Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 11: Einsames Schicksal ------------------------------ „Halt still Liebes, sonst erwische ich dich noch mit der Nadel!“ Tadelnd schüttelt Kolibrichen den Kopf, ihre dunkelgrün gefärbten Augenbrauen zusammengezogen. Ich nicke entschuldigend und richte mich auf, die Luft anhaltend. „Schon besser“, lobt sie. Mit flinken Bewegungen nimmt sie die letzten Änderungen an dem Kleid vor. Ein, zwei Mal spüre ich die kalte Nadel auf meiner blanken Haut, aber sie pikst nicht. „Wunderbar, sitzt wie angegossen.“ Die zarte Frau tritt einige Schritte zurück, um ihr Werk zu begutachten. Auch ich habe jetzt zum ersten Mal freien Blick in den Spiegel, auf das Outfit für die Interviews heute Abend. Blumenranken aus Spitze schlängeln sich über meine Arme und Oberkörper, bevor sie an der Taille in einen weichen, knielangen Chiffonrock übergehen. Um unseren Tributen, vor allem Cordelia, nicht die Show zu stehlen, trage ich flache Schuhe. Perfektes Understatement, wie Cece gesagt hat. Was immer das heißt. Andächtig streiche ich über den teuren Stoff. „Es ist wirklich schön“, sage ich an meine Stylistin gewandt. „Oh, das ist noch nicht alles!“ Kolibrichen kramt zwischen ihren Nähsachen und zieht ein fliederfarbenes Schleifenband hervor, das sie mir um die Taille bindet. „Damit man auch erkennt zu wem du gehörst“, erklärt sie zwinkernd. Tatsächlich, der Stoff hat dieselbe Farbe wie der Entwurf von Cordelias Kleid. „Wirklich, ganz toll“, höre ich eine sarkastische Stimme in meinem Hinterkopf. Oder kommt sie doch aus dem Raum? Irritiert blinzle ich. Dunkle Vorahnung erwacht in mir. Es ist nicht lange her, dass sie scheinbar von den Toten wiederauferstanden ist. Zögerlich schlage ich die Augen wieder auf und sehe Shine, gegen den großen Spiegel vor mir gelehnt. „Süße, unschuldige Annie, auf dem Weg ihre Tribute ins Verderben zu schicken.“ Ihr Mund verzieht sich zu jenem gehässigen Grinsen, das ich schon immer gehasst habe. Meine Hand fährt zu der Kette am Hals. Mit zitternden Fingern umschließe ich das kleine Medaillon. „Sie ist nicht real“, flüstere ich leise. „Hm?“, kommt es von Kolibrichen, die inzwischen ihre Utensilien zusammen packt. „Hast du was gesagt, Liebes?“ Ich schüttle den Kopf, denn der Anblick von Shine schnürt mir den Hals zu. Sie stößt sich vom Spiegel ab und tritt bis auf wenige Zentimeter an mich heran. Angst erfüllt verharre ich, als sie ihre Hand nach mir ausstreckt. Doch ihre Fingerspitzen gleiten nur über den Saum des Kleides. Wie von einem Lufthauch ergriffen wellt sich der Stoff unter ihrer unwirklichen Berührung. „Viel Spaß, kleine Annie“, wispert Shine, deren boshafte Augen sich in meine bohren. Immer noch das Medaillon umklammernd stolpere ich rückwärts, verliere den Halt und falle zu Boden. Auf klappernden Absätzen kommt Kolibrichen herbei gelaufen und beugt sich herab. Bevor sie Anstalten macht mir aufzuhelfen, springe ich hastig auf die Füße. „Alles gut?“, ruft die Stylistin besorgt und zwingt mich, sie anzusehen, anstatt nach Shine Ausschau zu halten. „Äh, ja, klar“, stammle ich. „Nur ungeschickt.“ Sie sieht mir prüfend in die Augen, dann umrundet sie mich, um das Kleid am Rücken zu richten. Erleichtert stelle ich fest, dass von Shine jede Spur fehlt. „Wie lange haben wir noch?“, frage ich Kolibrichen, um von meinem kleinen Ausfall abzulenken. Mitleidig sieht sie mich an. „Es ist bald so weit.“ Sie macht sich daran die restlichen Sachen in ihre große Tasche einzupacken. „Ich muss los und nach den Stars der Show sehen“, seufzt sie, „mal sehen ob Roan wieder in letzter Minute durchdreht.“ „Dann komme ich mit“, biete ich schnell an, um dem Zimmer, in dem weiterhin der Schatten von Shine lauert, zu entkommen. „Ich hatte gehofft du würdest das sagen.“ Lächelnd hält sie mir die Tür auf. Im Wohnzimmer herrscht Chaos. Überall liegen Lockenwickler, Puderdöschen und anderes Zeug verstreut. Auf dem letzten freien Stück Teppich stehen Cordelia und Edy, umschwärmt von ihren Vorbereitungsteams. Cece gibt ihnen letzte Anweisungen für die Interviews. Die übrigen Mentoren sind nicht da. Von den Stylisten werde ich gar nicht beachtet, aber Edy lächelt mir erfreut zu. Ich zeige ihm einen Daumen hoch und sein Grinsen verbreitert sich. Es erleichtert mich, dass er nicht weint. Der feine dunkelgraue Anzug mit den fliederfarbenen Akzenten verleiht ihm genug Selbstvertrauen, um das Publikum vielleicht von seiner Rolle des Einzelkämpfers zu überzeugen. Cordelia allerdings lässt ihn blass aussehen. Ihr Kleid ist genauso enganliegend wie auf den Entwürfen und ich gestehe mir ein, dass es ihre Ausstrahlung komplett verändert. Tüll in verschiedenen Fliedertönen umschmeichelt jede Rundung, bis er in einer langen Schleppe endet. Sie wirkt erwachsen, nicht die geringste Spur mehr von dem zaghaften Mädchen, dem gestern Nacht Tränen in den Augen standen bei dem Gedanken an ihre Familie. Im Gegensatz zu mir läuft sie mühelos auf den hohen Schuhen und hat damit keinen Privatunterricht bei Finnick nötig, anders als ich vor vier Jahren. Zu Ceces Freude verlassen wir das Trainingscenter ganze fünfzig Sekunden früher, als ihr Plan verlangt. Außer mir ist nur Trexler dabei, die restlichen Mentoren lassen sich nicht blicken. Da Cece beschwingt vor sich hin pfeift, scheint es abgesprochen zu sein. Ich vermisse Finnick an meiner Seite, denn jetzt würde ich nur zu gerne seine Hand halten. Trotz unserer pünktlichen Abfahrt sind wir nicht die Ersten beim Fernsehstudio. Ein paar „Außenseiter“ warten schon im Vorraum. Wir ignorieren sie und ziehen uns in die extra für uns bereitgestellte Garderobe zurück. Die armen Tribute, die vor Aufregung am ganzen Körper zittern, werden ein letztes Mal von Cece mit der Interviewetikette gequält. „Setzt euch erst, wenn Caesar euch darum bittet! Vergesst nicht, euch dem Publikum zuzuwenden. Ihr müsst sie überzeugen, nicht Caesar! Achtet darauf, gerade zu sitzen!“ Sie tigert vor ihnen auf und ab, während sie die ermüdend lange Liste vorträgt. „Und ganz wichtig: Vergesst nicht zu lächeln! Aber bitte nicht zu viel Zahn zeigen.“ Es ist Trexler, der die beiden aus ihren Fängen befreit. „Cece, trink n‘ Beruhigungsschnaps mit mir, okay?“ Er streckt ihr ein daumengroßes Glas mit klarer Flüssigkeit hin, die er aus der Minibar in der Garderobe hat. „Du bis‘ grad aufgeregter als alle vierundzwanzig Tribute z’samm.“ Cordelias Aufatmen ist weithin hörbar. Der breite Mann zwinkert ihr zu, bevor er Cece zwingt sich zu setzen und mit ihm anzustoßen. „Die ersten fünf Distrikte begeben sich bitte in den Backstagebereich“, durchbricht eine Ansage die Ruhe. Die Gesichter unserer Schützlinge verlieren endgültig alle Farbe. Obwohl ich heute die Bühne nicht betreten werde, klopft auch mein Herz schneller. „Na kommt ihr Beiden“, sage ich leise. Hoffentlich tauchen die anderen Mentoren noch auf, denn außer Trexler ist niemand da, um sie angemessen vorzubereiten, und der ist vollauf damit beschäftigt Cece im Zaum zu halten. Den Kopf in den Nacken gelegt stürzt sie einen zweiten Schnaps herunter, mit der Hand gestikulierend, dass wir uns beeilen sollen. Ein Avox führt uns in den Raum hinter der Bühne, wo längst der Mikrofontest läuft. Außer uns sind nur die beiden Jugendlichen aus Distrikt zwei da, die schon verkabelt sind und gelangweilt neben dem Bühnenaufgang lehnen. Sobald sie Edy und Cordelia erspähen, ändert sich ihr Gesichtsausdruck. Mit einem zuckenden Mundwinkel stößt sich der Junge – Cato, wie ich mir in Erinnerung rufe - von der Wand ab und kommt uns einige Schritte entgegen. „Scharfes Kleid, Elia“, sagt er und zieht die Augenbrauen in einer Art hoch, die mir einen Schauer den Rücken herab laufen lässt. „Damit könntest du glatt Odair seinen Rang streitig machen.“ Er lacht so laut, dass es in dem leeren Backstagebereich widerhallt. Ein Hauch von Rosa gleitet über Cordelias Gesicht, dann strafft sie sich und reckt das Kinn. „Ich muss ja schließlich zeigen, was ich habe“, entgegnet sie. Ihr Blick fällt auf das Mädchen aus Zwei – Clove – , das im Vergleich zu ihr wenig reizvoll daher kommt in ihrem roten Fransenkleid. „Das hebt mich von den anderen ab.“ Sie schafft es tatsächlich zu lächeln, aber nicht auf die Art, wie üblich. Etwas Dunkles liegt in ihren Augen. „Wie wahr...“, murmelt Cato, „nur muss man aufpassen, dass man den Zuschauern nicht... das Falsche verspricht. Am Ende müssen wir die Erwartungen ja auch treffen können.“ Wenn mich nicht alles täuscht, sieht er aus dem Augenwinkel Edy an. Der guckt entschieden weg von Cato, zur Bühnentür. Von Minute zu Minute wird mir mulmiger, denn der Konkurrenzkampf zwischen dem Karriero und den restlichen Tributen ist offensichtlich. Cordelia lächelt weiterhin, trotz seiner spitzen Bemerkung. „Ich bin schon gespannt auf die Auftritte der Anderen“, sagt sie, doch Cato wendet den Blick von ihr ab, ohne zu antworten. Er läuft ein paar Schritte auf Edy zu und bleibt kurz vor ihm stehen, Hände in den Hosentaschen. Seine Augen gleiten abschätzig über den Jungen, der im Vergleich zu seinem durchtrainierten Körper dürr wirkt. Niemand sagt etwas, bis Cato leise lacht. „Ja, ich bin auch gespannt was die Schwächlinge sich ausgedacht haben.“ Auf dem Absatz dreht er um und marschiert zurück zu seiner Distriktpartnerin, die uns die ganze Zeit über nur düster anfunkelt. „Wenigstens bin ich kein Monster“, stößt Edy keuchend hervor, nach wie vor auf den Aufgang zur Bühne starrend. Er sagt es gerade so deutlich, dass Cato es hört. Der hält mit dem Rücken zu uns inne, dann dreht er sich langsam um. Das Grinsen ist von seinem Gesicht verschwunden. „Traust du dich das nochmal lauter zu sagen?“ Edy steht unbewegt da, angestrengt atmend. Scheinbar ringt er mit sich selbst, denn er öffnet seinen Mund nur, ohne, dass ihm Worte über die Lippen kommen. Seine Hände ballen sich zu Fäusten und er schießt einen Blick in Richtung des Karrieros. „Ich sagte – wenigstens bin ich kein Monster.“ Ich halte den Atem an, solange die beiden einander anstarren. Es ist Edy, der zuerst wegschaut. Clove lehnt sich zu Cato und flüstert ihm etwas ins Ohr, ehe sie sich grinsend zurücklehnt. Er runzelt die Stirn und kommt dann wieder einige Schritte auf Edy zu. Ohne nachzudenken laufe ich zu Edy und stelle mich schützend an seine Seite, eine Hand auf den Rücken gelegt. Unter meinen Fingerspitzen fühle ich seine verkrampften Muskeln. Mit schiefgelegtem Kopf betrachtet Cato uns. „Nein, du bist kein Monster“, erklärt er herablassend, „du bist ein kleiner Junge, der dachte, er könnte ein bisschen Tribut spielen.“ Seine Augen werden schmal. „Du bist ein Schande für alle von uns, die ernsthaft trainiert haben.“ Ein unterdrücktes Zittern durchläuft Edy. Mit der freien Hand packe ich ihn an der Schulter, um ihn notfalls zurückzuhalten. Aber Edy scheint festgefroren zu sein, denn er bewegt sich keinen Millimeter. Cato indes kommt noch näher, bis er fast direkt vor uns steht. Cordelia wartet untätig am Rande, die Arme verschränkt. Ihr Gesicht verrät keinerlei Gefühlsregung. „Soll ich dir sagen, was du bist?“ Cato lässt die Fingerknöchel knacken. „Ein Opfer!“ Etwas in mir löst sich. Auf einmal spüre ich Feuer in meiner Brust züngeln. Empfindungen die schon lange nicht mehr präsent waren, erwachen tief in mir. Ich schiebe mich vor Edy, in den schmalen Spalt zwischen ihm und Cato. „Wage es nicht“, zische ich und sehe ihm direkt in die funkelnden Augen. Wir starren einander regungslos an. „Es stimmt also, was sie über die Verrückte sagen“, sagt Cato nach kurzer Pause mit Verachtung in jeder Silbe. „Noch so eine Schande für Distrikt vier.“ Mir fallen nur schreckliche Worte ein, die ich bereue, kaum, dass sie ausgesprochen sind. „Lieber bin ich verrückt, als ein gewissenloses Monster, das sich auf das Töten von Kindern freut! Ich habe meine Spiele wenigstens mit Anstand gewonnen!“ Die Augen des Karrieros werden schmal. Gemächlich nickt er. „Du hast nur gewonnen, weil du eine von Odairs Lieblingen bist.“ Lässig richtet er seine Manschetten. „Ich dagegen sorge alleine dafür, dass ich meinem Distrikt Ehre bringe. Bald verabschieden wir uns von den Ersten hier.“ Sein Mundwinkel zuckt nach oben. „Und ich weiß schon, bei wem ich anfange.“ Meine flache Hand trifft ihn unvorbereitet, direkt auf die Wange. Laut hallt das saftige Klatschen in dem Raum. Voller Wut sind mir selbst die erschrockenen Blicke der Avoxe egal. „Du weißt nichts!“, fauche ich. „Du kannst froh sein, wenn du überlebst!“ Ein paar blonde Strähnen haben sich aus Catos sorgfältig gestylten Haaren gelöst und fallen ihm vor die Augen, sodass ich seinen Ausdruck nicht erkenne. Nur ein Zucken der Finger verrät seinen Ärger. Es dauert einen Moment, dann hat er sich wieder gefangen. Er bemerkt das Starren der paar Avoxe und schnaubt nur selbstgefällig, während er seine Haare zurückstreicht. Vollkommen ausdruckslos nickt er Edy zu. Anschließend dreht er sich um und stolziert zurück zu Clove. Langsam durchdringt mich die Erkenntnis, was ich getan habe. Unbeabsichtigt entfährt mir ein erleichtertes Kichern. Die Wut kocht noch, doch die Energie versickert schlagartig und weicht Schwindelgefühl. Meine Beine werden weich wie Gummi. Den letzten Rest Kraft zusammenkratzend greife ich Edys Hand und ziehe ihn mit mir, vorbei an der Reihe glotzender Avoxe, hinter ein Regal voller Kabeltrommeln. Hauptsache außer Sichtweite von Cato. Kaum, dass die Anderen nicht mehr in Sicht sind, reißt Edy sich los. Er zieht eine undefinierbare Grimasse. Mein Herz klopft bis in den Hals. Was habe ich nur angerichtet? Das letzte Mal, als Wut die Kontrolle übernahm, habe ich einen Menschen getötet und diesmal also einen Karriero geschlagen. Victorias Gelächter verhöhnt mich in Gedanken. Am liebsten würde ich an Ort und Stelle auf den Boden sinken und die Arme über den Kopf schlagen, doch jemand muss Edy helfen. Erneut lange ich nach seinem Arm, den er mir zu entreißen versucht. Zittrig umklammere ich sein Handgelenk, um mich selber davon abzuhalten, zusammen zu brechen. „Edy... Bitte.“ Mein Griff ist eisern und er gibt es auf, sich zu befreien. „Du musst mich nicht verteidigen“, sagt er störrisch, den Blick auf einen Punkt hinter mir gerichtet. „Es ist nicht dein Kampf.“ „Und ob es das ist!“, bricht es aus mir hervor. „Ich bin für dich verantwortlich. Und ich werde nicht zulassen, dass dieser... dieser Junge dich angreift...“ Ein freudloses Lachen entflieht Edy. „Wir werden bald in einer Arena sein, in der er jede Chance dazu hat.“ „Aber die anderen Mentoren, sie können dir trotzdem helfen.“ „Ach ja?“ „Sei ehrlich – was ist zwischen Cato und dir vorgefallen?“ Er versucht wieder, mir seinen Unterarm zu entziehen, aber sobald er mein Gesicht sieht, gibt er auf. „Es ist nichts...“, sein Blick fällt auf den Boden. „Edy, ich bin für dich da. Wem kannst du es sagen, wenn nicht mir?“ Ausweichend schüttelt er den Kopf. „Ist schon in Ordnung, es ändert jetzt eh nichts mehr. Meine Spiele sind gelaufen“, sagt er mit gepresster Stimme. Die nahenden Tränen schimmern in seinen Augen, als er aufblickt. „Edy...“, flüstere ich mit stiller Verzweiflung, „noch ist dein Schicksal nicht geschrieben. Wir kriegen das irgendwie hin!“ Trotzig zieht er die Augenbrauen zusammen. „Frag doch Elia, wenn du es so unbedingt wissen willst.“ „Nein, sie würde es nicht so erzählen, wie du. Und hier geht es nicht um sie, sondern um dich.“ Ich gebe mir größte Mühe, meinem Flehen Ausdruck zu verleihen. „Ich bin auf deiner Seite, Edy.“ Er blinzelt, darum ringend nicht die Kontrolle über seine Tränen zu verlieren. Mit zitternder Unterlippe sagt er: „Der Fehler war, Cato beim Training mit seiner...“, er atmet tief ein und aus, „Brutalität zu konfrontieren. Ihm die Stirn zu bieten, anstatt es wie Cordelia zu machen und ihn anzuhimmeln.“ Während er spricht, ballt sich seine Hand zur Faust. Mein Blick wird weich. Finnick hat recht, er ist zu gut für diese Spiele. In Gedanken höre ich das helle Lachen eines kleinen Jungen mit ähnlich wilden Locken, dessen Tod mich für immer entzweigerissen hat. Ich fürchte, dass es längst zu spät ist. Egal, was mit Edy geschieht, es wird Narben in meinem malträtierten Herzen hinterlassen. „Die Karrieros... sie waren so unnötig gemein zu anderen im Training, haben immerzu davon gesprochen, was sie den anderen, den Kleinen, antun wollen, wenn die Spiele erstmal begonnen haben.“ Ein Zittern durchläuft seinen ganzen Körper und ich bin mir nicht sicher ob es Wut oder Angst ist. „Ich habe dafür trainiert kämpfen zu können, von Angesicht zu Angesicht“, fährt er fort, „aber nicht um Zwölfjährige zu foltern, bis sie sich den Tod wünschen. Warum macht Elia da mit? Das verstehe ich nicht. So war sie früher nie.“ Tränen treten in meine Augen. Das Gefühl des Verrates ist mir nicht fremd. Mitfühlend streiche ich ihm über den Arm, dann lasse ich los. Wie schon bei den Trauerkarten, fallen mir ausgerechnet jetzt keine passenden Worte ein. Trotzdem rede ich drauf los, in der Hoffnung, dass Edy versteht. „Es tut mir so leid, Edy.“ Eine einsame Träne bahnt sich ihren Weg herab. „Du hättest nicht hier landen dürfen.“ Der Schwindel verstärkt sich und ich rede hastig weiter. „Niemand ist vorbereitet auf die Hungerspiele. Auch Cordelia wusste nicht, was es bedeutet ein Teil der Karrieros zu werden. Ich wünschte sie würde es nicht tun, aber ich weiß, dass sie ihre Absicherung sind.“ Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Am Liebsten will ich Edy in den Arm nehmen, doch das ist ihm bestimmt nicht recht, nicht hier, wo uns jemand sehen könnte. „Ich bin umso stolzer auf dich, dass du dich nicht den Karrieros beugst.“ In diesem Moment unterbricht uns lautes Absatzklackern. Cece kommt im Stechschritt angelaufen, sodass der Perückenturm auf ihrem Kopf gefährlich schwankt. Ihre Lippen sind ein schmaler roter Strich, der mit dem rosa ihrer Wangen konkurriert, und ihr Atem riecht nach Alkohol. „Wo bleibt ihr denn? Es geht gleich los, zack zack, ab mit euch zum Bühnenaufgang!“ Ungeduldig klatscht sie in die Hände. „Versaut mir das ja nicht“, höre ich sie halblaut zischen, bevor Edy und ich zurück zur Bühne eilen, wo die übrigen Tribute bereits warten. Cato schenkt uns ein Grinsen, doch seine Augen bleiben kalt. Er stößt Clove an, deren fiese Fratze sich ebenfalls amüsiert verzieht. Es kostet mich alle Kraft den Blick abzuwenden, aber ich gönne ihnen keine weitere Sekunde Aufmerksamkeit. Eisern umklammere ich Edys Handgelenk und ziehe ihn mit ans Ende der Schlange, wo wir uns mehr schlecht als recht hinter den schmächtigen Kindern aus Distrikt drei verstecken. Cordelia steht steif da, alleine. Auf den ersten Blick macht sie einen gefestigten Eindruck, aber bei näherer Betrachtung fallen mir ihre Hände auf, die sie so fest ineinander verschlungen hat, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. Das kleine Lächeln, mit dem sie uns begrüßt, verschwindet viel zu schnell wieder von ihrem Gesicht. „Wo sind denn die anderen?“, fragt sie vorwurfsvoll, während ihr Blick suchend durch die Gegend gleitet. „Sollten sie nicht auch hier sein?“ Mit keinem Wort erwähnt sie den Vorfall von eben. „Die kommen bestimmt gleich“, versuche ich so beruhigend wie möglich zu sagen, aber meine Stimme verrät mich. Ein Avox macht sich daran, Edys Revers mit einem Mikrofon auszustatten. Cordelias Blick fällt auf ihn, der immer noch bleich ist. Für einen Moment scheint sie mit sich zu ringen, dann drückt sie mit einer Hand seine Schulter. „Wir schaffen das schon“, sagt sie mit unterdrückter Stimme, damit die Tribute vor uns es nicht hören. „In der Akademie waren wir die Besten.“ Anstatt ihn aufzuheitern, wird Edys Blick düster. „Nein, Riven war die Beste.“ Ihre Hand gleitet schlaff von seiner Schulter. „Ja, sie war die Beste. Aber wir haben von ihr gelernt. Wir sind genauso stark.“ Edy schnaubt abfällig. „Nur, dass es kein wir mehr gibt. Nur du oder ich-“ „Aber, aber, meine Lieben, so dürft ihr nicht reden!“, mischt sich Cece entrüstet ein. „Wo ist euer Lächeln, eure positive Energie?“ Sie stemmt die Hände in die Hüften. „Das sind eure Interviews, ihr müsst stahlen!“ Im affektierten Akzent des Kapitols zieht sie das letzte Wort lächerlich lang. Seufzend tauschen die Tribute einen genervten Blick, ein Moment geteilten Leids. Kurzzeitig scheint ihr Streit vergessen. Cordelia schenkt unserer Betreuerin ein äußerst künstliches Lächeln und flötet: „Natürlich werde ich stra-a-a-hlen, Cece!“ Finnick und die anderen tauchen erst auf, als Distrikt zwei an der Reihe ist. Sie erwähnen mit keinem Wort, warum sie so spät auftauchen. In dem Moment ist es mir egal, denn ich bin froh, dass überhaupt jemand da ist, um sich unserer Tribute anzunehmen. Nach der Konfrontation mit Cato ist es ein Wunder, dass ich nicht direkt zusammengebrochen bin. Auch Cordelia sieht sofort glücklicher aus und bestürmt Floogs mit letzten Fragen. Erleichtert atme ich auf. Fragend schaut Finnick mich an, aber ich schüttle nur den Kopf. Von der Begegnung zwischen Cato und mir erzähle ich lieber nicht. „Keine Zeit für Erklärungen“, flüstere ich ihm zu. „Kümmer dich besser um Edy. Wir reden später, okay?“ Er sieht mich unglücklich an, bevor sein Blick zu Edy und wieder zurück wandert. „Ich würde gerne, aber nach den Interviews ist eine Aftershowparty angesetzt und... ich habe noch ein Treffen.“ Als er meine Miene bemerkt, setzt er hinzu: „Es muss leider.“ „Schon okay, klar.“ Mit einem Kloß im Hals nicke ich tapfer. Ob der Termin etwas mit einer anderen Frau zu tun hat? Besser, ich weiß es nicht. Kurz streift er mir über die Schulter, doch es reicht aus, um ein Kribbeln in die Magengegend zu senden. „Danke.“ Zusammen mit Amber schlendert Finnick zu Edy und sie reden in gedämpften Ton mit ihm. Ich folge ihnen nicht, sondern lehne mich gegen die Betonwand. Die vielen aufgeregten Stimmen von Tributen und Mentoren verklingen zu einem Summen, kaum, dass ich die Augen schließe. Kühler Beton unter meinen Handflächen lindert den Schwindel. In dieser Position verharre ich solange, bis Cordelia endlich an der Reihe ist. Stumm drücke ich sie an mich, denn alle Worte für diesen Tag sind endgültig verbraucht. Jeder wünscht ihr viel Erfolg und mit einem letzten Blick zu uns schreitet sie hinaus ins Rampenlicht. Wir hören tosenden Beifall und Caesar Flickermans aufgeregten Ruf, dann fällt die Tür zur Bühne zu und die Geräusche werden abgeschnitten. Die Interviews sind, nach allem, was ich beurteilen kann, ein anständiger Erfolg. Wie zu erwarten liebt das Publikum Cordelias Kleid und Edys Charme. Sie ernten Lacher und Seufzer, erzählen Geschichten aus Distrikt vier, winken fleißig den Zuschauern und am Ende ihrer Auftritte schnellen die Sponsorenanfragen in die Höhe. Nachdem wir sie wieder in Empfang genommen haben, ziehen wir uns in den privaten Backstagebereich zurück, um die übrigen Interviews zu verfolgen. Den meisten Tributen sieht man die Nervosität an der Nasenspitze an. Ich versuche, nicht allzu genau hinzusehen, denn es ist genug, mit Edy und Cordelia zu leiden. In einem Werbeblock vor dem Auftritt von Distrikt zehn erzähle ich Finnick schließlich leise, was zwischen Cato und mir vorgefallen ist. Seine Miene verdüstert sich bei meiner Schilderung von Catos Drohung. „Oh Annie“, seufzt er schwer. „Du darfst es einem Jungen wie ihm nicht nachtragen, dass er so ist. Er hatte vermutlich nie eine Wahl, er ist dazu erzogen worden, der perfekte Tribut zu werden. Ich weiß, es ist hart. Und er hat die Ohrfeige sicherlich verdient. Aber am Ende ist er auch nur ein Opfer der Spiele.“ „Das weiß ich doch alles“, verteidige ich mich, „aber in dem Moment konnte ich nicht anders. So ein widerwärtiger...“ „Shhh.“ Finnick streicht beruhigend über meinen Handrücken und ich spreche nicht weiter. „Jetzt weiß ich jedenfalls, was Enobaria meinte“, fährt er nachdenklich fort und erzählt mir, was die Mentorin aus Zwei am Vortag behauptet hat. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob wir ihm noch weiter helfen können“, gibt er im Flüsterton zu „Das Interview war okay, aber ihm fehlt ein Bündnis.“ Das habe ich mir schon gedacht, doch es zu hören, macht es nur schrecklicher. Finnick drückt wortlos meine Hand. Zur allgemeinen Verblüffung sind es in diesem Jahr die letzten Distrikte, die Überraschungen bieten. Ausgerechnet das kleine Mädchen aus Distrikt elf gewinnt die Herzen des Publikums mit ihrer ehrlichen und intelligenten Art. Ein wenig erinnert sie mich an Pon. So jung, aber nicht wehrlos. Ihr Partner ist das komplette Gegenteil, ein schweigsamer Koloss, der sich den Zuschauern überhaupt nicht anbiedert. Seine Muskeln unter dem Anzug sprechen ihre eigene Sprache. Doch die Spannung erreicht ihren Höhepunkt erst, als das Mädchen aus Distrikt zwölf auf die Bühne gerufen wird. Wie wird sie sein, das Flammenmädchen, das alle Augen bei der Wagenparade auf sich zog? Das Mädchen mit den elf Punkten? Mein erster Eindruck ist ernüchternd. Die unnahbare Aura von der Parade ist verflogen. Sie stolpert über ihre eigenen Worte, bittet Caesar Fragen zu wiederholen. Kurzum, sie ist normal. Ihre Hände zittern kaum merklich bei den Erzählungen. Ich verstehe sie, ganz ähnlich war mein Interview. Flickerman schafft es, die Stimmung zu lockern, indem sie von den kleinen Annehmlichkeiten des Kapitols plaudern. Die unverblümte Meinung der Tributin scheint dem Publikum zu gefallen, denn sie lachen herzlich. Sie erzählt von ihrer Schwester, für die sie gewinnen will, was den Leuten begeisterte Seufzer entlockt. Doch es ist nicht sie selbst, die ihr Interview unvergesslich macht. Wie schon bei der Parade, ist es das Kleid. Die vielschichtigen Stoffe aus unzähligen Rottönen schimmern aufregend im Licht der Scheinwerfer, aber ihr wahres Geheimnis enthüllt sich erst, sobald Caesar sie bittet, sich für das Publikum zu drehen. Und wie sie sich dreht. Das Kleid scheint in Flammen aufzugehen und da ist er wieder, der Anblick, der einem den Atem stocken lässt. Ich starre sie an und weiß sofort, dass niemand sich an Cordelia erinnern wird. Ihr Feuer verbrennt die Erinnerung an die vorangegangenen Tribute zu Asche. Kein Wunder, dass der Applaus für sie lauter ist, als alles, was wir an diesem Abend gehört haben. Ich werfe einen Blick in die Runde und sehe, wie jeder von dem flammenden Kleid gefesselt ist. Selbst Cordelia stiert mit offenem Mund auf den Bildschirm. Roan muss blass vor Neid sein. Zuletzt folgt der blonde Junge. Sein Anzug ist passenderweise ebenfalls mit Feuerzungen verziert, geht allerdings nicht in Flammen auf. Nicht, dass er es nötig hätte. Denn wo ihr Kleid brannte, zünden seine Worte eine Bombe. „Wir sind zusammen hier.“ Mit diesem einen Satz lässt er den Saal aufschreien. Caesar hat ihn nur gefragt warum er nicht für das Mädchen, das er liebt, siegen kann. Diese Antwort ist skandalös, nie dagewesen. Das Publikum ruft nach ihr, will sie wiedersehen, Details hören, aber die Interviews sind vorbei. Es gibt keine Ausnahme für Distrikt zwölf. Der Bildschirm wird abrupt schwarz und lässt uns schweigend zurück. Erst jetzt merke ich, wie schnell mir das Herz rast. Er liebt sie? Mein Blick wandert zu Finnick, der unverwandt auf den dunklen Fernseher sieht. Wenn es etwas gibt, das schlimmer schmerzt, als unser Schicksal, dann das. Zu wissen, dass man niemals zusammen sein wird, denn einer von beiden muss sterben. Mir wird schlecht. Gleichzeitig bin ich dankbar, dass wir in unbeobachteten Momenten beieinander sind und nicht mehr um das Leben des Anderen fürchten. In all dem Elend der Distrikte haben wir noch Glück. Cece scheucht uns zurück in den Wagen, der ins Trainingscenter fährt, wo im Kellergeschoss die Aftershowparty stattfindet. Sobald wir vorfahren, erhasche ich die Sicht auf Bürger des Kapitols in Abendgarderobe, die anscheinend zu der Feier geladen sind. Ihre begierigen Blicke verfolgen den Wagen und ich presse mich tiefer ins Polster, um nicht begafft zu werden. Zwischen den Leuten erkenne ich auch einige von Rivens Siegerfeier wieder, darunter die rundliche Politikerin Titania Creed, heute ganz in Grün gewandt. Für einen Moment habe ich das unangenehme Gefühl, dass sich unsere Blicke treffen, und wende mich hastig ab. Bisher bin ich dem Versammlungssaal im Keller ferngeblieben und nach den Geschehnissen des Tages habe ich keine Lust, daran etwas zu ändern. Zu meinem Glück verkündet Cece, dass wir nicht alle an der Party teilnehmen können, damit die Tribute, die nicht eingeladen sind, keinesfalls alleine im Appartement sind. Morgen beginnen schließlich die Spiele und sie müssen ausgeruht sein. Bevor mir jemand zuvorkommt, melde ich mich freiwillig. Trexler schließt sich mir an und wir fahren mit unseren schweigsamen Schützlingen zurück ins Apartment. Aus dem gläsernen Fahrstuhl heraus erhasche ich einen letzten Blick auf Finnick, der Titania Creed mit einer Umarmung begrüßt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)