannen nun damit, die anderen Gefangenen zu befreien und einen Aufstand gegen die Führungsetage der Hölle anzuzetteln. Malachiel und Lilith sahen der protestierenden Meute nach und waren sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis. Es würde garantiert nicht lange dauern, bis im Gefängnis der Ausnahmezustand eintreten würde. Während die Gefängniswärter alle Hände damit zu tun hatten, die Kommunisten und Jakobiner aufzuhalten, eilten Lilith in die entgegengesetzte Richtung weiter und hörten auch schon die Sirene losgehen, die das gesamte Personal in Abbadon über den Ausbruch warnte. Während die dämonischen Wächter aus Gehenna nach Sheol eilten um den Aufstand wieder einzudämmen, schlichen Malachiel und Lilith unerkannt weiter. „Das hat ja leichter geklappt als ich gedacht habe“, meinte der Halb-Seraph immer noch überrascht. „Du verstehst es ja echt, die Leute in deinen Bann zu ziehen, was?“ „Mit Menschen ist das ja auch keine große Kunst“, winkte Lilith ab und öffnete das Tor zu Gehenna, welches durch ein satanisches Blutsiegel verschlossen war. „Die sind halt alle ziemlich schwach im Geiste. Kommt eben davon, wenn man ausgerechnet Dumpfbacken wie Adam und Eva als Vorfahren hat.“ „Ja aber so ganz verstehe ich nicht, was der ganze Verkleidungskram und die Heimlichtuerei soll. Ich meine… mit deiner Ausstrahlung kannst du doch problemlos hier reinspazieren und frei herumlaufen, wenn dir sowieso alle zu Füßen liegen.“ „So einfach ist das nun mal nicht“, seufzte die Dämonin und verschloss das Tor hinter Malachiel, damit ihr Einbruch unbemerkt blieb. „Es ist nun mal halt ein verdammt einsames Gefühl, wenn dich die ganze Welt liebt, aber keiner dich mag. Genau deshalb sind meine Kinder die einzigen, die mir wirklich wichtig sind. Und jetzt komm schon, wir haben’s gleich geschafft.“ Malachiel folgte ihr schweigend und dachte dabei über ihre Worte nach. Er hatte es noch nie so wirklich aus diesem Licht betrachtet. So wie Lilith auf ihn gewirkt hatte, schien sie eher zu den Frauen zu zählen, die ihre weiblichen Reize spielen ließen um das zu bekommen was sie wollten. Aber andererseits konnte das natürlich auch auf die Dauer frustrierend sein. Jeder sah in ihr nur die absolute Personifizierung aller Begierden und Träume, da kümmerte es kaum jemanden, wer sie eigentlich war. Vielleicht war das ja auch einer der Gründe, warum Lilith seit dem Desaster mit Adam nie wieder geheiratet hatte. Zumindest schien ihr die Rolle als Mutter und gelegentliche Querulantin zu genügen. Letzten Endes konnte er wirklich froh sein, dass er ihr über den Weg gelaufen war. Ansonsten hätte er vermutlich in hundert Jahren nicht den Weg hierher gefunden. Nun, da sie in Gehenna waren, legten sie einen Zahn zu und nahmen einen der Wärter gefangen und zwangen ihn dazu, ihnen zu verraten in welcher Zelle Nazir gefangen gehalten wurde. Nachdem sie die Treppe in die obere Etage erklommen hatten, fanden sie die Tür mit der richtigen Nummer und öffneten sie. Nazir war mit schweren Fesseln an die Wand gekettet und sah etwas mitgenommen aus. Aber er schien sonst keine ernsthaften Verletzungen zu haben und sah erst ziemlich erschrocken aus als er merkte, dass die Tür geöffnet wurde. Dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen glaubte er wohl, dass jemand gekommen sei um ihn zu foltern. Doch als er Malachiel und Lilith sah, weiteten sich seine Augen vor Überraschung und seine Kinnlade klappte herunter. „Meister? Mama? Was… was macht ihr…“ Weiter kam er nicht, denn da übermannten Lilith endgültig ihre Mutterinstinkte und sie eilte zu ihm hin, drückte ihn liebevoll und streichelte ihm zärtlich den Kopf. „Mein armer kleiner Spatz. Du brauchst dir jetzt keine Sorgen mehr machen. Mama ist ja jetzt da und holt dich sofort wieder raus. Sag schon, haben sie dir irgendetwas angetan? Hast du irgendwo Schmerzen? Kannst du dich bewegen?“ Der Anblick war wirklich herzerwärmend, das musste selbst Malachiel zugeben. Und da er diesen bewegenden Moment nicht ruinieren wollte, hielt er sich erst mal im Hintergrund und gönnte den beiden ihr rührendes Wiedersehen. Er selbst war einfach nur erleichtert, dass Nazir noch lebte und man ihm nicht allzu schlimm zugesetzt hatte. Vielleicht waren sie schnell genug gewesen, bevor irgendetwas Unschönes passieren konnte. Mit einem zufriedenen Lächeln beobachtete er Mutter und Sohn und bedauerte es fast schon, dass er selbst nie die Freuden einer Kindheit genießen konnte. Nachdem Nazir von sämtlichen Fesseln befreit war, nahm Lilith ihn wieder in den Arm, sprach ihm tröstend zu und war dabei selber so sehr von ihren Gefühlen überwältigt, dass ihr sogar die Tränen kamen. Man mochte über diese Frau sagen was man wollte, aber sie war wirklich mit Leib und Seele Mutter und liebte ihre Kinder über alles. „Es tut mir so leid, dass du so etwas Schlimmes durchstehen musstest, mein kleiner Engel“, schluchzte Lilith und Tränen rannen ihre elfenbeinfarbenen Wangen hinunter. „Das wäre alles nicht passiert, wenn ich früher da gewesen wäre.“ „S-schon gut, Mama. Ich lebe ja noch“, beschwichtigte Nazir sie und klopfte ihr tröstend auf den Rücken. Er selbst nahm seine Gefangennahme und den Verrat seiner Geschwister deutlich gefasster auf als sie. Vielleicht hatte er tief drin schon geahnt, dass es vielleicht so kommen würde und war trotzdem dieses Risiko eingegangen, weil er noch Hoffnung hatte. „Eigentlich hätte ich damit rechnen sollen, dass so etwas passieren wird. Aber ich hab’s erst zu spät gemerkt. Tut mir leid, dass ich euch so große Probleme bereitet habe.“ „Hey, das war deine Familie“, mischte sich Malachiel ein. „Keiner macht dir Vorwürfe dafür, dass du dachtest, du könntest deiner Familie vertrauen. Und jetzt lasst uns besser schnell wieder verschwinden, bevor es wieder Ärger gibt. Ich schlage vor, du gehst wieder zurück nach Hollingsworth wo du sicher bist und ich geh den Job erledigen. Nach diesem Fiasko will ich dich nicht noch mehr in Schwierigkeiten bringen.“ „Was?“ fragte Nazir fassungslos und löste sich von seiner Mutter. „Ja aber… ich will doch helfen! Meister, es tut mir leid, dass ich es verbockt habe und dass Ihr meinetwegen so viel Arbeit hattet. Aber habt Ihr mir nicht auch beigebracht, dass man eine Sache bis zum Ende durchziehen soll, wenn man etwas unbedingt will?“ „Das gilt vielleicht für Schule, Sex und Banküberfälle aber nicht für so etwas“, rief Malachiel gereizt und konnte nicht glauben, dass Nazir immer noch so besessen von dieser Idee war, ihn bis zum Fegefeuer zu begleiten. Vor allem weil der arme Kerl auch noch dachte, das Ganze wäre allein seine Schuld. „Wäre ich deiner Mutter nicht über den Weg gelaufen, hätten sie dich hingerichtet bevor ich dieses verdammte Gefängnis gefunden hätte. Und ich gehe garantiert nicht noch mal ein Risiko ein. Dieser Ausflug hat nicht mal etwas im Entferntesten mit deinem Studium zu tun und bringt dich dahingehend auch nicht weiter. Du bringst dich nur in Gefahr und sonst nichts! Also entweder gehst du freiwillig zurück oder es gibt Hausarrest!“ „Nein!“ protestierte Nazir energisch und stapfte mit dem Fuß auf dem Boden. „Ich habe gesagt, dass ich Euch helfen werde und dabei bleibt es. Das ist Teil der Abmachung dafür, dass Ihr mir helft, ein Engel zu werden! Also bleibe ich auch und ziehe das verdammt noch mal bis zum Ende durch.“ Geschlagen seufzte Malachiel und schüttelte fassungslos den Kopf. Warum um alles in der Welt musste sein Schüler manchmal so ein Sturkopf sein? Von wem hatte er das überhaupt? Lilith ihrerseits schien sich eher weniger über die Hartnäckigkeit ihres Sprösslings zu sorgen. Stattdessen grinste sie mit vor Freudentränen glänzenden Augen wie die stolzeste Mutter auf Erden und seufzte „Ach mein kleiner Engel in seiner rebellischen Phase… Das macht mich so wahnsinnig stolz!“ „Du bist hier gerade keine Hilfe, Lilith!“ ermahnte der Halb-Seraph eindringlich und wollte sich nicht so schnell weichkochen lassen. „Wir können nicht riskieren, dass Nazir schon wieder ins Visier gerät und noch jemand versucht, ihn hinterrücks abzumurksen. Er kann hier nicht bleiben!“ „Das sehe ich aber anders“, wandte Nazir ein, der nach wie vor fest entschlossen war, sich seinem Mentor zu beweisen. „Ich bin nur gefangen worden, weil wir uns voneinander getrennt haben. Wenn ich also jetzt alleine gehe, dann bin ich in größerer Gefahr als wenn ich an Eurer Seite bleibe.“ „Da hat er nicht unrecht“, pflichtete seine Mutter ihm bei, stellte sich neben ihm und legte ihm als unterstützende Geste eine Hand auf die Schulter. „Bei mir und dir ist er viel sicherer als in deinem kleinen Pfarrhaus. Also macht es mehr Sinn, wenn er bei uns bleibt, damit wir zusammen auf ihn aufpassen können. Wir gehen gemeinsam nach Pandämonium und reaktivieren das Fegefeuer. Ich habe sowieso noch ein Hühnchen mit seinem Vater zu rupfen. Niemand setzt ungestraft ein Kopfgeld auf meinen kleinen Spatz hier aus!“ Tja, da konnte man wohl nichts machen. Egal wie viel er auch protestieren und argumentieren würde, die beiden hatten bereits ihren Entschluss gefasst und es schien unmöglich zu sein, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. An dieser Stelle war es hoffnungslos, sie zur Besinnung zu bringen. Und vielleicht hatte Nazir mit seiner Argumentation nicht ganz Unrecht. Aber es gefiel Malachiel auch nicht, seinen Schüler weiterhin in der Hölle herumlaufen zu lassen wenn sein alter Herr ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatte und er nicht mal vor seiner eigenen Familie sicher war. Kapitel 24: Szenen einer (Nicht)beziehung ----------------------------------------- Pandämonium war das unangefochtene Prunkstück der Hölle und das Wahrzeichen für Dekadenz und Ausschweifungen aller Art. Hier lebte die High Society weit entfernt von den Sorgen und Nöten der niederen Dämonen und schwelgte im nie enden wollenden Luxus. Nur die auserkorenen gefallenen Engel und jene, die in der Gunst Satans und seiner engsten Gefolgschaft standen, war es erlaubt, überhaupt einzutreten. Hier zu wohnen war fast schon unmöglich wenn man nichts vorzuweisen hatte. Es war ein atemberaubender Anblick, der nicht wenige Menschen zu dem Irrglauben geführt hätte, dass dies hier das eigentliche Paradies sei. Nun, in gewisser Hinsicht war dieser Gedanke gar nicht so verkehrt. Immerhin lebte es sich hier deutlich besser als in den anderen Höllenkreisen. Wenn man als Mensch nach dem Tode hierhergekommen wäre, dann hätte man tatsächlich sagen können, dass dies hier wie eine Art zweites Paradies war. Nur wurde es halt nicht von einer Horde spießiger Kuttenträger bewacht. Dumm nur, dass Menschen hier keinen Zutritt hatten und die mächtigsten Bewohner der Hölle diesen Platz ganz allein für sich reserviert hatten. Also hatte man nicht wirklich etwas davon. Zentrum dieses Ortes bildete der gigantische goldene Palast, in welchem Satan selbst residierte. Eigentlich hätte auch sein Sohn hier in all dem Luxus aufwachsen können, wenn dieser nicht so eine Enttäuschung für seinen alten Herrn gewesen war. Und um diesen unliebsamen Schandfleck wieder loszuwerden, hatte Satan bei der nächstbesten Gelegenheit die Vaterschaft verleugnet und seinen Sprössling nach Dis abgeschoben. Natürlich in der Hoffnung, ihn nie wieder sehen zu müssen. Und kaum, dass ihm zu Ohren gekommen war, dass sein Sohnemann vorhatte, zur anderen Seite zu wechseln (was natürlich wie Salz auf Satans Wunden war), hatte der Regent der Hölle ein stattliches Kopfgeld auf ihn aufgesetzt. Derjenige, dem es gelingen würde, ihm den Verräter Nazir auszuliefern, würde nicht nur enorme Reichtümer erhalten, sondern auch einen Platz in Pandämonium. Für Satan stand endgültig fest, dass er diesen unliebsamen Schandfleck vom Antlitz der Welt vertilgen wollte. Nicht auszumalen was sein Gefolge denken würde wenn sich herumsprach, dass der Sohn des obersten Herrschers ein verweichlichter Waschlappen war, der nicht einmal zu einem anständigen Dämon taugte. Er würde zum Gespött seiner gesamten Gefolgschaft werden. Wo gab es denn überhaupt so etwas, dass der eigene Sohn derart missraten konnte? Für ihn hatte festgestanden, dass Nazir unmöglich sein Sprössling sein konnte. Der Sohn Satans war ein Tyrann, der seine Feinde mit Terror und Gemetzel unterwarf und die Welt ins Chaos stürzte. Aber stattdessen faselte Nazir schon seit er sprechen konnte nur von Engeln und Nächstenliebe. Mit Sicherheit war ihm dieses Balg bloß untergeschoben worden. Wer konnte denn schon sagen, mit wem Lilith noch alles geschlafen hatte? Garantiert hatte die Frau selber keine Ahnung, welches ihrer Kinder von welchen Vätern war. Naja, zum Glück war es bald vorbei. Nazir war erfolgreich festgenommen worden und würde am kommenden Sonntag als Verräter der Hölle hingerichtet werden. Dann konnte er endlich wieder ruhig schlafen. Tief in Gedanken versunken saß Satan auf seinen Thron, der von den besten Goldschmieden und Zimmerleuten in der Hölle angefertigt worden war. Alles in seiner geliebten Hauptstadt war schöner und prachtvoller als alles, was die Menschen zu erschaffen vermochten. Mit Pandämonium hatte er ein Zeichen gesetzt, dass er den Himmel nicht brauchte, um wie ein wahrer König der Könige zu leben. Jeder würde töten, um auch nur einen Blick auf das höllische Paradies zu werfen und alle priesen seinen Namen, dass sie hier in der Hölle in größerem Luxus leben könnten als sie sich im Himmel zu träumen gewagt hatten. Was die Engel alles als sündhaft verdammten, fand man hier. Es gab hier sogar W-LAN Empfang! Wenn die Engel im Himmel von all diesen Reichtümern wüssten, würden sie vor Neid erblassen und ihren Entschluss bedauern, einem alten Knauser wie Gott hörig zu sein, der bloß Sittsamkeit, Keuschheit und Enthaltsamkeit predigte. Davon konnte man sich auch keinen Blumentopf kaufen. Ein lautes Klopfen erklang an der Tür und vorsichtig wurde sie geöffnet. Herein trat Jetarel, seines Zeichens gefallener Engel, dämonischer Botschafter und quasi Satans Empfangsdame und Sekretär. Im Grunde war er ein anständiger Kerl, allerdings war ihm die Tatsache zum Verhängnis geworden, dass er eine verdammte Klatschtante war. Aber zumindest war er ziemlich nützlich wenn es darum ging, auf den aktuellsten Stand gehalten und über die Geschehnisse in der Hölle informiert zu werden. Hastig eilte der gefallene Engel zu ihm und wirkte völlig aus dem Häuschen. „Satan, ein Problem! Ein Riesenproblem!“ „Was für ein Problem?“ fragte der Herrscher der Hölle ungeduldig. „Sprich gefälligst deutlicher, Jetarel. Oder soll ich dir die Infos einzeln aus der Nase ziehen?“ Mit unbeholfenen Gesten begann der höllische Botschafter mit den Armen herumzufuchteln, fand aber kaum die passenden Worte dazu. „Er kommt… also sie… ich meine… sie kommen! Der Halb-Engel und Lilith, in Begleitung mit dem Verräter.“ „Welchen Verräter? Du musst schon etwas präziser sein, verdammt noch mal.“ „Nazir, Euer Sohn! Sie haben die Wachen überwältigt und sind auf direktem Weg zu Euch. Sie wollen mit Euch sprechen!“ Hier hielt Satan inne und dachte nach. Ein Halb-Engel? Meinte er damit etwa Malachiel? Was hatte der denn hier in der Hölle verloren? Und warum waren Lilith und sein Sohn bei ihm? War Nazir nicht eigentlich eingesperrt? Verdammt, da war doch irgendetwas im Busch. „Gibt es sonst noch irgendwelche Neuigkeiten von denen ich wissen sollte?“ Hastig nickte Jetarel und gestand kleinlaut „In Abbadon ist es zu einem Gefängnisaufstand gekommen. Die französischen Revolutionäre und die russischen Kommunisten haben sich zusammengeschlossen, sind aus ihren Zellen ausgebrochen und sind nun dabei, sämtliche Gefangene zu befreien. Sie sagen, sie wollen die Monarchie stürzen und ein neues System einführen um den kleinen Mann aus der Unterdrückung zu befreien. Was auch immer das heißen mag… Mehrere Dämonen haben sich diesem Aufstand bereits angeschlossen und die Wärter können die Revolte kaum eindämmen.“ Satan brauchte nicht lange zu überlegen um zu verstehen, wie das passieren konnte. Da steckte doch garantiert Lilith dahinter und das alles war eine Racheaktion weil sie spitzgekriegt hatte, dass ihr Kind eingesperrt worden war. Diese Frau machte ihm aber auch ständig Ärger, nur weil sie ihren eigenen Kopf haben musste. Kein Wunder, dass Adam damals die Schnauze voll von solchen Weibern hatte. Unter normalen Umständen hätte er solche Problemfälle verhaften lassen, aber da es sich bei den Eindringlingen ausgerechnet um Malachiel und die mächtigste Frau der Welt handelte, machte es keinen Sinn, die Wachen loszuschicken. Die würden doch eh keine Chance haben, also konnte er das Ganze genauso gut abkürzen. „Lass sie rein. Wenn Malachiel mit von der Partie ist, muss es sich um etwas Wichtiges handeln. Und was die Revolte angeht: schick Verstärkung nach Abbadon, notfalls auch die Elite-Legion. Ich will keine weiteren Aufstände mehr haben und nichts mehr über soziale Gleichberechtigung oder Mindestlöhne hören.“ Zuerst wollte der gefallene Engel etwas sagen und schien nicht ganz überzeugt zu sein. Doch da er sich lieber nicht mit dem Herrscher der Hölle anlegen wollte, verneigte er sich nur und eilte hastig wieder raus. Es dauerte keine fünf Minuten, als die Tür wieder mit einem lauten Knall geöffnet wurde und Lilith, Malachiel und Nazir hereinkamen. Allein der Anblick seines Sohnes reichte aus um ihm die Galle wieder hochkommen zu lassen. „Was wollt ihr hier und warum schleppt ihr mir diesen Verräter da an? Ich habe ihn höchstpersönlich aus Pandämonium verbannt und…“ „Du hältst jetzt mal schön die Kauleiste still, Freundchen“, unterbrach Lilith ihn und erhob drohend den Zeigefinger als sie näher kam. Sie war verdammt sauer, das sah man sofort. Doch davon ließ sich Satan nicht beeindrucken. Diese Frau konnte von Glück reden, dass sie so gut aussah, ansonsten hätte er sie schon längst einen Kopf kürzer gemacht. „Was musste ich da erfahren? Du hast ein Kopfgeld auf unseren Sohn ausgesetzt? Schämst du dich denn nicht? So tief kannst ja nicht mal du sinken! Was fällt dir überhaupt ein, so über Nazir zu sprechen?“ Das reichte nun endgültig. Er ließ sich hier mit Sicherheit nicht von einer Frau derart anbrüllen. Glaubte sie etwa, sie könnte sich alles erlauben nur weil sie wusste, wie sie ihren Körper einzusetzen hatte? Mit ernster Miene erhob er sich von seinem Thron und schaute mit finsterem Blick auf Lilith herab. „Ich mache hier was ich will, kapiert? Ich bin immer noch der Herrscher über die Hölle und dieser Versager da ist ein Verräter und wird dementsprechend als solcher behandelt. Und ich sage es dir noch mal: das da ist garantiert nicht mein Sohn. Du hast dich doch bloß von irgendjemandem schwängern lassen und willst mir jetzt diesen Bastard da unterschieben. Wenn du denkst, dass eine untreue Hure wie du mich täuschen kann, dann bist du gewaltig auf dem Holzweg!“ Wenn es etwas gab, das Lilith überhaupt nicht abkonnte, dann waren es Lästereien oder Schikane gegen ihre Kinder, oder wenn man sich über ihre Lebensweise lustig machte. Nun war für sie die zweite goldene Grenze überschritten und In diesem Augenblick wurde selbst Satan klar, dass er jetzt verdammt großen Ärger am Hals hatte. Als er den Zorn in ihren bernsteinfarbenen Augen aufflammen sah und ihre sonst so engelsgleiche Ausstrahlung in eine mordlustige Aura umschlug, beschloss er, doch lieber ein wenig zurück zu rudern. „Hör mal Lilith, wir können…“ Doch weiter ließ sie ihn nicht sprechen, denn da holte sie aus und verpasste ihm einen kräftigen Faustschlag ins Gesicht. Die übermenschliche Kraft und die gewaltige Wucht des Schlages rissen den Herrscher der Verdammten von den Füßen und er prallte gegen die Wand. Doch selbst die vermochte ihn nicht abzubremsen und stürzte gleich mit ein. „Glaubst du etwa, ich bin hier so etwas wie dein kleines Frauchen, oder was?“ rief Lilith wütend, stieg über die Trümmer drüber, packte Satan am Kragen und zerrte ihn hoch. „Jetzt schreib dir mal eins hinter die Ohren: ich bin nicht deine Frau, wir sind nicht zusammen und du hast mir hier nicht vorschreiben, wie ich mein Leben zu führen habe. Ich kann die ganze Welt durchficken und es hat dich einen Scheißdreck zu interessieren. Du hast Nazir als deinen Sohn akzeptiert und ihn aufgezogen als er klein war. Aber kaum rebelliert er und lebt so wie er will, revidierst du alles wieder weil er dir auf einmal peinlich ist und setzt dann ein Kopfgeld auf ihn aus! Du darfst dich wie ein Rebell aufführen und dich dafür feiern lassen, aber deinen Sohn verstößt du und willst ihn am liebsten umbringen lassen. Ich glaube du bist bei deinem Rausschmiss aus dem Himmel zu hart auf den Kopf gefallen! Na warte, Freundchen. Jetzt kannst du was erleben!!!“ Damit hob Lilith Satan hoch und schleuderte ihn quer durch den gesamten Raum. Satan prallte dabei gegen eine Statue, die mit einem lauten Knall zu Boden fiel und beim Aufprall zerbrach. Doch das war noch lange nicht genug. Ohne ihm auch nur eine kurze Ruhepause zu gönnen, ging die Dämonenmutter zu einem Sockel auf den eine bemalte Vase stand, warf die Vase achtlos zu Boden und schleuderte stattdessen den Sockel in Satans Richtung und traf ihn am Kopf. Malachiel und Nazir sahen sich diese gewaltsame Auseinandersetzung noch einen Moment an, doch als dann auch schon die ersten Gegenstände in ihre Richtung flogen, hielt Lilith kurz inne, wandte sich ihnen zu und rief „Ihr zwei solltet besser rausgehen. Der ganze Raum wird gleich offiziell zur Spritzzone!“ Nazir, der ein bisschen auf dem Schlauch stand, zog irritiert die Augenbrauen zusammen und fragte „Was meinst du damit? Was hast du vor?“ Doch Malachiel reagierte geistesgegenwärtiger, ergriff seinen Schüler am Arm und eilte schnell mit ihm nach draußen. „Glaub mir, das willst du lieber nicht mit ansehen“, meinte der Halb-Engel und verschloss hastig die Tür um auch ganz sicherzugehen. Kaum, dass die Tür ins Schloss fiel, hörten sie von der anderen Seite lautes Geschrei, Klirren von Porzellan und Glas und Scheppern von Metall. Hin und wieder knallte auch etwas gegen die Tür und nicht einmal Gott vermochte zu sagen, was sich da in dem Raum gerade abspielte. Man konnte nur hoffen, dass die Wände und Türen dieser gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen den beiden mächtigsten Wesen der Hölle standhielten. „Tut mir leid, dass Ihr wegen mir so viel Ärger habt und das hier auch noch mit ansehen musstet“, seufzte Nazir schließlich und ihm war anzusehen, dass ihm diese Situation ziemlich peinlich war. „So schlimm haben sich meine Eltern seit meiner Verbannung aus Pandämonium nicht mehr gestritten.“ Malachiel, der seinerseits nicht so wirklich wusste was er dazu sagen sollte, klopfte seinem Schüler aufmunternd auf den Rücken und meinte nur „Mach dir keine Gedanken deswegen. Du bist ein guter Junge!“ Eine ganze Weile warteten sie vor dem Thronsaal und hörten nur lautes Fluchen, Scheppern und zwischendurch auch lautes Donnern. Dann plötzlich knallte die Tür auf und Satan flog schreiend durch die Luft und prallte mit dem Rücken gegen eine Rüstung, die zur Dekoration im Flur stand. Er sah wirklich mitgenommen aus hatte ziemlich viel abgekriegt. Sein Gesicht war lädiert und blutig, sein linker Flügel war völlig zerknickt und er schaffte es nicht einmal, vernünftig auf die Beine zu kommen. Stattdessen stapfte Lilith aus dem Thronsaal heraus und rieb sich ihre blutverschmierten Fingerknöchel. Sie wirkte auch etwas mitgenommen, allerdings noch in vergleichsweise ziemlich guter Verfassung. Ihre elfenbeinfarbene Haut hatte ein paar Blessuren und Kratzer und ihr Haar war etwas zerzaust. Ansonsten wirkte sie noch topfit für eine zweite und dritte Runde. Ohne auf Malachiel und Nazir zu achten ging sie direkt auf Satan zu, packte ihn am Fuß und schleifte ihn wieder gewaltsam in den Thronsaal zurück, wobei sie wetterte: „Glaub bloß nicht, ich wäre mit dir fertig, Freundchen. So leicht kommst du mir nicht davon!“ Was genau sich dann abspielte, vermochte niemand zu sagen. Keiner wollte auch so wirklich nachsehen, was für Szenen des Grauens sich in diesem Raum abspielten. Aber Satans Schreie und sein fast schon verzweifeltes Betteln ließen zumindest erahnen, was für ein Martyrium er da gerade durchstehen musste. „Ja die Hölle kennt keine Wut wie die einer verschmähten Frau“, meinte Malachiel dazu. „Aber wehe dem, der den geballten Zorn einer rachsüchtigen Mutter zu spüren kriegt.“ „Ein bisschen tut er mir schon leid“, murmelte Nazir. „Meint Ihr, wir sollten dazwischengehen?“ „Besser nicht“, antwortete sein Mentor kopfschüttelnd und wollte sich lieber nicht diesen Machtkampf mit ansehen. Er wusste aus Erfahrung, dass das kein schöner Anblick sein würde und das wollte er seinem Schützling lieber ersparen. „Das müssen die unter sich ausmachen! Ansonsten gerätst du nur ins Kreuzfeuer und kriegst selber noch ein blaues Auge…“ Nach einer Weile hörte man nur noch ein klägliches Wimmern und Schluchzen aus dem Thronsaal. Schließlich kam Lilith heraus, die zufrieden strahlte und ziemlich ausgeglichen wirkte. Die Blutflecken auf ihrer Kleidung und ihre verschmierten Hände ließen erahnen, was sich da gerade abgespielt hatte. Mit einem dunklen Stofffetzen, der definitiv nicht von ihrer Kleidung stammte, machte sie sich provisorisch die Hände sauber und versuchte im Anschluss ihr zerzaustes Haar wieder zu bändigen. Dann wandte sie sich Nazir zu und grinste wie die stolzeste Mutter auf der Welt. „So, mein Schatz! Ich habe noch mal mit deinem Papa geredet und es tut ihm wahnsinnig leid, dass er so gemein und unsensibel zu dir war. In Zukunft wird er dich in Ruhe lassen und dafür sorgen, dass dich auch alle anderen nett behandeln und dir nichts passiert.“ Dann wandte sie wieder den Blick wieder in Richtung Thronsaal und rief mit eiskalter Stimme „Hab ich Recht, Satan?“ Ein leises Wimmern war das Einzige, was aus dem Raum drang und offenbar schaffte es der König der Hölle nicht einmal mehr, irgendein Wort hervorzubringen. Malachiel empfand fast schon so etwas wie Mitleid für ihn und wollte lieber nicht in Satans Haut stecken. „Also braucht Nazir keine Gefahr mehr zu befürchten?“ „Nein“, antwortete Lilith kopfschüttelnd und fand ihr zuckersüßes Lächeln wieder. „Ich habe Satan gesagt, dass ich ihm noch viel Schlimmeres antun werde, wenn mein kleiner Engel auf irgendeine Art und Weise verletzt wird. Und als erste Frau bin ich von Natur aus misstrauisch. Wenn mein Liebling also durch einen unglücklichen Unfall stürzt, durch schlechtes Essen krank wird oder sich sonst irgendetwas tut, werde ich sofort davon ausgehen, dass ein Dämon dahintersteckt. Und dann wird Satan den Tag bereuen, dass er mir über den Weg gelaufen ist.“ „Nach der Abreibung tut er das vermutlich jetzt schon“, kommentierte der Halb-Engel und wollte sich lieber nicht ausmalen, was Lilith mit Satan angestellt hatte um ihn derart zum Weinen zu bringen. Eines war jedenfalls so sicher wie das Amen in der Kirche: Mütter konnten echt furchteinflößend sein. „So, da wir hier fertig sind, werde ich euch zum Fegefeuer bringen“, schlug die Dämonenmutter vor. „Dann habt ihr endlich euren Auftrag erfüllt und hoffentlich können wir diese dämliche Krise ein für alle Mal abhaken.“ Damit folgten sie Lilith durch den Palast bis sie einen riesigen gefrorenen See erreichten, auf dessen anderer Seite ein riesiges Tor lag. Was sofort auffiel war, dass in diesem gefrorenen See Schemen von Lebewesen zu erkennen waren. Bei genauerem Hinsehen konnte man Dämonen erkennen, die darin eingesperrt waren und vermutlich schon längst ihr Leben ausgehaucht hatten. Dies waren die ersten Verräter, die damals durch das Fegefeuer in den Himmel flüchten wollten um dem tristen Leben der Hölle zu entkommen. Früher hatte man diese Dämonen in den See geworfen und sie darin eingefroren. Aber irgendwann war der Platz knapp geworden, weshalb man das Abbadon-Gefängnis um einen weiteren Trakt ergänzt hatte und die Verräter nun auf klassische Methode hinrichtete. Es hatte also schon etwas ziemlich Makabres an sich, über einen gefrorenen See voller Verräter zu laufen. „Oh Mann, die hätten das Fegefeuer auch leichter zugänglich machen können“, seufzte Malachiel kopfschüttelnd. „Es findet doch kein Schwein hierhin.“ „Das war ja auch damals nur provisorisch“, erklärte Lilith, die sich selbst mit ihren High Heels problemlos über die glatte Eisfläche bewegen konnte. „Es sollte damals noch ein Tor im ersten Höllenkreis und eines im Himmelstribunal errichtet werden. Das Provisorium hat man ausgerechnet hier aufgebaut, damit das ganze Vorhaben geheim bleibt und nichts nach außen dringt. Aber letzten Endes hat es ja auch nichts gebracht und diese Schauergeschichten ums Fegefeuer haben sich schneller verbreitet als die Pest. Tja… dann ist das Projekt bekanntermaßen stillgelegt worden und aus den Extratoren ist dann natürlich nichts mehr geworden. Eigentlich hatte Chananel das Projekt betreut, aber nachdem er zu einem gefallenen Engel wurde, vertreibt er sich jetzt die Zeit irgendwo in Pandämonium und genießt das Leben.“ „Und wie ist das Fegefeuer so?“ hakte Malachiel aus Neugier nach. Da er selbst nicht allzu viel von dem Projekt mitbekommen hatte, kannte er natürlich keine Details. Und wenn er schon reingehen musste um das Ding wieder in Gang zu bringen, war es natürlich von Vorteil, wenn er ein paar Vorabinformationen bekam. Leider waren die Aufzeichnungen in Metatrons Archiven etwas dürftig. „Muss ich mir jetzt vorstellen, dass die Leute da drin bei lebendigem Leib geröstet werden?“ „Ach was, das ist alles bloß leeres Gequatsche“, winkte Lilith mit einem abschätzigen Schnauben ab. „Die Menschen erzählen sich da irgendwelche verrückten Horrorgeschichten über Höllenqualen und so. Also wenn ich Chananels Worten Glauben schenken darf, ist das Fegefeuer weniger wie ein richtiges Feuer und eher wie eine Art bequeme Sauna, wo man quasi seine Sünden ausschwitzt. Klingt komisch, ist aber so.“ Malachiel konnte sich ein amüsiertes Prusten nicht verkneifen als er das hörte. Dafür hatten die Menschen vor 500 Jahren einen so gewaltigen Aufriss gemacht und sich derart in die Haare gekriegt, dass ein angepisster Mönch eine Kirchenspaltung angezettelt hatte? Wegen einer heiligen Sauna? Das klang so bescheuert, dass es traurigerweise wieder realistisch klang. Wenn man bedachte, wie die Stille-Post-Bürokratie im Himmel funktioniert hatte, war es ja eigentlich kein Wunder, dass die Menschen die ganze Geschichte derart aufgebauscht hatten. So viele Menschenseelen hätten gerettet werden können und es war bloß daran gescheitert, weil die Leute aus einer Mücke einen Elefanten gemacht hatten. Natürlich war das auch Luzifers Streich geschuldet, aber wenn das Fegefeuer tatsächlich so harmlos war, verstand er nicht, warum man überhaupt erst so eine Geheimaktion daraus machen musste. Das erschien ihm ein bisschen unnötig. Aber zum Glück war es nicht sein Job, sich darüber Gedanken zu machen. Als sie endlich das Tor erreichten, wandte sich Lilith ihren Begleitern zu und erklärte „Von hier aus müsst ihr alleine weitergehen. Ich denke, ihr kriegt das ab jetzt auch ganz gut zu zweit geregelt.“ „Was?“ fragte Nazir und seine Augen weiteten sich, als er das hörte. „Du… du kommst nicht mit rein?“ „Nein, ich habe da keinen Zutritt“, erklärte seine Mutter kopfschüttelnd. „Es ist ein heiliger Ort, der nur für jene gedacht ist, die in den Himmel aufsteigen wollen. Also muss ich draußen bleiben.“ Als sie die Enttäuschung im Gesicht ihres Sohnes sah, nahm sie ihn in den Arm und gab ihm einen liebevollen Kuss auf die Wange. „Kein Grund, so enttäuscht zu sein. Du weißt, dass ich immer für dich da sein werde und dich voll und ganz unterstütze, mein Spatz. Ich bin wahnsinnig stolz auf dich und ich weiß, dass du es schaffen kannst, ein Engel zu werden. Und es muss ja nicht heißen, dass wir uns nie wieder sehen werden. Vielleicht trifft man sich ja mal auf der Erde.“ Nazir erwiderte die Umarmung, war aber trotzdem nicht so ganz glücklich darüber, dass er von jetzt an ohne sie weitergehen musste. „Ich werde dich trotzdem vermissen, Mama.“ Wieder drückte Lilith ihrem Sohn einen liebevollen Kuss auf die Wange, sprach ihm ein paar aufbauende Worte zu und wandte sich dann an Malachiel. Dieser hielt nicht unbedingt viel von emotionalen Abschieden und meinte nur „War ganz lustig mit dir, Lilith. Lass dich nicht unterkriegen, okay?“ „Werde ich ganz bestimmt nicht“, versicherte sie mit einem schelmischen Zwinkern und löste sich wieder von ihrem Sohn. „Und du pass mir schön auf meinen kleinen Engel auf. Ansonsten ziehe ich dir als nächstes die Hammelbeine lang.“ „Ich pass schon auf ihn auf“, versprach er und musste lachen. „Hab nämlich keine Lust auf den ganzen Aufwand, wenn ich mir einen neuen Haushälter suchen muss.“ „Das ist schön zu hören“, meinte sie und wandte sich zum Gehen. Doch dann fiel ihr noch etwas ein und sie blieb kurz stehen. „Ach ja, fast hätte ich es vergessen: Samael hat vor einiger Zeit mit mir Schluss gemacht, weil er sich einen neuen Lover gekrallt hat. Ein ziemlich hohes Tier in der Hölle. Luzifer und er scheinen sich ziemlich nahe gekommen zu sein und seit Satan ihn als Botschafter hinausgeschickt hat, ist Luzifer kein einziges Mal mehr zurückgekehrt. Nicht einmal um Bericht zu erstatten. Ich weiß nur, dass er eine Gruppe von Teenies losgeschickt hat um dich und Metatron an der Rückkehr in den Himmel zu hindern. Und Luzifer war auch derjenige, der Satan über Nazirs Desertation informiert hat. Ich weiß zwar nicht genau was da gerade gespielt wird, aber du solltest besser aufpassen. Samael plant vermutlich irgendetwas und mit ihm ist nicht zu spaßen. Und leider können wir uns dieses Mal nicht mehr auf Gott verlassen.“ Damit nahm Lilith Abschied und ging wieder ihrer Wege. Es war schon recht schade sie gehen zu lassen. Auch wenn Malachiel nicht sonderlich viel mit ihr zu tun gehabt hatte, war sie ihm ziemlich sympathisch. Ganz zu schweigen davon, dass er ihren Humor zu schätzen wusste. Aber jetzt gab es wichtigere Dinge zu klären, denn sie mussten immer noch ihren Job erledigen, für den sie erst hierhergekommen waren. Jetzt galt es erst einmal das Fegefeuer in Gang zu bringen. Danach konnten sie sich immer noch Gedanken über Liliths Warnung machen. Kapitel 25: Ein Königreich für eine Leiche ------------------------------------------ Das Training hatte wesentlich länger gedauert als erwartet, aber es war genau das Richtige gewesen, um mal so richtig Dampf abzulassen. Gefechtssimulationen waren für Michael immer die die beste Möglichkeit, um auf andere Gedanken zu kommen und die Laune wieder zu steigern. Man brauchte nicht großartig über Moral, Prinzipien und komplexe Politik nachzudenken, sondern konnte sich auf die einfachsten Instinkte verlassen. So etwas lag ihm weitaus mehr als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was denn jetzt die richtige Entscheidung war und ob bestimmte Entscheidungen moralisch vertretbar waren. Alles, was zu viel Nachdenken erforderte, war ihm ohnehin zuwider. Es brachte nur Probleme mit sich und meistens konnte man dann gar nichts richtig machen. Auf dem Schlachtfeld war es wesentlich einfacher. Man brauchte nur den Gegner zu bezwingen und seine Kameraden unterstützen, so simpel war die Sache. Das war wesentlich einfacher als über Seelen zu richten oder mit gewissen Kollegen über Prinzipien oder über richtig und falsch zu diskutieren. Warum nur konnte der Rest nicht auch so simpel wie ein Schlachtfeld sein, wo es nur Freund und Feind gab und nichts anderes wichtig war? Naja, es brachte auch nichts, sich darüber zu ärgern, dass die Welt unnötig kompliziert geworden war und er damit nicht klar kam. Er hatte jetzt ganz andere Dinge, um die er sich kümmern musste. Immerhin wollte er Raphael noch einen Besuch abzustatten und sich seinen Ring zurückzuholen. Auch wenn dieser Halsabschneider versprochen hatte, ihm den Ring wieder zurückzugeben, fühlte er sich nicht so ganz wohl bei dem Gedanken, ihn zu lange bei diesem Gauner zu lassen. Wer wusste schon, wofür der diesen Freifahrtschein für sämtliche Wunder benutzen würde. Schlimmstenfalls würde es nur wieder gewaltigen Ärger geben und er musste dann den Kopf dafür hinhalten, nur weil ihm der Ring gehörte und er sich diesen hatte abnehmen lassen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er gewaltig Ärger bekam, nur weil er sich zu einer leichtsinnigen Entscheidung hatte hinreißen lassen. Eines stand jedenfalls fest: er hatte diese Erniedrigung nicht vergessen und würde es diesem Quacksalber ordentlich heimzahlen. Raphael mochte zwar der beste Heiler des gesamten Himmelreiches sein, aber gegen einen ausgebildeten Kriegsengel hatte er nicht die leiseste Chance. Und eine Tracht Prügel brachte ihm vielleicht etwas mehr Respekt bei. Mal sehen wie es ihm gefiel, Schmerzen erleiden zu müssen, nur um dann noch mal zusätzlich erniedrigt zu werden. Mit einem schadenfrohen Grinsen machte sich Michael auf den Weg zur Westseite des ersten Himmels wo Raphael sein Quartier und seine Praxis hatte. Doch seine Rachegedanken wurden schleichend von etwas anderem verdrängt und die Flammen seines Zorns verloren zusehends an Kraft. Sie schrumpften immer weiter in sich zusammen und verblieben in einer kleinen schwelenden Glut als das Bild von Gabriels Tränen immer deutlicher in sein Gedächtnis zurückkehrte. Während der Kriegssimulation hatte er es geschafft, dieses Bild erfolgreich aus seinem Kopf zu verbannen, doch nun kehrte es wieder zurück und ließ ihn nicht mehr los. Abrupt hielt Michael inne und fühlte sich mit einem Mal unruhig und sein Magen verkrampfte sich. Es war lange her seit er Gabriel das letzte Mal so aufgelöst gesehen hatte und er hatte sich eigentlich geschworen, dass ihn das in Zukunft kalt lassen würde. Immerhin hatte er am eigenen Leib zu spüren bekommen, dass Gefühle bei der Arbeit nur Probleme machten. Seit der Mission in Sodom und Gomorrha hatte er sich vorgenommen, sich immer blind an die Vorschriften zu halten und sich nie wieder von so etwas wie Gefühlen und persönlicher Überzeugung ablenken zu lassen. Immerhin war das der Grund warum sie alle überhaupt erst erschaffen worden waren: um als Werkzeuge Gottes zu dienen. Es war ihnen nicht vorbestimmt, einen eigenen Willen zu haben und eigene Wünsche oder Gedanken zu äußern. Freier Wille war alleine den Menschen vorbehalten. Das hatte Gott ihm damals mehr als deutlich zu verstehen gegeben. Trotzdem hatte ihn Gabriels Gefühlsausbruch in Eden derart aus der Fassung gebracht. Es war wieder genau wie damals und er musste mit Schrecken erkennen, dass er sich selbst nach all der langen Zeit als Kriegsengel und willenlos gehorsamer Diener immer noch nicht gänzlich von seinen persönlichen Gefühlen losgesagt hatte. Dabei machte es doch überhaupt keinen Sinn. Er und Gabriel waren so hoffnungslos zerstritten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis einer von ihnen ernsthaft zu Schaden kam. Und wie oft war er gefrustet von dessen Zickereien und Beleidigungen gewesen und hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht? Warum also brachte ihn der Anblick von Gabriels Tränen wieder so dermaßen aus der Fassung, obwohl sie sich doch beide inzwischen hassten? Michael spürte, wie sein Herz zu rasen begann und seine Hände zitterten. Er musste wieder an damals denken, als sie beide mit der totalen Vernichtung der beiden Städte beauftragt worden waren. Es war nicht das erste Mal, dass Gott seine Engel losgeschickt hatte um tausende von Menschen auf grausame Art und Weise zu vernichten. Damals war der Allmächtige ein wahrhaft zorniger und geltungssüchtiger Gott, vor dem sogar seine eigenen Engel Angst bekamen. Er war unerbittlich, grausam und jähzornig gewesen, was vor allem daran liegen mochte, dass Gott zu der Zeit sehr auf Samael vertraut hatte. Und man hatte an der Sintflut, den zwei Sündenstädten und so ziemlich jedem aufgezeichneten biblischen Massaker gesehen, wohin das geführt hatte. Samael war schon damals ein ziemlich schlechter Einfluss und sie alle konnten von Glück reden, dass sich dieser Stockvorfall zugetragen und Samael sein wahres Gesicht gezeigt hatte. Trotzdem war Gott aufgrund von Samaels starkem Einfluss alles andere als umgänglich gewesen. Lange genug hatten sie in ähnlich trostlosen und beklemmenden Zuständen gelebt wie in einer Diktatur. Kein Engel hätte es gewagt, Ungehorsam zu leisten oder eigenmächtig zu handeln. Und doch hatte sich Michael zu dieser verrückten Aktion mit Lot hinreißen lassen und beinahe eine Verbannung in die Hölle riskiert. Alles nur weil er sich von Gabriels Tränen hatte weichkochen lassen. Er verstand nicht, warum ihm das immer wieder passieren musste und es ärgerte ihn. Es zeigte ihm bloß, dass er immer noch schwach und beeinflussbar war und dass ihm etwas zu seiner blinden Loyalität gegenüber Gott im Weg stand. Er musste wirklich daran arbeiten, dass ihm das nicht noch einmal passierte. Einen weiteren Sodom-Vorfall konnte er sich definitiv nicht erlauben! Er war der erste Erzengel und als solcher trug er entsprechend Verantwortung. Gabriel mit seinem emotionalen Gehabe hatte doch überhaupt keine Ahnung was es hieß, Anführer der Erzengel zu sein. Nachdem er einmal tief Luft geholt und sich wieder gesammelt hatte, ging Michael weiter und versuchte sich wieder auf sein eigentliches Ziel zu konzentrieren. Er würde seinen Ring zurückholen, sich für die Demütigung an Raphael rächen und bei passender Gelegenheit auch noch mal ein wenig auf Uriel herumzuhacken. Gabriel wollte er lieber fürs Erste in Ruhe lassen. Der war mit Sicherheit beschäftigt mit seinen kleinen Menschenschützlingen in Eden. Da hatte er keine große Lust, sich großartig einzumischen. Und nach dem mehr als peinlichen Vorfall im Paradies wollte er lieber nicht so schnell wieder mit ihm aufeinandertreffen. Als er Raphaels Quartier erreichte, klopfte er drei Mal an und rief laut „Raphael! Ich bin’s: Michael. Mach auf, ich will meinen Ring zurück!“ Doch es kam keine Antwort. Stattdessen öffnete sich die Tür ganz langsam und der erste Erzengel stellte verwundert fest, dass sie gar nicht abgeschlossen war. Merkwürdig… normalerweise war Raphael doch nicht so schlampig und ließ einfach so die Tür offen. Naja, vielleicht war er auch in Eile gewesen und hatte gar nicht gemerkt, dass sie nicht ganz geschlossen war. Nichts ahnend beschloss Michael, einfach die Gelegenheit zu nutzen und öffnete sie nun ganz um zu schauen, ob der dritte Erzengel überhaupt da war. „Raphael?“ rief Michael und trat ein, als immer noch keine Antwort kam. Als er dann über die Schwelle getreten war und seine Augen das ganze Szenario erfassten, entfuhr ihm ein leises „Was zum…“, doch der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken. Ihm bot sich ein grausiger Anblick der Verwüstung. Möbel waren zerstört, Flaschen zerbrochen und Bücher zerfetzt. Es sah aus, als hätte ein heftiger Kampf gewütet, der ein schreckliches Ende genommen hatte. Sein Herz setzte einen Schlag aus und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er eine große Blutlache neben einem der Regale entdeckte und daneben ein blutverschmiertes Schwert im Boden stecken sah. Es war sein Schwert Drachenschlächter, von dem er dachte, dass es sich in den Reinigungskammern befand. Michael war wie erstarrt und sein Verstand versuchte verzweifelt die Situation zu verarbeiten. Er verstand nicht, was das Ganze zu bedeuten hatte und das erstbeste was ihm einfiel war, sicherzustellen, dass das auch wirklich sein Schwert war und nicht bloß ein Irrtum. Also ging er hin und nahm das Schwert an sich. Er wischte hastig das Blut von der Klinge und prüfte es genauer. Es war zweifelsohne der Drachenschlächter. Aber warum war es hier und wer hatte es gestohlen? Vor allem aber stellte sich ihm die Frage, von wem das Blut auf dem Boden stammte und wo überhaupt Raphael war. Wenn Raphael angegriffen worden war, hätte er doch Alarm schlagen müssen. Warum hatte niemand etwas mitgekriegt? Immer noch völlig unter Schock stehend bemerkte Michael gar nicht die Stimmen, die immer näher herankamen. Tausende Fragen und Gedanken schossen ihm durch den Kopf und lähmten seinen Verstand, sodass er erst viel zu spät merkte, dass ausgerechnet Sandalphon und Uriel hereingekommen waren. Mit dem Schwert in der Hand und der nun blutbefleckten Kleidung drehte er sich mit kreidebleichem Gesicht zu ihnen um und dieses mehr als unglückliche Timing sorgte nicht unbedingt dafür, dass diese Situation zu seinen Gunsten gewertet wurde. Uriels Blick wanderte zu der Blutlache, seine Augen weiteten sich entsetzt und er wich vor Schreck zurück als hätte er den Leibhaftigen erblickt. Die nackte Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben, wenn auch aus ganz anderen Gründen als Michael vermutet hätte. Sandalphon, der weitaus geistesgegenwärtiger reagieren konnte, beschwor nun seine eigene Waffe und richtete sie mit einem bitterernsten Blick auf den Kriegsengel. Auch wenn er als exzentrischer Paradiesvogel zu den merkwürdigen Gestalten zählte, war er nach wie vor der Herrscher über den vierten Himmel und Cherub. Und als solcher zögerte er nie, wenn es darum ging, Feinde und Verräter zu stellen. „Erklär mir sofort was das hier zu bedeuten hat, Michael. Was hast du mit Raphael gemacht?“ Es brauchte einen Augenblick, bis Michael geschaltet hatte, dass er hier plötzlich im Verdacht stand. Dabei war das doch bloß ein dummes Missverständnis. „Ich habe nichts getan. Das… das war hier schon so als ich reingekommen bin!“ „Eine dümmere Ausrede konntest du dir wohl nicht einfallen lassen, was?“ fragte der Cherub und sein Blick verfinsterte sich. Ohne die Augen von Michael abzuwenden, wies er Uriel an: „Verständige meinen Bruder und die Wachen. Ich werde ihn solange festhalten.“ Doch Uriel war zu durcheinander, um die Anweisungen beim ersten Mal zu verstehen und so wiederholte Sandalphon sie noch einmal mit etwas mehr Nachdruck. Hastig eilte der Sternenregent nach draußen um Alarm zu schlagen. Sandalphon hingegen blieb zurück und hielt seinen Speer weiterhin auf Michael gerichtet. „Lass sofort das Schwert fallen und lass die Hände da, wo ich sie sehen kann. Wenn du dich widersetzt, werte ich das als Schuldgeständnis.“ Fassungslos starrte der erste Erzengel den knallbunt gekleideten Paradiesvogel an und ließ seinen geliebten Drachenschlächter fallen. „Sandy… ich war das nicht“, versicherte er. „Glaub mir! Mein Schwert ist verschwunden und als ich herkam, habe ich das alles hier so vorgefunden. Ich habe es nicht getan, verdammt! Ich bin doch kein Verräter.“ „Das wird sich noch früh genug herausstellen“, meinte Sandalphon unbeeindruckt. „Du wärst nicht der erste Engel, der seine Unschuld beteuert und dabei das Blut seiner eigenen Leute an den Händen hat.“ „Aber ich habe es nicht getan!“ beteuerte Michael und bekam langsam Panik. Er wusste, dass die Sache für ihn nicht gut aussah und ein falscher Schritt schon ausreichte, um ihn in Teufelsküche zu bringen. „Warum sollte ich ausgerechnet Raphael umbringen? Ich habe doch gar keinen Grund dafür!“ Doch Sandalphon ließ sich nicht umstimmen und blieb weiterhin unerbittlich. Es machte keinen Sinn, weiterhin auf ihn einzureden. Alles was er jetzt noch tun konnte war, darauf zu hoffen, dass irgendjemand seine Unschuld bezeugen konnte und er selbst nicht noch mehr Gründe lieferte, um des Mordes verdächtigt zu werden. Es dauerte nicht lange, da kamen die Kriegsengel und Cherubim herbei, gefolgt von Metatron und Gabriel. Uriel selbst war nicht zurückgekehrt, aber daran störte sich niemand. Entsetzt sahen die beiden Nachzügler das Chaos im Raum und das viele Blut auf dem Boden. Während die Cherubim Michael in Ketten legten um sicherzustellen, dass er nicht noch jemanden attackierte, trat der himmlische König näher und seine leuchtend blauen Augen waren von Verwirrung und Hilflosigkeit gezeichnet. Er konnte und wollte gar nicht glauben, was hier vorgefallen war und wusste nicht, wie er das Ganze einzuordnen hatte. „Ich will sofort eine Erklärung, was das hier alles zu bedeuten hat. Was ist zwischen dir und Raphael vorgefallen?“ Es war selten, dass man den König der Engel so aufgebracht erlebte. Der sonst so pazifistische und zurückhaltende Metatron, der nur selten während der Meetings mal die Stimme erhob, war vollkommen außer sich. Wer konnte es ihm auch verübeln? Das hier war eine weitaus ernstere Angelegenheit als bloß eine harmlose Zankerei während der Meetings. In diesem Moment schrumpfte Michael merklich in sich zusammen und kam sich vor wie ein in die Ecke gedrängtes Tier. Ihm wurde angst und bange bei dem Gedanken, dass ihm niemand Glauben schenken würde und man tatsächlich dachte, er wäre dumm genug um seinen eigenen Kollegen zu erschlagen. Er mochte vielleicht viele gewalttätige Auseinandersetzungen mit Gabriel gehabt haben, aber deswegen würde er doch niemanden ermorden wollen. Schon gar nicht seine eigenen Kollegen! „Nichts ist passiert, ich schwöre es bei Gottes Namen!“ beteuerte er mit nun zitternder Stimme. „Heute Morgen hatte ich bemerkt, dass mein Schwert weg war. Nach dem Meeting war ich die ganze Zeit bei einer Einsatzübung im Hauptquartier gewesen. Als ich fertig war, bin ich zurückgekehrt und habe festgestellt, dass die Tür offen stand. Und als ich nachsah, habe ich das alles hier so vorgefunden. Jemand hat mein Schwert gestohlen und es benutzt um Raphael zu töten!“ „Wenn du wusstest, dass dein Schwert gestohlen wurde, warum hast du es nicht direkt gemeldet?“ hakte Metatron nach und verschränkte die Arme. „Du kennst die Vorschriften besser als jeder andere. So ein nachlässiges Verhalten sieht dir gar nicht ähnlich.“ „Ich dachte, ich hätte es in der Reinigungskammer gelassen und es einfach vergessen“, gab der erste Erzengel zu und versuchte standhaft zu bleiben. Wenn er jetzt einknickte und Schuldgefühle zeigte, dann würde es danach aussehen, als wäre er ertappt worden. Und er konnte sich nicht noch weiter in Schwierigkeiten bringen. Er wusste, dass die Lage alles andere als rosig aussah und alles was er tun konnte war, darauf zu hoffen, dass man seinen Worten glaubte und ihm zumindest eine Chance gab. „Ich weiß, dass das nachlässig war, aber ich stand wegen der Krise so unter Stress, dass ich nicht daran gedacht habe. Außerdem… was sollte ich denn für einen Grund haben, ausgerechnet Raphael umzubringen?“ „Hast du nicht gesagt, er hätte dich abgezockt und du wolltest dich dafür rächen?“ warf Gabriel ein und Michael spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. Entsetzt schaute er seinen Kollegen an und konnte nicht glauben, dass das hier gerade wirklich passierte. Ihm entgleisten die Gesichtszüge, als ihm klar wurde, dass er nun niemanden mehr auf seiner Seite hatte und offenbar jeder im Raum glaubte, er wäre allen Ernstes ein Mörder. Er hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass ihm Gabriel derart in den Rücken fallen würde. Ganz egal wie oft sie sich stritten und prügelten, es hatte dennoch immer eine Verbindung zwischen ihnen geherrscht. Und nun erlebte er gerade, wie dieser ihn ohne zu zögern einfach verriet und im Stich ließ. Ausgerechnet jener Engel, dem er selbst bei allen Streitigkeiten sein Leben anvertrauen würde. „Gabriel… das… kannst du doch nicht…“ Alle Augenpaare waren nun auf ihn gerichtet. Er spürte die misstrauischen und verurteilenden Blicke derjenigen, mit denen er tagtäglich seit Anbeginn der Zeit zusammengearbeitet hatte. Sie kannten ihn gut genug und trotzdem hatten sie ihn bereits nach wenigen Augenblicken als Verräter abgestempelt. Die kleine Hoffnung, die er sich bis dahin noch bewahrt hatte, zerplatzte nun wie eine Seifenblase. Am meisten aber schmerzte ihn der Blick, mit dem Gabriel ihn strafte. Ein Ausdruck von Abneigung, Enttäuschung und Wut lag darin. Vor allem aber traf ihn die Frage, die in den Augen seines Kollegen lag und die dieser nicht auszusprechen wagte: „Wolltest du mir etwa dasselbe antun?“ Michael spürte wie seine Knie weich wurden und sich ein dicker Kloß in seinem Hals festsetzte. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so verlassen und verraten gefühlt wie in diesem Augenblick. Keiner wollte ihm glauben. Keiner wollte ihm überhaupt zuhören. „Ich bin kein Mörder!“ beteuerte er und seine Stimme begann zu zittern. „Bitte, ihr müsst mir glauben. Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen und mich immer treu an die Gesetze gehalten. Jemand will mir etwas anhängen, verdammt.“ „Satan und Luzifer waren auch einst treue Diener, bevor sie zu Verrätern wurden“, entgegnete Sandalphon kühl und wandte sich an seinen Bruder um sein Urteil zu hören. Doch Metatron zögerte noch damit, Michael endgültig als Verräter zu verurteilen und zu bestrafen. Auch wenn diese Situation hier ziemlich eindeutig zu sein schien, wollte er keine voreiligen Entscheidungen treffen, die er später bereuen könnte. Er dachte einen Moment nach, wie er am besten verfahren konnte und wandte sich dann an die Cherubim und Kriegsengel. „Bringt Michael nach Mathey. Dort soll er bleiben, bis ich eine endgültige Entscheidung getroffen habe. Schickt einen Sondertrupp los, der nach Raphael suchen soll. Vielleicht erfahren wir etwas, wenn wir ihn gefunden haben.“ „Ich glaube kaum, dass er noch lebt“, mischte sich Sandalphon kopfschüttelnd ein. „Wenn er mit einer heiligen Waffe verletzt wurde und so viel Blut verloren hat, ist es selbst für einen begnadeten Heiler wie ihn unmöglich, dass er das überlebt hat.“ Doch Metatron wollte sich nicht davon abbringen lassen. Auch wenn Michael sich ständig mit seinen Kollegen am Streiten war und diese Auseinandersetzungen nicht selten unblutig endeten, bezweifelte er, dass dieser so dumm war, einen von ihnen zu erschlagen. Er wollte keine überstürzten Entscheidungen treffen, ohne zumindest versucht zu haben, den ganzen Sachverhalt aufzuklären. Insgeheim hoffte er, dass Raphael bald wieder auftauchen und alles erklären konnte. Außerdem gab es aktuell weitaus dringendere Dinge, um die er sich kümmern musste. Die Beendigung der Höllenkrise hatte oberste Priorität und bis dahin musste Michaels vermeintlicher Verrat warten. Mit einem ernsten Blick wandte er sich an seinen Bruder und erklärte „Ganz gleich ob wir Raphael tot oder lebendig finden, ich will den Fall lückenlos aufgeklärt und alle Zweifel beseitigt haben. Bis Malachiel aus der Hölle zurückgekehrt ist und wir die Krise abgewendet haben, bleibt Michael in Untersuchungshaft.“ „Na gut, ich hoffe du weißt was du tust“, meinte der knallbunte Crossdresser und klopfte Metatron auf die Schulter. Er selbst war da weitaus misstrauischer und machte da auch kein Geheimnis daraus. „Aber vergiss nicht, dass selbst Luzifer einst Gottes Liebling war und es ihn auch nicht davon abgehalten hat, uns alle zu verraten. Jeder von uns kann irgendwann zum gefallenen Engel werden.“ Während Michael unter lauten Protestschreien und Unschuldsbeteuerungen abgeführt wurde, war Uriel hastig in den siebten Himmel Araboth geeilt. Er war in heller Panik und stand kurz vor dem totalen Nervenzusammenbruch. Wer konnte es ihm auch verübeln? Immerhin war er nicht nur derjenige gewesen, der Raphael erschlagen und Michael den Mord in die Schuhe geschoben hatte. Jetzt war auch noch die Leiche spurlos verschwunden und ihn überkam die nackte Todesangst dabei. Er hatte oft genug auf dem Schlachtfeld gekämpft um zu wissen, dass sich tote Engel und Dämonen nicht so einfach in Luft auflösten. Es hätte eindeutig eine Leiche in einer riesigen Blutlache mit einem Schwert im Rücken da liegen sollen. Doch da war nichts und er hatte es auch nicht für möglich gehalten, dass so etwas passieren würde. Wie denn auch, wenn er ernsthaft davon ausgegangen war, dass der Kerl mausetot war? Er bezweifelte zwar arg, dass Raphael einen derart tödlichen Angriff überlebt hatte, aber es war doch mehr als besorgniserregend, dass er verschwunden war. Leichen hauten ja nicht einfach so alleine vom Tatort ab. Das funktionierte vielleicht bei Zombies und Uriel hatte bis dato noch nie was von Zombie-Engeln gehört. Es gab in dieser Situation nur eine Person, die ihm helfen konnte und das war Samael. Der würde ihm schon helfen. Immerhin war dieser der zweitmächtigste Engel im Himmel und intelligent genug um Komplotte zu schmieden. Da sollte es doch keine allzu große Schwierigkeit sein, ihm zu helfen, eine verschwundene Leiche zu finden. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte Uriel endlich den höchsten Himmel und war ziemlich aus der Puste. Noch nie hatte er einen derart schnellen Aufstieg hingelegt und kaum dass er landete, wurde ihm so schwindelig, dass er erst einen Moment brauchte, um sich wieder zu sammeln. Dann setzte er seinen Weg fort und erreichte schließlich Samaels Gemächer. Laut klopfte er an und hörte auf der anderen Seite schweres Keuchen und Stöhnen. Ein vernünftiger und rational denkender Engel, der genug von solchen Dingen verstand, hätte schnell daraus geschlossen, dass Lasterhaftes im Gange war. Oder aber es hätte einfach nur die Vorstellung eines jemanden gebraucht, der gleich immer davon ausging, dass verdächtiges Stöhnen und Keuchen auf sexuelle Aktivitäten zurückgingen. Uriel, der weder unanständige Gedanken zu hegen vermochte, geschweige denn irgendetwas Böses oder Unzüchtiges unterstellen wollte, ging von etwas ganz anderem aus. In seinem naiven und jungfräulichen Denken war er der festen Überzeugung, dass Samael sich vielleicht den Zeh gestoßen hatte und dass diese seltsamen Geräusche daher rührten. Das musste auch der Grund sein, warum er nicht sofort die Tür aufmachte. „Samael, bitte mach die Tür auf. Es ist wirklich dringend!“ rief er und klopfte noch mal an. Das Keuchen auf der anderen Seite der Tür verstummte und eine deutlich genervte Stimme antwortete „Jetzt nicht, Uriel. Ich bin gerade schwer beschäftigt!“ Doch so leicht wollte sich der Sternenregent nicht abwimmeln lassen. Immerhin ging es hier um einen ernsten Notfall. „Aber es ist dringend! Ein ernster Notfall und ich brauche deine Hilfe! Es geht um Raphael.“ „Moment…“ Es dauerte eine Weile und dann schließlich wurde die Tür geöffnet. Samael stand in einem schlichten Gewand, das er eben schnell angelegt hatte, vor ihm und war sichtlich verstimmt. Er war etwas verschwitzt und sein Haar war ziemlich zerzaust, doch Uriel dachte sich nichts dabei. „Na schön Uriel“, begann Samael und verschränkte die Arme. „Dann sag schon. Was ist passiert?“ Hastig schaute sich der vierte Erzengel um, erinnerte sich daran wie er bereits einmal bei verdächtigen Aktivitäten beobachtet worden war und schob sich an Samael vorbei in dessen Gemach und schloss die Tür hinter sich. Er konnte es nicht riskieren, dass noch jemand Wind von seinem doppelten Spiel bekam. Wenn in kürzester Zeit noch jemand ermordet wurde, dann würde es nicht lange dauern, bis er vielleicht unter Verdacht geriet. „Ich war vorhin mit Sandy am Tatort, so wie du mir gesagt hast. Michael war auch da und alle verdächtigen jetzt ihn.“ „Ist doch gut“, meinte Samael etwas ungeduldig. „Und wo genau liegt da jetzt das Problem?“ „Die Leiche ist weg!“ rief Uriel panisch und begann wild mit den Armen zu fuchteln, um seiner Nervosität und Angst Ausdruck zu verleihen. Doch diese wilde Gestik kam beim Todesengel nicht wirklich an. „Blutlache und Schwert waren da, aber Raphael ist verschwunden. Bitte, du musst mir helfen ihn zu finden bevor die anderen es tun!“ Doch Samael ließ sich von der Panik seines Stalkers nicht anstecken, sondern bewahrte die Contenance. Stattdessen verdüsterte sich seine Miene ein wenig und er wirkte mehr als ungehalten. „Ich habe dir nicht aufgetragen, Raphael zu erschlagen. Das hast du dir ganz alleine eingebrockt. Und wie soll ich dir helfen, eine verschwundene Leiche zu finden? Falls du es vergessen hast: ich bin immer noch blind!“ „Ja aber…“ „Nichts aber“, unterbrach der blinde Seraph ihn gereizt und erhob mahnend den Zeigefinger. „Du hattest eine einfache Aufgabe und selbst das hast du verbockt. Wenn du nicht willst, dass du auffliegst und man dich für deinen Hochverrat in die Hölle verbannt, solltest du besser dafür sorgen, dass Raphael auch wirklich mausetot bleibt. Ansonsten wird er nämlich erzählen, wie du ihn töten wolltest und dann kann nicht einmal ich dir noch helfen. Und lass dich gefälligst nicht noch einmal erwischen. Du hast schon genug Durcheinander angerichtet!“ Uriel schrumpfte merklich zusammen und wagte es nicht, Widerworte zu geben. Es machte ihn tief betroffen, dass die ganze Sache so aus dem Ruder gelaufen war und er sich Samaels Zorn auf sich gezogen hatte. Jetzt musste er das schleunigst wieder in Ordnung bringen, bevor es zu spät war. Vielleicht würde ihm sein Angebeteter dann auch verzeihen. Also verabschiedete er sich kleinlaut und verschwand wieder, um nach der verschwundenen Leiche zu suchen. Samael seinerseits hatte ganz andere sehr private Dinge, um die er sich kümmern wollte. Kapitel 26: Bonjour Tristesse ----------------------------- Der Aufstieg von der Hölle in den Himmel war nicht gerade leicht und selbst für einen Engel und einen Dämon wie Nazir und Malachiel eine sehr anstrengende Reise. Selbst mit Flügeln verbrauchte es Unmengen an Kraft um von ganz unten nach ganz oben zu gelangen. Das war einer der natürlichen Schutzmechanismen des himmlischen Königreichs und der Hauptgrund, warum die Hölle es bislang noch nicht bewerkstelligt hatte, einen Frontalangriff auf die ätherischen Gefilde zu starten. Es verhielt sich in etwa so, als versuche man auf die Spitze des Burj Khalifa zu gelangen, nur um festzustellen, dass der Fahrstuhl defekt war und der einzige Weg über die Treppen führte. Das waren insgesamt 163 Stockwerke und knapp 2900 Stufen, die man erklimmen musste. Für einen durchtrainierten Treppenläufer, der so etwas als Extremsport pflegte, war das kein Problem, aber für den Ottonormalverbraucher war meist schon nach wenigen Stockwerken Schluss. Dämonen waren zwar übernatürlich, aber bei weitem keine durchtrainierten Spitzensportler. Sie waren eher für Intrigen und Komplotte geschaffen und vermieden sportliche Tätigkeiten, wenn es nicht zu ihren finsteren Plänen gehörte. Deshalb kam es ihnen allein schon aus reiner Bequemlichkeit kaum in den Sinn, eine lange und anstrengende Reise bis in den Himmel anzutreten, nur um dann völlig aus der Puste an der Himmelspforte anzukommen und dann zu kollabieren. Selbst Luzifer hatte seinen Aufstieg in mehreren Zwischenetappen zurücklegen müssen. Da die Engel aufgrund der Umstände in der Hölle nicht nach unten wollten und die Dämonen nicht völlig entkräftet in die letzte Schlacht ziehen wollten, hatte man sich deshalb auf einen Kompromiss geeinigt und war daraufhin den Mittelweg gegangen. Im wahrsten Sinne des Wortes! Wenn also die Menschen der Überzeugung waren, dass die Erde als Schlachtfeld ausgewählt worden war, weil sie als Gottes wichtigste Schöpfung das Zentrum des Universums waren, musste man sie deshalb enttäuschen. Es war schlichtweg keine bessere Lösung da gewesen, die ein entsprechendes Gleichgewicht auf beiden Seiten gewährleisten konnte. Selbst Malachiel, der weitaus größere Macht besaß als alle anderen, war ziemlich aus der Puste als er die goldene Pforte erreichte und hatte den armen Nazir, der schon auf halbem Weg schlapp gemacht hatte, zusätzlich tragen müssen. Da er lieber ein Leben als überzeugter Faulpelz frönte und jegliche Arbeit vermied, war er nicht gerade in der optimalen Kondition um einen derartigen Aufstieg zu bewerkstelligen. Sie brauchten knapp eine halbe Stunde Verschnaufpause, bis sie wieder einigermaßen bei Kräften waren, um den nächsten Aufstieg vorzunehmen. Vielleicht hätten sie die Strecke weitaus schneller zurücklegen können, wenn Malachiel etwas besser in Form gewesen wäre. Dann wäre er wieder zurück gewesen, bevor Michael von den Cherubim abgeführt worden war und hätte die Situation vielleicht deeskalieren können. Aber das alles war während seiner Abwesenheit passiert und nun kam er nichts ahnend im Himmel an und wusste nicht, was sich zugetragen hatte. Er merkte nur, dass ein ziemlicher Aufruhr herrschte, maß dem aber keine Bedeutung bei weil die Engel seiner Meinung nah eh zur Überdramatisierung neigten. Da sie Metatron nicht im ersten Himmel finden und auch nicht erreichen konnten, mussten sie sich über einen Geheimweg bis nach Araboth vorbei am Hauptquartier der Kriegsengel schleichen, damit Nazir unerkannt blieb. Das dauerte auch wieder eine ganze Weile, den ganzen Umweg zu bewältigen und als sie dann endlich den siebten Himmel erreichten, war viel zu viel Zeit verstrichen. Während Nazir sich mit großen Augen staunend in dem luxuriösesten Teil des gesamten himmlischen Königreichs umsah und glaubte, seine kühnsten Träume wären wahr geworden, dachte Malachiel an die Ironie, dass ausgerechnet er Satans Sprössling hierher brachte. Wenn er das Metatron erzählte, würde dieser garantiert vor Schreck einen Herzkasper kriegen. Aber andererseits bestand für ihn auch kein Grund, es überhaupt irgendjemandem zu erzählen. Es hatte ihn persönlich nie interessiert, wer Nazirs Eltern waren und das tat es jetzt genauso wenig. Warum also unnötig die Pferde scheu machen? Nazir sah sich immer noch neugierig um während sie den Korridor entlang gingen und erblickte die schönsten Gärten und Hallen die er je in seinem jungen Leben gesehen hatte. Er sah Pavillons mit goldenen Dächern, Elfenbeinstatuen, kristallene Blumen und riesige Bibliotheken mit unschätzbar wertvollen Büchern, die das Wissen der gesamten Welt beinhalteten. Weit in der Ferne konnte er am anderen Ende des Gartens eine gläserne Treppe sehen, die zu einem riesigen Tor führte. Er blieb kurz stehen und schaute neugierig zum Tor herüber. Es war ziemlich weit weg aber seine Dämonenaugen vermochten ein seltsames Symbol zu erkennen, das er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. „Meister, was ist das da hinten?“ fragte er und deutete darauf. Malachiel blieb nun ebenfalls stehen und folgte seinem Fingerzeig. Er zog die Augenbrauen ein wenig zusammen um seine müden Augen etwas anzustrengen und erklärte „Das da hinten ist das Tor zum höchsten Heiligtum. Dahinter hat sich Gott vor langer Zeit verschanzt und sich seitdem nie wieder blicken lassen. Laut Metatrons Aussage kann das Tor von keinem Engel geöffnet werden. Die Chance, dass wir den Alten persönlich treffen, ist also ziemlich gering.“ „Aber Ihr seid doch kein ganzer Engel. Könntet Ihr dann nicht das Tor öffnen?“ Das stritt Malachiel durchaus nicht ab, allerdings sah er nicht unbedingt danach aus, als hätte er großes Interesse daran. „Wozu?“ fragte er schulterzuckend. „Ich hab nicht die geringste Lust, mich mit einem verbohrten und cholerischen Egomanen zu streiten, der seine Schöpfung nur als Spielsteine sieht und so behandelt. Soll der sich doch in seinem Zimmer einsperren und schmollen wie ein beleidigtes Kleinkind. Außerdem hast du ja deine Mutter gehört: auf den können wir uns nicht mehr verlassen.“ Doch Nazir zögerte noch ein wenig. Auf der einen Seite mochte Malachiel Recht haben und es war vielleicht besser, keine schlafenden Hunde zu wecken. Keiner konnte sagen, wie Gott reagieren würde, wenn man unerlaubt das Tor zu seiner Wohnstätte öffnete und ihn störte. Ganz zu schweigen davon was er davon halten würde, dass sich der missratene Sohn Satans hier im Himmel herumtrieb. Mit Sicherheit würde das nur Ärger bedeuten. Er hatte ja im Alten Testament gelesen, was Gott mit denen zu tun pflegte, die seinen Zorn auf sich gezogen hatten. Aber andererseits war die Neugier groß, wenigstens ein einziges Mal den Schöpfer aller Dinge persönlich zu treffen und zu sehen, wie er eigentlich aussah. War er ein bärtiger alter Mann wie er in den alten Renaissance-Malereien dargestellt wurde? War er eine Frau so wie in Dogma? Sah er aus wie Morgan Freeman? Oder hatte Dante Recht und Gott war bloß ein schwebendes Buch mit drei Ringen und unzähligen Regenbögen? Tja, das würde er wahrscheinlich nie herausfinden. Und nach den jüngsten Erlebnissen in der Hölle hatte er sowieso keine Lust, sein Glück überzustrapazieren. Eine Gefangennahme reichte für heute. Schließlich erreichten sie eine große vergoldete Tür und klopften an. Es dauerte eine Weile, bis Metatron öffnete. Er wirkte sehr mitgenommen und kreidebleich, auch seine Augen waren trüber als sonst. Doch als er Malachiel sah, kehrte wieder ein wenig Glanz in ihnen zurück und er fiel ihm erleichtert in die Arme. „Da bist du ja wieder!“ rief der König der Engel überglücklich und umarmte ihn stürmisch. „Und? Wie ist es gelaufen? Hat alles geklappt? Gab es irgendwo Schwierigkeiten?“ Malachiel erwiderte die Umarmung und tätschelte beruhigend Metatrons Kopf. Er zeigte nicht gerade dieselbe Energie wie sein Freund, konnte aber sein glückliches Lächeln kaum verbergen. „Du kennst mich doch, ich krieg so was locker geregelt. Nur ein paar kleine Stolpersteine auf dem Weg, aber wir haben es geschafft. Das Fegefeuer funktioniert wieder, Lilith lässt schöne Grüße ausrichten und ihr könnt jetzt mit der Aufarbeitung anfangen.“ „Na wenigstens eine gute Nachricht für heute“, murmelte das göttliche Sprachrohr und ließ die beiden herein. Als Regent aller Engel lebte Metatron am vornehmsten von allen weil es das Klassensystem des Himmels so vorsah. Er selbst machte sich aber nicht wirklich viel daraus und hätte es tatsächlich sogar lieber gehabt, wenn er in einem schlichten kleinen Zimmer in einem einfachen Dorfpfarrhaus gelebt hätte. Müde und lustlos ließ er sich in seinen Sessel fallen, während Sandalphon, der seinen Bruder in dieser schwierigen Situation nicht alleine lassen wollte, ihm ein Glas Wein einschenkte. Ein wenig Alkohol konnte nach einem solchen Durcheinander nicht schaden. Sandalphon drehte sich überrascht zu den anderen um und seine Miene verfinsterte sich misstrauisch, als er Nazir bemerkte. „Warum ist ein Dämon hier im Himmel?“ fragte er sofort. „Hey Sandy, altes Haus!“ rief Malachiel und hob die Hand zum Gruß. „Schön dich wiederzusehen. Das ist mein Schüler Nazir. Nazir, das ist Sandalphon, Herrscher über den vierten Himmel und Metatrons exzentrischer Zwillingsbruder.“ „Äh… Hallo…“, murmelte der Dämon und musste erst einmal den Anblick verarbeiten. Er hatte ja schon so einige schillernde Travestiekünstler in Magazinen und im Fernsehen gesehen, aber er hätte nie erwartet, dass so einer auch noch ein derart hohes Tier im Himmel war. Aber er beschloss, das lieber unkommentiert zu lassen und setzte sich neben seinen Mentor, nachdem dieser auf einer roten Satincouch Platz genommen hatte. „Und? Gibt es etwas Neues aus der Hölle?“ hakte Metatron nach und rieb sich mit zusammengekniffenen Augen die Schläfen wie jemand, der gerade mit einer schlimmen Stressmigräne zu kämpfen hatte. „Also irgendetwas, von dem ich wissen sollte?“ „Wie man’s nimmt“, meinte Malachiel schulterzuckend und machte es sich bequem. „Es gab einen kleinen Gefängnisaufstand und die Hölle wird gerade von französischen Revolutionären und russischen Kommunisten überrannt. War eigentlich ganz lustig. Das Fegefeuer läuft wieder einwandfrei und als nächstes wird das Tor im ersten Höllenkreis installiert und im Prinzip bräuchtet ihr nur noch eines im Himmel öffnen, dann könnt ihr mit der Arbeit loslegen. Aber ich schätze, das ist es nicht, was du wissen willst, nicht wahr? Du willst wissen, ob eure Informantin was Wichtiges hat weil hier irgendetwas passiert ist. Spuck’s schon aus, Matt. Was ist los?“ Sandalphon ließ abwechselnd den Blick zu Metatron und Nazir schweifen und gab zu bedenken: „Solch vertrauliche Informationen sollten wir nicht vor dem Feind besprechen“, wobei er mit einem Kopfnicken auf den dämonischen Haushälter wies. Doch Metatron winkte ab und erwiderte „Nein, schon gut. Man kann ihm vertrauen. Also… die Sache ist die, dass es während deiner Abwesenheit zu einem Vorfall gekommen ist. Jemand hat Raphael angegriffen und er ist verschwunden. Wir fanden nur sein verwüstetes Quartier vor, eine große Blutlache und Michael mit der Tatwaffe. Alles deutet darauf hin, dass Michael seinen Kollegen aus Rache getötet hat und nun ist er in Untersuchungshaft in Mathey bis ich ein Urteil gefällt habe.“ „Was?“ platzte es sofort aus Nazir heraus. „Aber wieso sollte ein Engel einen anderen Engel töten?“ „Tja, warum werden Engel überhaupt zu Verrätern wenn Gott ihnen keinen freien Willen vorgesehen hat?“ warf Sandalphon ein und schien diese Frage direkt auf Nazir zu beziehen, obwohl dieser eigentlich kein gefallener Engel war. „Es hat schon seit Anbeginn der Zeit Verräter in unseren Reihen gegeben und es wird sie auch in Zukunft geben. Das ist Teil des…“ „Fang jetzt bloß nicht mit dem unergründlichen Plan an, sonst kotz ich im Quadrat!“ unterbrach Malachiel ihn sofort, der dieses Gerede so langsam nicht mehr hören konnte. „Ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass Michael dämlich genug wäre, um einen Mord zu begehen und sich dann auch noch dabei erwischen zu lassen. Matt, du sagtest, dass Raphael verschwunden ist. Wenn er wirklich einen Mord begangen und die Leiche versteckt hat, wieso sollte er mit der Mordwaffe zum Tatort zurückkehren? Und wenn er sie durch ein Wunder verschwinden ließ, macht es keinen Sinn, dass er das Blut, die Waffe und das ganze Chaos so gelassen hat.“ „Danke, das hatte ich mir auch schon gedacht“, bestätigte Metatron und leerte sein Weinglas in wenigen Zügen. Doch selbst der Alkohol verschaffte ihm keine große Erleichterung. Er sah immer noch hundsmiserabel aus. „Aber ich wüsste nicht, wer es sonst auf Raphael abgesehen haben könnte. Und ich glaube auch nicht, dass dieser so abgebrüht wäre, seinen Tod vorzutäuschen. Er ist trotz allem immer noch ein Engel. Michael hatte außerdem ein Motiv, das hat Gabriel bestätigt und ich habe nichts, womit ich ihn entlasten könnte. Alles deutet darauf hin, dass er Raphael erschlagen hat.“ „Was wenn es ein Komplott ist, den Luzifer angezettelt hat?“ gab Nazir zu bedenken, der sich an der Gesprächsrunde beteiligen wollte. „Meine Mutter hat uns gesteckt, dass Luzifer seit seiner Abreise in den Himmel kein einziges Mal in die Hölle zurückgekehrt sei. Entweder hat er den Himmel nie verlassen oder er hat sich zwischenzeitig auf der Erde herumgetrieben. Was wenn der Mord ein Racheakt für seine Verbannung war?“ „Naheliegend, aber unwahrscheinlich“, meinte Sandalphon kopfschüttelnd und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sein Zorn richtet sich ausschließlich gegen Gott persönlich. Einen Engel zu töten und einen anderen zum Verdächtigen machen passt nicht zu seinem Stil. Ganz zu schweigen davon, dass sämtliche Quartiere mit heiliger Kraft geschützt sind und er gar nicht eindringen konnte um das Schwert zu stehlen.“ „Stimmt, er hätte den Ruhm ganz alleine für sich eingesackt, um den Alten eins auszuwischen“, bestätigte Malachiel, hatte dann aber eine ganz andere Idee. „Ich glaube eher, dass Samael dahintersteckt.“ Einen kurzen Augenblick kehrte Stille ein und die beiden Zwillingsbrüder tauschten kurze Blicke aus. Dann aber schüttelte Sandalphon energisch den Kopf, wobei seine Ohrringe leise klapperten. „Ach, du und Samael… Nur weil er schlecht auf die Menschen zu sprechen ist, denkst du immer gleich, er wäre schlimmer als Satan.“ „Ist er ja auch“, gab der Halb-Seraph unverblümt zu. „Hab ja selbst heute gesehen, was für eine Pussy Satan eigentlich ist. Außerdem hat Lilith uns gesteckt, dass Samael vermutlich irgendwas plant. Sie wusste zwar nicht was, aber dank ihr wissen wir, dass Samael wohl ein Verhältnis mit Luzifer hat. Wer weiß… vielleicht ist der Mord an Raphael ein Ablenkungsmanöver für seinen eigentlichen Plan.“ „Und was soll er denn schon im Himmel anstellen wollen?“ erwiderte Sandalphon, der zwar wusste, dass der blinde Todesengel Dreck am Stecken hatte, ihn aber nicht gleich als Hochverräter verurteilen wollte. „Sein Hass richtet sich allein gegen die Menschen. Wenn er also irgendetwas plant, dann immer auf der Erde. Ganz gleich ob es eine Pandemie, Naturkatastrophen oder Krieg ist. Er als Engel der Reinheit verteidigt die Gesetze des Himmels energischer als jeder andere von uns. Das würde gar nicht zu ihm passen. Was will er damit erreichen?“ Während dieser Ausführungen hatte Metatron jedoch weitergedacht und angefangen, einzelne Punkte miteinander zu verbinden. Und während er den Worten seines Bruders lauschte, kam ihm ein Gedanke und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Großer Gott“, brachte er leise hervor und verlor den letzten Rest Farbe im Gesicht. „Was wenn er vorhat, Eden zu zerstören? Es hat ihm ja noch nie gepasst, dass wir die Menschen nach ihrem Tod im Paradies aufnehmen. Es kann doch sein, dass der Angriff auf Raphael dazu diente, dass wir uns hier die Köpfe zerbrechen, damit er unbeobachtet die Menschen aus Eden vertreiben kann.“ „Ja, das klingt nach ihm und wäre auch nicht das erste Mal“, gab Malachiel nickend zu und auch Sandalphon konnte dieser Theorie kaum widersprechen. Dieser schnappte sich sofort seinen Speer und machte sich abreisefertig. „Ich denke, es ist das Beste, wenn ich sofort nach Shehaqim aufbreche und die Wachen vor dem Tor verstärke. Wir sollten außerdem Anahel benachrichtigen, damit seine Truppen in Alarmbereitschaft bleiben.“ „Gute Idee“, pflichtete der himmlische Regent bei und wandte sich dann an Malachiel. „Aber Samael kann dieses Komplott unmöglich alleine geplant haben. Er ist zwar mächtig, aber nach wie vor blind und ich denke nicht, dass er in der Lage ist, ganz alleine ein Schwert zu stehlen, jemanden zu erschlagen, eine Leiche verschwinden zu lassen und dann auch noch Michael alles in die Schuhe zu schieben. Er muss einen Komplizen gehabt haben, der die Drecksarbeit für ihn gemacht hat. Luzifer scheidet da schon mal aus, weil er nicht in die gesicherten Quartiere einbrechen kann. Es muss jemand aus unseren Reihen sein, der ein Interesse daran gehabt haben muss, Michael aus dem Weg zu schaffen. Du weißt, worauf ich hinaus will, oder?“ Malachiel brauchte nicht einmal großartig nachzudenken um zum gleichen Schluss zu kommen wie Metatron. Er nickte kurz, sicherte seine Unterstützung zu und versprach, sich um die Angelegenheit zu kümmern. In dieser schwierigen Situation, wo sie von einer Krise direkt in die nächste steuerten, wollte der Halb-Engel seinen Liebsten nicht alleine lassen. Das hätte er einfach nicht übers Herz gebracht. Doch Nazir störte etwas an der ganzen Sache und er wagte deshalb noch eine weitere Frage, bevor sie die nächsten Maßnahmen einleiteten. „Irgendwie leuchtet es mir nicht so wirklich ein, warum Samael noch ein Engel ist. Ich meine… wenn er sogar noch gefährlicher als Satan ist und weitaus schlimmere Dinge getan hat als Luzifer, warum ist er dann nicht auch in die Hölle verbannt worden? Das macht doch irgendwie keinen Sinn.“ In dem Punkt hatte er tatsächlich nicht ganz Unrecht. Der Himmel hatte ganz klare Vorstellungen davon, wer alles Zutritt hatte und wer nicht. Ganz zu schweigen davon, dass allen voran Gott extrem penibel war, was gutes Verhalten nach seinem Sinn betraf. Da erschien es doch sehr widersprüchlich, dass ausgerechnet ein hasserfüllter und manipulativer Todesengel jede erdenkliche Gelegenheit nutzte, um Leid und Tod über die Menschheit zu bringen und sie vom Antlitz der Welt auszumerzen. Das war eigentlich etwas, das man eher von der Hölle erwarten würde. Wenn man sich aber das Alte Testament etwas genauer ansah, stellte man aber schnell fest, dass sich weder Himmel noch Hölle sonderlich mit gutem Betragen rühmen konnten. Und die Erklärung dafür lieferte Metatron als erster Stellvertreter Gottes. „Samael ist speziell zu diesem Zweck von Gott erschaffen worden. Während Satan und seine Konsorte als das personifizierte Böse Krieg, Krankheit und Zerstörung über die Menschheit bringen, entfesselt Samael diese Plagen als Teil des göttlichen Zorns.“ „Heißt also im Klartext“, fuhr Malachiel fort als er merkte, dass Nazir nicht sonderlich viel mit der Erklärung anfangen konnte. „Satan ist ein Krimineller, der aus reiner Selbstsucht Leute zum Bösen verführt und umbringt. Und Samael ist der amerikanische Polizist, der ethnische Minderheiten über den Haufen schießt, weil er sie aus Prinzip für Kriminelle hält. Weil er für das Gesetz arbeitet, kann ihm keiner was und es traut sich auch niemand, sich mit ihm anzulegen. Deshalb toleriert der Himmel ihn als notwendiges Übel und ignoriert seine ständigen Eskapaden.“ „Klingt ja noch schlimmer als die Hölle“, murmelte Nazir und schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich dachte immer, der Himmel steht für Nächstenliebe, Vergebung und Gerechtigkeit und dann arbeitet so jemand für Gott.“ „Mach dir nichts draus, Nazir. Du wärst nicht der Erste, der an so was glaubt. Wenigstens musst du nicht so wie Jesus enden“, erwiderte Malachiel, klopfte seinem Schüler aufmunternd auf die Schulter und wandte sich zum Gehen. „Ich werde mit Gabriel sprechen, Sandy kümmert sich um Eden und du, Matt, passt bitte auf meinen Schüler auf und zögerst Michaels Verurteilung so weit wie möglich hinaus. Bei der beschissenen Bürokratie hier oben sollte das ja keine große Kunst sein.“ Der dämonische Haushälter wollte erst protestieren, denn er wollte schon bei seinem Mentor bleiben und weiterhin von ihm lernen. Doch daraus wurde erst einmal nichts. In dieser aktuellen Situation war es weitaus gefährlicher für ihn, wenn er sich zu viel herumtrieb und unnötig Aufmerksamkeit erregte. Ansonsten könnte er noch in Verdacht geraten, selbst wenn das absoluter Schwachsinn war. Darum war es wesentlich klüger, wenn er vorerst bei Metatron blieb. Denn wer konnte seine Unschuld glaubhafter vertreten als der König der Engel und Gottes Sprachrohr persönlich? Nachdem Malachiel und Sandalphon gegangen waren, blieben Metatron und Nazir alleine zurück. Der König der Engel saß kraftlos in seinem Sessel und hatte sich ein weiteres Glas Wein eingeschüttet, um seine Nerven zu beruhigen. Das alles passte ihm überhaupt nicht. Überhaupt schien hier rein gar nichts so wirklich zu passen. Selbst wenn sie mit ihrer Vermutung Recht hatten und Samael hatte Raphaels Ermordung fingiert um Eden angreifen zu können, sah ihm das einfach nicht ähnlich. Er hatte sich doch nie gegen seine eigenen Leute gewandt, nur um seinen Willen zu kriegen. Trotz allem war Samael ein Engel, der die Reinheit des Himmels mit größerem Eifer verteidigte als alle anderen zusammen. Nun, vielleicht hatte er Michael aus dem Weg schaffen wollen, weil dieser für die Seelenurteile zuständig war. Bedachte man aber dessen niederschmetternde Inkompetenz als Verteidiger der Menschen der letzten Jahrtausende, erschien ihm das doch mehr als unnötig. Aber andererseits drohte diese Krise nun das Blatt zu wenden. Immerhin waren sie jetzt dabei, das Fegefeuer wieder in Betrieb zu nehmen und die Menschen vor der endgültigen Verdammnis zu retten. Es konnte durchaus sein, dass Samael fürchtete, dass alles, wofür er so hart gekämpft hatte, rettungslos verloren schien und er sich deshalb zu dieser drastischen Tat gezwungen sah. Aber warum war Raphael und nicht Michael ermordet worden? Es wäre doch viel effizienter gewesen und hätte viel besser zu Samaels Stil gepasst. Vielleicht hatte Raphaels Tod aber auch einen besonderen Grund. Was wenn das eigentliche Ziel von vornherein jemand anderes gewesen war und er Raphael nur deshalb beiseiteschaffen ließ, weil dieser der mächtigste Heiler im Himmel war? Aber auf wen könnte er es sonst noch abgesehen haben? Je mehr er sich darüber den Kopf zerbrach, umso schlimmer schien seine Stressmigräne zu werden. Warum nur konnte es nicht bei einem einzigen Problem bleiben, um das er sich kümmern musste? „Gott… ich bin wirklich nicht für diesen Job gemacht“, jammerte er und leerte sein Glas. „In meiner Jobbeschreibung stand nur, dass ich Gottes Wort verbreiten soll und mehr nicht. Stattdessen muss ich jetzt alle Entscheidungen alleine treffen…“ „So schlimm ist das nicht“, erwiderte Nazir, der das etwas weniger kritisch sah. „Ich meine… so ergeht es den Menschen tagein tagaus und die kommen ja auch klar. Und so ganz alleine seid Ihr ja nicht. Ihr habt wenigstens jemanden an Eurer Seite, der Euch helfen kann.“ „Das mag schon sein, aber war nie vorgesehen, dass Gott uns einfach so uns selbst überlassen würde“, erwiderte Metatron und vergrub das Gesicht in den Händen. „Warum nur hat er nichts gesagt oder wenigstens einen guten Rat mit auf den Weg gegeben? Ich verstehe das einfach nicht.“ „Das fragen sich die Menschen schon seit Jahrhunderten und sie machen trotzdem irgendwie weiter, ganz gleich wie trostlos es aussieht. Eine andere Wahl bleibt ihnen ja wohl kaum“, meinte Nazir dazu und zuckte mit den Schultern. Er selbst konnte mit dieser Einstellung überhaupt nichts anfangen und verstand auch das Gejammer nicht. Ihn hatte ja auch niemand gefragt, was er vom Leben wollte und ihm hatte auch keiner die Verantwortung abgenommen. Alles, was er jetzt hatte, musste er sich selbst erarbeiten und dieses Konzept schien den Engeln wohl nicht so ganz vertraut zu sein. „Das war alles nicht so vorgesehen“, erklärte der himmlische Regent mit Nachdruck und fiel immer mehr in sich zusammen. „Engel existieren ausschließlich dazu, Gottes Willen auszuführen. Das ist unsere einzige Bestimmung und wir kennen nichts anderes. Wir haben nie ein Leben außerhalb unseres eigenen begrenzten Horizonts gekannt und der einzige Grund, warum hier noch nichts zusammengebrochen ist, liegt einzig und allein daran, weil ich seit 700 Jahren eine Lüge aufrechterhalte. Ein toller Anführer bin ich, wenn alles, was uns als Hoffnung bleibt, bloß eine verschissene Illusion ist. Wir haben niemanden mehr… Gott hat uns alle im Stich gelassen!“ Auch wenn Nazir zugegebenermaßen Mitgefühl für Metatrons Lage hatte und nicht unbedingt in seiner Haut stecken wollte, konnte er sich diese Selbstmitleidstour nicht eine Sekunde länger ansehen. Und als er sah wie der Seraph dabei war, sich noch ein Glas Wein zu gönnen, hatte er endgültig genug. Er war es ja schon gewohnt, dass sein Brotherr ein fauler Sack vor dem Herrn war, aber er sah sich garantiert nicht mit an, wie dessen Lover in Selbstmitleid versank und sich dabei auch noch betrank. Normalerweise war er sehr zurückhaltend und vorsichtig, wenn er sich auf fremdem Terrain bewegte, aber er sah sich garantiert nicht noch weiter dieses Trauerspiel mit an. Bevor Metatron die Chance hatte, sich ein weiteres Glas einzuschenken, riss Nazir ihm die Flasche aus der Hand und bedachte ihn mit einem strengen Blick. „Das kann ja wohl nicht Euer Ernst sein. Euer Bruder und Meister Malachiel reißen sich den Arsch auf um Euch zu helfen und alles was Euch einfällt ist rumsitzen, jammern und Wein zu trinken. Ihr heult hier rum weil Gott nicht da ist um Euch zu sagen was Ihr tun sollt. Aber Ihr verschwendet auch keinen einzigen Gedanken daran, was Ihr alles erreichen könnt. Ihr seid doch der König der Engel und Gottes Stimme. Also habt Ihr doch die Macht, um den Himmel zu einem besseren Ort zu machen. Aber Ihr ergreift diese Chance nicht mal. Ich für meinen Teil versuche etwas zu bewegen und kämpfe weiter, obwohl mir alle sagen, dass ich aufgeben sollte weil es sinnlos ist. Ich mache es allein deshalb, weil ich keine andere Wahl habe als weiterzumachen. Welche Ausrede habt Ihr bitteschön, dass Ihr untätig rumsitzen und im Selbstmitleid versinken könnt, wenn Euch gleichzeitig alle Möglichkeiten der Welt offenstehen?“ Stille kehrte ein und für einen Moment war Metatron wie erstarrt. Noch nie hatte jemand so mit ihm gesprochen und ihn ausgeschimpft wie ein kleines Kind. Es hätte auch niemand gewagt, ihn derart zurechtzuweisen. Aber er musste wohl oder übel zugeben, dass Nazir nicht ganz Unrecht hatte. Selbst Malachiel hatte es ihm schon bereits in Hollingsworth gesagt: er musste nun Eigenverantwortung übernehmen und aufhören, immer nur darauf zu warten, dass Gott zurückkehren und ihm all die Arbeit wieder abnehmen würde. Es war verdammt schwer und er glaubte jetzt weniger denn je dass er jemals in der Lage sein würde, ein vernünftiger Herrscher über das Himmelreich zu sein. Andererseits war Flucht genauso wenig eine vernünftige Option. Seine Passivität hatte ja erst dazu beigetragen, dass sich die Krise in der Hölle derart verschlimmert hatte. Wenn er jetzt wieder den gleichen Fehler machte, würde das noch im völligen Chaos enden und dann hatte Samael gewonnen. Viel wichtiger war aber noch die Tatsache, dass er nicht alleine war und niemand verlangte, dass er alles ganz alleine lösen musste. Er hatte doch Malachiel, der ihm immer mit einem guten Ratschlag zur Seite stand und er hatte seinen Bruder und unzählige andere Engel, die seinem Wort folgen würden. Der gesamte Himmel stand immer noch unter seinem Kommando und er musste endlich Verantwortung für sich selbst und andere übernehmen. Egal wie sehr er es sich auch wünschte, er konnte sich nicht mehr länger darauf verlassen, dass Gott zurückkehren und all seine Probleme lösen würde. Viel zu lange hatte er darauf gewartet und nichts war passiert. Keiner konnte mit Sicherheit sagen, ob Gott jetzt zurückkehren würde. Er hatte lange genug auf ein Wunder gewartet und versucht, jeglicher Verantwortung aus dem Weg zu gehen und es hatte ihn kein einziges Stück vorwärts gebracht. „Du hast Recht“, sagte er schließlich und stand auf. „Ich muss definitiv etwas unternehmen! Komm, wir gehen zum Himmelstribunal um das Tor zum Fegefeuer zu errichten. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Vorfall mit Raphael unser ganzes Vorhaben durcheinanderbringt.“ Na also, geht doch!, dachte sich Nazir und grinste zufrieden. Und so verließen sie gemeinsam Araboth, um das Fegefeuer-Projekt in die letzte Schlussphase einzuleiten, während Sandalphon die Sicherheitsmaßnahmen verstärkte und Malachiel die mysteriösen Umstände zu Michaels angeblichem Verbrechen untersuchte. Kapitel 27: Wein und Wahrheiten ------------------------------- Normalerweise besaß Samael wirklich eine Engelsgeduld. Nun ja, er selbst war ja auch ein Engel und da waren eine lange Ausdauer, Duldsamkeit und unerschütterlicher Wille quasi genetisch veranlagt. Doch die kurze Zeit mit Uriel hatte genügt, um ihn beinahe in einen Wutanfall zu treiben. Alles schien wie verhext zu sein und selbst die kleinen Dinge, die er diesem Jammerlappen auftrug, schienen schief zu gehen. Nicht nur, dass Uriel dumm genug war, um sich bei seinem Diebstahl erwischen zu lassen. Er hatte auch noch den falschen Engel erschlagen und dann zu guter Letzt sogar die Leiche verbummelt. Und das Intelligenteste, was diesem Kerl einfiel war, den einzigen blinden Engel im gesamten Himmel darum zu bitten, ihm bei der Suche nach besagter Leiche zu helfen. Wenn Samael es nicht besser wüsste, wäre er wirklich davon ausgegangen, dass pure Absicht dahintersteckte und Uriel es nur darauf abgesehen hatte, ihn zur Weißglut zu treiben. Doch traurigerweise war dem nicht so. Der Kerl war von Natur aus eine wandelnde Katastrophe und hatte ihm mehr Arbeit gemacht als er eigentlich wert war. Wie in Gottes Namen konnte man überhaupt so dämlich sein und selbst einen Mord derart vermasseln? Selbst er hätte das besser hingekriegt und er brauchte nicht einmal Augen dafür. Sein verbittertes Zähneknirschen war so laut, dass es selbst Luzifer hörte und besorgt kam dieser aus seinem Versteck hervor als er merkte, wie gereizt sein Liebhaber gerade war. „Was ist los? Ist irgendetwas schiefgelaufen?“ „Was schiefgelaufen ist?“ wiederholte Samael und schlug mit der Faust gegen die Wand, um wenigstens ein bisschen Dampf ablassen zu können. „Frag mich lieber, was denn nicht schiefgelaufen ist. Deine Leute haben es nicht hingekriegt, Malachiel und Metatron auf der Erde festzuhalten, dein Kopfgeld auf diesen Dämonenbengel hat keine Wirkung gezeigt, Uriel hat den falschen Engel erschlagen und jetzt ist die Leiche weg.“ „Wie jetzt die Leiche ist weg?“ fragte Luzifer ungläubig. „Wie in Satans Namen kann man denn bitteschön eine Leiche verlieren?“ „Das frage ich mich auch gerade“, rief der Todesengel sauer und knirschte so laut mit den Zähnen, dass es an ein Wunder grenzte, dass man es nicht bis in die hintersten Ecken des himmlischen Königreichs gehört hatte. „Und dann soll ich ihm dabei helfen, nach besagter Leiche zu suchen. Inzwischen komme ich mir vor wie im Zirkus. So viele Jahre habe ich auf den perfekten Plan hingearbeitet und nun ist alles hinfällig, nur weil Uriel zu dumm für die einfachste Aufgabe ist. Da baut man auf die Dummheit und Inkompetenz der Allgemeinheit und dann scheitert der Komplott an der Dummheit und Inkompetenz der eigenen Handlanger…“ Luzifer konnte diesen Ärger durchaus nachfühlen. Wie viele gefallene Engel waren erst aufsässig geworden, weil sie die Schnauze voll von der Inkompetenz des himmlischen Personals hatten? Und wie oft ärgerte er sich selbst über die Unfähigkeit seiner eigenen Leute im Kellergeschoss der Welt? Zugegeben, er hatte nicht sonderlich viel von Samaels Plan gehalten. Im Groben klang er zwar ganz gut, aber seiner Meinung nach waren da einfach zu viele Extraschritte drin gewesen und überhaupt war er einfach zu kompliziert. Da war es eben abzusehen, dass alles hinfällig wurde, wenn auch nur eine winzige Sache schief ging. Es war zwar schön und gut, dass sein Plan darauf baute, dass seine Gegenspieler inkompetent und leicht zu manipulieren waren. Nur leider hatte Samael dabei offensichtlich vergessen, seinen eigenen Plan narrensicher zu machen. Er sprach dies aber nicht direkt aus, denn er hatte keine Lust, sich zu streiten und wenn Samael so gereizt war, sollte man lieber nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen. Stattdessen begann er zu überlegen, wie sie jetzt am besten vorgehen sollten, um doch noch ans Ziel zu gelangen. Auch wenn nicht alles optimal verlaufen war, hatte es zumindest teilweise geklappt. Michael war wegen Mordes verhaftet worden und Gabriel hatte ihn verraten, Raphael war Geschichte und wenn sich herausstellte, dass Michael nicht der Mörder war, würde Uriel für alles belangt werden. „Wie wäre es, wenn ich ein wenig die Lage beobachten gehe? Vielleicht findet sich ja irgendwo die passende Gelegenheit, um noch ein bisschen Ärger zu machen, damit wir in die nächste Phase übergehen können. Oder ich könnte versuchen, nach Raphael zu suchen. Wenn er wider Erwarten doch noch überlebt haben sollte, muss er sich irgendwo versteckt halten. So eine schwere Verletzung kann selbst er nicht so ohne weiteres heilen.“ An dem Punkt war durchaus etwas dran. Zwar bezweifelte Samael, dass der himmlische Heiler einen Schwertstoß in die Brust überlebt haben konnte, aber andererseits musste er Uriels allgemeine Unfähigkeit gegenhalten. Da war es tatsächlich nicht so unwahrscheinlich, dass Raphael durch irgendeine göttliche Fügung überlebt haben könnte. Ging man davon aus, dass er noch am Leben war, stellte sich die Frage, wohin er verschwunden war und warum. Er hätte genauso gut eine der unzähligen Wachen oder vorbeilaufenden Engel alarmieren können. Vielleicht war er ja bereits zu der Schlussfolgerung gekommen, dass Uriel für jemanden arbeitete und war deshalb geflüchtet, damit er sich nicht noch weiter in Gefahr brachte. Dummerweise konnte er sich sowohl im Himmel als auch auf der Erde aufhalten und ihn aufzuspüren bedeutete somit, die Nadel im Heuhaufen zu suchen. „Es macht keinen Sinn, unnötig Zeit und Aufwand darauf zu verschwenden, nach ihm zu suchen“, erklärte Samael schließlich und beruhigte sich wieder ein wenig. Wenn er sich zu sehr in seine Wut hineinsteigerte, würde das auch nichts bei seinen Eroberungsplänen nützen. „Er könnte überall sein und wenn er lebt, wird er sich nicht zeigen, bevor er sich nicht vollständig von seiner Verletzung erholt hat. Wir konzentrieren uns auf den nächsten Angriff. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, wird Metatron damit beschäftigt sein, das Fegefeuer-Projekt in die Schlussphase einzuleiten. Du wartest einen passenden Moment ab, um ihn aus dem Weg zu schaffen. Mach es am besten dann, wenn er alleine ist. Er ist zwar mächtig, aber kein ausgebildeter Kämpfer. Ich werde mich um Malachiel kümmern. Wenn wir die beiden erledigt haben, hat der Himmel niemanden mehr, der das Kommando angibt und das Chaos nutzen wir dann, um den Angriff auf das Heiligtum zu starten.“ Mit dieser Entscheidung war Luzifer mehr als zufrieden. Wenigstens war der neue Plan nicht so unnötig kompliziert und fehleranfällig wie der alte. „Kannst dich auf mich verlassen“, versprach er, verwandelte sich daraufhin in eine kleine Fliege und machte sich dann unbemerkt auf den Weg. Malachiel brauchte nicht lange um herauszufinden, wohin Gabriel nach Michaels Verhaftung verschwunden war. Wie sich nämlich schnell herausstellte, war der zweite Erzengel kurz nach Michaels Verhaftung in den vierten Himmel Machonon aufgebrochen, um dort seine Sorgen zu vergessen. Und welcher Ort war dafür besser geeignet als die Partymeile New Jerusalem, die unter manchen Menschen in Eden auch als „Veganerhölle“ bekannt war. Der Grund dafür war, dass es in der Stadt außer Kneipen fast ausschließlich nur Steakhäuser und Grillbuden gab. Überall wo man hinsah, entdeckte man Neonschilder, die Namen trugen wie „Abels Grillparadies“, „Aarons BBQ Tempel“ oder „Jakobs Schlemmerhütte“. Die einzige Alternative bot die Restaurantkette „Simons Fischbude“, die aber nicht ganz so gut lief. Malachiel konnte sich noch grob an „Nadabs & Abihus Steakpalast“ erinnern, aber der Laden war leider inzwischen vom himmlischen Ordnungsamt aufgrund diverser Hygienemängel geschlossen worden. Der Grund warum es überhaupt so viele Grillbuden und –restaurants gab war schlicht und ergreifend der Leidenschaft Gottes geschuldet. Schon seit der Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies hatte er eine große Schwäche für Barbecue gehabt und auch kein sonderlich großes Geheimnis daraus gemacht. Und weil die Menschen nicht auf den Kopf gefallen waren und eins und eins zusammenzählen konnten, hatten sie regelmäßig Grillfeste veranstaltet um den Herrn milde zu stimmen. Denn ein gut gelaunter Gott ließ sich leichter zu ein paar Wundern bewegen, die das harte Leben der Leute etwas erleichterten. Und da Gott ein Feinschmecker war, hatte der Levitikus besonders großen Wert auf eine detaillierte Anleitung für die perfekte Grillzeremonie gelegt. Damals war Veganismus noch nicht sonderlich im Trend gewesen und verbranntes Gemüse roch bei weitem nicht so gut wie ein saftiges Steak. Als die Menschen aber damit begannen, ihre Ernährung umzustellen und Brandopfer allmählich aus der Mode kamen, ließ Gott stattdessen unzählige Restaurants in Machonon eröffnen, um seiner Leidenschaft weiter frönen zu können. Malachiel konnte es dem Herrn schlecht verübeln, dass dieser ein so leidenschaftlicher Barbecue-Gourmet war. Allein beim Geruch, der ihm aus den Imbissbuden und Restaurants um die Nase wehte, bekam er ordentlich Appetit und ihm lief das Wasser im Munde zusammen. Er hätte nichts gegen ein leckeres T-Bone-Steak oder ein paar ordentlich marinierte Hühnerschenkel gehabt, vielleicht sogar ein paar Lammspieße. Aber das musste erst mal warten, denn er hatte Wichtigeres zu tun und er durfte Metatron nicht hängen lassen. Vielleicht fand er ja nach der ganzen Sache genug Zeit, um sich ein paar Leckereien zu gönnen. Für gewöhnlich bestand seine Diät auf der Erde fast ausschließlich nur aus Äpfeln, da durfte man sich auch mal eine kleine kulinarische Sünde durchaus erlauben. Nach kurzem Suchen fand er Gabriel in der „Kana Enoteca“, einer einst sehr beliebten und ziemlich gut laufenden Vinothek, die Jesus einst gegründet hatte nachdem er in den Himmel zurückgekehrt war. Wenn Jesus von etwas Ahnung hatte (abgesehen von seinem eigentlichen Beruf als Zimmermann), dann war es die Kunst, Wasser in Wein zu verwandeln. Und das konnte er wie kein anderer. Nachdem er aber den Himmel verlassen und den Laden aufgegeben hatte, war dieser zu einer schlichten Kneipe verkommen, in der nicht nur erlesene Weine, sondern auch andere Spirituosen serviert wurden. Und die waren bei weitem nicht so qualitativ wie das, was Jesus seinen Gästen serviert hatte. In einer dunklen Ecke saß Gabriel und wäre die Beleuchtung besser gewesen, hätte man ihn bei dem blassen Gesicht für ein Gespenst halten können. Er bot ein recht jämmerliches Bild und wirkte nicht sonderlich glücklich. Ob der Alkoholkonsum daher rührte, dass der himmlische Botschafter den Schock zu verdauen versuchte oder eher seine Schuldgefühle ertränken wollte, würde sich noch herausstellen. Insgeheim zweifelte Malachiel daran, dass Gabriel wirklich so abgebrüht war und sich aktiv an dieser Mordgeschichte beteiligt hatte. Selbst bei all den Streitigkeiten zwischen ihm und Michael wäre Gabriel sicher nicht gehässig genug, um jemanden umzubringen und den Mord seinem unliebsamen Kollegen in die Schuhe zu schieben. Ebenso glaubte er auch nicht, dass der zweite Erzengel überhaupt von dem Mord gewusst hatte. Also war er entweder in eine Falle getappt oder es war alles nur ein richtig dummer Zufall. Wenn sich Malachiel zumindest bei einer Sache sicher war, dann war es die, dass Gabriel trotzdem irgendwie in der ganzen Geschichte mit drin hing. Entweder hatte er gelogen um seinen unliebsamen Kollegen loszuwerden, oder er hatte die Wahrheit gesagt und war dazu gebracht worden, Michael ans Messer zu liefern. Was es auch sein mochte, er würde es schon noch herausfinden. Es war ja nicht unbedingt schwer, einen Engel zum Singen zu bringen, wenn man wusste, welche Knöpfe man drücken musste. Ohne sich etwas zu bestellen, setzte sich Malachiel zu dem kreidebleichen Erzengel, der sich mit etwas nervöser Hand ein Glas einschenkte. Als dieser aber bemerkte, wer sich da zu ihm setzte, wich seine Nervosität und stattdessen verdüsterte sich seine Miene. „Was willst du?“ fragte Gabriel in einem etwas barschen Ton. „Ich habe gerade keine Lust für deine Spielchen!“ „Ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen“, erwiderte Malachiel unbeeindruckt und lehnte sich lässig zurück. „Hab gehört, was passiert ist und dachte mir, wir sollten das zusammen feiern. Jetzt da diese Flachzange verhaftet wurde, ist der Job als Verteidiger wieder frei. Endlich eine Sorge weniger, um die wir uns kümmern müssen. Immerhin hat Michael mit seiner Unfähigkeit genug unschuldige Seelen in die Verdammnis geschickt. Da wird’s mal Zeit, dass er mal seine eigene Medizin zu schlucken kriegt.“ Gabriel sagte nichts dazu, sondern starrte auf sein Weinglas, ohne es wirklich anzurühren. Man sah ihm an, dass sein Verlangen stark war, doch er konnte sich nicht dazu bringen, sich zu besaufen. Jemand, der die Leute gut durchschauen konnte so wie Malachiel, konnte schnell erkennen, dass den Erzengel Schuldgefühle plagten und es ihn davon abhielt, einfach zu trinken und alles zu vergessen. Aber woher kamen die Schuldgefühle? Genau diese Frage war entscheidend. „Ich fand’s schon beim ersten Meeting ironisch, dass Michi ausgerechnet auf Samaels Seite steht. Hat mich auch immer gewundert, wie zum Geier der überhaupt an den Job gekommen ist. Mal im Ernst: hat er die richtigen Leute bestochen oder sich vielleicht sogar hochgebumst?“ „Keine Ahnung“, erwiderte Gabriel nur, schaute Malachiel aber nicht in die Augen. Er hatte überhaupt keine Lust dazu, mit irgendjemandem zu reden, traute sich aber auch nicht, es laut auszusprechen. Vielleicht weil er Sorge hatte, dass man ihm auf die Schliche kommen könnte? „Ich habe sowieso das Gefühl, ihn überhaupt nicht mehr zu kennen. Er hat sich so verändert, dass ich inzwischen überhaupt nicht mehr weiß, wer er ist.“ „Da ist er nicht der Einzige. Ihr alle seid gleichermaßen völlig verkommen, dass selbst mein Schüler sofort gesehen hat, dass Ihr auf dem besten Weg seid, gefallene Engel zu werden.“ Nun sah Gabriel ihn direkt an und seine Augen weiteten sich. Erst wirkte er erschrocken darüber, doch dann übermannte ihn die Wut und er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich bin nicht derjenige, der unschuldige Menschen in die Hölle geschickt hat. Immerzu habe ich diesen Bastard gerettet und mich schützend vor ihm gestellt und alles für ihn abgefangen. Aber hat das je einer zur Kenntnis genommen? Nur weil mir das Wohl von Menschen mehr am Herzen liegt als diese völlig veralteten Gesetze, unterstellt man mir gleich, ich würde mich wie Luzifer oder Satan aufführen!“ Doch davon ließ sich Malachiel nicht beirren. Sie beide wussten, dass dies nicht das eigentliche Problem war, aber das wollte der gute Gabriel halt nicht wahrhaben. Es war Zeit, dass man ihm mal den Spiegel vorhielt und die Augen öffnete. „Ja, ja. Immer sind alle anderen schuld und du bist immer das Opfer. Schon kapiert. So haben sich die zwei Dämonen-Azubis auch aufgeführt, die ich vor meiner Abreise getroffen habe. Genau die gleiche scheinheilige Attitüde und Opfermentalität. Echt Mann… ist das so eine Art neuer Trend oder so?“ „Ich führe mich nicht wie ein Opfer auf und hör auf, mich mit irgendwelchen Dämonen zu vergleichen“, protestierte Gabriel lautstark und wurde so langsam richtig wütend. Aber genau darauf spekulierte Malachiel. Er hatte ihn genau an der richtigen Stelle getroffen und musste ihn nur noch ein bisschen weiterbearbeiten. Der zweite Erzengel merkte nicht einmal, dass er geschickt ausgehorcht wurde, sondern redete sich immer weiter in Rage. „Alles was ich wollte war bloß, dass er einfach mal anerkennt was ich für ihn tue und dass er endlich mit dieser Nummer aufhört. Ständig hält er einem vor, dass die Gesetze das Wichtigste seien und kümmert sich dabei überhaupt nicht um die Gefühle anderer!“ „Schon mal über eine Paar-Therapie nachgedacht?“ „Wir sind kein Paar!“ erwiderte Gabriel wütend und schlug erneut mit der Faust auf den Tisch um seine Klarstellung zu untermauern. Der Halb-Engel zeigte sich ein wenig erstaunt und meinte überrascht „Klingt für mich aber eher nach zwei Eheleuten in der Beziehungskrise.“ Da das wohl ein rotes Tuch war, beschloss Malachiel, das Thema lieber erst mal nicht mehr anzusprechen und stattdessen wieder zur Sache zu kommen. „Naja… in Zukunft brauchst du dir da ja keine Gedanken mehr drum zu machen. Du hast es ihm ja wirklich gezeigt, indem du ihn angeschwärzt hast. Und bald brauchst du dich nie wieder über ihn zu ärgern. Dann hat sich das Thema Michael eh erledigt.“ Augenblicklich wich die Wut aus Gabriels Miene und stattdessen wirkte er nun geschockt und irritiert. Er war wohl davon ausgegangen, dass es bloß bei einem Besserungsseminar und einer Degradierung für Michael bleiben würde. Doch so leicht wollte Malachiel ihn nicht davonkommen lassen und ließ nun seine dämonische Seite spielen, um seinen Gegenüber ein wenig in Panik zu versetzen. Er schaute sich kurz nach links und rechts um als wolle er sichergehen, dass sein kleines Geheimnis nicht die große Runde machte und beugte sich dann zu Gabriel vor um ihm etwas zuzuflüstern. „Sag bloß, du hast es noch nicht gewusst. Engel, die ihresgleichen töten, werden nicht in die Hölle verbannt. Sie werden durch Dämonenfeuer hingerichtet um ein Exempel zu statuieren. Sobald Michael also für schuldig befunden wird, wird er geröstet wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen.“ Zugegeben, das mit dem Dämonenfeuer war absoluter Quatsch, den er da erzählte. Nie und nimmer hätte Metatron sich zu so einer drastischen Methode hinreißen lassen und die Idee über diese Hinrichtung hatte sich Malachiel aus einer Serie geklaut, die er letztens zusammen mit Nazir angeschaut hatte. Aber manchmal musste man die Wahrheit ein bisschen verbiegen, damit man ans Ziel gelangte. Außerdem war er nicht umsonst zur Hälfte Dämon. Da war die eine oder andere Unanständigkeit durchaus vertretbar, solange sie einem guten Zweck diente. Gabriel war zunächst skeptisch und wollte es gar nicht glauben. „Das… das würde Gott niemals tun…“, erwiderte er zögerlich, war selbst nicht so ganz von seinen eigenen Worten überzeugt. Malachiel legte deshalb noch eine Schippe drauf, beugte sich noch weiter vor und flüsterte „Was glaubst du wohl, woher ich das weiß?“ Nun wurde dem zweiten Erzengel wirklich angst und bange. Er hatte zunächst noch gehofft, dass es bei einer Schulung in der Besserungsanstalt oder schlimmstenfalls bei einer Höllenverbannung bleiben würde. Doch dass stattdessen die endgültige Vernichtung Michaels drohte und er Mitschuld daran trug, war selbst für ihn zu viel. Ihm entgleisten nun völlig die Gesichtszüge, als ihm so langsam das ganze Ausmaß seines Handelns bewusst wurde. „Das… das kann er doch nicht tun“, brachte er entsetzt hervor. „Michael ist… er ist doch kein Schwerverbrecher.“ „Ist er nicht?“ wunderte sich Malachiel. „Du hast doch gesagt, dass er es Raphael heimzahlen wollte.“ „Ja, habe ich“, gab der zweite Erzengel sofort zu. „Aber er wird doch nicht gleich…“ „Du hast ihm einen Mord zugetraut!“ unterbrach ihn der Halb-Engel und nagelte ihn weiter fest. „Du warst so überzeugt davon, dass er ein Mörder ist, dass du ihn bei der nächstbesten Gelegenheit direkt ans Messer geliefert hast. Oder hat dich bloß der Gedanke in Versuchung geführt, dass du einen unliebsamen Kontrahenten aus den Weg schaffen kannst? Damit würden immerhin unzählige Menschen vor der Verdammnis bewahrt werden, aber gleichzeitig schützt du damit auch Raphaels eigentlichen Mörder. Und sobald das ans Tageslicht kommt, sieht es für dich echt übel aus, mein Lieber.“ Nun begann Gabriel das ganze Ausmaß seiner Tat bewusst zu werden und seine Unterlippe begann zu zittern. Seine Augen starrten apathisch ins Leere als er realisierte, wie schändlich sein Verhalten war. Er war so überzeugt davon gewesen, dass sein Vergehen dem Wohl der Menschheit diente und hatte dabei nicht nur Michael, sondern auch sich selbst verraten. Und nun musste er langsam erkennen, dass das bloß naives Wunschdenken war. Im schlimmsten Fall würde Michael vernichtet werden und wenn sein falsches Spiel ans Licht kam, würde ihm vermutlich das Gleiche drohen. Immerhin war jemand durch seine Entscheidung gestorben. Malachiel brauchte nicht noch eine Schippe draufzulegen. Er konnte es genau an Gabriels Gesicht ablesen, dass diese Geschichte um Michaels bevorstehende Hinrichtung ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. „Zu dumm, dass wir keinerlei Indizien dafür haben, wer der echte Mörder sein könnte“, meinte der Halb-Seraph ganz beiläufig. „Aber nach aktuellem Stand sieht die Beweislage mehr als eindeutig aus.“ „Michael würde so etwas nicht tun“, beharrte Gabriel mit deutlichem Nachdruck. „Ich weiß nicht, wer es auf Raphael abgesehen haben könnte, aber so wie ich diesen Gauner kenne, hat der sich so einige Feinde gemacht. Wenn ich wüsste, wer so weit gehen würde, ihn tatsächlich umzubringen, hätte ich es längst gesagt.“ „Verstehe“, murmelte Malachiel und beließ es dabei. Eines stand jedenfalls fest: Gabriel war kein Lügner. Er hatte tatsächlich keine Ahnung, wer hinter dem Mord steckte und hatte höchstwahrscheinlich aus reinem Affekt heraus seinen Kollegen angeschwärzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihn jemand angestiftet hatte, Michael in den Rücken zu fallen, war relativ gering. Außerdem war er nicht dumm genug um ausgerechnet auf jemanden wie Samael zu hören. Gabriel war einer der wenigen Engel im Himmel, die das wahre Wesen dieses hasserfüllten Todesengels kannten und ihm nicht über den Weg trauten. Entweder hatte Luzifer dazwischengefunkt und Gabriel einen Floh ins Ohr gesetzt oder der Erzengel war von selbst auf den Gedanken gekommen. Nun, er hatte seinen Job erledigt und jetzt galt es abzuwarten, was Gabriel als nächstes tun würde. So wie er ihn einschätzte, würde dieser es nie im Leben zulassen, dass Michael hingerichtet wurde. Dazu hing er einfach zu sehr an ihm und vor allem würde er es nicht mit seinem eigenen Gewissen vereinbaren können. Gabriel mochte so einiges sein, aber er war ganz gewiss kein Kameradenschwein. Im besten Fall würde er alles tun um Michael zu entlasten und ihm aus der Patsche zu helfen, so wie er es immer tat. „Na dann…“, sagte der Halb-Engel schließlich und erhob sich von seinem Platz. „Ich geh mir jetzt was zu essen holen. Dieser penetrante Grillgeruch da draußen hat mich total hungrig gemacht. Tja… dann bis demnächst, Gabi. Und sauf nicht zu viel, immerhin musst du ja noch nach Hause fliegen!“ Damit ließ er Gabriel alleine, der weiter still an seinem Platz saß, ins Leere starrte und immer noch nicht sein Glas Wein angerührt hatte. Unzählige Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, die er erst einmal für sich sortieren musste um sich wieder halbwegs zu fangen. Um den Prozess etwas zu beschleunigen, fluchte er leise „Ach zum Teufel…“, griff nach dem Glas und leerte es in wenigen Zügen. Noch bevor der Alkohol seine Wirkung gänzlich entfalten konnte, stand Gabriel auf, atmete noch einmal tief durch um sich zu sammeln und verließ die Kana Enoteca um schnellstmöglich nach Mathey zu gelangen. Kapitel 28: Ab durch die Mitte ------------------------------ Das Gefängnis in Mathey war ähnlich wie das Höllengefängnis Abaddon in verschiedene Trakte aufgeteilt. Das erste Gebäude war die Besserungsanstalt, wo die Seminare für die Querulanten gehalten wurden, die wieder resozialisiert werden sollten. Der zweite weitaus strenger bewachte Teil war für Engel, die die Gesetze gebrochen hatten und erst ihre Strafe verbüßen mussten, bevor sie am Resozialisierungskurs teilnehmen durften. Der dritte Trakt war für diejenigen, auf die noch das endgültige Urteil warteten. Hier kamen alle hin, die Untersuchungshaft angeordnet bekommen hatten und selbst wenn sie am Ende für unschuldig befunden wurden, änderte es leider nichts daran, dass man seinen Ruf weg hatte. Immerhin musste es ja einen Grund geben, warum man überhaupt erst in Verdacht geraten war. Michael hatte dieses Gefängnis schon immer gehasst, insbesondere diesen bescheuerten Kurs, der seiner Meinung schlimmer war als die Hölle. Früher, bevor er zu dem wurde der er heute war, hatte er ständig an diesen dämlichen Kursen teilnehmen müssen, bis er sie irgendwann auswendig kannte. Aber das waren damals noch ganz andere Situationen gewesen, die ihn in Schwierigkeiten gebracht hatten und jeder wusste, dass er seinen Rang mehr als verdient hatte. Doch nun war die Situation anders. Kaum hatte sich herumgesprochen, dass ihm der Mord an einen Kollegen zur Last gelegt wurde, hatten ihn selbst seine Kameraden mit abwertenden Blicken gestraft Obwohl sie ihn alle schon seit tausenden von Jahren kannten, hatte es sie nicht davon abgehalten, ihn als Mörder zu verurteilen. Am schlimmsten aber hatte ihn das mit Gabriel getroffen. Nie im Leben hätte er gedacht, dass ausgerechnet dieser ihm so in den Rücken fallen würde. Nun war er ganz alleine und hatte niemanden mehr, auf den er sich noch verlassen konnte. Er, der einst strahlende Held des Himmels der Satan besiegt hatte, war nun ein Verbrecher, der bald als gefallener Engel enden würde. Was für eine bittere Ironie… Niedergeschlagen saß er in einer Ecke seiner Zelle und starrte apathisch auf den Boden. Wenigstens waren die Gefängnisse in einem weitaus gepflegteren Zustand als die in der Hölle. Das Schlimmste aber war die Ungewissheit. Es konnte Tage, Wochen und vielleicht sogar Monate vergehen, bis er endlich mal einen richtigen Prozess bekam. Die himmlische Justiz war in etwa genauso langsam wie die Bürokratie weil beides eng miteinander verknüpft war und auch hier keiner so wirklich wusste, wer denn jetzt eigentlich für die Verurteilungen zuständig war und wer nicht. Und dieses schlimmstenfalls ewig lange Warten fürchtete er am meisten. Es konnte sogar sein, dass er überhaupt keinen Prozess bekam. Wenn die Beweislage eindeutig zu sein schien, würde er verurteilt werden ohne überhaupt die Chance zu bekommen, sich einigermaßen verteidigen zu können. Da hatten es die Menschen weitaus besser. Naja… zumindest jene mit einer funktionierenden Regierung, die etwas von fairen Gerichtsprozessen verstand. Die Tür zu seiner Zelle wurde geöffnet und Michael rechnete zuerst damit, dass er verhört werden würde. Doch zu seiner Überraschung und Verwunderung war es ausgerechnet Gabriel, der von einem Wächter hereingeführt wurde. „Was machst du denn hier?“ fragte der erste Erzengel und fürchtete schon, dass sein Kollege nur gekommen war, um die Demütigung noch schlimmer zu machen. Doch dergleichen blieb aus. Stattdessen wandte sich Gabriel dem Wächter zu und befahl ihm: „Lass uns alleine. Ich will ihn alleine verhören.“ Der Wächter salutierte und verließ daraufhin die Zelle. Die Tür fiel hinter ihnen zu und Gabriel und Michael waren nun alleine. „Jetzt auf einmal spielst du dich nach all der Zeit wieder als himmlischer General auf“, stellte Michael trocken fest und wandte den Blick ab. „Passt dir ja ganz hervorragend in den Kram, um mir noch eins draufzugeben, was?“ „Ich bin nicht hier um mich mit dir zu streiten, Michael“, erwiderte Gabriel und stellte sich ihm gegenüber an die Wand gelehnt hin und verschränkte dabei die Arme. Sein forschender Blick blieb auf seinen gedemütigten Kollegen haften. „Ich will mit dir reden, das ist alles. Außerdem ist jetzt gerade wirklich nicht der Zeitpunkt für Streitereien.“ „Wozu? Die Situation sieht doch mehr als eindeutig aus! Was gibt’s da noch groß zu bereden? Alle haben mich doch schon für schuldig befunden“, rief der erste Erzengel verzweifelt und vergrub das Gesicht in den Händen. Er hatte das Gefühl, als würde die ganze Welt auf ihn einstürzen und es gäbe keinerlei Rettung für ihn. Wer sollte ihm auch schon glauben? Man hatte ihn mit der Mordwaffe in der Hand am Tatort gefunden und er hatte noch vorher angekündigt gehabt, es Raphael heimzahlen zu wollen. Man musste schon echt dämlich sein um nicht zu schlussfolgern, dass er sich mehr als verdächtig gemacht hatte. „Selbst du glaubst allen Ernstes, ich hätte ihn getötet! Ausgerechnet du traust mir so etwas zu.“ „Ich weiß und es tut mir leid!“ Mit diesen Worten sank der himmlische Botschafter zusammen und wirkte genauso niedergeschlagen und hoffnungslos wie Michael. Beschämt wandte er den Blick ab und konnte ihm nicht einmal in die Augen sehen. „Es war absolut falsch und ich hätte das nicht tun dürfen. Aber… ich weiß auch nicht. Du hast dich so verändert und ich wusste einfach nicht mehr, wer du überhaupt noch bist.“ „Ich habe mich verändert?“ platzte es aus dem Inhaftierten heraus und er starrte seinen Gegenüber fassungslos an. „Du bist doch derjenige, der nicht mehr wiederzuerkennen ist. Du warst damals General der Armee und hast die tödlichste Legion angeführt. Dann schmeißt du einfach alles hin, spielst nun Tagesmutter in Eden und beschimpfst deine ehemaligen Kameraden als kriegstreibende Blutsäufer. Und dann tust du auch noch so, als hättest du nie etwas mit denen zu schaffen gehabt und als wärst du über alle Fehler erhaben. Du bist zu einem völlig anderen Engel geworden und ich verstehe bis heute nicht, was zum Henker in dich gefahren ist!“ „Ich war es halt leid gewesen, stets und ständig Menschen abzuschlachten“, warf Gabriel lautstark zurück und stapfte dabei mit dem Fuß auf den Boden. Er war aufgebracht und emotional, was aber mehr der Tatsache geschuldet war, dass es ihm schwer fiel, seine eigene Vergangenheit zu akzeptieren und sich einzugestehen, dass Michael nicht ganz Unrecht hatte. Er hatte sich wirklich verändert, aber er war der Überzeugung gewesen, dass es zum Wohl der Menschen geschehen war, während Michael selbst bloß auf einem Egotrip war. Aber so ganz traf es die Wahrheit nicht. Er hatte sich die ganze Zeit für etwas Besseres gehalten und hatte es nicht einmal wahrhaben wollen. „Glaubst du es hat mir Spaß gemacht, die Erstgeborenen der Ägypter zu töten und das Wehklagen ihrer Eltern zu hören? Oder die Sache mit dem goldenen Kalb, weil die Israeliten es leid waren, jahrelang ziellos durch die Wüste zu tingeln? Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, immerzu nur Menschen zu töten, vor allem unschuldige! Wie kannst du das denn überhaupt verantworten? Du warst doch früher immer derjenige gewesen, der ständig über die Stränge geschlagen ist um die Leute in Schutz zu nehmen. Ich musste doch ständig ein gutes Wort für dich einlegen, damit du nur an diesem bescheuerten Besserungskurs teilnehmen musstest!“ Eine unangenehme Stille trat ein und beide brachten es nicht fertig, einander in die Augen zu sehen. So viel war passiert und so vieles war niemals offen und ehrlich ausgesprochen worden. Damals, bevor sich die Dinge geändert hatten, waren sie beide noch ganz andere Engel gewesen und man konnte zu Recht behaupten, dass sie ihre Rollen komplett getauscht hatten. Gabriel war lange Zeit ein hohes Tier des himmlischen Militärs gewesen. Er erfüllte sowohl die Aufgabe als Gottes Botschafter sowie auch als General der zweiten Legion, welche bloß als „Henkerkommando“ bekannt war. Er führte damals die blutigsten Einsätze von allen durch. Die Plagen Ägyptens, die Zerstörung von Sodom und Gomorrha, der Massenmord an den Israeliten nach der Sache mit dem goldenen Kalb… all das ging auf Gabriels Konto. Irgendwann war er es leid gewesen, immer nur Tod und Zerstörung über die Menschheit zu bringen, hatte seinen Job als General deshalb an den Nagel gehängt und lange Zeit nur als einfacher Botschafter gearbeitet. Nachdem Sandalphon seinen alten Posten als Schutzengel der Kinder und Neugeborenen abgeben wollte, hatte Gabriel dies als Chance für einen Neuanfang gesehen. Michael hatte sich stattdessen in die entgegengesetzte Richtung entwickelt. Er war früher ein Querulant vor dem Herrn gewesen, der sich nicht immer an die Regeln gehalten hatte, aber dafür immer Resultate vorweisen konnte. Er war der Beschützer der Menschheit, Verteidiger des Himmels und wurde sogar als „der Gottgleiche“ bezeichnet. Aber irgendwann wurden die Schwierigkeiten zu groß, in die er sich immer wieder reinmanövrierte und er war daraufhin zu einem stoischen Erbsenzähler geworden, der wie ein Besessener die Regeln befolgte und es nicht mal wagen wollte, sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie beide hatten sich in die komplette Gegenrichtung entwickelt und es selbst nicht wirklich gemerkt. Und keiner von ihnen hatte es überhaupt für nötig befunden, mal offen und ehrlich darüber zu sprechen. Da war es abzusehen, dass es zu Missverständnissen kam, die sich im Laufe der Jahre immer weiter verschlimmerten, bis es dann schließlich eskalierte. Nun, da sie beide erkennen mussten, dass sie all diese Streitereien hätten vermeiden können, wenn sie mal vernünftig miteinander gesprochen hätten, wurde es endlich Zeit, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Michael legte den Kopf zurück und starrte mit einem trübsinnigen Blick auf die Decke seiner Zelle. „Erinnerst du dich noch an den Einsatz in Sodom und Gomorrha? Wir beide waren damals mit der Mission betraut worden.“ „Wie könnte ich das jemals vergessen…“, seufzte Gabriel und wollte sich lieber nicht die Bilder in Erinnerung rufen. „Das war einer der schlimmsten Einsätze, die ich damals hatte…“ „Dann erinnerst du dich vielleicht noch an Lot und seine Familie“, fuhr Michael fort und musste feststellen, dass selbst nach all der Zeit die Erinnerung an diese eine Nacht immer noch so lebhaft in seinem Gedächtnis geblieben war, als wäre es erst gestern gewesen. „Der Befehl lautete damals, restlos alle Menschen in diesen zwei Städten auszulöschen. Lots Familie war da keine Ausnahme, weil Gott es nicht gepasst hat, dass der Kerl seine Tochter einer Gruppe Vergewaltiger überlassen wollte. Zugegeben, das war wirklich scheiße was er gemacht hat, aber ich wollte nicht, dass die Familie sterben muss, nur weil die Leute in der Stadt allesamt einen Dachschaden hatten. Also habe ich sie damals heimlich aus der Stadt geschleust, während du mit der Zerstörung angefangen hast.“ Der zweite Erzengel hielt inne und musste sich zurückerinnern. Es war ihm durchaus im Gedächtnis geblieben, dass Michael zu irgendeinem Zeitpunkt plötzlich verschwunden war, aber er hatte es einfach darauf geschoben, dass dieser mit der anderen Stadt beschäftigt gewesen war. Dass dieser aber stattdessen heimlich eine Familie rausgeschmuggelt hatte, die ebenfalls vernichtet werden sollte, hätte er nicht erwartet. Nun machte das Ganze weitaus mehr Sinn. Michael fuhr mit seiner Erklärung fort: „Gott hat natürlich Wind davon bekommen und ich hatte erst gedacht, dass ich bloß wieder in diesen blöden Kurs muss. Aber dieses Mal war es anders gewesen. Er war rasend vor Zorn! Und weil du den Einsatz geleitet hast, wollte er dich dafür bestrafen. Ich habe ihn umstimmen können, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ich nie wieder so etwas tun würde. Wenn ich mir noch mal so etwas erlauben würde, dann wäre es das gewesen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich echt Angst gehabt…“ „Micha…“, entfuhr es dem zweiten Erzengel und nun wurde ihm so einiges klar. Jetzt ergab es einen Sinn, warum Michael sich so widersprüchlich verhalten hatte. Er hatte immer gedacht gehabt, ihm wäre alles egal geworden und seine Karriere wäre ihm weitaus wichtiger als die Menschen, die er zu beschützen geschworen hatte. Aber da hatte er wohl falsch gelegen. „Warum hast du nie was gesagt?“ „Weil ich unter Eid ausgesagt habe, dass du von der ganzen Sache nichts wusstest und ich wollte, dass es dabei bleibt“, erklärte Michael und fuhr sich mit einem müden und abgeschlagenen Seufzer durch sein goldblondes Haar. „Ich bin nicht blöd, verdammt. Hätte ich dir davon erzählt, wärst du durchgedreht und hättest versucht, dich wieder vor mich zu stellen. Wenn das passiert wäre, dann hätte es so ausgesehen, als hättest du doch darüber Bescheid gewusst und dass ich gelogen hättte. Das Einzige, was ich machen konnte war sicherzustellen, dass sich dieser Vorfall niemals wiederholen würde. Ich dachte, dass es nicht wieder passieren würde, wenn ich stattdessen immer die Regeln befolge und nichts mehr eigenmächtig entscheide.“ Nun ergab alles ein schlüssiges Bild und endlich verstand Gabriel, warum ausgerechnet Michael sich derart verändert hatte und zu einem stoischen Paragraphenreiter geworden war. Vor allem verstand er endlich, wieso sich sein langjähriger Kollege sich gegen jede Belehrung gewehrt und nichts von persönlicher Moral und Prinzipien halten wollte. Die Ereignisse in der Vergangenheit hatten sie beide ziemlich mitgenommen und verändert und jetzt mussten sie den entstandenen Scherbenhaufen wieder aufkehren. „Es tut mir wirklich leid“, entschuldigte sich Gabriel. „Ich hatte immer das Gefühl gehabt, als würdest du dich nur für dich selbst interessieren.“ „Ich kann’s dir nicht verübeln“, gab der erste Erzengel geschlagen zurück. „Weißt du… als du gegen mich ausgesagt hast und ich eingesperrt wurde, ist mir klar geworden, wie oft ich mich immer auf dich verlassen habe. Vor allem wie selbstverständlich ich deine Hilfe immer genommen habe. Da kann ich’s verstehen, dass du es irgendwann mal leid warst. Deshalb… naja… es tut mir leid, dass ich dich nie genug wertgeschätzt habe. Ohne dich wäre ich wahrscheinlich schon viel früher abgekratzt oder im Gefängnis gelandet…“ Das mochte zwar so sein, aber leider war Michael nun tatsächlich in Haft und das alles nur wegen eines mehr als dummen Ausrutschers. Gabriel begann zu überlegen, wie er seinem Kollegen am besten helfen konnte. Es musste doch irgendetwas geben, was Michael entlasten könnte. Dass dieser niemals einen Mord an einem Engel begehen würde, stand ganz außer Frage. Vor allem machte es überhaupt keinen Sinn, ausgerechnet Raphael zu töten. Wenn Michael jemals die Beherrschung verlieren und jemanden im Affekt töten würde, dann doch eigentlich denjenigen, mit dem er sich am häufigsten gestritten hatte. Das alles machte keinen Sinn, außerdem passte alles fast schon zu perfekt zusammen. „Also gut…“, sagte er schließlich und verschränkte nachdenklich die Arme. „Jetzt müssen wir ernsthaft überlegen, wer Raphael loswerden und dir einen Mord unterschieben wollte. Es muss jemand sein, der deine Tagesroutinen kannte um zu wissen, wann du nicht in deinem Quartier bist und er muss in der Lage gewesen sein, Raphael aus dem Hinterhalt in seinen eigenen vier Wänden anzugreifen.“ „Es kann eigentlich nur jemand sein, der mich gut genug kennt“, schlussfolgerte der erste Erzengel. „Da kommen viele infrage. Es könnte jemand aus dem Hauptquartier sein, aber ehrlich gesagt traue ich niemandem von denen einen Mord zu. Und seien wir mal ehrlich: Uriel können wir ja wohl vergessen. Der wäre niemals abgebrüht genug, um aus eigener Kraft heraus einen solchen Komplott zu schmieden.“ Ja, das war die berüchtigte Nadel im Heuhaufen. Es war eben schwer, einem Engel einen Verrat zu unterstellen, wenn ihnen für gewöhnlich die gleiche komplexe und hinterlistige Art fehlte wie den Menschen und Dämonen. Gabriel erkannte, dass die Suche nach dem Täter sie vielleicht nicht unbedingt weiter brachte. Also überlegte er, an welchem Anhaltspunkt er stattdessen anknüpfen konnte. „Was mich stutzig macht ist, dass es keine Leiche gab. Ich meine… wenn dir jemand einen Mord unterschieben will, ist es doch Schwachsinn wenn alle Beweise außer dem Toten da sind. Es sei denn…“ Der göttliche Botschafter dachte weiter angestrengt nach und dann kam ihm eine Idee, die ihm noch gar nicht in den Sinn gekommen war. „Sag mal Micha, du hast doch gesagt, dass Raphael dich abgezockt hat. Was genau war es eigentlich gewesen?“ Hier hob der erste Erzengel den Blick und zog erst irritiert über diese Frage die Augenbrauen zusammen, da er Gabriels Gedankengang nicht ganz folgen konnte. Dann antwortete er etwas zögerlich „Er wollte sich meinen Ring für einige Tage ausborgen. Du weißt schon… dieser Ring, den ich als Auszeichnung für Satans Vertreibung erhalten habe.“ Nun ging Gabriel endlich ein Licht auf und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Jetzt hatte er endlich die Antwort auf die wohl größte Ungereimtheit in der ganzen Geschichte gefunden und er hätte sich dafür ohrfeigen können, dass ihm diese Möglichkeit nicht schon viel früher in den Sinn gekommen war. Fairerweise musste man aber auch dagegenhalten, dass Michael erst jetzt mit dieser wichtigen Information ankam und es vermutlich selbst noch nicht gemerkt hatte. „Jetzt wird mir alles klar“, rief der zweite Erzengel und schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. „Kapierst du es nicht? Raphael ist vielleicht gar nicht tot. Wenn er deinen Ring noch hatte, als er mit dem Schwert angegriffen worden war, könnte er den Ring genutzt haben um mittels eines Wunders zu überleben. Überleg doch mal: der Ring gibt dir unbeschränkten Zugang zu allen göttlichen Wundern, also auch zu jenen, für die wir normalerweise eine Sondergenehmigung beantragen müssen. Wenn Raphael das gewusst hat, dann hat er den Ring genutzt, um zu flüchten.“ Diese Theorie machte durchaus Sinn, das musste selbst Michael zugeben. Allerdings beantwortete das nicht die Frage, warum Raphael verschwunden war und sich nicht einfach selbst geheilt und dann direkt im Anschluss zu den Wachen geeilt war um Alarm zu schlagen. Auch Michael und Gabriel wussten darauf keine Antwort und konnten nur spekulieren, dass Raphael von jemandem angegriffen wurde, der eine ernste Gefahr für ihn darstellte. Und wenn er mit einer heiligen Waffe verletzt worden war, brauchte es mit Sicherheit eine ganze Weile, bis er wieder auf den Beinen war. Da machte es schon Sinn, dass er irgendwohin verschwunden war, wo er nicht so schnell gefunden wurde. Michael, der Gabriels Gedankengang weiter verfolgte, kam zu der Vermutung, dass Raphael sich höchstwahrscheinlich auf der Erde aufhielt. Immerhin kannte er sich dort wunderbar aus, machte dort regelmäßig seine Shoppingtouren und dort würde man ihn nicht so schnell finden. Auf der Erde nach ihm zu suchen war tatsächlich, als würde man die Nadel im Heuhaufen suchen. Wenn Engel es verstanden, sich gut genug zu tarnen, war es nahezu unmöglich, sie zu finden. Aus diesem Grund mussten himmlische Boten regelmäßig Kontakt mit der Zentrale aufnehmen, damit es nicht erst dazu kam, dass man sie aus den Augen verlor. In der Vergangenheit, bevor sich die Sintflut-Geschichte ereignet hatte, war es regelmäßig dazu gekommen, dass sich Engel heimlich auf die Erde abgesetzt hatten. Damals war die Bevölkerungsdichte bei weitem nicht so enorm gewesen wie zur heutigen Zeit und selbst da war es schon schwer gewesen, die ausgebüxten Engel aufzuspüren und wieder in den Himmel zurückzuholen. Teilweise hatte es sogar Jahre gedauert und wenn man sie endlich lokalisiert hatte, war es schon zu spät gewesen. Das Ergebnis war gewesen, dass sich zahllose Engel mit den Menschen eingelassen und Nachkommen gezeugt hatten. An sich wäre diese Sache ja kein großes Drama gewesen, aber es gab da ein kleines Problem: die Nachkommen von Engeln waren keine normalen Menschen, noch waren sie vollwertige Engel. Sie waren groß gewachsene und vor allem mächtige Wesen, die auch als Nephilim bekannt waren und sie waren so etwas wie das christliche Pendant zu den Halbgöttern der griechischen Mythologie. Wenn man sich also vorstellte, dass deren Kinder das Potential eines Achilles oder Herakles besaßen, brauchte man sich nicht mehr unbedingt auf Gott zu verlassen, wenn man stattdessen einen übermenschlichen Helden aus Fleisch und Blut zur Verfügung hatte. Gott hatte zwar damals behauptet, dass ihm die Menschen zu lasterhaft waren und sie deshalb ausgelöscht werden sollten. In Wahrheit wollte er aber bloß nicht, dass die Erde von fleischgewordenen primitiven Superhelden überrannt wurde, die ihm den Rang streitig machen könnten. Und wie schon die Herrschergötter in der griechischen Antike hatte er das einzig Vernünftige getan und sie allesamt ausgelöscht. Zumindest war der Abgang eleganter gewesen, als bei lebendigem Leibe vom eigenen Vater verschlungen zu werden… Seit sich also die Sintflut ereignet hatte und die Menschheit und die Nephilim mit der Ausnahme von Noah und seiner Familie ausgelöscht worden waren, gab es strengere Regeln im Himmel. Jede Reise zur Erde musste vorab genehmigt werden und wer sich nicht daran hielt, wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Und je nachdem wie oft sich das zugetragen hatte, konnte man sogar in die Hölle verbannt werden. Weniger streng waren die Regeln für die vier Erzengel, weil diese aufgrund ihrer unzähligen Aufgaben regelmäßig zur Erde reisen mussten. Aber nach all der langen Zeit waren sie schon lange nicht mehr unten gewesen um göttliche Arbeit zu verrichten. Trotzdem würde ihnen weitaus weniger Ärger für einen heimlichen Abgang zur Erde drohen als den meisten anderen Engeln im Himmel. Wenn Raphael also auf der Erde war, stellte sich natürlich die Frage, wie man ihn finden konnte. Gabriel dachte scharf nach und erinnerte sich vage, dass sein vermisster Kollege ganz bestimmte Städte für seine Ausflüge bevorzugte. Wenn er sich also irgendwo aufhielt, dann höchstwahrscheinlich dort, wo er sich am besten auskannte. Stellte sich jetzt natürlich die entscheidende Frage, was sie tun sollten. Normalerweise würde er diese Info einfach an die Wächter weitergeben und dann würde man die Sache weiter untersuchen. Das Problem war aber, dass man den ganzen Fall so auslegen konnte, dass Michael seinen Ring zurückhaben wollte, Raphael sich geweigert hatte und er diesen daraufhin erschlagen hatte. Dann konnte man natürlich behaupten, dass Michael es absichtlich so aussehen ließ, als wäre Raphael mit dem Ring verschwunden. Der Himmel war leider ziemlich rückständig, was vernünftige Ermittlung betraf und erschwerend kam die katastrophale Bürokratie hinzu. Schlimmstenfalls würde man Michael hinrichten, bevor man überhaupt in Betracht zog, auf der Erde nach Raphael zu suchen. Dieses Risiko wollte Gabriel lieber nicht eingehen. Da war es doch besser, wenn er und Michael sich selbst um die Sache kümmerten. Wenn sie Raphael als erste fanden und erfuhren, wer hinter diesem Komplott steckte, konnte das Todesurteil noch abgewendet werden. Das Schlimmste, was ihnen dann drohte, war lediglich dieses dämliche Besserungsseminar. Natürlich bestand auch ein Risiko, dass sie von den Kriegsengeln gejagt werden würden, aber gemeinsam sollten sie mit denen schon fertig werden. Mit diesem Entschluss kramte Gabriel die Zellenschlüssel raus und wandte sich Michael zu. „Komm, wir gehen gemeinsam zur Erde um Raphael zu finden.“ „Was?“ entfuhr es dem ersten Erzengel und erschrocken sah dieser seinen Kameraden an. „Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Das wird aussehen, als wären wir beide Verräter!“ „Du sitzt meinetwegen in Untersuchungshaft, also werde ich das mit ausbügeln! Ich werde jedenfalls nicht zulassen, dass du unschuldig zum Tode verurteilt wirst. Wenn wir erwischt werden, nehme ich alles auf meine Kappe und regle das. Und jetzt komm schon.“ Michael, der seinerseits nicht verstand was diese Anspielung auf die Todesstrafe zu bedeuten hatte, war zu überwältigt von Gabriels plötzlicher Entscheidung als dass er hätte Protest einlegen können. Also ließ er sich mehr oder weniger freiwillig mitreißen. Noch bevor er aufgestanden war, sperrte sein Kollege die Zellentür auf, packte ihn am Handgelenk und eilte mit ihm auf den Gang hinaus. Sie schlichen sich unerkannt an den Wächtern vorbei und schafften es tatsächlich, das Gefängnis zu verlassen. Erst als sie am Tor ankamen und einer Patrouille über den Weg liefen, wurde Alarm geschlagen. Bis aber Verstärkung eintraf und die Kriegsengel die Verfolgung aufnehmen konnten, waren die beiden Flüchtigen schon an der Himmelspforte und begannen mit ihrem Abstieg zur Erde. Einer derjenigen, die als erste den Alarm vernommen hatten, war Uriel. Dieser war immer noch panisch auf der Suche nach der vermissten Leiche und als er von Michaels und Gabriels Flucht hörte, war ihm sofort klar was Sache war. Zuerst dachte er darüber nach, die Verfolgung aufzunehmen und die beiden aufzuhalten. Doch er wusste nur zu gut, dass er gegen die beiden mächtigsten Erzengel nicht den Hauch einer Chance hatte. Michael und Gabriel waren beide Kriegsveteranen, die zusammen absolut unaufhaltbar waren. Sich ihnen in den Weg zu stellen und sie gewaltsam aufzuhalten wäre einfach nur dumm gewesen. Stattdessen kam ihm eine ganz andere Idee, wie er sicherstellen konnte, dass sie ihm keine Scherereien machen würden. Als der ganze Himmel in kürzester Zeit in Aufruhr geriet und Panik losbrach weil allem Anschein nach zwei Erzengel sich als Verräter entpuppt hatten, flog Uriel zum Wachturm und wies an, die Pforte zu verschließen. Wenn er schon nicht in der Lage war, die beiden aufzuhalten, konnte er wenigstens sichergehen, dass sie nicht in den Himmel zurückkehren konnten. Sie mochten zwar mächtige Erzengel sein, aber es würde sich noch herausstellen, ob sie auch in der Lage waren, den modernen Wahnsinn auf der Erde zu überstehen und völlig auf sich gestellt zu sein. Mit genügend Glück würden sie unter die Räder kommen oder von einem zugedröhnten Junkie abgestochen werden. So oder so waren die beiden verloren und er brauchte sich nicht mit ihnen herumzuschlagen. So wie er die Menschen kannte, würden die schon die Arbeit für ihn übernehmen. Kapitel 29: Allein ihnen fehlt der Glaube ----------------------------------------- Der Himmel war dicht bewölkt und ein grauer, trister Schleier hing über der Stadt New Haven an der Küste von Connecticut. Doch selbst das Wetter konnte die malerische Atmosphäre dieser Stadt nicht trüben. Im Gegensatz zur Metropole New York City, die gerade mal zwei Stunden Autofahrt entfernt war, hatte sich New Haven einen gewissen Altstadtflair bewahrt und die Grünanlagen und alten Gebäude verliehen dem Ort einen ganz besonderen Charme. Für einfache Menschen war es ein schöner Ausflugsort in einer perfekten Lage direkt am Hafen, für einen Engel, der sich kaum auf der Erde herumtrieb, war es jedoch ein absoluter Kulturschock. Am schlimmsten traf es Michael, der sich schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf der Erde aufgehalten hatte und die ganzen Fortschritte der menschlichen Zivilisation verpasst hatte. Es war, als wäre er in einer vollkommen fremden Welt gelandet und er kam sich vor wie einem Fisch auf dem Trockenen. Ähnlich musste es einem einfachen deutschen Bauern vom Lande gehen, wenn er von jetzt auf gleich ohne Vorwarnung auf einen überfüllten Basar in Bangladesch landete. All die riesigen Bauten, Straßen, Laternen und Boutiquen waren dem ersten Erzengel völlig fremd und er hatte überhaupt keine Ahnung, was hier vor sich ging und warum die Welt um ihn herum so merkwürdig aussah. Das letzte Mal, als er die Menschen besucht hatte war, als diese noch in einfachen Hütten lebten, Schafe hüteten und vernünftige Seife noch nicht kannten. Gabriel seinerseits verpackte den Anblick weitaus besser als sein Begleiter, denn er hatte zumindest versucht gehabt, so oft wie möglich zur Erde zu reisen und seine Pflichten als Erzengel und Beschützer der Kinder nachzukommen. Außerdem hatte er stets die Schulungen besucht und selber oft genug welche abgehalten, um vor allem seine Schutzengelbrigade auf den Wahnsinn der modernen Welt vorzubereiten. Michael hingegen hatte seit langer Zeit keinen besonderen Grund mehr darin gesehen, zur Erde zu reisen oder sich mit technischen Neuerungen auseinanderzusetzen. Seiner Meinung nach war das bloß Zeitvergeudung und hatte, anstatt die Schulungen zu besuchen, lieber an Kriegssimulationen teilgenommen. „Großer Gott…“, murmelte der erste Erzengel und ihm klappte die Kinnlade runter als er versuchte, den Anblick zu verarbeiten, der sich ihm bot. „Was ist hier denn bitte passiert? Wo sind wir hier und was ist das hier für eine Teufelsstätte?“ „Wir sind in New Haven, Connecticut. Das liegt in den USA“, erklärte Gabriel und ließ mit einem kleinen Fingerschnipsen ein Wunder wirken, durch welches sich ihre himmlischen Uniformen in einfache Straßenkleidung veränderte. Es wäre sonst viel zu auffällig gewesen, wenn Michael in seiner heiligen Rüstung und er in seinen himmlischen Gewändern umhergelaufen wären. Seine Erfahrung hatte nämlich gezeigt, dass die Menschen ihn sonst für einen Cosplayer, für einen Spinner oder für beides hielten. Und das machte die Interaktionen mit der hiesigen Bevölkerung nicht unbedingt leichter. „Soweit ich mich richtig erinnere, ist das hier Raphaels Lieblingsstadt. Die Chancen stehen also gut, dass wir ihn hier finden. Jetzt müssen wir nur noch…“ „Warte mal kurz“, unterbrach Michael ihn, der überhaupt nicht mehr mitkam und immer noch völlig verwirrt war. „Was ist denn bitteschön die USA und wo liegt sie denn genau? Jordanien? Damaskus? Palästina?“ Entgeistert starrte Gabriel seinen Kollegen an und glaubte erst, sich verhört zu haben. Solche Dinge wurden doch in den Schulungen unterrichtet und als Richter der Seelen sollte Michael doch eigentlich über solche Dinge Bescheid wissen. „Ist das dein Ernst? Sag mal, wie lange warst du schon nicht mehr in der Schulung?!“ „Ist nicht lange her“, meinte der erste Erzengel und war sich keiner Schuld bewusst. „Ist erst 700 Jahre her gewesen.“ „700 Jahre?! Ist dir eigentlich bewusst, wie schnell sich die menschliche Zivilisation eigentlich entwickelt in so einer Zeitspanne?“ rief der göttliche Bote fassungslos und schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. „Großer Gott, Micha… Das ist wirklich nicht zu fassen! Ach was soll’s… ist jetzt auch zu spät. Jetzt müssen wir erst mal überlegen, wo wir nach Raphael suchen sollen. Die Stadt ist leider nicht sonderlich klein und es kann ewig dauern, ihn unter knapp 130.000 Einwohnern zu finden.“ Da hatte er nicht ganz Unrecht. Michael begann zu überlegen, wie sie am besten vorgehen sollten, denn ganz alleine nach einem verschwundenen Erzengel zu suchen, war etwas knifflig. Vor allem wenn sich Raphael tatsächlich versteckte. Das Beste war also, jemanden um Hilfe zu bitten, der vom Fach war. Sie brauchten jemanden, auf den sie sich verlassen konnten und dem man nicht erst die ganze Geschichte großartig erklären musste. Und da kam ihm auch schon eine Idee. „Warum fragen wir nicht den lokalen Priester? Wenn wir uns offenbaren und sagen, wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs, dann wird man uns mit Sicherheit helfen.“ Nun, die Idee war eigentlich nicht ganz so schlecht. Allerdings hätte das eher vor knapp 1500 Jahren funktioniert, aber garantiert nicht in der heutigen Zeit. Heutzutage waren die Leute weitaus komplizierter gestrickt als damals, ganz zu schweigen davon, dass die Menschen schon seit Ewigkeiten keine biblischen Erscheinungen mehr erlebt hatten. Und allein schon damals hatten solche Erscheinungen eher für Panik und Entsetzen, statt für Begeisterung und Jubelrufe gesorgt. „Das können wir nicht machen“, warf Gabriel deshalb ein und schüttelte den Kopf. „Wir können nicht schon wieder eine Massenpanik auslösen, wenn wir uns in unserer wahren Gestalt zeigen. Selbst wenn wir denen sagen, dass sie keine Angst haben sollen, machen die sich noch in die Hosen und denken, wir wären gekommen um ihre gesamte Familie auszulöschen und ihre Seelen zu verschlingen.“ „Na schön, was schlägst du dann vor?“ fragte der erste Erzengel ungeduldig und war ein wenig frustriert. Es passte ihm überhaupt nicht, dass er sich überhaupt nicht mit der modernen Welt auskannte und die alten Methoden einfach nicht mehr funktionierten. Er persönlich liebte große und dramatische Auftritte, um die Menschen Ehrfurcht zu lehren. Nur leider vergaß er immer wieder, dass man Ehrfurcht nicht ohne Furcht schreiben konnte und die Leute fast jedes Mal einen Herzkasper bekamen, wenn sie einen Engel in seiner wahren Gestalt sahen. Damals war es noch Gang und Gebe gewesen, aber heutzutage bevorzugte der Himmel lieber die subtilere Vorgehensweise um nicht aufzufallen. Ansonsten gab das nur wieder haufenweise Kollateralschäden und unnötigen Papierkram. Ganz zu schweigen davon, dass es sich die beiden ohnehin nicht leisten konnten, von den himmlischen Behörden aufgespürt zu werden. „Wir sollten uns erst einmal in unserer menschlichen Gestalt an den Pfarrer wenden“, schlug Gabriel vor, der das Ganze etwas langsamer angehen wollte, da er das schwache Nervenkostüm der Menschen schon zu Genüge kannte. „Wenn es nicht klappt, können wir uns ja immer noch offenbaren, damit er uns glaubt. Dann ist er wenigstens vorgewarnt und stirbt uns nicht gleich an einem plötzlichen Herzinfarkt weg wie dieser eine Hohepriester aus Dura.“ „Ach komm schon! Der alte Zausel war bereits 90 Jahre alt und hätte doch jeden Augenblick das Zeitliche gesegnet, ganz unabhängig davon in welcher Gestalt ich mich ihm offenbart hätte!“ protestierte Michael, doch Gabriel blieb bei seinem Entschluss und so blieb dem ersten Erzengel erst einmal nichts anderes übrig, als auf seinen Kollegen zu hören und klein bei zu geben. „Na schön“, sagte er schließlich. „Wo steht denn hier eigentlich der nächste Tempel, bei dem wir anfragen können?“ „Hm…“ Der göttliche Botschafter überlegte kurz und versuchte sich wieder die Kirchen in Erinnerung zu rufen, die er in New Haven kannte. Oder zumindest jene, von denen Raphael mal erzählt hatte. „Wie wäre es mit der Bethesda Lutheran Church?“ „Vergiss es!“ protestierte Michael sofort und fuchtelte dabei energisch mit den Armen, um seinen Standpunkt zu untermauern. „Ums Verrecken lass ich mich nicht mit dem Feind ein!“ „Ach komm schon, so schlimm sind die Protestanten nicht, wenn man sie näher kennt“, meinte Gabriel und sah das Ganze deutlich entspannter. Doch der erste Erzengel, der allein aus persönlichem Stolz einen gewissen Groll gegen Martin Luther und seiner 95-seitigen Petitionsaktion hegte, war nicht umzustimmen. Er war ja bereit, sich auf einige Kompromisse einzulassen, aber eher sollte die Hölle zufrieren als dass er sich mit Protestanten einließ. Da Gabriel seinerseits nicht unbedingt dafür war, die Baptisten zu Rate zu ziehen weil er deren Praktiken für nicht ganz koscher hielt, einigten sie sich darauf, der Einfachheit halber die Katholiken um Hilfe zu bitten. Diese mochten zwar weitaus rückständiger sein als die Protestanten, aber wenigstens bewegte man sich auf vertrautem Terrain. Die Orthodoxen, die pentekostale Bewegung und die Episkopalkirche waren ihnen ein wenig zu exotisch und da war es schwer abzuschätzen, wie zwei gestrandete Erzengel dort bei den Leuten ankamen. Um die Sache etwas zu vereinfachen, entschieden sie sich für die St. Michael Church Hall. Auf diese Weise erhofften sie sich weitaus größere Chancen, wenn sie speziell einen Pfarrer konsultierten, der sich dem Dienste Michaels verschrieben hatte. Also machten sie sich auf den Weg, fragten sich bei den vorbeigehenden Passanten durch und fanden mit einiger Mühe zur Kirche. Dabei wurde ihre Odyssee durch New Haven vor allem dadurch erschwert, dass Michael nichts von der modernen Technik verstand und mehrfach beinahe von einem Auto oder Lastwagen erfasst worden wäre, wenn Gabriel nicht geistesgegenwärtig genug reagiert hätte. Es war ziemlich anstrengend, sich selbst auf der Erde zurechtzufinden, wenn man sonst die meiste Zeit im Himmel verbrachte. Umso schwieriger war es, den Babysitter für jemanden zu spielen, der Autos für satanische Kutschen hielt und glaubte, dass Ampeln das Ergebnis okkulter Magie waren. Sie hätten wahrscheinlich um einiges schneller sein können, wenn sie einfach den Bus oder ein Taxi genommen hätten. Aber Michael war einfach nicht dazu zu bringen, sich der Willkür motorisierter Fortbewegungsmittel auszusetzen, die seiner Überzeugung nach das Werk des Teufels sein mussten. Warum auch sonst gaben sie einen Höllenlärm von sich und stießen stinkenden Qualm aus? Also mussten sie wohl oder übel den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen und verliefen sich dabei fast ein paar Male, weil die Wegbeschreibungen teilweise ziemlich widersprüchlich waren. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie endlich die St. Michael Church Hall, einen prächtigen weißgestrichenen Bau mit einem Glockenturm und einem großen Kreuz auf dessen Spitze. Erleichtert atmeten die beiden flüchtigen Erzengel durch und fanden zu ihrem Glück die Kirche geöffnet vor, denn die Messe war erst kürzlich beendet worden. Obwohl die Besucher das Gebäude schon längst verlassen hatten, war der Pfarrer noch geblieben um die Gesangsbücher einzusammeln. Pater Gerald Foster war ein etwas hagerer Mann mittleren Alters mit einem schlecht sitzenden Toupet. Er zählte zu den Geistlichen, die sich nicht durch Aberglauben, wahnwitzige Geschichten über übersinnliche Erscheinungen und verrückte Verschwörungstheorien beirren ließ. Er glaubte fest an das Prinzip einer rationalen Religion und ließ sich nicht so leicht einen Bären aufbinden. Dämonische Besessenheit war ihm bislang noch nicht untergekommen und er würde jederzeit die moderne Medizin einem mittelalterlichen Exorzismus vorziehen. Deshalb respektierte ihn seine Gemeinde als bodenständigen Mann von Vernunft, der Religion mit modernen Methoden durchaus zu verknüpfen verstand. Als Michael und Gabriel die Kirche betraten, sah er erst einmal nichts Außergewöhnliches an ihnen. Er bemerkte nur, dass der femininere von beiden seinen Begleiter an der Hand hielt und er dachte sich sofort, es wäre wieder ein schwules Pärchen, das kirchlich getraut werden wollte. An sich hatte er ja nichts gegen die Ehe für Homosexuelle, nur leider spielte sein Verein da nicht so wirklich mit und das würde wieder viel Diskussion nach sich ziehen. Es wäre bereits das dritte gleichgeschlechtliche Paar in diesem Monat, das bei ihm aufkreuzte und eine Trauung verlangte. Und wieder einmal musste er sie wohl oder übel an die United Church of Christ oder an die Lutherischen Kirchen verweisen. Insgeheim hoffte er, dass seine Intuition falsch lag, denn er hasste es, sich dann jedes Mal die Vorwürfe anhören zu müssen, die katholische Kirche sei rückständig und diskriminierend. Er hatte die Regeln ja schließlich nicht gemacht! Trotzdem setzte er ein freundliches Lächeln auf und kam auf die beiden zu. „Guten Tag meine Herren, wie kann ich Ihnen denn helfen?“ „Seid gegrüßt, Pater“, sprach der groß gewachsene Mann, der von seinem Begleiter an der Hand geführt wurde. Er hatte das Gesicht eines Schönlings, aber den Körperbau eines Mannes, der regelmäßig trainieren ging und harte Arbeit verrichtete. „Wir sind in Euren Tempel gekommen, weil wir Eure Hilfe erbitten wollen. Wir sind auf der Suche nach unserem verschwundenen Kameraden und erhoffen deshalb Unterstützung von Euch.“ Etwas irritiert blinzelte Pater Foster und sah abwechselnd auf die beiden. „Wie meinen?“ fragte er sie zögerlich, denn er wusste nicht, wie er dieses übertrieben förmliche Gerede einordnen sollte. Nun räusperte sich der feminine Blonde und erklärte „Was er damit sagen will…“ Weiter kam er aber nicht, denn da begann der andere wieder zu sprechen und fiel ihm direkt ins Wort. „Wir sind die Erzengel Michael und Gabriel und suchen nach unserem Kollegen Raphael. Wir wissen, dass er auf die Erde gekommen ist und sich vermutlich hier in dieser Stadt aufhält. Deshalb benötigen wir Ihre Unterstützung, Pater.“ Oh Gott, nicht schon wieder solche Spinner, dachte sich der Geistliche und sein freundliches Lächeln schwand. Warum nur hatten diese jungen Leute von heute nichts Besseres zu tun, als unschuldige Pfarrer zu belästigen und sich als Engel oder den auferstandenen Jesus auszugeben? Es war doch immer wieder der gleiche Quatsch. „Entschuldigen Sie bitte, aber das hier ist ein Gotteshaus und kein städtisches Theater“, erklärte er unwirsch und wies mit einer Handbewegung zur Tür. „Ich habe wirklich keine Zeit, für Ihre lächerlichen Spielchen!“ „Das ist kein Spielchen!“ rief der vermeintliche Michael eindringlich und machte keine Anstalten zu gehen. „Wir wären nicht in Euer Gotteshaus gekommen, wenn es kein Notfall wäre. Jemand hat es auf Raphaels Leben abgesehen und wir müssen ihn unbedingt finden!“ „Micha, so wird das nichts“, mischte sich der feminine Kerl ein und versuchte ihn zu beschwichtigen. „Du überforderst den armen Mann noch!“ „Himmel Herrgott! Tut mir leid, wenn ich ein kleines bisschen unter Strom stehe, nachdem ich von dir erfahren musste, dass Gott allen Ernstes vorhat, mich für ein Verbrechen hinrichten zu lassen, dass ich gar nicht begangen habe!“ „Dann zeig ihm doch einfach deine wahre Form und dann glaubt er uns!“ Pater Foster schaute abwechselnd zu den beiden und begann sich zu fragen, ob das nicht vielleicht so etwas wie Methoden-Schauspieler waren. Für einen einfachen Streich wirkte das ein wenig zu überzeugend und ihm kam sogar der Gedanke, dass das Ganze vielleicht eine Show mit versteckter Kamera war. Was es auch sein mochte, die beiden verstanden nicht unbedingt viel davon, sich wie tatsächliche Engel zu verhalten. Nie und nimmer verhielten sich echte Engel so vulgär, aggressiv und vor allem menschlich. Schließlich verdrehte der muskulöse Kerl etwas genervt die Augen, murmelte „Ja gut“, schloss die Augen und faltete die Hände. Es sah für einen Augenblick so aus, als würde gleich etwas passieren, aber es tat sich nichts. Fast eine Minute verstrich, in welcher er in dieser Haltung verharrte und sich anstrengte, als müsste er dafür seine ganze Kraft aufbieten. Allmählich wurde das Schmierentheater etwas abstrus. Selbst der falsche Gabriel schien irritiert zu sein und wunderte sich „Sag bloß, du bist eingerostet und weißt nicht mehr, wie du dich in deine wahre Form zurückverwandeln kannst.“ „Natürlich weiß ich das!“ wetterte der vermeintliche Michael zurück. „Es klappt aber aus irgendeinem Grund nicht.“ „Das ist doch Blödsinn“, kam es von seinem Begleiter zurück und er nahm nun die gleiche Haltung ein. „Lass mich es mal versuchen.“ Doch auch hier tat sich nichts. Pater Foster sah sich das Schauspiel kopfschüttelnd an und fragte sich, worauf das Ganze wohl hinauslief und ob es nicht vielleicht auch so etwas wie eine merkwürdige PR Aktion war. Heutzutage musste man ja mit allem rechnen, wenn irgendetwas Verrücktes passierte. Doch dann kam ihm eine andere Idee: was wenn das weder Methoden-Schauspiel, versteckte Kamera noch irgendeine PR Aktion war? Vielleicht hatten die beiden ja Drogen genommen und hielten sich deshalb für Engel. Pater Foster hatte bereits in einer Einrichtung für drogensüchtige Jugendliche gearbeitet und wusste, dass manche sich wirklich merkwürdig verhalten und Wahnvorstellungen entwickeln konnten, wenn sie unter Drogeneinfluss standen. In dem Fall war es vielleicht ratsam, die Polizei zu Rate zu ziehen. „Meine Herren…“, sprach er vorsichtig, doch die beiden beachteten ihn überhaupt nicht. Sie waren mit ganz anderen Problemen beschäftigt. „Warum funktioniert unsere Kraft auf einmal nicht mehr? Du hast doch direkt bei unserer Ankunft diese komischen Klamotten gewundert!“ rief der vermeintliche Michael und war kurz davor, endgültig die Fassung zu verlieren. Die Angst, die sich dabei in seinem Gesicht abzeichnete, wirkte ziemlich echt. Sein Begleiter dachte kurz nach und kam zu der Vermutung „Sie müssen die Himmelpforte verschlossen haben. Wenn das Tor erst mal verschlossen ist, kann kein Engel, der noch auf der Erde stationiert ist, göttliche Wunder wirken.“ „Das können die doch nicht machen!“ „Offensichtlich schon. Vermutlich wollen sie uns erst mal hier festsetzen weil sie wissen, dass sie gegen uns beide keine Chance haben. Das macht die ganze Sache natürlich um einiges komplizierter…“ „Und wie sollen wir jetzt Raphael finden? Wenn wir nicht einmal mehr Wunder bewirken können, schaffen wir es niemals, ihn aufzuspüren, geschweige denn überhaupt in den Himmel zurückzukehren!“ Die beiden waren so beschäftigt mit sich selbst, dass Pater Foster nicht wirklich Gehör fand. Also beschloss er die beiden erst einmal alleine zu lassen und ging stattdessen in die Sakristei, wo es ein Telefon gab. Dort wählte er die 911, schilderte der Polizei die Situation und wurde um Geduld gebeten. Eine Streife würde jeden Augenblick eintreffen. Michael und Gabriel waren mit ihrer hitzigen Diskussion so beschäftigt, dass sie überhaupt nicht bemerkten, was um sie herum vor sich ging. Sie waren viel zu aufgebracht über die Tatsache, dass sie plötzlich keine Macht mehr hatten und das einzige Mittel verloren hatten, das ihnen auf der Erde weiterhelfen würde. Keiner von ihnen bemerkte, wie der Pater für mehrere Minuten in der Sakristei verschwand, um die Behörden zu verständigen. Ebenso wenig registrierten sie, wie dieser nach einer Weile zurückkam und versuchte, auf sie einzureden. Im Moment hatten sie weitaus andere Sorgen als einen kleinen Pfarrer. Nicht in der Lage zu sein, Gottes Kraft nutzen zu können, war für einen Engel eine absolute Katastrophe und vergleichbar mit einem kleinen Weltuntergang. Hätte man einem Menschen, der den ganzen Tag am PC arbeitete und für den alles nur noch über elektronischem Weg funktioniert, von jetzt auf gleich den Strom abgestellt, wäre das in etwa vergleichbar mit Michaels und Gabriels Dilemma gewesen. Vor allem stellte sie das vor ein noch viel größeres Problem: wenn sie keine Wunder mehr bewirken konnten, machte sie das auch weitaus leichter verwundbar. Zwar würden sie weiterhin nicht durch irdische Waffen und Vehikel sterben, aber ihre Körper wären dann nicht mehr in der Lage, sich so schnell zu regenerieren. Das hieß also, sie waren fast den gleichen physischen Gesetzen unterworfen wie normale Menschen und das war für sie das schlimmste denkbare Szenario. Während sie sich hitzig weiter unterhielten und Gabriel versuchte, seinen Kollegen wieder zu beruhigen, war bereits die Polizei eingetroffen. Ihr Erscheinen löste nicht gerade Misstrauen aus. Tatsächlich glaubten die beiden Erzengel, der Pfarrer hätte die Beamten gerufen, um sie bei der Suche nach ihrem vermissten Kameraden zu unterstützen und waren überaus dankbar für diese Hilfe. Zwar wunderten sie sich über die merkwürdige Frage, ob sie Alkohol oder Drogen zu sich genommen hatten und waren auch nicht in der Lage, Ausweispapiere vorzuzeigen. Auch verstanden sie nicht unbedingt den Sinn und Zweck dahinter, dass ihnen mit einer Taschenlampe in die Augen geleuchtet wurde und sie einen Atemtest machen mussten. Doch sie stempelten das einfach als eine etwas merkwürdige Menschenroutine ab, die dazu diente um sicherzustellen, dass es sich bei ihnen tatsächlich um Engel handelte. Sie erklärten dem Polizisten, dass sie nicht in der Lage seien, einen Ausweis herbeizuwundern, weil die Himmelspforte verschlossen und sie somit keine göttliche Kraft mehr nutzen konnten. Auch sei es ihnen nicht mehr möglich, ihre Flügel zu nutzen, da auch dies göttliche Kraft in Anspruch nahm und sie fürs Erste leider auf der Erde festsaßen. Der Polizist nahm alles auf, notierte sich etwas und wurde dann stutzig als Michael erklärte, dass sie Raphael finden mussten. Hier schaute der Beamte auf, hob die Augenbrauen und fragte „Meinen Sie etwa das St. Raphael?“ Die beiden Erzengel, die davon ausgingen, dass weiterhin die Rede von ihrem verschwundenen Kollegen war und somit nichts Böses ahnten, bestätigten die Frage ohne zu zögern und wurden dann im Anschluss gebeten, mitzukommen. Mit einem guten Gefühl im Bauch folgten sie dem Polizisten, stiegen ins Fahrzeug und waren positiver Dinge, dass sie nun endlich zu Raphael gebracht wurden und der ganze Fall endlich geklärt werden konnte. Was sie jedoch nicht ahnten war, dass die Rede nicht vom Erzengel Raphael, sondern vom Yale New Haven St. Raphael Psychiatric Hospital war. Da der Drogen- und Alkoholtest nämlich negativ ausgefallen waren, ging der Polizist davon aus, dass die beiden schrägen Vögel in Wahrheit geistig verwirrte Patienten waren, die aus der Psychiatrie entkommen waren und nun versuchten, wieder zurückzufinden. Die beiden Erzengel hatten keinen blassen Schimmer davon, in welcher Lage sie sich befanden und waren stattdessen guter Dinge, dass ihnen endlich geholfen wurde und sich dieses ganze Missverständnis bald aufklären würde. Und sobald Michael seinen Ring wieder hatte, konnten sie auch wieder in den Himmel zurückkehren und das ganze Durcheinander endlich aufklären. Selbst als der Polizist einen Funkspruch durchgab und meinte, er würde die beiden ins Hospital bringen, ahnten die beiden immer noch nichts. Stattdessen gingen sie davon aus, dass Raphael mit seiner Verletzung in diesem Krankhaus eingeliefert war und er sich dort erholte. Die zweite Möglichkeit wäre gewesen, dass er inzwischen wieder auf den Beinen war und sich versteckt hielt, indem er sich als Chefarzt ausgab. So etwas wäre nicht das erste Mal gewesen. Sie wurden erst stutzig, als sie bei einem Psychiater vorsprechen mussten und direkt im Anschluss als Patienten in die geschlossene Anstalt eingewiesen wurden. Kapitel 30: Dem Kamel sein Nadelöhr ----------------------------------- In dem Augenblick, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel und sie erkannten, wo genau sie sich eigentlich befanden, brach Gabriel augenblicklich in helle Panik aus. Hastig drehte er sich um und versuchte die Tür wieder zu öffnen, doch leider ließ sie sich nicht öffnen und als er mit den Fäusten gegen die Scheibe klopfte und lauthals versuchte, den Chefarzt aufzuhalten, der sie hierhergeschickt hatte, kamen gleich zwei blau gekleidete Pflegerinnen herbei. Die eine war etwas kurz geraten, hatte ein süßes Lächeln und ihr wasserstoffblondes Haar zu einem Knoten gebunden. Ihre Begleiterin war hingegen eine groß gewachsene Senegalesin mit runden Wangen, leuchtenden Augen und pechschwarzem Haar. „Hallo, schön dass Sie hier sind Mister… äh…“ sprach die dunkelhäutige Schönheit und schaute kurz auf ihr Klemmbrett. „Mr. Michael und Mr. Gabriel, richtig? Kommen Sie mit, ich werde Ihnen Ihr Zimmer zeigen.“ Doch die beiden dachten gar nicht daran, eine Sekunde mitzuspielen. „Das ist ein großes Missverständnis“, protestierte Gabriel sofort, während Michael immer noch nicht so ganz geschnallt hatte, was hier überhaupt ablief und wo sie sich jetzt eigentlich befanden. „Wir sind nicht verrückt und wir gehören gar nicht hierher. Man hat uns da völlig falsch verstanden!“ „Mr. Gabriel, bitte beruhigen Sie sich!“ ermahnte die kleine Blondine streng. „Sie können bei der nächsten Visite mit dem Chefarzt Dr. Hammond reden, aber jetzt kommen Sie bitte erst mal mit.“ Doch der zweite Erzengel dachte gar nicht daran. Der Tag war ohnehin schon mehr als katastrophal verlaufen und es hatte sein Nervenkostüm ziemlich überstrapaziert. Die vielen Streitereien, die nervenaufreibenden Meetings, der vermeintliche Mord, Michaels Inhaftierung, ihre Flucht aus dem Himmel… und nun waren sie beide als Geisteskranke in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert worden. Irgendwo war dann ja wohl auch mal Schluss. „Ich werde nicht bis zur nächsten Visite warten, sondern ich verlange jetzt sofort unsere Freilassung! Sie haben nicht das Recht, uns hier einzusperren.“ „Hey Gabi, was ist los?“ fragte Michael irritiert und versuchte nachzuvollziehen, warum sein Begleiter so aufgebracht war und was das hier überhaupt für ein Ort war. „Was los ist?“ platzte es aus dem aufgebrachten Erzengel heraus. „Das hier ist eine Anstalt, in der Geisteskranke eingesperrt werden! Man hält uns für verrückt, verdammt! Aber nicht mit mir. Ich hab dich nicht aus einem Gefängnis rausgeholt, nur um dann selber in ein anderes Gefängnis eingesperrt zu werden!“ Damit stieß er die kleine Blondine beiseite, begann erst am Griff der Eingangstür zu zerren und als das nichts brachte, versuchte er sie stattdessen aufzudrücken und warf sich mit seinem gesamten Gewicht dagegen. Er fluchte laut und schlug mit den Fäusten gegen das Glas, bis schließlich drei weitere Pfleger hinzukamen, ihn packten und in eine gepolsterte Zelle brachten und ihn dort einschlossen. Zuerst dachte der erste Erzengel daran, einzugreifen und Gabriel zu helfen, allerdings konnte er die Lage nicht genau einschätzen und wollte die Sache lieber etwas vorsichtiger angehen. Wenn er jetzt genauso durchdrehte wie sein Kollege, würde sie das beide auch nicht weiterbringen. Also wandte er sich an die Senegalesin und las auf ihrem Namensschild „Harriet Mordasini“. „Was genau ist das hier für ein Ort und warum sind wir hier?“ „Das hier ist die Station 14 des St. Raphael Psychiatric Hospitals. Laut Dr. Hammonds Anamnese halten Sie und Ihr Kollege sich für Engel und haben den Pfarrer der St. Michael Church Hall belästigt.“ Belästigt? Michael konnte sich gar nicht daran erinnern, auch nur irgendwen belästigt zu haben. Alles was er und Gabriel getan hatten war bloß, den Pfarrer um Hilfe zu bitten, das war alles. Seit wann war das denn bitteschön verboten? „Äh, ich glaube da hat man uns etwas falsch verstanden. Wir wollten ihn lediglich um Hilfe bitten, unseren Kollegen zu finden.“ „Ah, Sie meinen sicher Azrael, nicht?“ rief Harriet sofort und grinste schelmisch, wobei ihre strahlend weißen Zähne hell aufblitzten. „Verstehe schon. Und Sie sind also Michael, richtig? Wo haben Sie denn Israfil gelassen?“ „Nein, die anderen heißen Gabriel, Raphael und Uriel“, korrigierte er sie höflich. „Mit den muslimischen Kollegen habe ich leider nicht sonderlich oft zu tun.“ Die Senegalesin war ihm gleich sympathisch. Auch wenn er nicht bemerkte, dass sie ihm nicht glaubte und lediglich dachte, seine Wahnvorstellungen wären unterhaltsam, hielt er sie für weitaus zuverlässiger als den Pfarrer von vorhin. Wenigstens hörte sie ihm zu und schien zu verstehen, wovon er da sprach. Es war schon bitter genug, dass er sich nicht mal mehr auf die Hilfe der Katholiken verlassen konnte, jetzt musste er auch noch Leute um Hilfe bitten, die nicht mal zu seiner primären Zielgruppe gehörten. Wenn die Lage nicht so verdammt ernst wäre und Gabriel nicht schon weggebracht worden wäre, hätte er auch längst die Nerven verloren. Aber wenn er jetzt durchdrehte und ebenfalls weggeschlossen wurde, hatten sie vermutlich gar keine Chance mehr, hier rauszukommen. Jetzt, da sie nicht einmal mehr ihre Kräfte benutzen konnten, war umso mehr Vorsicht geboten. Gabriel hatte ihn aus der Untersuchungshaft befreit um ihn vor der Todesstrafe zu retten, also lag es jetzt an ihm, einen Weg aus dieser Psychiatrie rauszufinden. Und da schien es wohl hilfreich zu sein, sich möglichst ruhig und kooperativ zu verhalten. Harriet führte ihn den Gang entlang und zeigte ihm sein Zimmer, welches ein ziemlich kärglich eingerichteter Raum mit vergitterten Fenstern war. Insgesamt vier Betten waren in diesen viel zu kleinen Raum gequetscht worden und es gab nicht einmal einen Schrank, in dem man seine Klamotten hätte verstauen können. Doch da weder Michael noch Gabriel irgendwelche Habseligkeiten mit sich trugen, war das eh zweitrangig. Jetzt erst einmal galt es, jemanden zu finden, der ihnen raushelfen konnte und das am besten bevor die himmlischen Behörden sie aufspürten. Und solange Gabriel weggesperrt war und ihm nicht helfen konnte, musste er sich einen Plan zurechtlegen, um auf möglichst unkomplizierte Art und Weise zum Ziel zu gelangen. Er hatte schon in weitaus kniffligeren Situationen gesteckt und war jedes Mal rausgekommen. Andererseits war es aber jedes Mal Gabriel gewesen, der ihm aus der Patsche geholfen hatte. „Gibt es irgendeine Chance, dass ich mit jemandem reden kann, der uns hier wieder rausholt?“ fragte er die dunkelhäutige Schönheit schließlich, nachdem er zu seinem Bedauern feststellen musste, dass eine Flucht durchs Fenster ausgeschlossen war. Harriet überlegte kurz und antwortete etwas unsicher „Naja… Die nächste Visite ist erst in drei Tagen. Vorher wird es wohl leider nicht funktionieren.“ „Das gibt es ja wohl nicht“, seufzte er und schlug sich die Hand vor die Stirn. Unter normalen Umständen würden drei Tage nicht allzu dramatisch sein, weil Zeit für Engel sowieso keine große Rolle spielte. Aber das Ganze sah schon etwas anders aus, wenn man auf der Flucht vor dem Gesetz Gottes war. „Himmel noch eins, es muss aber auch wirklich alles schief gehen. Gibt es denn gar nichts, was Sie tun können, Harriet? Bitte, als Gläubige müssen Sie mir helfen! Es muss doch eine Möglichkeit geben, dass ich mit jemandem sprechen kann, der mir in irgendeiner Form weiterhilft!“ „Sorry, aber ich kann da leider nichts machen“, erwiderte die Pflegerin skeptisch. „Dr. Hammond und Dr. Johnson sind die Chefärzte und alleine die beiden entscheiden, ob und wann Sie in die offene Station verlegt werden. Aber soweit ich weiß kommt Dr. Johnson gleich zur Therapiestunde. Da können Sie ihn gerne ansprechen und nach einem persönlichen Gesprächstermin fragen. Vielleicht haben Sie da Glück.“ „Vielen Dank, Sie sind wirklich eine große Hilfe“, bedankte sich der erste Erzengel erleichtert. Er wusste zwar nicht, wer dieser Dr. Johnson war, aber vielleicht war dieser ja ein vernünftiger Mensch, der ihn nicht bei der nächsten Gelegenheit wegsperrte nur weil sich jemand als Erzengel offenbarte. „Und was ist eigentlich mit Gabriel? Ist er in Einzelhaft oder wie?“ „Nein, er ist in der Weichzelle und darf wieder rauskommen, sobald er sich wieder beruhigt hat“, winkte die Muslimin sofort ab. Na das kann ja noch eine ganze Weile dauern, dachte sich Michael, der das Temperament seines Kollegen nur zu gut kannte. Das hieß also, es hing nun alles von ihm ab. „Tja, dann werde ich gleich mal mit diesem Dr. Johnson sprechen. Nochmals vielen Dank für Ihre Unterstützung. Sobald wir hier rauskommen, unseren Kollegen gefunden und alles geklärt haben, werde ich da oben ein gutes Wort für Sie einlegen.“ „Oh danke, das ist aber nett“, meinte Harriet schmunzelnd, ohne wirklich zu glauben, dass das tatsächlich geschehen würde. Damit verabschiedete sie sich und ließ Michael alleine. Kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, nahm dieser das Zimmer genauer unter die Lupe in der Hoffnung, vielleicht irgendeinen Schwachpunkt zu finden, der ihm zur Flucht verhalf. Doch die Gitter an den Fenstern waren extrem robust und auch sonst gab es nichts, was sich vielleicht als nützlich erwiesen hätte. Also ging er wieder raus auf den Flur, um sich ein wenig umzusehen. Dabei traf er auf ein paar andere Patienten, die zum größten Teil gar nicht ansprechbar waren und teilweise unter ziemlich starkem Medikamenteneinfluss standen. Leider sah es nicht wirklich danach aus, als gäbe es eine vernünftige Fluchtmöglichkeit. Sämtliche Fenster waren vergittert und der einzige Weg hinaus führte durch die Tür, durch sie reingekommen waren. Und die ließ sich offenbar nicht so ohne weiteres öffnen. Vermutlich war diese Tür durch eine besondere Verrieglung gesichert, was also bedeutete, dass rohe Gewalt nichts half. Gabriel hatte sich ja bereits die Zähne daran ausgebissen und er war nicht gerade ein Schwächling. Er verstand sowieso nicht, warum sie hier eingesperrt worden waren, obwohl sie niemanden verletzt und auch sonst nichts verschuldet hatten. Es war schon traurig, dass man nicht einmal mehr auf die Hilfe der Menschen vertrauen konnte, ohne gleich als verrückt abgestempelt und in ein Haus voller geistig verwirrter Menschen gesperrt zu werden. Vermutlich wäre das alles nicht passiert, wenn Gott nicht damals entschieden hätte, sich lieber aus menschlichen Angelegenheiten rauszuhalten. Vor knapp 2000 Jahren wäre so etwas garantiert nicht passiert! Fairerweise musste man auch dagegenhalten, dass es damals auch noch keine Einrichtung für Verrückte gegeben hatte. Diese hatten damals nicht unbedingt eine hohe Lebensspanne gehabt, was nicht zuletzt daran gelegen hatte, dass diese Leute als Besessene hingerichtet worden waren. Etwas drastisch, aber leider waren die Menschen ein recht paranoides Völkchen und hatten quasi überall Hexen und Dämonen gesehen. Anscheinend hatten sie diesen Verfolgungswahn inzwischen abgelegt und glaubten stattdessen nicht mehr an die Präsenz von Engeln. Nein, heutzutage sperrte man Gottes Diener zusammen mit den Geisteskranken ein, weil sie den Unterschied nicht sahen. Schließlich fand er eher durch Zufall die Tür zu der Zelle, in welche Gabriel eingeschlossen worden war. Durch ein kleines Sichtfenster konnte er sehen, dass der ganze Raum gepolstert war und sein Freund damit beschäftigt war, um sich zu schlagen und zu versuchen, durch rohe Gewalt die Polsterung zu zerstören um gewaltsam aus dem Raum zu entkommen. Michael sah sich verstohlen um und flüsterte ihm durch das kleine Sichtfenster zu: „Hey Gabriel!“ Der zweite Erzengel hielt inne und wandte den Blick zur Tür. Michael winkte ihn zu sich und erklärte ihm in kurzen und knappen Worten von seinem Plan, den zweiten Chefarzt zu sprechen und zu versuchen, auf diese Weise ihre Flucht aus der geschlossenen Psychiatrie zu ermöglichen. „Wenn du dich wieder einigermaßen eingekriegt hast, lassen sie dich wieder raus“, fügte der erste Erzengel noch an. „Anscheinend hat man hier mehr Freiheiten, wenn man sich ruhig verhält und keinen Ärger macht.“ „Und du meinst, du kriegst das ganz alleine hin?“ fragte Gabriel skeptisch. „Du kennst dich in der modernen Welt doch überhaupt nicht aus.“ „Was anderes bleibt uns ja wohl gerade nicht übrig“, erwiderte Michael und dem konnte der Gummizellen-Patient nun wirklich nicht widersprechen. Also musste dieser sich wohl oder übel auf Hilfe von außerhalb seiner Zelle verlassen. „Reg dich erst mal in Ruhe ab und halte dich bereit. Ich werde mir diesen Chefarzt vorknöpfen und versuchen, ihn zu überzeugen, dass wir keine Verrückten sind.“ „Dann wäre es wohl sinnvoll, wenn wir aufhören zu erzählen, dass wir Erzengel sind“, kam der Vorschlag von der anderen Seite der Tür her. „Solange wir keine Kräfte haben, werden die Menschen uns sowieso kein Wort glauben und denken, wir hätten einen an der Waffel.“ Das haben manche von uns so oder so, dachte sich Michael, sprach es aber lieber nicht laut aus. Ansonsten ging das nächste Theater los. Aber Gabriels Vorschlag machte durchaus Sinn. Solange die Himmelspforte verschlossen war und sie keinerlei Möglichkeiten hatten, ihre wahre Gestalt zu offenbaren, waren sie in den Augen der Unwissenden und Ignoranten nur gewöhnliche Menschen. Also mussten sie sich auch als solche verhalten. Als Schritte näherkamen, verabschiedete sich Michael und verschwand eiligst wieder. Er wollte lieber keinen unnötigen Ärger riskieren. Da er sonst nicht wusste, wo er hin sollte und keinen Grund sah, in sein Zimmer zurückzukehren, begann er nach dem Raum zu suchen, wo die Therapiestunde abgehalten werden sollte. Zum Glück fand er Harriet und diese führte ihn in einen großen Gemeinschaftsraum mit mehreren Tischen, wo die kurz geratene Blondine, die auf den Namen Connie hörte, Stifte und Papiere verteilte. Es sah so aus als bestünde die Therapie darin, Muster auszumalen und Zahlen in Kästchen einzutragen. Ein wenig geistlos wie er persönlich fand, aber er verstand ja auch nicht sonderlich viel von Therapie als solches. Um die Zeit irgendwie rumzukriegen, half er mit den Vorbereitungen und suchte sich im Anschluss einen Platz aus, auf dem er es sich bequem machte. Aus reiner Neugier nahm er sich einen Zettel mit den Kästchen und Zahlen, bekam erklärt dass es ein „Sudoku“ war und konnte überhaupt nichts damit anfangen. Aber es sah zumindest anspruchsvoller aus als ein Ausmalbild. Während Connie und Harriet gingen um noch ein paar andere Dinge zu erledigen, studierte der erste Erzengel weiterhin das Blatt mit den Kästchen und versuchte den Sinn und Zweck dahinter zu verstehen. Als er glaubte, die Regeln so ungefähr verstanden zu haben, nahm er sich einen Stift und versuchte sich an dem ungewöhnlichen Zahlenpuzzle. Dabei bemerkte er erst gar nicht, wie jemand den Raum betrat und leise vor sich hin summte. Als das Summen aber seine Ohren erreichte und er es als eine ziemlich vertraute Melodie aus seinem alten Himmelschor wiedererkannte, hob er neugierig den Kopf um zu sehen, wer die Quelle dieser vertrauten Melodie war. Das Summen verstummte sofort, als seine Anwesenheit registriert wurde. Der Mann, der da gerade eben noch ein Liedchen gestimmt hatte, war ein brünetter schlanker Kerl um die 30 Jahre, hatte schulterlanges Haar, einen sehr markanten Bart und einen dunklen Hautteint. Zuerst hielt Michael es bloß für eine rein zufällige Ähnlichkeit, in die er zu viel reininterpretierte. Doch der Mann, dessen Arztkittel überhaupt nicht zu seinem Aussehen passte, erkannte ihn sofort und ihm klappte augenblicklich die Kinnlade runter. „Michael?“ platzte es aus dem Mann raus und seine Augen weiteten sich vor Fassungslosigkeit. „Was in Vaters Namen machst du denn hier?“ Die Stimme und auch die Art zu reden ließen keinen Zweifel zu. Es war wirklich er. Zuerst war er nur verwirrt und konnte es erst nicht einordnen. Doch angesichts all der Strapazen und Probleme, die er in dieser kurzen Zeitspanne gehabt hatte, wurde diese kurzweilige Verwirrung von Wut verdrängt und er kam sich nun wirklich vor wie im Irrenhaus. „Das Gleiche könnte ich dich auch fragen, Jesus! Wieso zum Geier bist du hier und wo warst du die ganze Zeit?!“ „Psst, nicht so laut“, ermahnte ihn der verschollene Gottessohn mit gedämpfter Stimme und signalisierte ihm, leise zu sein. Dann eilte er schnellstens zur Tür und schloss sie ab, damit sie nicht gestört wurden. Der Tag war schon verrückt genug gewesen und glich einer wilden Achterbahnfahrt. Erst der Mord, dann die Flucht, dann landeten sie im Irrenhaus und jetzt tauchte auch noch Jesus auf. Es gab wirklich Tage, an dem man am liebsten im Bett geblieben wäre und so ungefähr ging es nun Michael. Das war viel zu viel für ihn und er fürchtete nun tatsächlich den Verstand zu verlieren. „Das gibt’s ja wohl nicht… du bist es wirklich…“, brachte der erste Erzengel fassungslos hervor und verfiel in ein fast schon hysterisches Lachen. „Was kommt denn bitteschön als nächstes? Ist deine Mutter etwa auch hier oder was? Was machst du überhaupt hier? Ist dir eigentlich klar, dass da oben die Hölle los ist?“ Mit schuldbewusster Miene senkte der vermisste Messias den Blick und kratzte sich etwas unsicher am Hinterkopf. Ein kleines Namensschild blitzte an seinem weißen Kittel und darauf stand „Dr. C. Johnson“. Nun dämmerte es Michael allmählich: Jesus arbeitete unter falschem Namen als Chefarzt in dieser Klinik. Stellte sich nur die Frage wie lange das Ganze schon lief. „Es ist ein klein wenig kompliziert“, murmelte Jesus und setzte sich zu Michael um in Ruhe mit ihm zu sprechen. Es hatte ja eh keinen Sinn, irgendetwas zu leugnen oder zu verheimlichen, da konnte er genauso gut mit der Wahrheit rausrücken. „Weißt du, die Sache ist die… Seit meiner Geburt war ich immer nur Gottes Sohn gewesen und hatte nie die Chance, mein Leben selbst zu bestimmen. Alles war schon lange vor meiner Geburt geplant gewesen und ich hatte nie wirklich ein Mitspracherecht gehabt. Du weißt ja wie bestimmend mein Vater sein kann.“ „Da ist was dran“, gab der erste Erzengel nach kurzem Zögern zu. Er kannte Gottes Temperament ja zu Genüge, vor allem wie dieser reagierte wenn etwas nicht so lief wie er wollte. Jesus, der sichtlich nervös war und offenbar Angst hatte, in Schwierigkeiten zu geraten, fuhr mit seiner Erklärung fort. „Kannst du dir vorstellen wie es ist, aufzuwachsen und Träume zu haben aber nie die Chance zu haben, wirklich du selbst zu sein? Ich hätte als Zimmermann arbeiten können oder eine Vinothek in Bethlehem eröffnen können. Stattdessen hat mein Vater mich immer wieder dazu gedrängt, seine Worte zu verbreiten und hat mich erst kurz vor dem letzten Abendmahl wissen lassen, dass ich sterben muss. Ich hatte ja wenigstens gehofft, dass es kurz und schmerzlos geht. Aber dass die eine ganze Foltershow draus machen, hat mir keiner gesagt! Stattdessen hat Vater mich einfach auflaufen lassen und erwartete allen Ernstes noch, dass ich ihn dafür lobpreise!“ Von dieser Geschichte hatte Michael bereits gehört, immerhin war es eines der wildesten Gerüchte im Himmel gewesen. Vor allem hatte wirklich jeder Engel darüber gelästert, dass das klärende Gespräch nach Jesus‘ Rückkehr in den Himmel nicht unbedingt erfolgreich gewesen war und die Sache in einem ziemlich heftigen Familienstreit eskalierte. „Ich war es satt, immer nur eine Schachfigur in Vaters Spiel zu sein, also beschloss ich auf die Erde zurückzukehren und mich selbst zu finden“, fuhr Jesus mit seiner Erzählung fort. „Ich habe hier und dort als Weinhändler gearbeitet, war auch zwischendurch Arzt gewesen oder hab als Zimmermann ausgeholfen wenn das Geld knapp war. Irgendwann war ich dann als Globetrotter unterwegs, hab Buddha kennen gelernt, dank ihm schließlich meine innere Mitte gefunden und wir sind dann beste Freunde geworden. Wir haben sogar eine gemeinsame Urlaubsreise nach Japan gemacht. Dann war ich während des Börsencrashs 1929 Telefonseelsorger, bin dann Mitglied der Hippie-Bewegung gewesen, hab auf Woodstock-Konzerten abgehangen, in den 80ern eine Rockband gegründet und arbeite nun als Chefarzt in dieser Klinik.“ „Das klingt ja schön und gut aber… ist dir denn nie in den Sinn gekommen, wieder nach Hause in den Himmel zu kommen? Wir haben dich dort oben wirklich gebraucht!“ Für einen Moment zeichnete sich Unsicherheit auf der Miene des Israeliten ab und er grübelte kurz darüber nach. Doch dann fand er seine Entschlossenheit wieder und an seinem Blick war deutlich zu erkennen, dass er nach all der langen Zeit immer noch sauer auf Gott war. „Alles was ihr braucht ist nur den Sohn Gottes und mehr nicht“, erwiderte er in einem kühlen Ton. „Keiner von euch hat mich jemals gefragt, was ich eigentlich will und es hat meinen Vater genauso wenig interessiert. Also habe ich halt das gemacht, was ich am besten kann: für das zu kämpfen, wofür ich stehe, selbst wenn ich dafür die Regeln brechen und Autoritätspersonen auf den Sack gehen muss. Auf der Erde kann ich sein wer ich will und ich sehe nicht ein, warum ich in mein altes Leben zurückkehren soll, wo ich immer nur gezwungen werde, jemand zu sein der ich nie sein wollte.“ „Ja aber…“, begann Michael und wusste nicht so wirklich, was er darauf erwidern sollte. Auf der einen Seite wäre es seine Pflicht, Jesus davon zu überzeugen, in den Himmel zurückzukehren. Immerhin hatte er als Sohn Gottes eine ziemlich hohe Position und konnte vielleicht das ganze Durcheinander da oben wieder in Ordnung bringen. Aber andererseits klang es auch nicht danach, als wäre das wirklich die richtige Entscheidung. So wie sich das anhörte, schien er nicht sonderlich glücklich mit seinem Ruhm als Messias zu sein und wollte stattdessen ein einfaches Leben als Mensch genießen. Wäre es dann wirklich die richtige Entscheidung, ihn gegen seinen Willen zurückzubringen? In dieser Frage wusste er leider nicht weiter und ihm fiel auch sonst nichts ein, was er dazu sagen konnte. Aber Jesus war noch nicht ganz mit ihm fertig. „Sag mal, was machst du denn eigentlich hier, Michael? Ich dachte, Raphael hätte dafür gesorgt, dass niemand weiß, dass ich hier arbeite.“ Hier wurde der erste Erzengel hellhörig. „Wie bitte? Du hast Kontakt mit Raphael?“ „Na klar“, meinte Jesus wie selbstverständlich und zuckte mit den Schultern. „Was glaubst du wohl, wem dieses Krankenhaus gehört?“ Auch das machte irgendwie Sinn. Gabriel hatte ja erwähnt, dass diese Stadt Raphaels angeblicher Lieblingsort auf der Erde war und das Krankenhaus war nach ihm benannt worden. Da klang es schon irgendwie logisch, dass er sich vermutlich irgendeine Scheinidentität zugelegt hatte und sich hier etwas aufgebaut hatte. Das passte auch einfach zu perfekt zu seiner himmlischen Aufgabe als Heiler. „Wo wir gerade von Raphael sprechen…“, fuhr Jesus fort und legte mit leicht besorgter Miene die Stirn in Falten. „Du meintest gerade, im Himmel herrsche Unordnung. Hat es vielleicht etwas mit ihm zu tun?“ „Das kannst du wohl laut sagen. Jemand hat ihn erschlagen und mir einen Mord angehängt. Gott will mich nun allen Ernstes auslöschen und deshalb hat mich Gabriel aus Mathey befreit und wir haben uns dann auf die Suche nach Raphael gemacht. Aber leider ist die Himmelspforte verschlossen worden und wir können unsere Kräfte nicht mehr nutzen. Die Leute halten uns deshalb für verrückt und haben uns hier eingeliefert.“ Diese Story musste selbst Jesus erst mal verdauen. Geräuschvoll atmete er aus und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, während er alles sacken ließ. Er hatte ja zumindest damit gerechnet, dass die Organisation da oben so chaotisch wie eh und je war, aber dass die Dinge dermaßen eskaliert waren, hätte selbst er nicht gedacht. Andererseits… „Das erklärt zumindest, warum Raphael plötzlich direkt vor mir erschienen ist“, kommentierte er. „Er war schon fast nicht mehr unter den Lebenden gewesen und ziemlich schwer verletzt. Glücklicherweise konnte ich seine Verletzungen behandeln, aber er ist bislang noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Er liegt zurzeit auf der Intensivstation, aber sein Zustand ist soweit wieder stabil. Aber wer würde ihn denn umbringen wollen?“ „Würde ich auch gerne wissen… vor allem wer mir das anhängen will. Das Schlimmste ist, dass Gabriel jetzt in dieser gepolsterten Zelle festsitzt und wir aus eigener Kraft nicht mehr hier rauskommen. Wir können jetzt nicht mal mehr in den Himmel zurück um meine Unschuld zu beweisen!“ Wütend knüllte Michael das Papier mit dem Sudoku-Rätsel zusammen und warf die Papierkugel quer durch den Raum. Es war ja schön und gut, dass er jetzt wenigstens wusste wo Raphael war. Aber das nützte leider auch nichts, wenn er nicht einmal mehr in den Himmel zurückkehren konnte. Keiner konnte sagen, wie lange die Himmelspforte geschlossen bleiben würde und bis dahin war er völlig machtlos. Und es sah auch nicht wirklich danach aus als würde Jesus helfen wollen. Der hatte verständlicherweise genug von dem ganzen Theater da oben und ihn gegen seinen Willen zurückzubringen wäre auch falsch. Er hatte lange genug strikt die Regeln befolgt und es hatte sie alle in die Scheiße geritten, da brauchte er jetzt nicht schon wieder damit anfangen. Jetzt hatte er endgültig die Schnauze voll davon. Eine Weile saßen sie schweigend da und es herrschte eine ziemlich unangenehme Atmosphäre. Doch dann gab Jesus einen leisen Seufzer von sich und meinte „Ich fürchte, da bleibt uns wohl keine andere Wahl. Ich werde euch helfen, hier rauszukommen und werde sehen, wie die Lage im Himmel ist.“ „Wirklich?“ fragte der erste Erzengel mehr als überrascht. „Aber hast du nicht gesagt…“ „Ich werde definitiv nicht dauerhaft zurückkehren“, unterbrach ihn der pensionierte Messias sofort. „Aber ich kann auch nicht tatenlos dasitzen wenn sich ein Unheil zusammenbraut und Vater nichts dagegen tut. Glücklicherweise kann ich im Gegensatz zu euch noch Wunder bewirken, wenn auch nicht mehr so wirkungsvoll wie vor 2000 Jahren. Ich fürchte allerdings, dass ich allerhöchstens nur einen von euch mit nach oben nehmen kann.“ Doch für den Fall hatte Michael bereits eine Lösung. Da Raphael den Ring noch bei sich hatte und dieser ihm das Leben gerettet hatte, sollte es eigentlich möglich sein, Jesus einen kleinen Kräfteschub zu geben und alle zurück in den Himmel zu bringen. Dazu mussten sie nur erst mal aus der geschlossenen Psychiatrie raus. Aber das sollte auch kein großes Problem sein. Nach der Therapiestunde würden sie den Fluchtplan in die Tat umsetzen und schnellstmöglich wieder nach Hause zurückkehren bevor es noch mehr Probleme gab, die sie auf der Erde festhalten konnten. Kapitel 31: Blut, Schweiß und Spott ----------------------------------- Der Bau der Pforte zum Fegefeuer ging glücklicherweise reibungslos voran und innerlich atmete Metatron auf, dass wenigstens etwas vernünftig klappte. Nach all dem ganzen Durcheinander war es wirklich ein Lichtblick, endlich ein paar vernünftige Fortschritte beobachten zu können. Wenn alles glatt lief, konnte er bald damit beginnen, ein Team zusammenzustellen, um die Aufarbeitung der Seelenurteile zu beginnen. Verglichen mit all den Diskussionen, Zankereien und Intrigen sollte das ja wohl hoffentlich der einfache Teil sein. Blieb nur zu hoffen, dass Malachiel etwas bei Gabriel erreichen konnte. Die ganze Sache mit Michael und Raphael stank gewaltig nach Ärger und so ungern er es auch zugeben mochte, traute er es Samael durchaus zu, derart drastische Maßnahmen zu ergreifen. Er war ja noch nie wirklich jemand gewesen, der sonderlich zimperlich vorging und viel lieber drastische Methoden bevorzugte. Jemand, der die Menschen so sehr verabscheute und die Reinheit des Himmels gefährdet sah, konnte schlimmstenfalls zu Verzweiflungstaten bereit sein. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass jemand für seine Überzeugung Blut vergoss. Und Michael beiseite zu schaffen, kam ihm natürlich ganz gelegen um dem Projekt gehörig die Parade zu sabotieren. Aber war Gabriel wirklich so leichtgläubig, sich ausgerechnet von Samael manipulieren zu lassen? Der wusste doch besser als jeder andere, wie gefährlich der Seraph des Todes war. Unruhig schritt er an der Balustrade der höchsten Himmelsterrasse herab und war in tiefen Gedanken versunken. Er wurde das Gefühl einfach nicht los, dass er irgendetwas übersehen hatte und Eden vielleicht gar nicht das Ziel sein könnte. Dabei machte diese Schlussfolgerung doch am meisten Sinn und es passte einfach zu Samael. Trotzdem sagte ihm sein Bauchgefühl, dass da weitaus mehr im Busch war. Vielleicht eine Revolte? Das würde zumindest sein heimliches Techtelmechtel mit Luzifer erklären. Aber kein Engel konnte dumm genug sein um allen Ernstes zu denken, dass sich nach zwei fehlgeschlagenen Revolutionen irgendetwas ändern würde. Satan war im wahrsten Sinne des Wortes volle Kanne auf die Schnauze geflogen und Luzifer hatte man ebenfalls vor die Tür gesetzt. Ganz zu schweigen davon, dass Samael ein beträchtliches Handicap hatte, was eine Revolte für ihn weitaus schwieriger machte. Vielleicht dachte er sich aber auch einfach nur, dass aller guten Dinge drei waren und er pokerte damit, dass niemand einen weiteren Aufstand erwarten würde. „Macht Ihr Euch immer noch Gedanken wegen dieser Mordgeschichte?“ fragte sein Begleiter besorgt, der etwas weiter weg von der Balustrade entfernt stand, seine dämonischen Augen unter der Kapuze seiner Jacke verborgen um nicht aufzufallen. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, murmelte Metatron geistesabwesend und schaute auf die unteren Himmelsebenen hinab. „Was verspricht sich Samael von dieser ganzen Aktion? Er muss doch wissen, dass eine Rebellion sinnlos ist. Selbst Satan hat es mit seiner ganzen Armee nicht geschafft.“ „Manche lernen’s halt nie“, meinte Nazir schulterzuckend und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Es war doch immer Michael gewesen, der Luzifer und Va- äh Satan besiegt hat, oder? Vielleicht denkt er ja, dass es klappt, wenn der weg vom Fenster ist.“ Ja da mochte was dran sein, aber selbst Samael war gewiss nicht so dumm um zu denken, dass er es ganz allein ohne eine Armee mit dem gesamten Himmel aufnehmen konnte. Es sei denn, er hatte irgendetwas vor, was er lieber heimlich durchführen wollte. Zugegeben, eine hinterlistige Intrige passte viel eher zu jenem Engel, der als „das Gift Gottes“ bekannt war. Ein lautes Donnergrollen unterbrach seine Gedanken und ein eisiger Schauer fuhr über seinen Rücken. Es war ein so tiefes und markerschütterndes Donnern, das den gesamten Körper durchdringt und selbst die Erde erzittern ließ. Das sonst so gleißend strahlende Licht der Sonne verschwand hinter einer tief schwarzen Wolkendecke und es sah nach einem schweren Sturm aus. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass gewaltiger Ärger im Anmarsch war und Gefahr ins Haus stand. Nazir, der nichts über die prophetischen Eigenschaften der himmlischen Wetterlagen wusste, hob verwundert die Augenbrauen und kommentierte überrascht „Ich wusste gar nicht, dass es selbst im Himmel schlechtes Wetter gibt.“ „Tut es normalerweise auch nicht“, entgegnete Metatron und seine Miene verdüsterte sich. „Da braut sich gerade ein Unheil zusammen.“ Das himmlische Sprachrohr beugte sich weiter vor und versuchte zu erkennen, was da unten vor sich ging. Doch bei dem ganzen Getummel da unten war das nicht ganz so einfach, denn sämtliche Engel waren nun durch das anbahnende Gewitter alarmiert und rannten nun in heller Panik herum und versuchten sich gegenseitig mit ihrem Geschrei zu übertönen. Es war unmöglich, da irgendetwas zu hören, geschweige denn in dem Gewirr etwas zu erkennen. Dann wanderte sein Blick zur Himmelspforte und er sah, dass das goldene Tor zugesperrt war. „Was zum…“, brachte er hervor, ließ den Satz aber unbeendet, weil er selbst nicht glauben konnte, was er da sah. Wer hatte da die Himmelspforte ohne seine ausdrückliche Genehmigung verschlossen? Spielten hier jetzt alle vollkommen verrückt? So langsam platzte ihm der Kragen und er schwor sich, dass derjenige, der dafür verantwortlich war, sein blaues Wunder erleben würde. „Der ganze Himmel scheint hier langsam verrückt zu spielen“, grummelte er zerknirscht und bekam dabei gar nicht mit, wie Nazir ihm zurief. Wäre er mit seinen Gedanken nicht gerade beim Tor gewesen, hätte er vielleicht noch geistesgegenwärtig genug reagieren können, um dem Schlag von Luzifers Schwert auszuweichen. Unglücklicherweise hatte er aber weder gehört, wie sich dieser von hinten angeschlichen hatte, noch hatte er überhaupt dessen unheilvolle Aura gespürt. Blitzschnell war Luzifer nach oben zu ihm heraufgeschossen und hätte ihn mit einem Hieb erschlagen, hätte Nazir nicht zeitig genug reagiert, ihn an einen seiner Flügel gepackt und zurückgezerrt. Die Klinge traf ihn quer über die Brust und für einen Moment sah der himmlische Regent nichts als einen dunkelroten Schleier, der sich über seine Augen legte. Benommen taumelte er zurück und nur der rasende Schmerz seiner blutenden Wunde hielt ihn bei Bewusstsein. Seine goldbestickte Robe färbte sich dunkelrot und ein ersticktes Keuchen entwich ihm als er eine Hand auf seine Brust presste. Benommen taumelte er zurück und versuchte sich auf den Beinen zu halten. Mit einem hämischen Grinsen stand Luzifer vor ihm auf der Balustrade, mit dem blutbesudelten Schwert in der Hand. „Lu-Luzifer…“, brachte Metatron mit gepresster Stimme hervor. „Was in Gottes Namen…? Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?“ „Sorry Metatron, aber es gibt jetzt einen kleinen Wechsel im Management“, erwiderte der Fürst der Finsternis und stand wie ein Mahnmal des Bösen über ihn. „Ab jetzt herrscht hier im Himmel ein ganz anderer Wind und dafür muss der eine oder andere Posten halt freigemacht werden.“ Ach so war das also. Langsam ging Metatron ein Licht auf und er begann zu verstehen, was das ganze Durcheinander zu bedeuten hatte. Das Ganze war also bloß ein Ablenkungsmanöver gewesen, damit er nicht bemerkte, dass jemand es speziell auf ihn abgesehen hatte. Warum nur war ihm das nicht schon viel früher in den Sinn gekommen? Stattdessen hatte er sein ganzes Augenmerk darauf gelegt, die Sicherheitsmaßnahmen in Eden zu verschärfen. „Glaubst du allen Ernstes, Gott wird zulassen, dass du oder Samael meinen Platz einnehmt? Ich wusste ja, dass du ein hochmütiger Sturkopf bist, aber so viel Dummheit hätte selbst ich dir nicht zugetraut.“ Als er dann aber die Frage zu Ende formuliert hatte, kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Was wenn Samael schon längst wusste, dass er den Kontakt zu Gott verloren hatte und es erfolgreich verheimlicht hatte? Er hatte es all die Jahre für sich behalten und sein Bestes versucht, diese Tatsache vor der gesamten Welt, einschließlich seinen engsten Vertrauten geheim zu halten. Nur Malachiel wusste davon und der würde ihm nie und nimmer in den Rücken fallen. Hatte Samael es etwa selbst herausgefunden? Wenn ja, wie hatte er das angestellt? Luzifers siegessicheres Grinsen ließ zumindest nichts Gutes erahnen. „Oh, um Gott mach dir mal keine Sorgen. Um den kümmern wir uns auch noch, gleich nachdem wir dich und diesen halbblütigen Schwätzer aus dem Weg geräumt haben.“ Metatrons Gesichtszüge entgleisten nun völlig. Er hätte ja mit einigem gerechnet, aber garantiert nicht mit so einer Nummer. Samael hatte allen Ernstes vor, sich mit Gott anzulegen und ihn zu töten? Das war absoluter Wahnsinn. Es war schon völlig verrückt genug gewesen, als Satan versucht hatte, einen Krieg anzuzetteln um Gott vorzuschreiben, wie dieser seinen Job zu machen hatte. Statt sich direkt mit Gott anzulegen hatte er darauf gespielt, mit größtmöglichem Chaos und Kollateralschaden den Herrn in Zugzwang zu bringen und ihn auf diese Weise zu manipulieren. Aber selbst dem Herrscher allen Bösen wäre nicht einmal im Traum der Gedanke gekommen, jemanden zu töten, der allmächtig war. Wenn die Situation gerade nicht so verdammt ernst wäre, hätte er vielleicht sogar darüber gelacht, weil es einfach zu verrückt war um wahr zu sein. „Ihr beide habt ja völlig den Verstand verloren.“ „Der Alte hat das alles selbst zu verschulden“, gab Luzifer unbeeindruckt zurück. „Als ob du oder ich ihm jemals wichtig genug gewesen wären, dass er uns auch nur ein einziges Mal zugehört hätte. Er war immer nur sich selbst wichtig und wenn jemand es gewagt hat, den Mund aufzumachen, wurde er sofort in die Hölle verbannt. Damit ist jetzt endgültig Schluss. Mal sehen ob du für ihn genauso leicht ersetzbar bist wie ich!“ Damit erhob er sein Schwert um Metatron endgültig den Rest zu geben. Der schwer verletzte Seraph wusste, dass er kaum eine Chance hatte, dem Schlag auszuweichen und er war obendrein auch noch unbewaffnet und konnte den Schlag somit auch nicht abblocken. Doch selbst im Traum wäre ihm nicht eingefallen, um sein Leben zu betteln oder Schwäche zu zeigen. Er war immerhin noch ein Engel und hatte durchaus seinen Stolz. Wenn er schon sterben musste, dann wenigstens mit Würde. Doch bevor Luzifer dazu kam, den tödlichen Schlag auszuführen, schoss eine Feuerkugel auf ihn zu und es gelang ihm nur dank seiner teuflischen Reflexe, den Flammenball mit seinen dunklen Dämonenschwingen abzuwehren. „Was in Satans Namen…“ brüllte er wütend und seine bernsteinfarbenen Augen fixierten Nazir, der den Feuerball auf ihn geschleudert hatte und sich nun schützend vor Metatron stellte. Um seine rechte Hand hatte er einen Rosenkranz gewickelt, in seiner linken Hand brannte eine weitere Feuerkugel, die aber nicht größer als ein Fußball war. Mit der Entschlossenheit eines Kämpfers hielt er sich für einen weiteren Angriff bereit und funkelte Luzifer drohend an. „Bleib bloß weg von ihm!“ warnte Nazir und die Feuerkugel in seiner Hand begann noch intensiver zu lodern. „Wenn du ihn töten willst, musst du zuerst an mir vorbei!“ „Ach das ist ja drollig“, spottete Luzifer und prustete vor Lachen. So viel Kampfgeist hätte er einem Kind wie ihm nicht zugetraut, aber sonderlich beeindruckt war er von dessen Drohgebärden nicht. „Willst du allen Ernstes den Helden spielen, obwohl du dich vor Angst fast einmachst?“ Es war nicht abzustreiten, dass Nazir schreckliche Angst hatte und diese Tatsache mit Mühe zu verbergen versuchte. Seine Knie zitterten und er war völlig verkrampft um sich bloß nicht seine Furcht vor dem Fürst der Finsternis anmerken zu lassen. Insgeheim wusste er ja auch, dass er kaum eine Chance gegen jemanden wie Luzifer hatte. Ein Kampf gegen ihn war in etwa vergleichbar wie mit einem sechsjährigen Kind, das mit aller Macht versuchte, einen 40-jährigen Erwachsenen niederzuringen. Im Grunde war er ja selbst nur ein Kind und taugte nicht zu einem anständigen Dämon, ganz zu schweigen davon dass durch sein Studium bei Malachiel seine Dämonenkräfte deutlich schwächer geworden waren. Trotzdem konnte er nicht einfach so tatenlos dastehen und zusehen, wie Metatron vor seinen Augen getötet wurde. Er war es sowohl ihm als auch seinem Mentor schuldig, dass er das hier tat. Metatron hatte ihn während des Meetings vor allen anderen verteidigt und glaubte an ihn, also war dies hier das Mindeste, was er für ihn tun konnte. Außerdem kannte er Luzifers wunden Punkt und selbst wenn er ihm kräftemäßig unterlegen war, gelang es ihm vielleicht, ihn so zur Weißglut zu treiben, dass dieser das Interesse an Metatron verlor. Dann konnte er ihn bestenfalls von hier fortlocken und sich dann eine Strategie einfallen lassen, wie er ihn loswerden konnte. Eine bessere Alternative hatte er leider nicht zur Hand. „Und wenn schon!“ entgegnete er dem Spott und schaute seinen Kontrahenten wild entschlossen an. „Das wird mich trotzdem nicht davon abhalten, dir meinen Rosenkranz so tief in Rachen zu stopfen, dass Samael ihn dir als Analkette wieder aus dem Arsch ziehen muss!“ Diese Drohung ließ den Prinz der Hölle recht unbeeindruckt. Stattdessen grinste dieser nur belustigt und strahlte eine gefährliche Mordlust dabei aus. „Ne große Klappe hast du ja, das muss man dir lassen. Mal sehen, ob du noch dein Maul so weit aufreißen kannst, wenn ich erst mal mit dir fertig bin!“ „Du musst hier gerade von Töne spucken reden“, warf Nazir zurück und atmete tief durch um seinen ganzen Mut zu sammeln und sich auf das Bevorstehende vorzubereiten. Wenn er etwas von seinem Mentor eines gelernt hatte dann war es, seine Gegner verbal zu zerfleischen und zu erniedrigen. Und insgeheim bereitete es ihm auch eine gewisse Genugtuung, Luzifer endlich mal die Meinung sagen zu können. Er hatte sich lange genug von anderen Dämonen in der Hölle herumschubsen lassen müssen und sich von allen als Versager bezeichnen lassen. Jetzt war er mal an der Reihe, Konter zu geben. „Wenigstens bin ich kein unreifer, beleidigter Jammerlappen mit Vaterkomplex, der so verzweifelt ist, dass er sich von einem größenwahnsinnigen Spinner mit Gottkomplex ficken lässt, um sich halbwegs wichtig zu fühlen.“ Luzifers Miene erstarrte. Sein Grinsen schwand aus seinem Gesicht und es sah tatsächlich so aus, als hätte ihn diese verbale Breitseite so unerwartet und überraschend getroffen, dass er nicht einmal imstande war, sich darüber aufzuregen. Nie im Leben hätte er damit gerechnet, dass ein schwächlicher Angsthase wie Nazir, der sich hinter dem Rockzipfel eines Engels und eines Halb-Engels verstecken musste, so etwas zu ihm ins Gesicht sagen würde. Doch Nazir war noch nicht fertig, denn eines hatte er sich noch aufgespart: „Nicht mal in der Hölle hast du es wirklich zum Herrscher gebracht. Stattdessen bist und bleibst du immer nur jemand, der anderen in den Arsch kriecht und sich herumkommandieren lässt, weil du nichts von selbst gebacken kriegst. Kein Wunder, dass Gott so einen Versager wie dich rausgeschmissen hat! Ich mag eine Enttäuschung für meinen Vater sein, aber du bist sowohl für den Himmel als auch für die Hölle die größte Lachnummer von allen!“ Damit war das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Dieser letzte Satz reichte aus, um Luzifer alle Vorsicht und alle Pläne über Bord fahren zu lassen. Scheiß auf Samael und seinen Eroberungsplan. Diese Kränkung würde er nicht auf sich sitzen lassen. Wutentbrannt und mit vor blankem Zorn verzerrtem Gesicht hob er das Schwert um Nazir damit zu erschlagen und hatte in diesem Moment völlig vergessen, dass Metatron auch noch da war. Und dieser ließ diesen Augenblick der Unachtsamkeit nicht ungenutzt. Denn obwohl er verletzt, geschwächt und obendrein unbewaffnet war, hatte er dennoch ein As im Ärmel. Keuchend hob er den rechten Arm und beschwor einen gleißenden Lichtstrahl, der die tiefschwarze Wolkendecke wie einen Blitz durchbrach und Luzifer mit einem lauten Donnern traf. Bevor der Prinz der Hölle überhaupt wusste wie ihm geschah, zischten und knisterten bereits goldene Flammen auf seinem Körper und hüllten ihn binnen weniger Sekunden komplett ein. Laut schreiend vor Schmerz ließ er das Schwert fallen, wand sich heftig und schlug mit den Armen um sich während die Flammen an ihn zehrten und zu einer gewaltigen Feuersäule heranwuchsen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Nazir nicht einmal gewusst, dass es tatsächlich möglich war, Dämonen mit Feuer zu verbrennen. Aufgrund der Tatsache, dass sie in der Hölle lebten, waren sie eigentlich ziemlich resistent gegen normales Feuer, auch wenn dämonische Flammen ziemlich wehtun konnten. Doch anscheinend gab es einen gewaltigen Unterschied zu Metatrons goldenem Feuer, das tatsächlich imstande war, einen derart mächtigen Dämon in Brand zu setzen. Nazir war wie in Trance und konnte seine Augen nicht von dem Feuer abwenden. Noch nie in seinem Leben hatte er ein derart schönes und reines Feuer gesehen und war wie hypnotisiert von dem Anblick. Erst als Metatron seinen Arm ergriff und ihn wieder ins eigentliche Geschehen zurückholte, kam er wieder zu Sinnen. Der König der Engel war kreidebleich und schwer atmend sank er in die Knie als würde ihn jeden Augenblick das Bewusstsein verlassen. „Das wird ihn nicht lange aufhalten“, keuchte er und hatte Schwierigkeiten, überhaupt noch vernünftig zu sehen. Er hatte all seine Kraft aufgeboten, um diese gewaltige Feuersäule zu beschwören und in seinem ohnehin schon angeschlagenen Zustand war es umso schwerer. Wenn er nicht schleunigst verarztet wurde, dann hatten sie ein wirklich ernstes Problem. Denn dann würde er nicht mehr die Kraft für einen weiteren Gegenschlag aufbringen können. Blöderweise waren vernünftige Heiler nie zur Stelle wenn man sie wirklich brauchte und er selbst verstand von diesem Fach nicht die Bohne. Also musste eine Notlösung her und dazu brauchte er Hilfe. „Nazir, du musst Malachiel finden und ihn warnen! Wir dürfen nicht zulassen, dass Samael zum Heiligtum gelangt!“ Doch der junge Dämon hatte da einen ganz anderen Plan. Zugegeben, seine ursprüngliche Idee konnte er jetzt knicken, aber er hatte im Laufe der Jahre gelernt, das Beste aus der Situation zu machen und zu improvisieren. Eines stand für ihn jedenfalls fest: er würde nicht einfach so abhauen und Metatron seinem Schicksal überlassen. So weit kam’s noch! Mit etwas Mühe hob er den geschwächten Engel hoch, stieg mit ihm auf die Balustrade, breitete seine dunklen Schwingen aus und stürzte sich dann ohne Vorwarnung mit ihm hinab in die Tiefe. Nun war Metatron zwar das Fliegen gewöhnt, das Fallen hingegen gehörte nicht unbedingt zur Natur eines Engels. Und er hätte auch in Zukunft herzlich gerne auf diese Erfahrung verzichtet. Als Nazir sich ohne irgendeine Vorwarnung mit ihm in die Tiefe stürzte und der angeschlagene Seraph durch einen gewaltigen Adrenalinschub wieder bei vollem Bewusstsein war, schlang er panisch seine Arme um den Hals des jungen Dämons und schrie so laut, dass man es im ganzen Himmelreich hören konnte. „Heilige Scheiße!“ entfuhr es ihm und zu seinem Entsetzen wurden sie immer schneller. Der dämonische Haushälter dachte nicht einmal daran, seine Flügel auszubreiten und den Fall abzubremsen. „Nazir, bist du wahnsinnig? Du bringst uns noch um!“ „Keine Sorge, ich weiß was ich tue!“ versicherte dieser und versuchte dabei den Wind zu übertönen, der laut in den Ohren pfiff. „Dämonen sind von Natur aus begabte Sturzflieger!“ „Oh Gott, oh Gott, oh mein Goooooott!!!“ rief Metatron, während er sich angsterfüllt an Nazir klammerte, der in einem halsbrecherischen Tempo den Araboth hinabraste und auf die unteren Himmelsebenen zusteuerte. Erst als sie über Machonon waren, bremste er den Sturzflug ab um nicht noch mit einem der vielen Gebäude zu kollidieren. Doch da ihm sein Gefühl verriet, dass Luzifer bereits dabei war, die Verfolgung aufzunehmen, beschloss er, weiter in die unteren Ebenen zu flüchten. Metatron, der bemerkte dass Nazir keine Anstalten machte zu landen, begann zu protestieren. „Warum fliegst du weiter? Wir müssen Malachiel finden und…“ „Er wird schon selbst darauf kommen“, unterbrach der dämonische Haushälter ihn. „Wenn wir jetzt nach ihm suchen, holt Luzifer uns ein und dann war’s das. Wir müssen hier schnellstmöglich weg und einen Weg finden, Euch zu verarzten!“ Metatron wollte weiter protestieren, denn sein Pflichtbewusstsein verbot es ihm, feige die Flucht zu ergreifen und nichts zu tun um Samael und Luzifer an ihren Eroberungsplänen zu hindern. Als Engel und Sprachrohr Gottes war es seine heilige Pflicht, den Himmel zu beschützen. Andererseits hatte sein Retter auch nicht ganz Unrecht. Wenn sie ihre Zeit und Energie damit verschwendeten, auf der am dichtesten besiedelten Himmelsebene nach Malachiel zu suchen, würde Luzifer sie im Null Komma Nichts eingeholt haben. Außerdem war er streng genommen nur Gottes Sekretär und taugte nicht einmal wirklich zum Kämpfer. Sein goldenes Feuer war zwar mächtig, aber ansonsten hatte er einem Dämon von Luzifers Kaliber nicht viel entgegenzusetzen. Das Klügste war im Moment die Flucht, vor allem da sie beide kaum eine Chance hatten, einen direkten Kampf zu gewinnen. Der König der Engel überlegte kurz und spürte, wie ihm schwindelig wurde und er nur noch mit Mühe seine Gedanken sortiert bekam. Seine Augenlider wurden schwer und seine Sicht begann zu verschwimmen. Der Adrenalinschub klang allmählich ab und der Blutverlust machte sich immer weiter bemerkbar. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er endgültig ohnmächtig wurde. „Die Weihwasserquellen…“´, fiel es ihm schließlich ein. „Weihwasser kann die Wunden von Engeln heilen.“ „Verstanden“, bestätigte Nazir nickend und steuerte damit auf die unterste Himmelsebene Shamayim zu. Das war jetzt die einzige Hoffnung, die ihnen blieb. Wenn es ihm gelang, Metatron rechtzeitig dorthin zu bringen und seine Wunden zu behandeln, hatten sie vielleicht eine Chance gegen Luzifer. Dazu mussten sie nur als erstes die Quelle erreichen. Während sie die in halsbrecherischer Geschwindigkeit in die Tiefe hinabsausten um möglichst viel Zeit zu gewinnen, sprach Nazir innerlich ein Stoßgebet nach dem anderen. Lieber Gott, bitte lass uns rechtzeitig da sein. Bitte lass mich schnell genug sein, damit ich Metatron retten kann! Er wusste, dass Gebete allein nicht viel nützten. Immer wieder hatte sein Mentor ihm eingetrichtert, dass vom Beten allein keine Probleme gelöst wurden und er selbst Hand anlegen musste, um eine Lösung zu finden. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass ihm nur ein Gebet genug Zuversicht geben konnte, dass sie dieses Manöver halbwegs überstehen konnten. Vor allem hoffte er, dass er Recht behielt und Malachiel tatsächlich von selbst darauf kam, was Samael in Wahrheit vorhatte. Sein Mentor hatte ja kein Geheimnis daraus gemacht, dass er Samael jede Art von Schandtat zutrauen würde und er war ja auch nicht auf den Kopf gefallen. Er mochte zwar furchtbar faul sein, aber er besaß einen extrem guten Scharfsinn. Außerdem war die Tür zum Heiligtum eh verschlossen und konnte von keinem Engel geöffnet werden. Wenn sie also Glück hatten, kam Samael nicht mal bis zu Gott durch. Als Nazir schon von weitem den ersten Himmel sehen konnte, breitete er seine Flügel aus um den Fall abzubremsen. „Wir sind gleich da!“ rief er, doch von Metatron kam keine Reaktion. Sein Gesicht war kreidebleich, sein Atem flach und seine Augen geschlossen. Er hatte endgültig das Bewusstsein verloren. Mit einem leisen „Shit!“ setzte der dämonische Haushälter zur Landung an und legte den ohnmächtigen Seraph vorsichtig auf den Boden. Leise plätscherte neben ihnen Weihwasser aus dem Krug einer Marmorstatue, die irgendeinen Heiligen darstellte, in ein großes Becken. Für einen kurzen Augenblick atmete er erleichtert durch und glaubte schon, dass sie endlich gerettet waren. Doch dann wurde ihm bewusst, dass sie jetzt ein weiteres Problem hatten: er hatte nichts bei sich, womit er das Weihwasser aus dem Becken schöpfen konnte. Wer dachte denn auch bitteschön daran, im Fall eines Anschlags auf Gottes Pressesprecher ein Gefäß mit sich zu führen um an Weihwasser zu kommen? Der Himmel war halt nicht dämonengerecht! Metatron war auch nicht mehr in der Verfassung um sich selbst um die Versorgung seiner Wunden zu kümmern. Nazir bezweifelte außerdem, dass es eine gute Idee war, ihn einfach so in den Brunnen zu tauchen. Er konnte nicht abschätzen, wie tief das Becken war und ganz zu schweigen davon wollte er lieber nicht austesten, ob Engel unter Wasser atmen konnten. Wenn er nämlich Pech hatte, ertrank Metatron ihm noch, bevor dieser wieder zu Bewusstsein kam. Tja, was blieb da noch großartig an Alternativen übrig? Er selbst war trotz allem immer noch ein Dämon und er hatte bislang noch nicht austesten können, ob sein Körper dem Weihwasser standhalten konnte. Selbst Malachiel hatte ihm zur Vorsicht geraten. Schlimmstenfalls würden sich seine Hände auflösen sobald er versuchte, sie ins Wasser zu tauchen und damit war niemandem geholfen. Es half wohl nichts, er musste kreativ werden. Schnell zog er seine Jacke aus, hielt sie an den Ärmelsäumen fest und ließ sie ins Becken eintauchen und mit Weihwasser vollsaugen. Er wartete ein paar Sekunden, zog sie dann wieder vorsichtig heraus und hielt sie so weit wie möglich von seinem Körper weg, um nicht Gefahr zu laufen, von den herunterfallenden Tropfen getroffen zu werden. Die Jacke war klatschnass und schwer. Da sie aber ein von Menschen gemachtes Kleidungsstück war, reagierte das Weihwasser zum Glück nicht auf den Stoff. Jetzt blieb halt nur zu hoffen, dass es so klappte wie er sich das vorgestellt hatte. Vorsichtig begann er die tropfnasse Jacke auf Metatrons Brust zu drücken um der Blutung entgegenzuwirken und den Heilungsprozess zu beschleunigen. Es dauerte nicht lange, bis ein beißender Schmerz durch seine Handflächen und Finger raste und seine Haut sich anfühlte, als würde sie in Flammen stehen. Nur mit Mühe konnte Nazir einen Schmerzensschrei verkneifen und biss sich auf die Unterlippe, während er versuchte, das infernalische Brennen auf seiner Haut auszuhalten. Die Sekunden vergingen quälend langsam wie eine halbe Ewigkeit und kalter Schweiß lief seine Stirn hinunter. Ihm wurde speiübel und am liebsten hätte er sich übergeben, doch er kämpfte gegen den Brechreiz an. Stattdessen stand er wankend wieder auf, taumelte erneut zum Brunnen hin um die Jacke noch einmal mit Weihwasser zu tränken. Ein widerlicher Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase und er versuchte nicht auf seine Hände zu schauen, da er ahnte, dass ihm der Anblick überhaupt nicht gefallen würde. Stattdessen versuchte er sich krampfhaft auf sein Vorhaben zu fokussieren und rief sich jeden einzelnen Schritt wie ein Mantra immer wieder ins Gedächtnis um bei der Sache zu bleiben. Er durfte jetzt bloß nicht aufgeben! Dass seine Hände sich noch nicht in Wohlgefallen aufgelöst hatten, war schon mal ein sehr gutes Zeichen. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass er nicht selbst noch ohnmächtig wurde. „Na komm schon…“, brachte er hinter zusammengebissenen Zähnen hervor, während sich Tränen in seinen Augen sammelten. Es zischte leise, während das Weihwasser sich immer weiter durch seine Haut brannte. „Du schaffst das!“ Als er so leise vor sich hin murmelte, konnte er nicht einmal sagen, wem diese Worte überhaupt galten. Metatron oder ihm selbst? So betäubt wie er durch das Adrenalin und den Schmerz war, konnte er froh sein, wenn er wenigstens noch in der Lage war, einen halbwegs klaren Gedanken fassen zu können. Allein der Widerstand gegen die zerstörerische Wirkung des Weihwassers verlangte Unmenschliches an ihm ab und kostete ihm mehr Willenskraft als er sich selbst zugetraut hätte. Dann aber kam ihm ganz plötzlich wieder eine Erinnerung hoch und vielleicht mochte es ja ein erstes Warnzeichen für ein beginnendes Delirium sein. Ihm fiel wieder die Szene im Pfarrhaus in den Sinn, wie er Malachiel ganz enthusiastisch gefragt hatte, wann er endlich anfangen konnte mit Weihwasser zu üben. Hatte Malachiel ihm nicht gesagt, lieber Schutzhandschuhe anzuziehen, da er sich sonst einen neuen Haushälter suchen müsste, wenn sich seine Hände auflösten? Tja, hätte er mal besser auf ihn gehört und ein paar Handschuhe eingepackt. Aber wer hätte auch ahnen können, dass sich der Ausflug in den Himmel so entwickeln würde. Schon irgendwie eine ziemlich makabre Ironie das Ganze. Und irgendwie konnte er in diesem Moment nicht anders als darüber zu lachen, trotz all der Schmerzen. Wenn ich das hier überstehe, werde ich mir mit Sicherheit eine gewaltige Standpauke anhören müssen, schoss es ihm durch den Kopf und wunderte sich selbst, dass er trotz der ernsten Lage noch lachen konnte. Vielleicht war er tatsächlich einem Delirium nah. Gerade wollte er wieder aufstehen und neues Weihwasser holen, da packte ihn eine Hand an den Haaren und riss ihn gewaltsam von den Füßen. Nazir riss die Arme hoch und wollte sich losreißen, doch er war nicht einmal mehr imstande, überhaupt noch seine Finger zu bewegen. „So, jetzt läufst du mir nicht mehr davon, du dreckiger kleiner Bastard!“ Nazirs Herz setzte einen Schlag aus als er sah, dass es Luzifer war. Wieso um alles in der Welt hatte er ihn nicht gespürt? So ein verdammter Mist. Seine verbrannten Hände hatten ihn so sehr abgelenkt, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie sein Verfolger näher gekommen war. Der Prinz der Hölle sah ziemlich übel aus. Seine Haut war durch das heilige Feuer arg in Mitleidenschaft gezogen worden und seine Kleidung war völlig versengt. Wenn Malachiel ihn gesehen hätte, dann hätte er mit Sicherheit einen Kommentar vom Stapel gelassen, dass Luzifer ein echt gutes Brandopfer in einer drittklassigen Krimiserie abgeben konnte. Leider war Nazir die Energie ausgegangen, um einen solchen Kommentar zum Besten zu geben und so blieb ihm nichts anderes übrig, als hilflos mit den Armen um sich zu schlagen. Metatron war auch noch nicht wieder bei Bewusstsein und es sah auch nicht danach aus, als würde er bald wieder aufwachen. Was blieb ihm jetzt noch an Alternativen um gegen den Prinz der Hölle anzukämpfen? Tja, so langsam gingen ihm wirklich die Ideen aus. Seine Hände konnte er genauso gut vergessen. Er konnte ja nicht einmal mehr seine Finger rühren. Luzifer hingegen grinste diabolisch, als ihm seinerseits eine ziemlich gute Idee kam, wie er diesen verhassten kleinen Rebell loswerden konnte. „Weißt du was? Ich hab’s mir anders überlegt. Dich in Stücke zu hacken ist bei weitem keine angemessene Strafe für einen unverschämten Verräter wie dich“, knurrte Luzifer und in seinen Augen loderte ein infernalisches Feuer. Noch nie in seinem Leben hatte jemand es gewagt, ihn derart zu beleidigen und war damit ungeschoren davongekommen. Das würde er jetzt ändern. Er würde sich bitter an jedem rächen der es wagte, seinen Stolz zu verletzen. Und dabei war es ihm vollkommen egal ob es Mensch, Engel oder Dämon war. Doch Nazir hatte nicht vor, ihm irgendeine Genugtuung zu gönnen. Wenn er schon sterben musste, dann würde er wenigstens dafür sorgen, dass Luzifer keine Freude daran haben würde. Malachiel würde in einer Situation garantiert das Gleiche tun. Also zwang er sich selbst zu einem spöttischen Lachen und schaute dem Herrn der Finsternis abschätzig in die Augen. „Tja was soll ich sagen… rebellisches Verhalten liegt wohl in der Familie.“ „Lach du nur, solange du kannst“, gab Luzifer zurück und sah aus, als würde er vor lauter Wut gleich durchdrehen und den gesamten Himmel in Schutt und Asche legen. Ein hässliches manisches Grinsen zog sich über sein verbranntes Gesicht als seine Augen zu dem Weihwasserbecken wanderten. Ihm kam eine Idee, wie er es diesem unverschämten Bengel auf die bestmögliche Art heimzahlen konnte. „Du willst also unbedingt ein Engel werden, wie? Mal sehen wie gut dein Körper ein Bad in Weihwasser verträgt. “ „Tut bestimmt weniger weh als dein verletzter Stolz…“ Mit diesen letzten Worten wurde Nazir mit gewaltiger Kraft in die Luft geschleudert und stürzte mit einem lauten Platsch in das mit Weihwasser gefüllte Becken. Das letzte, was er noch wahrnahm war ein infernalisches Brennen an seinem gesamten Körper, bevor die Welt um ihn herum dunkel wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)