Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 29: Zerbrechliche Zukunft --------------------------------- Heute ist ein perfekter Tag. Die Sonne strahlt auf das Meer hinab und bricht sich glitzernd auf den Wellenkronen. Erste Vogelschwärme ziehen über den wolkenlosen Himmel, kleine Einsiedlerkrebse huschen zu meinen Füßen durch den Sand und der Wind trägt das Versprechen von Frühling mit sich. Vor lauter Glück könnte ich die ganze Welt umarmen. Warum eigentlich nicht? Ich bin schließlich alleine! Lachend reiße ich die Arme empor, als die eiskalte Brandung meine Zehen streift. Ein Schauer jagt mir den Rücken hinab und ich drehe das Gesicht zur Sonne, um es zum Ausgleich von ihren Strahlen kitzeln zu lassen. So lebendig habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. In diesem Augenblick scheint der ganze Winter nur ein weit entfernter, böser Traum zu sein. Dabei hat er kaum geendet. Doch von der Bucht auf Emerald Isle aus kann man die Schäden am Hafen nicht erkennen, genauso wenig wie die Galgen, die Toten oder die neuen Patrouillen der Friedenswächter. Alles, was sich vor mir erstreckt, ist das endlose Meer – und ganz in der Ferne die Grenztürme. Ich muss mich schon anstrengen und die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, welcher von ihnen es ist, auf dem vor drei Tagen ein Sprengsatz explodiert ist. Das Kapitol hat in Rekordzeit aufgeräumt, sodass nur noch die geschwärzte Außenwand von dem Anschlag zeugt. Dieses Mal konnten sie niemanden hängen, denn das explosive Gemisch hat auch den Täter das Leben gekostet. Heißt es zumindest. Mit mir redet Finnick nur zögerlich über diese Dinge, als habe er Angst vor der Wirkung der Worte. Aber ich habe öfter mitbekommen, wie er und Amber sich ausgetauscht haben. Überhaupt reden sie ziemlich häufig miteinander, wenn sie denken, dass ich schlafe oder beschäftigt bin. Erst neulich habe ich die Beete für das Frühjahr vorbereitet, während die beiden in gedrückter Stimme über irgendeinen Rob und dessen Zorn geredet haben. Ich weiß, dass es an der Zeit wäre, mir Sorgen zu machen. Seit Anfang des Jahres hat Finnick mich so oft wie nie zuvor mit nach Emerald Isle genommen. Eigentlich haben wir immer den April abgewartet, bevor er sich an die Überquerung der Meerenge getraut hat. Doch all diese Grenzen und Regeln existieren nicht länger. Es ist schon das zweite Mal diese Woche, dass ich die Zehen in den weichen Sand bohre, bis ich meine Füße in dem eiskalten Meerwasser nicht mehr spüre. Nichts ist in Ordnung, aber wenn ich hier stehe, kommt es mir so vor. Mit dem Wind im Haar fliegen die Sorgen einfach davon. Lieber sammle ich Muscheln, anstatt über das nachzudenken, was ich – noch dazu alleine – nicht ändern kann. Immerhin verfolge ich ein ehrgeiziges Großprojekt: Aus mehreren alten Netzen, Ästen, Schnüren und unzähligen Muschelschalen knüpfe ich ein großes Mobile, von dessen Verästelungen später Nachbildungen lokaler Fabelwesen wie Meerjungfrauen und echten Meereslebewesen hängen sollen. Jeden Abend, wenn ich mit Finnick zusammensitze, arbeite ich daran. Er liest mir aus den alten Büchern vor, im Kamin knistert ein Feuer und ich bastle kleine Figuren. Egal was draußen passiert, das sind die Momente, die ich für immer in meiner Seele bewahren möchte. Manchmal kann ich sogar fast glauben, dass wir eine ganz normale Familie sind. Hin und wieder ertappe ich mich gar bei dem Gedanken, wie es wäre, wenn wir ein Kind hätten. Meist sind es nur wenige Sekunden, in denen ich einen Knoten zurechtziehe – und plötzlich taucht das Bild auf, wie eines Tages ein winziges Baby unter dem Mobile liegt und lachend die Fäustchen danach ausstreckt. Die Vorstellung durchzuckt mich wie eine statische Entladung – zu schnell fort, um sie zu begreifen, und was bleibt, ist ein eigenartiges Kribbeln im ganzen Körper. Früher, vor den Hungerspielen, habe ich auch das ein oder andere Mal über Kinder – meine Kinder – nachgedacht. Natürlich, denn es schien so klar wie das Wasser in den Lagunen hier auf Emerald Isle, dass ich eines Tages David, meinen besten Freund, heiraten würde. Und wenn Mann und Frau in Distrikt Vier sich trauen lassen, bekommen sie Nachwuchs. Dafür sorgt das Kapitol schon. Nur wer mindestens zwei eheliche Kinder hat, erhält beispielsweise die Genehmigung für Hochseefischerei oder darf ein eigenes Boot mit Angestellten unterhalten. Erbt man den Betrieb der Eltern, verfallen diese Rechte nach vier Jahren, sofern man die Auflagen des Kapitols nicht erfüllt. Wer keine Kinder bekommt, dem bleibt nur die Arbeit in schlechtbezahlten Fabriken oder bei den Tuchmachern. Also habe ich selbstverständlich an die Zukunft gedacht und mir Namen für die zwei Kinder überlegt, an denen kein Weg vorbeigehen würde. Und manchmal, bei der Wiederholung von alten Hungerspielen im Fernsehen, habe ich mir vorgestellt, dass die Tribute ihre Namen tragen. Ich habe mich so oft an Gräbern mit diesen Namen stehen sehen, dass es nach meinem eigenen Sieg geradezu eine Erleichterung war, zu wissen, dass diese Kinder nie leben müssen. Doch nie habe ich die beiden als Babys vor mir gesehen. Manchmal gab es verschwommene Schemen von Zwölfjährigen in meinen Träumen von der Zukunft, aber nicht mehr. Und jetzt, wo ich durch das Siegerinnendasein wenigstens von dieser Last befreit bin, sind da plötzlich diese Visionen von strahlenden blau-grünen Augen in einem runden Gesicht und fröhliches Glucksen. Selbst jetzt, alleine am Strand, kann ich die Lider schließen und das Kind vor mir sehen. Es hat Finnicks wellige Haarstruktur und eine Mischung aus unseren Haarfarben, ein Ton wie ein Glas schwarzen Tees mit Honig, das von den ersten Sonnenstrahlen des Tages erwärmt wird. Um seine Nase verteilen sich unzählige Sommersprossen und wenn es lacht, klingt es ein wenig wie mein kleiner Bruder Cyle einst. Seufzend hebe ich eine weitere Muschelschale auf und spüle sie im Salzwasser ab. So schön Emerald Isle auch ist, hier verfolgen mich die Gedanken stärker als daheim im Siegerdorf. Einfach alles auf der Insel schafft es, das zu erwecken, was im Distrikt selber nicht mal einen Traum wert ist. Dabei weiß ich, dass es sich um Irrsinn handelt. Deshalb habe ich auch noch nie mit Finnick darüber geredet. Kinder gehören, ganz rational betrachtet, nicht in diese grausame Welt. Jetzt, wo es eine Wahl gibt, ist es nur vernünftig, sich dagegen zu entscheiden. Ich will es nicht wollen. Ohnehin ist das Risiko viel zu groß. Das Kapitol würde Finnick sicher hart bestrafen, wenn seine Vaterschaft herauskäme – und unserem Kind wäre ein Platz in den Hungerspielen garantiert. Ich stecke die Muschel in meine Umhängetasche und spritze mir kaltes, brennendes Meerwasser ins Gesicht, um die Gedanken zu klären. Hoffentlich lassen diese wilden Hirngespinste mich bald in Ruhe, wenn sie merken, dass ich nicht nachgebe. Und davon mal abgesehen ... haben Finnick und ich natürlich noch nie miteinander geschlafen. Wer bin ich also, solche Gedanken zu haben? Klar würde es auch anders funktionieren, ein Kind zu zeugen, aber das käme mir erst recht falsch vor. Dieses Künstliche erinnert einfach zu sehr an das Kapitol und seine Mutationen. Eine Weile bleibe ich noch in der Brandung hocken und lasse mich doch von den Gedanken überwältigen, die ich gerade vertreiben wollte. Kleine Wassertropfen laufen mir den Rücken hinab und ich erschaudere bei der Vorstellung, dass es Finnicks Fingerspitzen sein könnten. Das ist falsch. So sollte ich nicht von ihm denken. Ich weiß schließlich, was er durchmacht, jedes Mal im Kapitol. Jede Nacht, die er nicht bei mir ist. Es bricht ihn, ein Spielzeug für Fremde zu sein. Wenigstens bei mir soll er sicher sein vor all diesen Begehren, die ihn auf seinen Körper reduzieren. Warum nur sehne ich mich dann auf einmal danach? Frustriert schlage ich die Fäuste in den weichen Sand zu meinen Füßen und werfe ganze Hände voll davon in den Ozean. Ich schreie dem Wind allen Frust entgegen wie eine wütende Seemöwe; verfluche Snow und jeden einzelnen Menschen, der Finnick wehgetan hat, bis mein Hals trocken ist und der Saum meines Kleides dreckig. Auf den Wangen klebt mir getrocknetes Salz, aber ich weiß nicht, ob es Meerwasser oder Tränen sind. Und trotzdem entringt sich mir bei dem Blick auf das offene Meer wieder ein Lächeln. Manchmal ist die Freiheit auf Emerald Isle erstaunlich traurig, aber es bleibt Freiheit, hier lautstark schreien zu dürfen. Jetzt geht es mir wenigstens besser. Bevor das Wellengluckern in meinen Ohren wieder zu dem Gelächter eines Babys werden kann, wende ich mich ab. Es geht mir gut. Ich bin in Sicherheit. Mir fehlt es an nichts. Finnick und ich haben einander, das reicht. Diese Worte wiederhole ich den ganzen Weg zurück zur Villa in meinem Kopf. Dort angekommen quetsche ich mich durch das rostige Gartentor und atme mehrmals tief durch, bevor ich die Haustür aufstemme. Finnick soll meine Aufregung nicht bemerken, sonst macht er sich nur unnötig Sorgen. Doch die Vorsicht ist umsonst, denn auf mein gerufenes »Bin wieder da!« antwortet mir nur Stille. Weder in der Küche noch im Wohnzimmer treffe ich Finnick an. Wollte er vielleicht rausgehen und fischen? Ich stelle die Tasche voller Muscheln neben dem Kamin ab, ehe ich das Haus durch die Hintertür wieder verlasse. Nur die größte und schönste Jakobsmuschel nehme ich mit, um sie Finnick gleich zu zeigen. Auf den Holzdielen unserer Veranda liegen tatsächlich ein paar Netze zur Reparatur, Finnick ist allerdings nicht zu sehen. Auch im Garten ist kein bronzener Haarschopf in Sicht, also laufe ich den sandigen Weg bis zur kleinen Lagune hinter dem Haus hinab. »Finnick?« Nur eine Möwe kreischt. So alleine ist mir zwar nicht wohl dabei, doch ich betrete den wackligen kleinen Holzsteg, den Finnick in den letzten Wochen repariert hat und lasse meinen Blick über das Wasser schweifen. Nichts. Wenn Finnick tauchen gegangen wäre, dann würden zumindest seine Kleider hier liegen, rede ich mir ein, mindestens ein Paar Schuhe ... und er würde doch nicht in diesem seichten Gewässer in Schwierigkeiten geraten, noch dazu bei so gutem Wetter. In meinem Bauch bildet sich ein Knoten. Ich weiß genau, dass wir beim Frühstück darüber gesprochen haben, dass er im Haus bleiben und sich um ein paar dringende Reparaturen kümmern will. Warum ist er dann nicht da? Habe ich ihn womöglich nur verpasst? Oder ... ist unser Versteck etwa aufgeflogen? Sind die Friedenswächter hier? Schon klopft mein Herz wieder schneller. Nein, das ist Quatsch, schelte ich mich selber. Die Jakobsmuschel an die Brust gedrückt, gehe ich zurück zum Haus. Aber auf halber Strecke fange ich doch an zu laufen und schließlich stürme ich förmlich durch das Wohnzimmer in den Eingangsbereich der alten Villa. »Fin?«, rufe ich und meine Stimme hallt in dem leeren, doppelstöckigen Raum wieder. »Finnick!« Ich schaue hinauf in den zweiten Stock und lausche in die Stille hinein. Ob er oben ist? Zumindest die Bücher, aus denen er mir vorliest, hat er früher in einem der oberen Zimmer gefunden. Aber er sagt auch, dass es dort nicht länger sicher ist, da der Boden langsam verrottet und bei Belastung jederzeit durchbrechen könnte. Nun, was sein muss, muss sein. Behutsam lege ich meine Jakobsmuschel auf ein Fensterbrett, bevor ich den ersten Fuß auf die Treppe ins Obergeschoss setze. Immerhin sind die Stufen massiver Marmor und der mottenzerfressene Samt darauf höchstens staubig, aber sonst ungefährlich. Mit angehaltenem Atem wage ich mich empor. Ich lausche auf jedes kleine Geräusch. Ist das ein Klackern? Und ... Flüstern? Zwei Männer? Gerade überlege ich, ob ich erneut nach Finnick rufen sollte, da versiegen die Laute und ich höre stattdessen Schritte. Keine Sekunde später öffnet sich knarzend eine Tür. Ein kleiner Schrei verlässt meine Kehle – »Annie!« Im Flur vor mir steht Finnick, einfach nur Finnick. Alleine, einen Stoffbeutel mit Werkzeug in der Hand. Niemand sonst, erst recht kein Friedenswächter. Finnicks helle Augen schimmern im Zwielicht des dunklen Obergeschosses verdächtig, doch ich habe nicht die Chance, darüber nachzudenken, denn schon ist er bei mir. Die Werkzeugtasche fällt mit einem ‚Klong‘ zu Boden und dafür legt Finnick ganz vorsichtig die Hände auf meine Schultern. »Annie?« Seine Stimme klingt irgendwie ... verschnupft. Als hätte er zu viel von der staubigen Luft in diesem Haus eingeatmet. »Hey ... tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken – ist alles in Ordnung? Ist etwas passiert? Hast du ... sie wieder gesehen?« Ich spüre, wie der sanfte Druck seiner Hände auf meinen Oberarmen zunimmt und mit einem Mal weiß ich nicht mehr, ob ich lachen oder weinen soll. Natürlich denkt er an das Schlimmste, an Visionen von Shine; einen nervlichen Zusammenbruch meinerseits. Was habe ich mir nur gedacht? Woher kamen bloß diese Sorgen auf einmal? Wenn jemand auf sich aufpassen kann, dann doch Finnick! Halb lachend, halb schluchzend wische ich mir die Augen. »Alles gut. Es ist nur – d-du warst nicht unten, als ich zurückgekommen bin ... Ich dachte –« Schnaubend schüttle ich über mich selber den Kopf. »Ich hatte plötzlich solche Angst um dich. Ich dachte schon, dass die Friedenswächter hier wären ... Ich weiß nicht mal warum, es ist so lächerlich!« Mit einem Seufzen schließt Finnick die Augenlider und tritt die letzte Treppenstufe zu mir herab, bevor er mich fest in die Arme nimmt. Eine Hand streicht mir über den Rücken, die andere vergräbt er in meinen Haaren. »Oh Annie ...« Jetzt ist es eindeutig, dass er schnieft. Seine Fingerspitzen zittern sogar leicht, während sie in Kreisen meine Wirbelsäule entlangfahren. »Ich bin hier«, sagt er leise und sein Atem streift mein Ohr, dass es mir kalte Schauer den Rücken hinab jagt. »Ich bin immer noch hier und glaub mir, ich werde lieber kämpfen, als dich alleine zu lassen.« Sein Herzschlag so nah an meinem ist mir schmerzlich bewusst, genauso wie jede Faser seines Körpers, die sich unter meinen Händen spannt, als ich ebenfalls die Arme um ihn schlinge. Schon hundert Mal habe ich Finnick auf diese Art umarmt, doch ausgerechnet jetzt drängen sich andere Empfindungen dazwischen. Ich schiebe den Gedanken mit aller Macht von mir und vergrabe das Gesicht an seiner Schulter. »Tut mir leid«, hauche ich gegen seinen Hals und zur Antwort drückt er mich noch fester. »Schon gut, das ist doch nichts Schlimmes, Annie. Ich dachte nur, ich schaue mal, was man hier oben retten kann, solange du weg bist, aber ich habe wohl die Zeit vergessen ... Ich wollte doch nicht, dass du dir Sorgen machst.« Finnick lehnt sich ein kleines Stück zurück, damit er mir einen Kuss auf die Stirn drücken kann. »Das hier soll doch unser sicherer Hafen sein«, setzt er flüsternd hinzu und da ist wieder der traurige Glanz in seinen Augen. »Es tut mir leid, dass du dir wegen mir Sorgen machen musstest.« Rasch schüttle ich den Kopf. »Ist schon vergessen. Ich bin nur ein bisschen ... durch den Wind gerade.« Ein Seufzen auf den Lippen, verschränke ich die Hände in Finnicks Nacken. »Wir sollten den letzten Abend hier lieber genießen. Noch einmal am Strand entlanggehen, den Sonnenuntergang ansehen ...« Finnick lächelt und ich schlucke schwer, in dem Versuch, mich nicht in seinen Augen zu verlieren. Er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht – eine simple Geste, doch selbst diese Berührung sorgt für einen wohligen Schauer auf meiner Haut. Am liebsten würde ich gar nichts anderes tun, als hier mit ihm zu stehen, in seiner Umarmung. Aber da er meine Hand ergreift und sich anschickt, die Treppe hinunterzugehen, folge ich ihm natürlich.   Wir verbringen den Abend auf der Veranda, anstatt drinnen, da das Wetter bereits erstaunlich milde ist. Wie so oft knüpfe ich weitere Muschelstücke an das Mobile, doch Finnick liest heute ausnahmsweise nichts vor. Stattdessen repariert er im Laternenschein die Netze, die er rausgelegt hat. Seine Finger sind flink – flinker als meine. Er kann manche Knoten so schnell wickeln, dass mir schon vom Zusehen schwindelig wird. Dabei war ich nie schlecht in dieser Disziplin. Finnick hat nur viel mehr Übung. Selbst im Kapitol hat er immer etwas gefunden, das man verknoten kann, und wenn es nur zwei Servietten waren. Ich weiß, dass ihn das Handwerk beruhigt, so wie es mir hilft, zuhause den Garten zu pflegen. Und genau das macht mir jetzt doch Sorgen. Sobald er seine Hände beschäftigen muss, bedeutet das, dass ihn etwas aufgeregt. Sehr. Diese Beobachtung verdrängt sogar meine Gedanken an Babyglucksen und die Zukunft, die wir vielleicht gar nicht haben. Und sie erinnern mich an die verdächtigen Tränen in Finnicks Augen heute Nachmittag. Zaghaft linse ich zu ihm hinüber. Seine Augenbrauen bilden einen geraden Strich, während er altes und neues Garn miteinander verknüpft. Er scheint meinen Blick nicht einmal zu fühlen, so versunken ist er in die Tätigkeit. Nur hin und wieder schnalzt er leise mit der Zunge, wenn ihm ein Faden entgleitet oder die Knoten nicht ganz gleichmäßig sind. »... Fin?« Er zuckt kaum merklich zusammen. »Ja?« »Sei ehrlich – es ... wird nicht alles wieder in Ordnung kommen, oder?« Ich setze den kleinen Handbohrer ab, mit dem ich Löcher in die Muschelschalen mache und beobachte aufmerksam seine Reaktion. »Ich meine – im Distrikt. Oder ... in ganz Panem? Mit den Hungerspielen und allem ...« Die Garnfäden, die Finnick gerade verknoten wollte, entgleiten ihm und mit einem Seufzen lässt er das Netz sinken. »Annie ...« Plötzlich ist da eine Entschlossenheit in mir, die mich selber überrascht. Meine Hände sind ganz ruhig, als ich die Arbeit niederlege und zu Finnick an das Verandageländer rücke. »Du kannst es mir sagen. Heute kann ich das ab. Morgen vielleicht nicht mehr, aber jetzt ... jetzt schon. Irgendwann muss ich es ja hören und dann am liebsten von dir.« »Das kann ich dir doch nicht ... Oh Annie.« »Hey«, erwidere ich sanft, »du sagst doch immer, dass ich stärker bin, als alle denken.« »Und aufmerksamer. Danke für die Erinnerung.« Ein kleines Lächeln streift meine Lippen, als ich sehe, wie er mich ansieht, den Kopf leicht schiefgelegt. So voller Sorge, aber auch Bewunderung. Früher einmal wäre ich unter so einem Blick ganz sicher errötet. Heute wärmt er mein Herz. »Es wäre schwer, es nicht zu sehen«, sage ich leise. »Die Aufstände, die Maßnahmen, die veränderte Siegertour, die ... Letzte Welle. Es ist leicht, das alles an diesem Ort zu vergessen. Aber vergessen kann auch gefährlich sein.« Gedankenverloren dreht Finnick das Reparaturgarn durch die Finger, bevor er antwortet. »Das stimmt.« Seine Mundwinkel zucken traurig. »Ich vergesse nur viel zu gerne, so lange du mit mir hier bist.« Hätte er die Aussage mit einem Zwinkern oder seinem üblichen breiten Grinsen unterlegt, wäre es sicherlich der perfekte Spruch, um unzähligen Personen im Kapitol schwache Knie zu bereiten. Doch so wie er stattdessen neben mich rutscht, meine Hand ergreift und den Kopf an meine Schulter lehnt, weiß ich, dass es mehr sind als nur schöne Worte. Ich lasse mich ebenso gegen ihn fallen, sodass wir einander nur durch den gegenseitigen Druck aufrechterhalten, und gemeinsam sehen wir hinauf zu den ersten Sternen. Sie funkeln wie nichts im Kapitol, obwohl es dort genug Glas, Glitzer und Diamanten gibt. »Unser Leben wird sich wohl bald verändern«, murmle ich in die Nacht hinaus. »Fragt sich nur, in welche Richtung.« Finnick drückt meine Hand fester. »Vielleicht können wir die Richtung ja bestimmen, wenigstens dieses Mal.« »Glaubst du daran?« »Ich muss.« Mit seinem vom vielen Knotenknüpfen aufgerauten Daumen streicht Finnick über meinen Handrücken. »Es tut mir so leid, Annie –« »Shhh. Ist schon okay. Ich werde nicht fragen, also musst du auch nichts sagen. Es reicht mir, wenn du davon überzeugt bist.« »Bist du dir sicher? Ich – ich will dich nicht belügen ...« Er atmet tief ein, macht eine Pause, doch es folgt nichts weiter. Ich kann nicht erahnen, welcher Sturm gerade in Finnicks Innerem tobt – aber das spielt ohnehin keine Rolle für meine Entscheidung. Ich vertraue ihm. Mehr als irgendwem sonst. Wir lieben einander, daran gibt es nichts zu zweifeln. Und das ist alles, was zählt. Also schlinge ich beide Arme um ihn, ehe ich einen Kuss auf sein Haar hauche. »Ganz sicher sogar«, antworte ich ihm. »Schließlich weiß ich selber nie, was der nächste Tag für mich bedeutet. Ob es mir nicht wieder schlechter geht. Lass uns einfach noch ein wenig länger das Vergessen genießen, ja?« Finnicks tiefes Seufzen vibriert bis in meinen Körper hinein. »Ich werde alles dafür tun, dass es wieder besser wird. Besser als es je war. Damit der Morgen keine Angst mehr bedeutet. Das verspreche ich dir, Annie.«   Der nächste Tag beginnt genauso strahlend wie der vorige. Schäfchenwolken, ein erster Streifen blauen Himmels und zwitschernde Vögel begrüßen mich zusammen mit Finnick, der zum Frühstück ein paar Krabben und Gartengemüse in der Pfanne röstet. Wir essen auf der Veranda und lassen die Beine über den Rand baumeln, während die Sonne langsam das Meer glutorange färbt. Ein Morgenritual, an das ich mich glatt gewöhnen könnte. Eigentlich habe ich es schon, denn die letzten Wochen fühlen sich länger an als nur der Übergang von Winter zu Frühling. Wenn der Distrikt uns nur nicht mit seinen Verpflichtungen rufen würde ... Dafür ist die See immerhin spiegelglatt, sobald Finnick und ich mit den ersten richtigen Sonnenstrahlen zurück an die Küste fahren. Rückblickend betrachtet werde ich annehmen, dass es vielleicht zu viel des Guten war; zu viel Glück in einem Land, in dem die Hoffnung höchstens auf Sparflamme brennen darf. Ich werde mir vorwerfen, dass ich hätte bemerken müssen, wie sich die dunklen Wolken nicht am Horizont zusammenbrauen, sondern aus ganz anderer Richtung kommen. Doch in diesem Moment habe ich nur Augen für die Schildkröte, die neben unserem Ruderboot schwimmt und zum Abschied fast mit der Flosse zu winken scheint. Zurück am Festland verstecken Finnick und ich wie immer das Boot und mischen uns unter das frühmorgendliche Getümmel am Hafen. Über die letzten Wochen haben wir das Vorgehen perfektioniert: Wir haben extra abgetragene Arbeitskleidung auf dem Gebrauchtwarenmarkt gekauft, damit wir in der Menge nicht durch unsere makellosen Jacken oder Hosen auffallen. Im Bootsschuppen bewahren wir einen Sack mit alten Kohlen aus dem Kamin auf, die wir nach der Ankunft zerbröseln und zusammen mit etwas Sand und trockenem Lehm dafür nutzen, uns dreckig zu machen. Finnick fährt sich damit durch die Haare, bis sie nicht mehr so glänzen, wie sie es nach einer Wäsche mit dem Shampoo aus dem Kapitol tun, und ich flechte das meine in einem schludrigen Kranz um den Kopf. Das ist der Vorteil daran, wenn einen alle Welt in erster Linie aus dem Fernsehen kennt – sobald man einmal vor den Leuten steht, noch dazu genauso verdreckt wie sie, sehen sie zuerst das, was die Kameras sonst verschlucken. Unsere Menschlichkeit. Jeder kleine Makel, für gewöhnlich von Make-up verdeckt und jetzt vom Dreck hervorgehoben, bricht mit den Erwartungen der Menschen an das Aussehen zweier Sieger. Ein paar Fischernetze, die wir über den Schultern tragen, komplettieren die Tarnung. Die Menschenmenge am Hafen ist spürbar geschrumpft und alle gehen ihrer Arbeit mit gesenktem Kopf nach. Wo einander einst fröhliche – teils derbe – Begrüßungen oder Witze zugerufen wurden, herrscht nun gedrückte Stimmung. Nur noch die wichtigsten Arbeitsanweisungen werden von Hafenangestellten sowie Fischerinnen und Fischern ausgetauscht. Dafür sorgen die fünf Friedenswächter, die an jedem Pier stehen, um die Ausweise zu kontrollieren und nebenbei immer wieder wie zufällig ihre neuen Gewehre herumschwenken. Aber nicht nur an den notdürftig reparierten Stegen sind heute Soldaten postiert. Auch an den wenigen Marktständen, die seit dem großen Brand noch übrig sind, stehen dieses Mal Männer in voller Montur. Dort, wo Finnick und ich in letzter Zeit immer wieder Kleinigkeiten als Alibi für das Siegerdorf besorgt haben, halten sie die Kunden an, kontrollieren Taschen und Werkzeuge. Ich kann nicht hören, was die Friedenswächter sagen, doch ihre Hände, die unentwegt auf die Pistolengriffe an ihren Hüften trommeln, sprechen Bände. Auch Finnick fällt das auf, denn er greift nach meinem Arm und zieht mich enger an sich. Besorgt sehe ich ihn an, eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Der erste Instinkt sagt mir, dass wir unseren Abstand vergrößern sollten, wie im Kapitol. Ich ernte allerdings ein sachtes Kopfschütteln und Finnick legt eine Hand auf meinen unteren Rücken, mit der er mich sanft, doch bestimmt voran schiebt. »Schau mal da vorne«, sagt er in ganz normaler Lautstärke, als wäre alles in bester Ordnung und nicht etwa die Anspannung in der Luft so greifbar wie die Elektrizität in Distrikt Fünf, »da gibt es schön gefärbte Stoffe und Garne. Perfekt für Großmutter, genau so etwas wünscht sie sich. Was meinst du, welche Farbe wird ihr für die neue Hängematte gefallen?« Ich halte den Atem an. Doch wir gehen an den Friedenswächtern vorbei, ohne dass uns jemand aufhält. Die Männer sehen beim Klang von Finnicks Stimme nicht einmal auf. »Ich weiß nicht«, murmle ich verwirrt, »vielleicht ...« Mein Blick huscht über die Reihe an Ständen, bis ich den finde, den Finnick meint. Bunte Stoffballen stapeln sich in der Auslage, in allen Farben des Regenbogens. Hauptsächlich sind die Waren für Reparaturen auf hoher See gedacht, falls mal ein Netz oder Ersatzsegel defekt ist – oder bei längeren Fangtouren eben die Hängematten unter Deck. Für gewöhnlich wird hier am Hafen ungefärbter Naturstoff verkauft, da dieser günstiger ist. Angesichts der Umstände wirken all die Farben in ihrer Schönheit erst recht völlig fehl am Platz. Trotzdem sticht mir ein besonders kräftiges Sonnengelb ins Auge. »Das da gefällt Mag- ähm, Großmama bestimmt«, sage ich rasch. »Das hat dieselbe Farbe wie die Sonnenblumen im Garten.« »Stimmt, das ist perfekt.« Finnick schiebt mich mit einem Lächeln um zwei Fischer herum an den Stand. Als wären wir wirklich nur zum Einkaufen hergekommen, zieht er ein paar zerknitterte Geldscheine aus dem Seesack, in dem wir die nötigsten Sachen transportieren. »Was macht das, wenn wir drei Meter von dem Gelb nehmen?«, fragt er die Verkäuferin. Die winkt ab. »Nur den Standardpreis. Farben kosten im Moment keinen Aufpreis – kleine Sonderaktion.« Finnick stockt kurz. »Sind Sie sicher? Ich kann gut bezahlen –« »Keine Sorge.« Die Frau verbirgt den Mund hinter ihrer vom vielen Färben fleckigen Hand, bevor sie leise weiterspricht. »Der Distrikt ist düster genug, da müssen wir es nicht noch schlimmer machen. Zum Glück kann uns ja niemand verbieten, den bunten Stoff günstiger anzubieten, nicht?« Sie zwinkert kaum merklich. Ein kleines Lächeln zupft an Finnicks Mundwinkeln. »Dann machen Sie bitte fünf Meter draus. Und wir nehmen noch etwas von der bunten Schnur hier.« Während die Verkäuferin den Stoff abmisst, nähern sich die Friedenswächter dem Stand nebenan. Ich höre ihre durch die Schutzhelme verzerrten Stimmen, die aufgrund des statischen Rauschens der Mikrofone darin irgendwie künstlich klingen, weniger menschlich. »Standerlaubnis?«, fragt einer, während die anderen in Rekordgeschwindigkeit die Pappschachteln voller Angelhaken und Krimskrams untersuchen, der dort verkauft wird. Mit ihren gepanzerten Handschuhen durchwühlen sie rücksichtslos die Kartons, sodass ein Großteil des Inhalts auf dem Pflaster zu ihren Füßen landet – und sogleich unter ihren schweren Stiefeln zerquetscht wird. Die Besitzer des Stands, offenbar ein Brüderpaar, händigen mit einer kleinen Verbeugung ihre Unterlagen aus und beantworten jede Frage des Kommandanten wie aus der Pistole geschossen, doch selbst diese Unterwürfigkeit schützt sie nicht. »Ihre Erlaubnis läuft in weniger als sechs Monaten ab und hier ist kein Antrag angehängt, nachdem Sie sich um Verlängerung bemüht hätten oder die Weitertragung ihres Standplatzes an Dritte beantragt hätten. Ihnen ist klar, dass nach der neuen Direktive der Distriktordnung damit die Betriebserlaubnis entfällt?« Finnick zieht sacht an meiner Hand, um meine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, doch ich kann den Blick kaum von den beiden zitternden Männern am Nachbarstand abwenden. Die bunten Stoffe verschwimmen an den Rändern zusehends vor meinen Augen, als ich es dennoch schaffe. »Sir, das tut uns schrecklich leid – wir ... wir haben erst v-vor zwei W-wochen von der neuen Direkte erfahren u-und ... dass Amt hatte noch keine Zeit, den Antrag zu sichten –« »Nun, das ist Ihr Versäumnis, nicht unseres. Sie hätten sich früher kümmern müssen.« »A-aber die Änderung wurde erst vor zwei Wochen verkündet und wir waren am ersten Tag beim Amt!« »Hören Sie auf, mir Geschichten zu erzählen.« Der Kommandant schnaubt leise und wendet sich vom Stand ab. »Abräumen«, weist er seine Leute an, »und stellen Sie sicher, dass Sie alle Waren konfiszieren!« Angesichts von derart viel Ungerechtigkeit würde ich am liebsten schreien. Wenn Finnick nicht meine Hand fest umschlungen halten würde, hätte ich sie längst zur Faust geballt. Stattdessen bohre ich die Fingernägel nur so tief in seinen Handrücken, dass er zuckt und ich ein schlechtes Gewissen bekomme. Wehklagen und entrüstete Schreie der Standbesitzer neben uns schallen über den ganzen Hafen, aber unter den Augen so vieler Friedenswächter wagt es niemand auch nur hinzusehen. Mit kantigen Bewegungen verstaut die Stoffverkäuferin unsere Waren im Seesack, den Blick starr auf ihre Hände gerichtet, genauso wie Finnick, als er rasch bezahlt. Aber wir hören alle genau, wie die Soldaten den Stand nebenan dem Erdboden gleichmachen. Das Gelächter klingelt in unseren Ohren, während wir das Schauspiel des Einkaufsbummels steif zu Ende bringen. Wir wenden uns gerade zum Gehen, da höre ich einen Friedenswächter rufen: »Ey, Sie da!« Mir stockt der Herzschlag. Was jetzt? Weitergehen? Rennen? Umdrehen und dumm stellen? Finnick atmet tief ein. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er sich strafft, die Brust rausgestreckt, und in die Rolle des Kapitol-Finnicks schlüpft. Er dreht sich nur halb zu dem Mann hinter uns um, ohne meine Hand loszulassen. Der Soldat hat inzwischen aufgeholt. Ich erkenne kleine Kratzer auf dem polierten Weiß seiner Brustplatte, genauso wie die winzigen Worte ‚Panem für immer‘, die sich um das goldene Emblem des Kapitols in der rechten Ecke winden. Seine Augen verschwinden jedoch hinter dem verspiegelten Visier seines Helms und alles, was mir entgegensieht, sind die Reflexionen von Finnick und mir, besorgt und doch wütend. »Sie haben nicht zufällig an dem Stand für Eisenwaren eingekauft?«, fragt der Friedenswächter uns. Seine Stimme klingt trotz der Verzerrung jünger, unerfahrener als die seines Kommandanten. »Nein, Sir«, sage ich deutlich und Finnick an meiner Seite hält dem Mann ungefragt den Seesack entgegen, sodass er Stoff und Kordeln sieht. »Nur ein bisschen Leinen für unsere Großmutter – sie kennen’s ja sicher, im Alter wollen die Knochen nicht mehr so und wir wollen ihr eine neue Hängematte knüpfen«, erklärt Finnick mit einem schmalen Lächeln. »Ihre Arthritis wird schließlich auch nicht besser, auch wenn der Winter jetzt wenigstens hinter uns liegt und es endlich wärmer wird –« »Ja ja, schon gut.« Fast abwehrend hebt der Soldat die Hände. »Gut dann ... möge das Glück mit Ihnen sein. Ach ja und – heute Abend gibt es Pflichtprogramm im Fernsehen. 19:30 Uhr, seien Sie bis dahin auf jeden Fall in der Nähe Ihres Empfangsgeräts. Keine Ausnahmen dieses Mal. Es geht um eine große Ankündigung, Befehl von ganz oben.« Ich kann förmlich hören, wie Finnick die Augenbrauen hochzieht. »Pflichtprogramm? Das ist aber reichlich kurzfristig –« »Sagen Sie das nicht mir. Informieren Sie lieber auch Ihre Nachbarn.« Bevor Finnick erneut den Mund öffnen kann, nicke ich. »Natürlich. Schönen Tag Ihnen noch, Sir.« Der Friedenswächter ruckt mit dem Kopf und ehe er es sich anders überlegt, wende ich mich ab und zwinge Finnick somit, mir zu folgen. »Pflichtprogramm ...«, haucht er leise an meiner Seite. »Denkst du, was ich denke?« »Das Jubeljubiläum?« Ich nicke. »Irgendwas muss dieses Jahr ja ... anders werden, nicht wahr?« »Wohl oder übel. Und nach allem, was Mags bisher erzählt hat, wird das Kapitol daraus sicherlich ein großes Spektakel machen. Wundert mich eher, dass die Ankündigung für die Übertragung so kurzfristig kommt ...« In Gedanken versunken verlassen Finnick und ich den Hafen. Über unser knappes Entkommen können wir uns allerdings kaum freuen, genauso wenig wie über den Himmel, der sich auf dem Weg zurück ins Siegerdorf zu einem strahlenden, klaren Blau öffnet. Ein viel mächtigerer Schatten als ein paar Regenwolken liegt auf dem Distrikt und lässt die roten Dächer der Stadt hinter uns verblassen.   Die Neuigkeit von dem heutigen Pflichtprogramm verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Distrikt. Dafür sorgen die Friedenswächter, die den Vormittag über in Kolonnen durch die Straßen ziehen und alles auf den Kopf stellen. Von meinem Garten aus höre ich die Durchsagen aus ihren neuen Einsatzwagen, mit denen sie im gleichen Atemzug Hausdurchsuchungen ankündigen. Angeblich um sicherzustellen, dass überall einsatzfähige Fernsehgeräte bereitstehen. Dass sie in Wahrheit nach Anhängern der Letzten Welle suchen ist offensichtlich. Den ganzen Tag versuche ich, mich mit Gartenarbeit abzulenken. Wenn ich die Hände nur tief genug in der Erde vergrabe, so bleibt keine Zeit, an das Unausweichliche zu denken – hoffe ich zumindest. In Wirklichkeit sitze ich teilweise eine halbe Stunde da, lasse Erdkrümel durch meine Finger rieseln und stelle mir vor, was das Kapitol sich wohl für das Jubeljubiläum ausgedacht hat. Im fünfundzwanzigsten Jahr wurden die Tribute von ihrem eigenen Distrikt gewählt und im fünfzigsten Jahr musste die doppelte Anzahl in die Arena. In meiner Wahrnehmung sind das kaum zu überbietende Grausamkeiten. Schlimmer wäre es nur, wenn sie die Altersbeschränkung herabsetzen würden. Oder? Je länger ich nachdenke, desto mehr Grauen fallen mir ein. Sie könnten die Kinder auswählen, deren Eltern oder Vormünder die geringste Produktivität im Distrikt haben. Oder nur Geschwisterpaare zusammen in die Arena schicken. Vielleicht sogar ein Elternteil gemeinsam mit ihrem Kind? Die Erde unter meinen Fingern scheint mir angesichts dieser Gedanken langsam den Mund zu füllen und würgend stürme ich ins Bad, wo ich mir die Hände wasche, bis die Haut rot und spröde ist. Selbst Finnick steht neben sich. Nach unserer Rückkehr ins Siegerdorf ist er bei mir geblieben und hat tatsächlich angefangen, aus Stoff und Schnüren eine Hängematte zu fertigen, doch ich beobachte, wie er manche Knoten vier, fünf Mal auflöst und neu bindet, bevor er weitermacht. Wir sind beide dankbar, als es endlich Abend wird und wir uns mit den anderen Siegern in Floogs’ Haus treffen. Nervös scherzend drängeln wir uns auf sein Sofa und die umstehenden Sessel. Nur Riven fehlt, denn sie sieht sich die Übertragung lieber mit ihrer Familie an, was ihr keiner von uns vorhält. »Vielleicht präsentiert Snow uns ja auch nur seinen frisch renovierten Palast, mitsamt goldenem Klo – ich meine natürlich Thron«, sagt Amber und beißt extra laut auf ein Stück frittierte Kartoffelscheibe, die sie sich als »Snack, um das große Drama angemessen zu würdigen« mitgebracht hat. »Ich glaube nich’, dass der Präsident es irgendjemanden wissen lass’n würd, dass er menschliche Bedürfnisse hat«, erwidert Trexler und erntet damit ein kleines Schnauben von Isla, die ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes gelehnt hat. Als der Fernseher schließlich von alleine zum Leben erwacht und uns mit Flickerman im Trainingscenter begrüßt, müssen wir fast zeitgleich über unsere Nervosität lachen. Anstatt des Jubeljubiläums bekommen wir Hochzeitskleider präsentiert. Katniss Everdeens Kleider, um genau zu sein. Riesige, weiße Roben mit Röcken aus zig Schichten Stoff, die alle aussehen wie das Sahnehäubchen auf einer Torte. An manchen hängen Perlen und andere glitzern, aber hässlich sind sie allemal. Offenbar soll das Kapitol für seinen Favoriten abstimmen und dem Geschrei aus dem Publikum zufolge hat jeder Entwurf eine feste Fanbase. Amber macht sich einen Spaß daraus, Caesars Stimme nachzuäffen und ihre unverblümte Meinung über die einzelnen Kleider vorzutragen, sodass wir zumindest etwas zum Lachen haben nach den Anspannungen des Tages. »Und hier sehen wir den Entwurf mit dem Titel ‚Toter Schwan – vom Krokodil gefressen und wieder hochgewürgt‘ – ein wahres Meisterwerk!«, ruft Amber ungeachtet ihres vollen Mundes. »Beachten Sie vor allem die Details auf dem Rock, die an hervorquellende Innereien erinnern sollen, werte Damen und Herren.« Kichernd kuschle ich mich fester an Finnick, mit dem ich mir einen Sessel teile. Ich wünschte, wir könnten so etwas viel häufiger tun. Einfach mit unserer Familie zusammensitzen und Spaß haben. Doch selbst die schönsten Abende kommen irgendwann zu einem Ende und das nicht, weil ich eingeschlafen bin – auch wenn ich zwischenzeitlich nah dran war dank der Wärme in Floogs’ Wohnzimmer und dem sanften Streicheln von Finnicks Fingerspitzen auf meiner Schulter. Flickerman verabschiedet sich von den Zuschauern, erinnert noch ein letztes Mal an das Voting und dann ... heißt es, dass wir dranbleiben sollen für Neuigkeiten bezüglich des Jubeljubiläums. Mein Magen sinkt dem Fußboden entgegen. Zeitgleich lässt Amber ein halblautes »Ach nö« hören. Also doch. Die Leichtigkeit des Abends entschwindet nicht nur aus Floogs’ Haus, sondern auch aus dem Fernsehstudio. Wo eben noch lachende Gesichter gezeigt wurden, sind nun ernste – aber ebenso begierige – Mienen zu sehen und die getragene Hymne erschallt, während Präsident Snow gefolgt von einem kleinen Jungen ganz in Weiß auf der Bühne erscheint. Mags seufzt. »Es ist noch genau wie damals ...«, verkündet sie in ihrer leise schleppenden Stimme. »Gleich wird er einen Umschlag aus dem Holzkasten da ziehen und die Besonderheit des Jubeljubiläums verkünden.« Nicht ohne uns zuvor mit einer Rede über die Bedeutung des Jubiläums zu quälen allerdings. Mit jedem Wort des Präsidenten rutsche ich weiter an die Kante des Sofas vor und den anderen geht es ebenso. Sogar der sonst so stoische Trexler vergräbt sein Gesicht in Islas Haaren. Ich selber kralle die Finger in Finnicks Arm, aber ich habe trotzdem das Gefühl, immer weiter von ihm fortzutreiben, wie eine lose Boje auf See. »Auch in schweren Zeiten brauchen wir stets eine Erinnerung daran, wie viel Leid die Aufstände uns gebracht haben – damit wir niemals dazu verdammt werden, die Geschichte zu wiederholen«, sagt Snow bedeutungsschwanger und sein Blick gilt der Kamera – und geht direkt in mein Herz. Ich wimmere leise. Es ist doch längst zu spät, die Letzte Welle in Distrikt Vier lässt sich nicht mehr aufhalten, schon gar nicht von mir alleine. Wir alle schwimmen in ihr mit und ich kann nur hoffen, dass sie Snow eines Tages genauso mit sich reißen wird. »Annie«, flüstert Finnick an meiner Seite heiser, »sieh mich an. Bitte.« Er umfasst mein Gesicht mit beiden Händen und mir bleibt gar nichts anderes übrig, als in dem wilden Sturm seiner Augen zu versinken. »Was immer gleich geschieht, denk daran, dass unsere Liebe stärker ist als alles sonst.« Mein Kinn zittert haltlos, doch ich nicke. Mit geschlossenen Lidern lehne ich die Stirn gegen Finnicks und horche in die angespannte Stille hinein. Alle im Raum halten die Luft an, während das leise Knistern eines Briefumschlags ertönt, der geöffnet wird. »Am fünfundsiebzigsten Jahrestag werden als Erinnerung für die Rebellen daran, dass nicht einmal die Stärksten unter ihnen die Macht des Kapitols überwinden können, die männlichen und weiblichen Tribute aus dem bestehenden Kreis der Sieger ausgelost.« Die Worte verschlingen sich in meinem Kopf zu einem Knoten. Bestehender Kreis der Sieger ... Das kann nicht sein, das ist gegen die Regeln ... Regeln, die letztes Jahr schon einmal gebrochen wurden. Und mit diesem Gedanken verliere ich endgültig den Halt. »Dieser Wichser!«, brüllt eine laute Stimme – »Nein!«, eine andere, panischere – »Das können die nicht machen!« Ich reiße die Augen auf. Alles, was ich sehe, ist grün-blau, wie das Meer im Sommer, wie das Versprechen von Frieden und schönen Zeiten und der Hoffnung auf Kinderlachen und all das zerfällt zu Asche, als Finnick eine stumme Träne die Wange hinabläuft. Dieses Mal sind es nicht meine Hände, die meine Ohren verdecken und alle Geräusche ertränken, sondern seine warmen, schützenden, kräftigen Hände, die mich festhalten und es irgendwie schaffen, jeden Gedanken in mir festzuhalten; meinen Kopf zusammenzuhalten und die dafür sorgen, dass ich nicht wieder in tausende Scherben zerbreche, obwohl Risse meine Haut durchziehen wie feinstes Porzellan. Das Kapitol will uns tot sehen. Uns alle, aber Finnick und mich im Besonderen. Es ist ihnen egal, ob unsere Körper leblos aus der Arena geborgen werden oder einer von uns als leere Hülle zum Sieger gekrönt wird, denn sie werden uns sowieso brechen. Ich weiß es und Finnick auch. Dieses Jahr gibt es nur zwei Namen, die auf den Loszetteln stehen werden. Finnick lässt nicht los. Er wiegt sich mit mir von einer Seite zur anderen, aber seine Hände bleiben auf meinen Ohren, selbst als er mich küsst und wieder küsst und alle übrigen Empfindungen für einen Moment verschwinden. Und ich weigere mich, weiter zu denken. Nicht für eine Sekunde kann ich an irgendetwas denken, was passieren wird, wenn wir diesen Raum verlassen. Solange wir hier drinnen sind, ist die Welt noch in Ordnung, sind wir in Sicherheit ... Um uns herum ist alles in Bewegung. Aus dem Augenwinkel sehe ich wilde Gesten, flackernde Lichter, spüre einen Luftzug, der meine Haare durcheinanderwirbelt – Eine Hand landet auf meiner Schulter. Amber. Ihre schwarzen Augenbrauen bilden einen wütenden Strich. Sie öffnet den Mund, nein, reißt ihn viel mehr auf, gestikuliert wirr, stößt eine Faust in die Luft ... Ich schüttle verwirrt den Kopf. Nun sagt auch Finnick etwas, sieht Amber eindringlich an – und dann sinkt sie neben uns auf die Knie. Wieder öffnet sie den Mund und dieses Mal erreichen die Worte mich, denn Finnick löst vorsichtig eine Hand von meinem Ohr. »Du gehst nicht erneut in die Arena«, sagt Amber leise, aber fest. »Das lasse ich nicht zu, hörst du?« »Das ist egal.« Ich hole Luft und zeitgleich rutscht mir ein zittriges, frustriertes, trauriges Lachen raus. »Es ist alles egal, weil Finnick gehen wird. Mit dem Kopf werde ich immer in der Arena sein.« Ambers Schultern beben und sie presst ihre Handflächen gegeneinander. »Ich werde ihn umbringen«, flüstert sie. »Ich werde Snow eigenhändig die Kehle durchschnei-« Finnick drückt die Hand zurück auf mein Ohr und unterbindet damit erneut alle Geräusche. Trotzdem sehe ich, dass Riven zur Tür hereinstürmt, nur eine Jacke über dem Nachthemd. Auch sie gestikuliert wild und wird erst ruhiger, als Floogs ihre Oberarme umfasst und sie schließlich in eine vorsichtige Umarmung zieht. Ich tippe Finnick auf den Handrücken. Unglücklich sieht er mich an, lässt dann aber langsam seine Barriere sinken. Im Wohnzimmer ist es stiller als angenommen. Anstatt wilden Geschreis erwarten mich das Plärren des Fernsehers, der inzwischen zum Standardprogramm übergegangen ist, und immer wieder ungläubige Wortfetzen, die unbeantwortet im Raum hängen bleiben. »Snow muss verrückt geworden sein.« »Das wird selbst den Leuten im Kapitol nich’ gefall’n.« »Wir müssen trainieren, nur für den Fall.« Riven schluchzt. »Ich will nicht wieder in die Arena ... Nicht schon wieder ...« Mags sitzt als Einzige ganz still da und betrachtet uns alle nacheinander. Trexler, der Isla in seine kräftigen Arme geschlossen hat und ihr leise Dinge zuflüstert; Amber, die immer noch vor mir kniet und deren Muskeln verdächtig zucken; Floogs, der Riven ein Taschentuch anbietet, und schlussendlich Finnick, der jetzt meine Hände festhält. »Keiner von euch muss gehen«, sagt Mags bedächtig. »Ich denke, wir wissen alle, dass nur einer von uns die wahre Chance hat, zurückzukehren.« »Also denkt nicht einmal daran, euch freiwillig zu melden, klar?« Finnick erdolcht Floogs und Trexler förmlich mit seinen Augen. »Das ist Snows Rechnung an mich und ich werde sie mit Freuden begleichen.« Ein wütender Schrei verkantet sich in meinem Hals. Ich will das nicht, er soll bei mir bleiben, leben – »Und die andere Person werde ich sein.« Mehrere Münder klappen bei Mags’ Worten auf, doch sie schüttelt den Kopf. »Keine Widerworte. Wir wollen dem Kapitol schließlich nicht geben, was es will.« Ihr Blick kommt auf mir zur Ruhe. »Zeigen wir ihnen, dass das Leben immer einen Weg findet zu siegen, solange das Meer flüstert.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)