Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 19: Aufopferung ----------------------- Die Anspannung steckt mir noch in den Gliedern, als ich auf den Balkon unseres Appartements trete. Ich lege meine zittrigen Hände auf das Geländer und sehe in die Ferne, auf den blauen Himmel, der sich fröhlich über das Kapitol spannt. Der Tag nimmt seinen Lauf und die vielzähligen Stimmen der Leute unten auf dem Korso dringen zu mir herauf. Ich versuche, loszulassen. Die Augen zu schließen und meinen Atem zu kontrollieren. Aber die Angst vor der Strafe hat sich festgefressen. Furcht gegenüber dem, was Cordelia passieren könnte, mischt sich mit der Furcht vor dem Schmerz, der mir droht, wenn ich die Kontrolle verliere. Tias Blitze warten nur darauf, loszuschießen. Der Geschmack von Gummi erweckt in mir den Drang, mich zu übergeben. Hinter mir öffnet sich die Tür und ich höre leise Schritte näher kommen. „Wie fühlst du dich?“, fragt Finnick. Mein erster Impuls ist es, „gut“ zu sagen. Doch diese Lüge hat er nicht verdient. „Ich weiß es nicht“, entgegne ich stattdessen. „Gut genug für das Kapitol.“ Es dauert seine Zeit, bis er eine Antwort findet. Die Angst in seiner Stimme ist kaum verborgen, als er fragt: „Und im Vergleich zu vorher?“ Darauf weiß ich keine Erwiderung, die das Kapitol nicht gegen mich aufbringt, also schüttle ich nur den Kopf. Die allgegenwärtigen Albträume haben eine neue Lage des Grauens erhalten, die ich mir vorher nicht mal hätte ausmalen können. Es nicht auszusprechen, fühlt sich an wie ein Draht, der sich um meinen Hals schnürt. Flach atmend greife ich mir an die Kehle und vergewissere mich, dass da nichts ist, was mir die Luft nimmt. Für den Moment hilft nur vergessen. „Es tut mir leid“, würge ich hervor, obwohl mir selbst nicht ganz klar ist, was genau ich meine. „Sag das nicht.“ Finnick berührt seicht die Stelle zwischen meinen Schulterblättern. „Bitte.“ Ich wende mich vom Kapitol, das uns so hasst, ab. Sein Anblick lässt mir das Herz schrumpfen. Wie er so dasteht, das Gesicht voll geteiltem Schmerz, wächst der Selbsthass. Ohne meine Existenz hätte er eine Sorge weniger. Doch selbstsüchtig, wie ich bin, lasse ich ihn trotzdem nicht gehen. „Ich habe Edy gesehen“, bricht es aus mir hervor. Ich erinnere mich an den Wolf, der seine Augen hatte. Aber das kann ich unmöglich erzählen. Das Kapitol darf nicht wissen, was ich mitbekommen habe. „Immer wieder das Ende. Und Pon. Ich wusste nicht, wie es für dich war.“ Ich presse die flache Hand auf das Brustbein und fühle den rasenden Herzschlag unter meinen Fingerspitzen. Nicht weinen, befehle ich mir eisern. „Ich bin jetzt wohl – geheilt.“ Bei diesen Worten weiten sich Finnicks Augen. Er versteht auch ohne Erklärung, was sie mir angetan haben. Zumindest einen Teil dessen. „Haben sie das gesagt?“ „Ja. Der Auftritt bei Caesar Flickerman war der letzte Test.“ Ich sehe in seinen Augen, wie sich ein Sturm zusammenbraut. Seine freie Hand ballt sich zur Faust. „Noch einmal werde ich das nicht geschehen lassen.“ Jedes Wort ist ein Donnerschlag und er zittert vor unterdrückter Energie. Schnell schüttle ich den Kopf. „Alles ist gut. Ich werde nicht noch einmal ... die Beherrschung verlieren.“ Wegen mir soll er nicht in den Fokus des Kapitols geraten. Nicht mehr als ohnehin schon. Er sagt nichts, sondern macht einen Schritt nach vorne und zieht mich in seine Arme. Sehnsucht gewinnt die Oberhand, kaum, dass ich die ferne Erinnerung an Distrikt vier an ihm rieche, und ich schmiege den Kopf an seine Brust. „Snow hat mich deswegen vorgeladen“, flüstert er mir ins Ohr. Mein Herzschlag stolpert. Was? „Er weiß alles. Aber ich habe meinen Preis bezahlt. Und ich werde es wieder tun.“ Plötzlich zieht sich der Draht um meinen Hals erneut enger. „Nein, das darf nicht ...“, hektisch winde ich mich aus seinen Armen, „Nein Fin! Nein!“ Ich trete einen Schritt zurück. „Nein“, sage ich noch einmal, zu mir selbst. „Das ist es nicht wert.“ Heiß brennen mir die Tränen in den Augen und nur einem letzten Rest an Beherrschung ist es zu verdanken, dass sie nicht fallen. „Sag du mir nicht, was es wert ist. Denn mir ist es alles wert.“ Er sieht direkt in meine Augen. „Du bist mir alles wert.“ Das Balkongeländer presst sich in meinen Rücken, als ich noch einen Schritt zurückweiche. Wieder sehe ich Titania Creed vor mir, eng an Finnick geschmiegt. Alles nur wegen dir, beschuldigen mich körperlose Stimmen. Weil du seinen Namen schreien musstest. Wie oft erträgt ein Mensch es, so verkauft zu werden, bevor er bricht? „Er wusste es schon immer“, sagt Finnick hart, die Stimme kalt wie der eisige Herbstregen. „Mach dir nichts vor.“ „Nein ...“ Meine Schultern sacken nach unten. „Ich wollte das nicht, Fin.“ Ich kneife die Augen zusammen, damit die Tränen keine Chance haben. „Bitte tu dir das nicht an.“ „Glaubst du, ich hätte eine Wahl?“ Er lacht freudlos auf. „Den Kampf gegen mein Herz habe ich längst verloren. Ich tue es lieber für dich als für alles Geld der Welt. So hat es wenigstens einen Sinn. Lass mich das glauben, das ist alles, worum ich dich bitte. Lass es mich glauben, nur einen Tag länger.“ Als er zaghaft meine Schulter berührt, verflüchtigt sich jegliche Abwehr so schnell wie Morgennebel nach den ersten Sonnenstrahlen. „Und das kannst du aushalten?“ „Solange es sein muss.“ Diesmal bin ich es, die ihn in die Arme zieht. „Snow spielt mit dem Feuer und wenn er nicht aufpasst, wird es ihn verbrennen“, flüstert Finnick so leise, dass es außer mir unmöglich jemand hören kann. „Sag das nicht.“ Ich habe Angst vor dem, was dieses Spiel aus uns machen wird. Alles, was ich je wollte, war ein einfaches Leben, in der Ruhe von Distrikt vier, doch diese Hoffnung bröckelt mit jedem Tag mehr. Für immer wird es nicht so bleiben, aber ich weiß nicht, ob ich bereit bin den Preis zu zahlen. Ich erinnere mich an die Worte, die der Schnattertölpel mir vorgesungen hat. Die Sieger sind gefährlich. Sie geraten außer Kontrolle. Vielleicht ist es die Wahrheit. Und wenn es so weit ist, wird das Kapitol uns alle vernichten. Ein Fingerschnippen und unsere Existenzen sind verwirkt. Dieses Leben hat uns nie gehört. Die Sonne klettert langsam den Horizont empor und wärmt meinen Rücken. In Finnicks Armen hänge ich den düsteren Gedanken nach, bis die Wirklichkeit uns einholt. Die Hungerspiele kennen weder Gnade noch Pause. Ein schrilles kleines Signal aus dem Raum hinter uns gibt das Zeichen, dass sich etwas tut. Es ist kein Alarmsignal, aber offensichtlich haben die Karrieros sich entschieden, dass die Pause vorbei ist. Mit einem widerwilligen Seufzen löst Finnick sich von mir. Er betrachtet mein Gesicht und streicht mit seinem Daumen über die gerötete Stelle an der Schläfe. „Ruh dich noch etwas aus, ich werde mich darum kümmern. Wir sollen ohnehin in Schichten arbeiten, also versuch, dich abzulenken. Fall etwas passiert werde ich es dich wissen lassen. Mach dir nur keine Sorgen. Bitte.“ „In Ordnung.“ Ich nicke und bemühe mich um einen zuversichtlichen Ausdruck. Er geht zurück in die Zentrale und ich sinke wieder gegen das hohe Geländer, das uns von der Außenwelt abschirmt. Hinter dem getönten Glas bin ich unsichtbar für die Menschen auf dem Korso, aber zumindest kann ich hinaus schauen. „Fasziniert dich der Anblick immer noch?“, höre ich Amber fragen. Sie tritt neben mich an die Brüstung und blickt hinab auf die reichlich bevölkerte Straße. Eine steile Falte zeichnet sich auf ihrer Stirn ab und sie dreht sich fort, um sich mit dem Rücken gegen die Balustrade zu lehnen. „Schon ein wenig. Aber ich war auch nicht so oft hier, wie du.“ Sie lässt ein kurzes Schnauben hören. „Glaub mir, es wird mit jedem Mal eintöniger, bis du den Anblick einfach nur müde bist.“ Ihr Blick fällt auf mich. „Alles in Ordnung zwischen dir und Finnick?“ Ich nicke schnell. Amber sieht mit verschränkten Armen gen Himmel. „Pass auf ihn auf. Er selber tut es nämlich nicht.“ Überrascht sehe ich sie von der Seite an. Gewöhnlich mischt sie sich nicht ein, aber in ihrer Stimme klingt Sorge mit. Andererseits kennen sie einander beinahe zehn Jahre – sie war seine Mentorin, kennt seine Geschichte aus erster Hand. Vermutlich fühlt sie sich verantwortlich, ebenso sehr wie ich. „Ja“, verspreche ich ihr schlicht. „Gut.“ Sie strafft sich etwas. „Dann sind wir jetzt wohl Partnerinnen in der Nachtschicht. Die anderen sind so nett und kümmern sich um den Rest des Tages.“ „Und was machen wir solange?“ „Nichts.“ Amber lässt sich auf eine Sonnenliege fallen. „Versuch, zu schlafen. Die Nacht wird lang - und hoffentlich langweilig.“ Bis zu meinem Schichtbeginn verkrümele ich mich nach drinnen. Mir ist nicht danach, tatenlos auf dem Balkon zu sitzen und darauf zu warten, dass der Tag vorüber geht. Die vielen Jahre des Mentorendaseins haben Amber offenbar Übung gegeben, denn sie hat nicht einmal zehn Minuten gebraucht, um einzuschlafen. Ein wenig beneide ich sie. So aber sitze ich alleine auf dem Sofa und wechsle durch die verschiedenen Fernsehsender. Früher konnten wir uns das Fernsehen nie leisten. Das Gerät, gestellt vom Kapitol, staubte in einer Ecke unseres Hauses ein – nur einmal im Jahr, zu den Hungerspielen, ging er an. Den Rest des Jahres hatten wir nie genug Geld für die Stromrechnung – oder ausreichend Zeit fürs Nichtstun. Ich bin überrascht von den vielen Sendern und dem wilden Programm. Auf den meisten dreht sich alles um die Spiele, doch ich finde auch Modesendungen und einen Kanal, der nichts als Küchengeräte verkauft. Fasziniert sehe ich dem Moderator, einem jungen Mann mit knallgrünem Haar, dabei zu, wie er Essen zubereitet, das mehr wie ein Kunstwerk statt eine sättigende Mahlzeit aussieht. Zumindest für einen glückseligen Moment gelingt es mir, zu vergessen, was nur wenige Räume entfernt von mir geschieht. Mir gefällt, wie gutgelaunt der Moderator ist und dass er alles, von seinem Messer bis hin zu dem automatischen Kartoffelschäler, mit überschwänglichen Adjektiven beschreibt. Dank der Frisur und dem dazu passenden Anzug sieht er aus wie ein menschgewordener Frosch, der eifrig in seiner Showküche hin und her hopst. Offenbar kann man im Kapitol den ganzen Tag fernsehen, denn sobald es Zeit für das Abendessen ist, sehe ich immer noch dem Frosch-Mann zu, wie er Küchengeräte verkauft. Cece, die gerade zur Tür hereinkommt, betrachtet die Sendung mit gerümpfter Nase. „Oh weh, den hätten sie längst feuern sollen. Schrecklich, das kann man sich echt nicht ansehen.“ Sie schüttelt den Kopf und sieht mich tadelnd an. „Das ist wirklich Unterhaltung für Idioten. Mentorinnen sollten ihre Zeit für Sinnvolles verwenden.“ Der fröhliche Frosch-Mann tut mir unwillkürlich leid, aber ich bin brav und schalte den Fernseher aus. Sie wendet sich ab, um Amber zum Abendessen zu holen, da schrillt ein langgezogener Ton durchs Appartement, durchdringender als die Sturmflutwarnung daheim. Ich springe vom Sofa auf und sehe mich nach der Quelle des Lärms um. Mein Puls beschleunigt sich, die Hände sind verschwitzt und ich fühle, wie Kälte das Rückgrat hinaufkriecht. Einen Moment später dringt die Erkenntnis durch die Angst. Die Spiele! Perplex wechseln Cece und ich einen kurzen, erschrockenen Blick, dann sprinte ich los. Mein Herz klopft bis in den Hals, als ich in die Mentorenzentrale stürze. Ein Teil von mir will gleich wieder fortstürmen, aber ich muss wissen, was mit Cordelia passiert. Amber ist von ihrem Nachmittagsschläfchen erwacht und steht bereits vor den Monitoren. Sie winkt mich an ihre Seite. Ich erkenne, dass die Karrieros durch die Arena laufen, wild rufend und offensichtlich erfüllt von Tatendrang. Sie sind immer noch im Wald. „Da vorne ist sie“, ruft Clove voll diebischer Freude. Sie hält geradewegs auf Katniss zu, die ihre verbliebenen Kräfte geschont hat und in demselben Teich wie vor einigen Stunden ruht. Unter kriegerischem Gebrüll stürmt die Meute auf sie zu, Peeta hintendrein. Sein Gesicht hat jegliche Farbe verloren. In seiner Hand umklammert er einen silbrigen Speer. Finnick tritt still an meine Seite und unsere Finger winden sich ineinander. „Sie haben die Jagd eröffnet, nachdem sie sich heute Mittag ausgeruht haben“, klärt Floogs, der am Glastisch sitzt, Amber und mich auf, „aber da Teile des Waldes immer noch brannten, wurden sie sehr eingeschränkt. Es hat lange gedauert, bis sie Katniss Spur gefunden haben. Lange sah es nicht danach aus, als wenn sie Katniss finden würden, aber Clove hat sich als hartnäckig entpuppt.“ Er seufzt. „Jetzt heißt es abwarten und hoffen.“ Wie gebannt starre ich auf die Bildschirme, kann mich gar nicht entscheiden, wo ich zuerst hinsehen soll – oder will? Katniss hetzt durch den Wald, doch ihre Verletzungen haben sie eingeschränkt. Im Gegensatz zu dem Bündnis hat sie kein Sponsorengeschenk erhalten. Anscheinend ist Haymitch längst nicht so freigiebig mit seinen Mitteln wie andere Mentoren. Die Karrieros schließen dichter auf. Cordelia läuft an der Spitze mit, ihren Speer fest im Griff. Sie ruft nichts, sondern scheint ganz auf den bevorstehenden Kampf konzentriert. Eine einzelne feine Nadel sticht in mein Herz. Katniss aber überrascht uns alle damit, dass sie anfängt, einen Baum zu erklettern. „Was tut sie?“, zischt Amber verwirrt. „Sie is‘ ne geschickte Kletterin“, stellt Trexler fest. „Da isse im Vorteil. Denk dran wie hoch die Kleine aus Elf klettern kann.“ „Wenn ihr einer nachklettert, ist sie aber geliefert. Und Glimmer hat einen Bogen. Wie will sie dem bitte schön ausweichen? Das klingt nach Selbstmord für mich.“ Wir sehen zu, wie sie höher und höher klettert. Sie ist flink, das stimmt. Wie ein Eichhörnchen erklimmt sie die dünner werdenden Äste, bevor sie sich in eine Astgabel hockt – und frech hinunter winkt. Sie spottet von oben auf die Tribute hinab. Das Publikum wird es lieben. Cato will ihr hinterher klettern, aber die Äste ächzen unter seinem Gewicht, bis einer bricht und er stürzt hart auf den Rücken. Auch Glimmer ergeht es nicht besser, sie kommt nur wenig weiter als er. Ganz wie Amber befürchtet, zieht sie im nächsten Schritt den glänzenden Bogen hervor. Bisher hat sie ihn nicht eingesetzt, doch sie scheint es gar nicht erwarten zu können. Demonstrativ langsam legt Glimmer einen Pfeil an die Sehne und zielt. Mit einem Sirren schießt er hoch, eine Armlänge von Katniss entfernt. Ich spüre Finnicks unwillkürliches Zucken durch unsere verschränkten Hände. Ärgerlich schnalzt Cato mit der Zunge und Glimmer lächelt entschuldigend, bevor sie einen weiteren Pfeil hinauf in die Baumkrone schickt. Er schlägt ins Holz ein und Katniss schnappt ihn sich beherzt. Grinsend schwenkt sie das tödliche Geschoss über ihrem Kopf. Sie weiß genau, was sie tut. Diese mutige Aktion liebt das Publikum, wie sich an den Live-Votings zeigt, die wir angezeigt bekommen. Trotz der unmittelbaren Todesgefahr, in der sie schwebt, hat sie Teile der Zuschauer auf ihrer Seite. Nicht so viele wie die Karrieros, aber ausreichend. Mehr als alle anderen Einzelkämpfer. Die Karrieros haben nun endgültig genug von ihr. Mit vor Wut gedrückter Stimme zischt Cato: „Wir müssen sie irgendwie aus dem Baum bekommen. Kann hier jemand besser schießen als Glimmer?“ Er wirft der Angesprochenen einen bösen Blick zu. Ich denke an Cordelias Trainingsstunden zurück. Sie war nicht unfähig, aber auch nicht überragend. Doch sie schüttelt ohnehin nur den Kopf auf die Frage hin. „Kannst du nicht den Speer werfen, Elia?“, fragt Marvel hoffnungsvoll. „Dafür ist sie viel zu hoch, das funktioniert mit dem schweren Speer nicht.“ „Und wenn wir den Baum fällen?“ „Hast du dir mal den Stamm angesehen?“ Eine Weile geht das Gezanke so weiter, bis Peeta sich entnervt zu Wort meldet. „Ach, lasst sie einfach da oben. Sie kann ja nirgendwohin. Wir nehmen sie uns morgen vor.“ Katniss muss sich furchtbar fühlen bei diesen Worten. Wenn dem so ist, zeigt sie es allerdings nicht. Sie lässt sich nur sinken und sieht fast schon erleichtert aus. Für den Moment scheint die Gefahr gebannt. Die Karrieros akzeptieren Peetas Vorschlag und bereiten ihr Nachtlager vor. Auch wir Mentoren können endlich aufatmen. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich schweißnass bin. Jeder Muskel schmerzt, als wäre ich selber vor den Tributen geflüchtet. Mit wackligen Beinen gehe ich hinüber zu einem Stuhl und lasse mich fallen. Finnick folgt mir, wie ein Schatten. Meine Hände suchen Beschäftigung und so tippe ich fahrig auf dem Tablet herum, bis ich die Karte der Arena geöffnet habe. Ich starre auf die kleinen blinkenden Informationen. Distrikt eins, zwei, vier, elf und zwölf leuchten orange, da sie sich alle in unmittelbarer Nähe zueinander befinden. Moment – Elf? Ich sehe genauer hin. Das kleine Mädchen aus Distrikt elf, Rue, bewegt sich schnell auf die Position der Karrieros zu. Sie hat sie schon fast erreicht! Ängstlich starre ich auf die Kameraübertragung, doch die Tribute sitzen nur in einem Kreis auf dem Boden und teilen sich ihre Vorräte ein. Weit und breit keine Spur des kleinen Mädchens. „Wie kann Rue in der Nähe sein?“, frage ich in die Stille hinein. Nun schauen auch die anderen überrascht auf ihre Tablets – bis Finnick einen leisen Lacher ausstößt. „Sie springt von Baum zu Baum“, klärt er mich auf. „Das tut sie seit dem Feuer und keiner bemerkt es. Ich glaube sie weiß ganz genau, was dort vor sich geht. Sie ist eine stille Beobachterin, aber sicher nicht doof.“ Und tatsächlich, sobald er ihre Perspektive auf einen Bildschirm ruft, sehen wir sie in dem dünnen Geäst ganz oben in der Baumkrone, höher noch als Katniss. Nachdenklich schaut sie auf die Tribute unter sich, wie ein winziger Vogel, der nur kurz Rast macht. Ein kleines Lächeln zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, bevor sie zu Katniss herab klettert. Unter den Karrieros werden derweil die Nachtwachen aufgeteilt. Cordelia meldet sich gleichzeitig mit Peeta für eine Wache. Trotz der gemeinsamen Jagd auf Katniss ist Cato skeptisch, dass Peeta sie betrügen wird, und will ihn nicht unbewacht lassen. Er ahnt nicht, dass sein Vertrauen in Cordelia genauso gefährlich sein kann. Hoch oben in den Bäumen unterdessen erspäht Katniss die kleine Rue. Mit großen Augen starrt sie in das Dunkel ihres Nachbarbaums, wo die junge Tributin stumm auf die höheren Äste deutet. Genauso verwirrt wie Katniss starren wir in das Geäst, bis die Kameras langsam auf einen Punkt in der Baumkrone zoomen. Sacht brummend hängt dort ein Nest. „Jägerwespen“, flucht Amber. „Ausgerechnet. Wenn die stechen ...“ Sie ballt ihre Hand zur Faust. „Dann kann ich nur hoffen, dass sie schnell genug rennen. Die Stiche dieser Biester reichen, um einen Riesen zu töten.“ Ihr Gesicht spricht von leidvoller persönlicher Erfahrung. Eine Weile sitzen die Karrieros noch beisammen und reden, doch nachdem die Hymne des Kapitols erklingt, legen die ersten sich zur Ruhe. Katniss indes nutzt die Chance und klettert geschwind zu dem Nest herauf. Die Wespen scheinen zu schlafen, denn es ist nichts von ihnen zu sehen, als sie anfängt an dem Ast zu sägen. Übertönt vom Dröhnen der Hymne arbeitet sie nur mit ihrem kleinen Messer an dem dicken Ast. Cordelia dagegen liegt ahnungslos auf dem Waldboden, in einem dünnen Schlafsack zusammengerollt, eine Hand fest um den Schaft ihres Speers geschlungen. Ich möchte sie anschreien, vor der Gefahr warnen – aber wir Mentoren dürfen keinesfalls unsere Tribute vorwarnen. Das ist die erste und wichtigste Regel, wie Floogs mir vor den Spielen erklärt hat. Mehr als clevere Sponsorengeschenke sind strengstens verboten. Die Hymne verklingt und Katniss muss ihr Vorhaben aufgeben. Enttäuscht klettert sie zurück zu ihrem Schlafsack. Ihr Mut hat ihr immerhin einen Fallschirm beschert, der bei ihrer Rückkehr auf sie wartet. Dieselbe Brandsalbe, die schon die Karrieros bekommen haben, nur in einem viel kleineren Tiegel. Damit ist sie zumindest nicht mehr so stark durch ihre Wunden behindert. Noch hält der Ast mit dem Jägerwespennest – die Frage ist nur wie lange. Ich sehe es in den Gesichtern der Anderen. Das Nest ist eine tickende Zeitbombe und Cordelia schläft direkt darunter. Es sieht alles danach aus, dass mir eine nervenaufreibende Nacht bevorsteht. Finnicks Hand legt sich schwer auf meine. „Annie, du kannst gehen“, flüstert er mir zu. „Das ... ist nicht was wir vorhergesehen haben. Ich übernehme deine Schicht.“ Eine leise Stimme in mir schreit danach, das Angebot anzunehmen, aber ich verbanne sie hinter die dicke Watteschicht, die das Grauen von mir fernhalten soll. „Ich muss. Es macht mich sonst wahnsinnig. Ich muss wissen, was passiert.“ Die anderen sehen weg von mir, auf die Tischplatte oder hinaus zum Fenster, nur Finnick nicht. „Bitte“, fleht er. „Ich muss“, halte ich dagegen.   ***   Gähnend blicke ich auf die unzähligen Bildschirme um mich herum. Es nähert sich langsam vier Uhr morgens und mir fallen des Öfteren die Augen zu. Nur Amber und ich sitzen noch in der Mentorenzentrale. Bisher ist unsere Nachtwache ruhig. Wir haben Cato und Clove dabei beobachtet, wie sie Messer auf am Boden huschende Eidechsen geworfen haben, oder Marvel und Glimmer zugehört, die leise vom Kapitol geschwärmt haben. Alles in allem sehr bedeutungslos. Oben im Geäst herrscht ebenfalls Ruhe. Katniss hat sich mit ihrem Schlafsack in einer Astgabel arrangiert und auf dem Nachbarsbaum schläft Rue, zusammengerollt wie ein Kätzchen, zwischen den Ästen. Die ganze Zeit über hält mich einzig die Furcht vor dem Unbekannten wach. In meinem Magen ruht ein eisiger Knoten und bei jedem Geräusch schrecke ich auf, die Gedanken voller Horrorszenarien. Solange Finnick da war, hat er mich festgehalten, mir gut zugeredet, doch nachdem sein Kopf zum fünften Mal gefährlich nah in Richtung Tischplatte gesunken ist, habe ich ihm befohlen, sich auszuruhen. Das gab einigen Protest, bis Amber vielsagend mit den Knöcheln geknackt hat. Dafür hat er versprochen, nicht länger als eine Stunde weg zu sein. Mittlerweile sind es zwei. Den Schlaf hat er sich verdient und ich habe nicht vor, ihn zu wecken. So oder so opfert er zu viel für mich. Amber hält sich mit Kaffee wach, eine Tasse rabenschwarzer und übelriechender Flüssigkeit nach der anderen. Auch jetzt hat sie sich einen frischen Becher des dampfenden Getränks bei einem Avox geordert und nippt daran. Der Duft erfüllt die ganze Zentrale und dreht mir den Magen um. Mit einem Seufzen reibe ich meine Augen und klicke mich zum hundertsten Mal in dieser Nacht durch die verschiedenen Kameraperspektiven. Wohin ich sehe, überall schlafen die Tribute. Die meisten haben notdürftige Unterkünfte gefunden, eine Höhle am Bach oder eine flache Erdkuhle. Am Füllhorn schläft ganz alleine der kleine Junge aus Distrikt drei, ein Schwert, halb so groß wie er, umklammert. Ich sollte mich freuen, dass die Nacht ereignislos ist. Wenn der Morgen naht, werden wieder Trexler und Floogs übernehmen. Aber sobald es zu dem Kampf zwischen den Karrieros und Distrikt zwölf kommt, kann ich nicht einfach wegsehen. Dass es so kommen wird, ist unvermeidbar. Wenn nicht vorher das Jägerwespennest herabstürzt und alles auf den Kopf stellt. Solange Katniss sich nicht weiter daran zu schaffen macht, scheint es wenigstens stabil zu sein. Marvel, der im Moment Wache hält, stupst Cordelia an die Schulter. Ihre Wachzeit ist gekommen. Müde reckt sich der Tribut aus Eins und lässt sich auf den Waldboden fallen. Glimmer ist schon länger eingeschlafen, mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt, den Kopf auf die Brust gesunken. Cordelia dehnt sich einmal, ehe sie zu Peeta geht, der etwas abseits von den übrigen Karrieros mit dem Rücken zum Lager liegt. Bevor sie ihn wecken kann, setzt er sich bereits auf. Seine Augen funkeln im schwachen Mondlicht. Augenscheinlich hat er nicht geschlafen. Überrascht mustert Cordelia ihn, wendet sich dann aber schweigend ab und lässt sich ein paar Handbreit neben ihm auf die trockene Erde fallen. Unter leisem Rascheln zieht sie zwei Konserven aus ihrem Rucksack und wirft eine davon Peeta zu. Während sie ihr kaltes Mahl zu sich nehmen, schläft Marvel langsam ein. Cordelia wirft hin und wieder ein Auge auf ihre schlafenden Verbündeten, dann schaut sie hoch in die Baumkronen. Peeta folgt ihrem Blick und schüttelt knapp den Kopf, als wolle er ihr sagen, dass sie abwarten sollen. Darauf reagiert Cordelia bloß mit Achselzucken und schiebt sich noch einen Löffel Bohnen mit Soße in den Mund. Schließlich nickt sie in Richtung der schlafenden Karrieros und hält fragend drei Finger in die Höhe. Wieder schüttelt Peeta den Kopf und weist auf ihre Waffen, dann hoch zu Katniss und zeigt seine leeren Hände. Eine Weile überlegt Cordelia, ehe sie mit ihrem Finger ein Fragezeichen auf den Waldboden malt und wieder zu Katniss und den Waffen deutet. Die Erde ist hart, aber man erkennt es gerade so. Dieses Mal weist Peeta auf die im Sitzen eingeschlafene Glimmer, die den schimmernden Bogen neben sich abgelegt hat. Ein hartes Scheppern von Keramik auf Glas lässt mich herumfahren. Amber hat ihre Kaffeetasse etwas zu fest auf dem Glastisch abgestellt. „Ein Bogen“, murmelt sie nachdenklich und fährt sich über das Kinn. „Das Flammenmädchen kann schießen? Nicht schlecht, wenn nur der Bogen nicht in den Händen der Falschen wäre.“ Amber hat erkannt, was auch Cordelia und Peeta wissen – es gibt momentan keinen Weg, den Bogen unbemerkt zu Katniss zu bringen. Und ohne Waffe hat sie nichts, außer einem kleinen Messer und einer ordentlichen Portion Glück. Das Publikum wird es gar nicht abwarten können, zu sehen, ob sie es schafft, den Bogen in die Finger zu bekommen. „Mir gefällt das gar nicht“, spricht Amber aus, was ich denke. „Aber sie müssen noch warten. Zu dritt hätten sie vielleicht eine Chance, vor allem wenn sie Cato zuerst ausschalten.“ „Und wenn das Nest vorher fällt?“ „Dann kann nur Glück sie alle retten. Katniss eingeschlossen. Das Risiko ist groß, dass sie selber gestochen wird.“ Amber nimmt einen tiefen Schluck Kaffee. „In meiner Arena haben sie die Wespen auch eingesetzt. Als Kind aus Distrikt vier hatte ich nie von ihnen gehört, also bin ich meinen Verbündeten geradewegs in die Falle gefolgt. Der Tribut aus Distrikt zwei war kräftig wie ein Bär, aber nach den ersten Stichen ist er einfach zu Boden gegangen.“ Ihre Stimme driftet ab. „Noch heute weiß ich nicht, was damals Wirklichkeit war und was Halluzination vom Gift.“ Sie wirft mir ein sarkastisches Lächeln zu und Kälte läuft meinen Rücken herab. Ich wickle mich enger in die Strickjacke. Cordelia scheint sich mit ihrer Lage vorerst abgefunden zu haben, aber sie ahnt schließlich nichts von dem Jägerwespennest über ihnen. Sie teilt etwas von ihrem Wasser mit Peeta und beschließt offensichtlich, dass sie nicht länger in Zeichen kommunizieren brauchen, denn Marvel schnarcht derweil laut. „Also, Peeta“, sagt sie leise, „wie ist Distrikt zwölf so? Ich weiß gar nichts über euch.“ Er lächelt, so wie jemand, der sich an einen schönen, aber schmerzhaften Moment erinnert. „Manche würden sagen Zwölf ist grau. Und doch gibt es in all dem Kohlenstaub auch immer einen Flecken Farbe, eine Blume, die aufblüht, eine Hoffnung, die nie stirbt.“ So wie ich Distrikt zwölf auf der Siegestour kennengelernt habe, erinnere ich mich tatsächlich nur an eine graue Einöde, Armut und ausgemergelte Leute. Doch so wie Peeta seine Heimat beschreibt, klingt es wie Poesie. „Ich mag die Farbe des Sonnenuntergangs dort. Ich mag es, wenn wir uns in der Schule versammeln, um gemeinsam zu singen. Ich gehe gerne auf den Markt und spreche mit den Leuten dort. Und wenn wir feiern, dann richtig.“ Während er spricht, wandert sein Blick ins Blätterdach, als hoffe er, dass Katniss ihm ebenfalls zuhört. Ich weiß es allerdings besser, sie schläft tief und fest. „Du klingst, als hättest du damit abgeschlossen und würdest nicht zurückkehren“, bemerkt Cordelia. „Ja, da hast du recht. Ich denke nicht, dass ich zurückkehren werde. Aber das sollte dich nicht stören – ein Gegner weniger für dich.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Wenn du meinst. Ich versteh’s nur nicht. Ich will unbedingt zurück. Sonst ... wäre alles umsonst gewesen.“ Ihre Unterlippe zittert leicht beim Sprechen. „Wer weiß, ob wir überhaupt eine Chance haben.“ Bedrücktes Schweigen ergreift die Lichtung. „Ich glaube mein Mentor würde sagen, dass du nicht daran zweifeln darfst, sonst stehst du bereits mit dem ersten Bein im Grab.“ Peeta zieht eine Grimasse. „Haymitch ist manchmal sehr direkt. Trotzdem hat er irgendwo recht.“ „Komisch, ich hab eine Mentorin, die hätte was ähnliches gesagt.“ Cordelias Gesicht hellt sich wieder auf, bis ihr etwas einfällt. „Vermutlich wäre sie nicht sehr stolz auf mich gerade. Wegen allem, was ich getan – oder eben nicht getan – habe.“ Ich werfe einen Seitenblick zu Amber, die zwar mit verschränkten Armen dasitzt, aber trotzdem getroffen aussieht. „Oh Cordelia“, seufzt sie, „ich bin sogar sehr stolz auf dich.“ „Wieso sollten sie nicht stolz sein?“, fragt Peeta sanft. Frustriert schüttelt Cordelia den Kopf. „Ach, es ist so viel.“ „Warum erzählst du es nicht? Manchmal hilft es schon, es sich vom Herzen zu reden.“ Wenig überzeugt zieht sie eine Grimasse. „Damit ich nachher schlecht dastehe bei allen Zuschauern?“ Sie deutet auf die Bäume um sie herum, in denen unzählige Kameras verborgen sind. Peeta zuckt mit den Schultern. „Oder du gewinnst ihre Zuneigung. So oder so dachte ich bloß, dass es dir dann besser gehen könnte. Egal was das Publikum denkt.“ „Na vielleicht hast du recht.“ Cordelia nimmt einen tiefen Atemzug. „Jemand hat meinen Mittribut getötet, im Füllhorn. Es kann nur jemand von ...“, sie deutet in Richtung der schlafenden Karrieros, „denen sein. Ich fühle mich wie ein Monster, weil ich trotzdem geblieben bin. Aber wo sollte ich schon alleine hin?“ Tränen glitzern in ihren Augen, als sie den Kopf in den Nacken legt. „Ich hatte Edy so viel versprochen ...“ „Das macht dich noch lange nicht zum Monster. Du versuchst nur, zu überleben. Ich bin ja schließlich auch hier und nicht dort.“ Peeta sieht in Richtung Blätterdach. „Wir alle wollen überleben und schützen, was uns am Herzen liegt. Beides gleichzeitig geht allerdings nicht.“ „Aber wird mir je irgendwer vergeben? Könnte Edy das?“ „Ich kannte ihn nicht, aber ich würde dir vergeben.“ Peetas Stimme ist fest und entschlossen. Überrascht sieht Cordelia ihn an. „Hm“, grummelt sie leise. „Ich hoffe, meine Mentoren können das auch. Sie haben Edy geliebt. Und ich habe versagt, ihn zu beschützen. Dabei weiß ich nicht einmal, ob ich bereit gewesen wäre, für ihn zu sterben. Ich will doch einfach nur leben.“ Ich nehme einen tiefen Atemzug, der von einem Stechen in der Brust begleitet wird. Diese Ängste und Sorgen kenne ich aus meinen Hungerspielen. Obwohl ich Pon um jeden Preis retten wollte, hat der Gedanke an den eigenen Tod mich Nacht für Nacht gequält. Nachsichtig lächelt Peeta. „Das ist normal. Sich selber aufgeben kann man nur für einen Menschen, der so außergewöhnlich ist, dass er unsere ganze Welt verändert. Du musst die Person mehr lieben als dich. Und selbst dann werden immer Zweifel an diesem Entschluss bleiben. Wir Menschen wollen überleben, um jeden Preis.“ Einem Geistesblitz folgend klatsche ich in die Hände, was ausnahmsweise Amber aufschreckt. „Warum schickst du ihr nicht ein Sponsorengeschenk? Jetzt sofort?“ Mit großen Augen verfolgt sie, wie ich aufspringe und vor ihr im Raum aufgeregt hin und her laufe. „Sie muss wissen, dass wir – du – an sie glauben! Ich meine ... in meinen Spielen hat Finnick mir einfach nur etwas Kleines zu essen geschickt, aber der Zettel darin, die Botschaft, war es, die mich durchhalten ließ. Vielleicht gibt es ihr neue Hoffnung, wenn sie weiß, dass wir ihr gerade zuhören!“ Amber springt auf, läuft um den Tisch herum und drückt mich überraschend fest an sich. „Annie, das ist eine super Idee!“ Hastig macht sie sich daran, die Liste mit den Sponsorengeschenken und unseren finanziellen Mitteln aufzurufen. „Also, wir haben noch ein wenig auf der hohen Kante.“ Sie fährt mit ihrem Finger die Liste entlang. „Gegessen haben sie ja gerade erst, hm ...“ Ich beuge mich über ihre Schulter. Die Aufreihung der Lebensmittel scheint endlos. Anfangen tut es mit Brot aus dem eigenen Distrikt, das am günstigsten ist und geht bis zu kompletten Festmahlen wie im Kapitol für schwindelerregende Summen. „Vielleicht ein kleiner Nachtisch?“, werfe ich ein. „Etwas, das sie in der Arena auf keinen Fall bekommen kann?“ „Oh, das ist teuer.“ Beim Anblick der vielen Möglichkeiten läuft mir fast das Wasser im Mund zusammen. Das ausgefallene Abendessen macht sich bemerkbar. Eine der preiswertesten Optionen ist ein kleines Schälchen Erdbeeren mit einem Sahnehäubchen. Ich tippe darauf. „Das finde ich nicht schlecht.“ „Hmmm“, brummt Amber zustimmend, „ja, warum nicht. Ich hoffe Floogs reißt mir dafür morgen nicht den Kopf ab, aber wir haben jetzt keine Zeit, das Okay aller einzuholen.“ Ohne Zögern bestellt sie das Schälchen mit einem kleinen Zettel dazu, auf dem nicht mehr steht als: Wir sind sehr stolz auf dich. – A. Viel Platz lässt uns das Kapitol nicht für aufmunternde Worte. Es dauert kaum zwei Minuten, da sehen wir den silbernen Schirm zwischen den dunklen Bäumen herab segeln, direkt vor Cordelias Füße. „Sieht so aus, als hätten deine Mentoren etwas dazu zu sagen“, schmunzelt Peeta. Selbst im Mondlicht erkennen wir, wie Cordelia leicht errötet. „Manchmal vergesse ich, dass sie auch zusehen.“ Beim Anblick der Erdbeeren staunen beide Tribute nicht schlecht. „Da siehst du mal, wie viel du ihnen wert bist“, meint Peeta aufmunternd. „Das muss ziemlich teuer sein.“ „Wahnsinn. Danke euch“, flüstert Cordelia völlig überwältigt und hält dann Peeta das Körbchen hin. „Nimm dir, das kann ich unmöglich alleine essen.“ Gemeinsam genießen sie das Geschenk. Stück für Stück lassen sie sich die Beeren auf der Zunge zergehen. Amber und ich hocken gebannt vor dem Bildschirm, Schulter an Schulter. „Ich hab ganz vergessen, wie lecker eine Erdbeere ist“, seufzt Cordelia, bei ihrer letzten Frucht angelangt. „Oder diese hier schmecken einfach besonders gut.“ Peeta betrachtet die glänzende Erdbeere in seiner Handfläche, perfekt geformt, mit makelloser Haut. „Ich weiß nicht einmal, wann ich zuletzt eine gegessen habe. Ich hab sie immer nur auf unseren Erdbeerküchlein drapiert. Kaum zu glauben, dass ein Bäckersjunge nie einen einzigen Kuchen gegessen hat, oder?“ „Nun, kaum zu glauben, dass ein Mädchen aus Distrikt vier nie Boot gefahren ist, oder?“ Sie sieht ihn melancholisch an. „So ist das Leben wohl.“ Damit ist ihr Gespräch vorbei und jeder von ihnen hängt wieder den eigenen Gedanken nach. Die Nacht verstreicht schleichend langsam und irgendwann vor dem Morgengrauen dämmert Cordelia ein. Nur Peeta bleibt wach und liegt mit offenen Augen auf seinem Schlafsack, die Hand griffbereit an seiner Waffe. Amber holt sich den nächsten Kaffee und ich fange wieder an, die Bilder aus der Arena anzusehen, Tribut für Tribut. Ich bin bei der dreizehnten Runde, als sich Katniss regt. Langsam befreit sie sich aus ihrem Schlafsack und entdeckt, dass ihre schlimme Verbrennung über Nacht zu leuchtend rosiger Haut verheilt ist. Mit neuer, grimmiger Entschlossenheit, schiebt sie sich ihr Messer zwischen die Zähne und erklettert erneut die Baumkrone. Am Boden schläft alles. Nur bei Peeta bin ich mir nicht sicher. Er hält zwar die Augen geschlossen, doch seine Hand ist etwas zu fest um den Schaft des Speers geschlungen. Zur Untätigkeit verdammt sehe ich zu, wie Katniss damit fortfährt, den Ast durchzusägen. „Es ist so weit.“ Bedrückt rufe ich das Bild von dem Flammenmädchen auf dem großen Bildschirm auf. „Diesmal wird sie es schaffen.“ Missmutig schwenkt Amber die letzten Reste ihres Kaffees in ihrer Tasse hin und her. Ihr Blick fällt auf Cordelias Vitalzeichen. Sie schläft tief und fest. „Verdammt!“, flucht sie laut. Scheppernd landet ihr Becher auf dem Tisch. „Wir müssen doch was tun können.“ Zweifelnd sehe ich sie an. „Aber wir dürfen nicht in das Geschehen eingreifen. Und jetzt – nicht einmal ein Sponsorengeschenk wird sie aufwecken.“ Das hat das Kapitol wirklich geschickt gelöst. Das leise Klingeln der Fallschirme und ihre sanfte Landung sorgen dafür, dass sie unauffällig sind – und genau deswegen eignen sie sich besonders schlecht, um die Tribute zu warnen. Und trotzdem sind sie laut genug, um aufmerksamen Feinden die Position zu verraten. Amber starrt mit mahlendem Kiefer auf die sägende Katniss. Ich sehe, wie ihre kräftigen Schultermuskeln sich verspannen. „Ich wecke die anderen“, murmelt sie. „Falls ... falls es zu Ende geht.“ Sie tippt auf ihrem Tablet herum, um den anderen einen Alarm zu schicken. Noch während sie schreibt, ertönt hinter uns ein Geräusch wie ein Gewehrschuss. Ich sehe zuerst Katniss erschrockenes Gesicht und dann – den brechenden Ast mit dem Jägerwespennest. Unaufhaltsam rast er dem Erdboden entgegen. Im Licht der ersten Sonnenstrahlen zerplatzt das Nest auf dem Boden. Augenblicklich explodiert Brummen und Surren überall um uns herum. Der ganze Raum scheint erfüllt vom Kriegsschrei der tobenden Jägerwespen. Ängstlich quieke ich auf. Schon breitet sich das Gefühl von hunderten Insektenleibern auf meinem Körper aus. Galle steigt mir die Kehle empor. Aus der Arena dringen grauenvolle Schreie. Binnen Sekunden hüllen die glänzenden Wespen die Karrieros ein. Wild um sich schlagend schreckt Cordelia aus dem Schlaf auf. Die Anzeige mit den Vitalwerten spielt völlig verrückt. Alle Zahlen färben sich rot. Ich sehe ihr hilflos zu. Jeder Stich in ihre blasse Haut hallt in meinem Herz nach. Sie versucht, zu rennen, doch die Wespen sind schneller. Ihre schwarzen Körper begraben alles unter sich. Im Todeskampf zuckend fällt Cordelia zu Boden. Das Kapitol zeigt uns den letzten Rest ihrer Menschlichkeit, ein zugeschwollenes braunes Auge, in dem der Überlebenswille erlischt, als das Gift sich seinen Weg durch sie bahnt. Ein Kanonenschuss schneidet durch die Schmerzensschreie. Mit den Fäusten schlage ich voller Frustration auf den Bildschirm vor mir. Es darf nicht sein. Ich hatte es versprochen. Und erst jetzt, beim Anblick ihres toten Körpers, begreife ich, wie sehr ich wollte, dass sie nach Hause zurückkehrt. Stoßweise atme ich ein und aus. Schmerz und Trauer streiten sich wie alte Freunde in mir. Ich darf nicht aufgeben. Tias schrecklich fröhliches Grinsen verhöhnt mich in Gedanken. Nein. Ich kehre nicht zurück in diesen Albtraum! Amber bückt sich zu mir, ihr Gesicht zu einer fürchterlichen Grimasse verzerrt. „Hör auf“, fährt sie mich an und packt so fest meine Schultern, dass ihre Fingernägel sich schmerzhaft in die Haut bohren. „Es ist vorbei, Annie. Vorbei! Bitte. Bleib bei mir.“ Ihre Stimme ist so schrill, dass sie in den Ohren schmerzt. Ich registriere, dass sie mich schüttelt, doch meine Augen kleben auf dem Bildschirm. Es darf nicht vorbei sein! Mit einem erstickten Grollen, das irgendwo aus dem Unterbewusstsein stammt, stoße ich sie von mir. Alles stürzt zusammen und es fühlt sich an wie freier Fall, ohne, dass je der Aufprall kommt. Ein Schleier aus ungeweinten Tränen raubt mir die Sicht, sodass ich Amber nicht kommen sehe. Plötzlich ist sie wieder an meiner Seite und zieht mich fort von dem Bildschirm, auf den ich einschlage. Sie schreit etwas, aber ich verstehe sie nicht. Das Tosen des Sturmes in den Ohren ist so laut, das alles andere in Bedeutungslosigkeit versinkt. Wie eine Marionette, der die Fäden gekappt werden, sinke ich zu Boden. Ich schließe die Lider, nur um wieder das Bild von Cordelias Leiche vor meinem inneren Auge zu sehen. Von weit weg höre ich Ambers Flehen. Ihre Worte hageln auf mich ein, ebenso wie ihre Hände an mir zerren. Ohne sie zu beachten krümme ich den Oberkörper zusammen und endlich gibt sie nach, sodass ich die Arme über den Kopf schlagen kann. Das Tosen des Sturms aber wird lauter. Er zieht mich in seine Dunkelheit hinein, raubt mir die Sinne und nur Verzweiflung bleibt zurück. Ich bin wieder ein kleines Mädchen, das sich angsterfüllt am Mast ihres Bootes festkrallt, während Welle um Welle über ihr zusammenbricht. Panisch umklammere ich meine Knie, damit ich mich selbst spüre. Wütendes Wasser verschlingt alle Gedanken, bis nur der Wille zu Überleben bleibt und ich kämpfe, um jeden einzelnen Atemzug. Es kostet ungeheuerliche Anstrengung, nicht zu schreien oder weinen. „Atme, Annie, atme“, streicht ein Flüstern durch das Meerestosen. Rasselnd füllt die Luft meine Lungen. Jeder Luftzug bringt mich näher an das zarte Meeresflüstern heran, das mir Frieden verspricht. „Du bist nicht alleine.“ Ich sinke tief herab unter die rasenden Wellen, dem Meeresgrund entgegen. Dort wartet Geborgenheit. Auch wenn oben der Sturm tobt, hier spüre ich nichts davon. Eine sanfte Umarmung umfängt mich und dann schlägt die Trauer über mir zusammen. Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf dem Bett in meinem Zimmer. Das Licht ist gedimmt und auf dem großen digitalen Fenster wiegt sich geräuschlos das künstliche Meer. Mit halb geöffneten Augen verharre ich und genieße die Ruhe. Nichts, außer dem Atem von Finnick, ist zu hören. Ich weiß einfach, dass er es ist, spüre seine Anwesenheit in meinem Rücken. In kleinen Wellen verlässt mich das Gefühl der Geborgenheit und die schreckliche Wirklichkeit drängt sich vor. Aber ich bin nicht bereit, es gehen zu lassen, sondern kuschle mich tiefer in die weiche Matratze. Meine Hand tastet über die Decke, bis sie Finnicks findet. Wortlos halten wir einander fest. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)