Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 10: Nadel und Faden --------------------------- Sie warten, ob Elf siegt. Elf Schützen. Zwölf egal. Die Worte brennen sich in Finnicks Gedächtnis ein, lange bevor er die verschlüsselte Botschaft vernichtet. Kein Beweis bleibt übrig, nachdem das Wasser Tinte und Papier fortspült. Wieder einmal bleiben sie Beobachter. Es liegt einzig an den Mentoren, den Jungen aus Elf zu beschützen, der in diesem Jahr die Aufmerksamkeit der Rebellen errungen hat. Er zweifelt daran, ob sie ernsthaft glauben die Taten des Tributs könnten etwas ändern. Sicher, was immer mit ihm passiert, allein seine Anwesenheit in der Arena wird die Unzufriedenheit in der Untergrundbewegung von Elf weiter befeuern. Nach allem, was Beetee vergangenen Sommer erzählt hat, brodelt es dort gewaltig. Ob der Junge stirbt oder nicht, ist fast schon egal, solange der Hass brennt. Wenn er jedoch gewinnt, wäre es auch ein Sieg für Distrikt elfs Rebellen. Das versteht er. Und alles wird die Schuld des Kapitols sein, die seine Ernte manipuliert haben. Es gibt nicht viel, was Vier unternehmen kann, um sein Leben zu schützen. Er wird seine Tribute davor warnen, sich mit ihm anzulegen. Aber das war es schon. Andere in höheren Positionen als Spielmacher haben mehr Macht zu helfen. Vorausgesetzt es lohnt sich für sie. Bei dem Gedanken daran, sich ausgerechnet auf diese Leute zu verlassen, zieht sich sein Herz zusammen. Wenig begeistert seufzt Finnick und schwingt die Beine über die Bettkante. Wie in den Nächten zuvor kommt der Schlaf nicht. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass es bereits zwei ist. Alle anderen dürften längst im Bett liegen. Auf leisen Sohlen schleicht er sich an ihren Zimmern vorbei, auf der Suche nach einem Snack, zur Ablenkung. Damit ignoriert er geflissentlich das Diät-Programm, das Cece ihm erst gestern verordnet hat. Bei dem Gedanken daran, wie sie toben würde, sollte sie je von seinen nächtlichen Ausflügen zum Kühlschrank erfahren, grinst er. Wahrscheinlich würde sie ihm vorwerfen, dass er seine Figur und all ihre harte Arbeit ruiniert. Beides ist ihm herzlich egal. Solange er sich bester Gesundheit erfreut, sieht er keinen Grund in einer Diät. Zumal es in den Distrikten kaum möglich ist, übergewichtig zu werden, dafür sorgen die rationierten Lebensmittel schon. Sie hat nur Angst, dass sein Ruf des begehrtesten Junggesellen sich mit ein paar Gramm mehr in Luft auflösen wird und damit ihr größter Triumph. Gedankenverloren schleicht er auf das große Esszimmer mit der Küchenzeile zu, als aus dem angrenzenden Wohnbereich eine wohlbekannte Stimme erklingt. „Und deine Brüder? Haben sie keine Angst um dich?“ Annies zarte Stimme dringt ihm durch Mark und Bein. Anscheinend ist er nicht alleine schlaflos. Den Atem angehalten bleibt er reflexartig im Schatten des Flurs stehen. Das Gefühl, er dürfe nicht hier sein, erwacht. Er sieht nicht, mit wem sie redet, doch dann spricht ihr Gegenüber. „Wenn, haben sie es nie gezeigt“, sagt Cordelia leise, sodass er sich anstrengen muss sie zu verstehen. Obwohl lauschen sich nicht gehört, bleibt er. Ein unerklärlicher Drang zwingt ihn, zu verharren. „Hmm.“ Etwas klappert und Annies nächste Worte werden von dem Geräusch verschluckt. Erst Cordelias Antwort ist wieder verständlich. „Möglich. Ich weiß es nicht. Jetzt wäre es eh zu spät zu fragen, schließlich bin ich schon hier. Mein einziger Weg es herauszufinden, ist zu siegen.“ Gefangen in einer unwirklichen Zwischenwelt, lehnt Finnick sich gegen die Wand, den Blick auf den Boden gerichtet, unfähig umzudrehen und wieder in sein Zimmer zurückzukehren. Das Gespräch scheint ihm zu intim, um sie zu überraschen. Sein Herz macht einen Satz, denn aus dem Nichts mischt eine dritte Person sich ein. „Und wenn wir nicht wiederkommen, Elia? Wenn es alles ein Fehler war?“ Sein Magen verknotet sich, angesichts der Angst in der Stimme. Am liebsten würde er Edy in den Arm schließen, denn er hat erkannt, was unausweichlich ist – die Hungerspiele bringen nur Leid. Er ist doch erst Fünfzehn, fleht er innerlich, aber natürlich ist da niemand, der seine stummen Bitten hört. „Daran dürfen wir nicht einmal denken, Edy! Denk an Lana zurück, sie hat uns immer eingeschärft, dass wir nur nach vorne blicken dürfen. Bis keiner außer uns übrig ist.“ Cordelias Worte sind kalt wie Stahl, doch selbst Finnick hört das leichte Zittern. Die Stimme von Annie dagegen gleicht der zarten Umarmung des Meeres. „Ich konnte damals nie aufhören, daran zu denken. Jeden Moment seit der Ernte war mir klar, wie nah ich am Abgrund stand. Der Gedanke alleine wird dich nicht umbringen. Keiner will es zugeben, aber alle haben Angst. Am Ende haben selbst die Karrieros Angst. Ich habe es in ihren Augen gesehen. Nur wollen sie es verbergen, aus Furcht es könnte sie schwach machen.“ Jedes Wort gleicht einem eisigen Stich ins Herz. Die Angst ist Finnick nicht fremd. Vielmehr ist sie ein jahrelanger Begleiter, doch durch Annies Sätze wird ihm schmerzlich bewusst, wie viel Beklemmnis er selbst jetzt empfindet. Seine Beine sind wie gelähmt und so bleibt er in den Schatten verborgen. „Menschen wie Cato?“ Das Zittern in Cordelias Stimme gewinnt langsam aber sicher die Oberhand. „Auch Menschen wie Cato“, erwidert Annie. „Das letzte, was ich von Shine sah, waren Augen voller Furcht. In unserem Ende sind wir alle gleich.“ Ihre Worte legen sich über Finnick wie eine schwere, erstickende Decke. Sie spricht nicht oft von der Arena und noch seltener von der Tributin aus Distrikt eins, die eine stetige Begleiterin in ihren Albträumen ist. Meist hört er sie ihren Namen nur schreien, wenn die Panik sie übermannt. Ersticktes Schluchzen dringt an sein Ohr. Jemand steht auf, Schritte auf dem weichen Florteppich. „Shh“, flüstert Annie leise, „du bist nicht alleine, Edy. Wir Mentoren helfen dir. Euch beiden. Noch ist nichts verloren.“ Wieder einmal fragt er sich, womit sie eine so gutherzige Person verdient haben. Finnick sieht sie vor seinem inneren Auge, wie sie den Jungen voll mitfühlender Trauer ansieht und ihm mit einer Umarmung versucht all ihre Stärke zu leihen. So wie sie es einst bei Pon tat. Edys gedämpfte Stimme erklingt erneut: „Ich wollte doch nur... der kleine Junge sollte nicht sterben. Nicht wegen mir, nur weil ich ein Feigling bin. Oder ein schlechter Kämpfer.“ Hicksend brechen seine Worte. „Du bist kein Feigling!“, ruft Cordelia, ihre Stimme so laut, dass Finnick fürchtet, sie könnte die anderen wecken. „Ich kenne dich besser als Cato. Du bist noch viel mutiger als ich. Du hast dich gemeldet, um jemandes Leben zu retten, obwohl du das nicht hättest tun müssen.“ „Ihr seid beide mutig“, beschwichtigt Annie. „Jeder auf seine Art.“ Schweigen und wieder hört er das Klappern von etwas Gläsernem. Edys unterdrückte Schluchzer versiegen nach und nach. „Warum ziehst du die Karrieros dann mir vor?“ „Die Karrieros... sind meine beste Chance zu überleben. Das hat sogar Amber gesagt.“ Cordelia spricht quälend langsam, als würde sie ihren eigenen Worten nicht trauen. Größte Hoffnung, aber auch größte Gefahr, denkt Finnick. Beides ist wahr. Edy erwidert nichts, nur trockenes Hicksen ist zu hören. „Falls ich es mit meinem beschissenen Können nicht sowieso versaue“, setzt Cordelia hinterher. „So darfst du nicht denken!“ Erstaunlich klar springt Annie dazwischen. „Du hast Talent, nicht nur das mit der Waffe. Jeder hat etwas, das einen einzigartig macht und das kann dir das Leben retten. Ich bin vielleicht eine lausige Mentorin, aber die anderen können dir helfen. Dir, und auch Edy! Aber das können sie nicht, wenn ihr ihnen keine Chance dazu gebt. Ihr müssst offen mit ihnen sein, auch wenn es schwer fällt.“ Cordelias Seufzen trägt bis in den Flur. „Was für Talent?“ Annie scheint kurz zu überlegen, dann setzt sie zu einer Erklärung an. „Mir ist dein Armband aufgefallen, beim Training. Du bist aus dem Schiffsbauerviertel, oder?“ Er hört nichts, also nimmt er an, dass sie genickt hat, denn Annie fährt fort. „Ich als Fischerstochter kann mir nur vorstellen, was du alles gelernt hast beim Schiffsbau. Das ist auf jeden Fall etwas, das dich einzigartig macht, das sind Dinge, die nur du weißt.“ Finnick hält die Luft an, gespannt auf Cordelias Antwort. „Das ist nichts, was man den Leuten stolz erzählt, außer man will bemitleidet werden. Jeder weiß, wie elend die Schiffsbauer sind, selbst außerhalb des Distrikts.“ Die Bitterkeit in ihren Worten ist unverhohlen. „Du willst meine Talente wissen? Ich kann Schiffssegel nähen, das habe ich jeden Tag nach der Akademie getan, um mir das Training leisten zu können. Jetzt erzähl mir, wie mich das in der Arena retten wird.“ „Ich weiß es nicht“, hält Annie dagegen, „aber die Anderen. Sie wissen viel mehr über die Spiele, als ich. Ich möchte einfach nur vergessen...“ Ihre Stimme verklingt, verloren in Gedanken. Überrascht starrt Finnick auf das helle Parkett zu seinen Füßen. Annie hat es wirklich geschafft, Cordelia dazu zu bringen, von ihrem Leben außerhalb der Akademie zu erzählen. So viel hatte ihr Schützling bisher niemandem erzählt, allen ihren Versuchen zum Trotz. Seine Mundwinkel zucken unabsichtlich nach oben. Damit hat er nicht gerechnet. Nicht bei zwei so unterschiedlichen Personen. Ausatmend stößt er sich von der Wand ab, langsam die Beherrschung zurückerlangend. In seinem Kopf nimmt ein Plan Gestalt an. Die folgende Stille hält er für geeignet, um endlich das Wohnzimmer zu betreten. Er streicht sie die Haare aus der Stirn, dann legt er mit deutlichen Schritten die letzten Meter zurück. Sein Kommen ist unmöglich zu überhören. Sobald seine Füße ihn in den nur von Mondschein erhellten Wohnbereich tragen, gibt er vor überrascht zu sein, die drei vorzufinden. Annie kniet auf dem Boden, neben der kleinen Gestalt von Edy. Cordelia hingegen sitzt auf dem luxuriösen Sofa, Knie ans Kinn gezogen. Bei seiner Ankunft schüttelt sie sich hastig die dunklen Haare aus dem Gesicht und wischt sich über die Augen. Vor ihnen auf dem gläsernen Couchtisch stehen drei Schalen aus Kristallglas, gefüllt mit den Überbleibseln des Nachtischs, einer fantastischen Schokoladenmousse. „Soso, ihr seid meinem Plan die Reste des Desserts zu klauen also zuvor gekommen“, stellt er grinsend fest. Schuldbewusstsein macht sich auf Annies Gesicht breit, was sein Grinsen nur verstärkt. „Einmal Nachtischdiebin, immer Nachtischdiebin, was?“, fragt er sie mit einem Funkeln in den Augen. Mit einem Zucken der Lippen hält sie dagegen: „Selbst Schuld, wenn du zu spät kommst. Cordelia und Edy haben mich vor dir erwischt und sich nur mit Beteiligung am Nachtisch erpressen lassen. Vielleicht gebe ich dir ja trotzdem was ab, wenn du nett bist?“ Die Tribute andererseits schweigen ihn an. Solche Momente ist er nach sieben Jahren des Mentorendaseins nur zu gut gewöhnt. Ohne darauf einzugehen, schnappt er sich Annies halbvolle Schale und bevor sie einen Laut des Protests ausstoßen kann, schiebt er sich einen Löffel der herrlichen Schokoladenmousse in den Mund. Feine Süße macht sich in seinem Gaumen breit. Genüsslich seufzend lässt er sich auf das Sofa fallen, weit genug von seinen Tributen entfernt, um nicht aufdringlich empfunden zu werden. „Nachtisch klauen ist ein exzellenter Weg, die Stimmung zu heben, schätze ich.“ Verstohlen wischt Edy sich das Gesicht, ehe er mit hängendem Kopf nach seiner eigenen Schüssel greift und das Dessert in sich hineinschaufelt, als gäbe es kein Morgen. Und beinahe ist das ja die Wahrheit. Es bleiben zwei Tage bis zum Start der Hungerspiele. Der Junge hat allen Nachtisch der Welt verdient, würde Finnick bestimmen. Cordelia nimmt ihm die schwere Entscheidung, wie er das Gespräch aufnehmen könnte, ab. „Wirklich hier zu sein, ist nur anders, als in unserer Vorstellung.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Das Kapitol übertrifft jede Vorstellung, da kommt man sich... klein vor, irgendwie.“ „Hmm.“ Finnick weiß genau, wie sie sich fühlt. Seine erste Reise in die Hauptstadt hatte ihm die Sprache geraubt und selbst dieser Tage lässt ihn der Anblick des Kapitols oft mit einem Gefühl der Machtlosigkeit zurück. „Umso besser, wenn wir uns den Nachtisch unter den Nagel reißen!“ Verschwörerisch zwinkert er ihr zu. „Manchmal sind es die kleinen Freuden des Alltags, die das Leben besser machen. Außerdem ist es so etwas wie ein Ritus, den jeder unserer Tribute durchmacht.“ Bei diesen Worten lächelt Annie. „Oh, und besonders eine war schlimm“, fährt er fort, „denn sie hat den Nachtisch schon vor dem Hauptgang geklaut. Dagegen ist das hier ein Kavaliersdelikt.“ „Hey, ich hab mich entschuldigt“, sagt Annie mit einem Schnauben. Das entlockt Edy ein Kichern. Zum ersten Mal, seit Finnick den Raum betreten hat, hebt er den Kopf. Die Augen sind gerötet und seine Wangen glänzen verdächtig. „Das hätte ich nicht von dir erwartet“, bemerkt der Junge. „Wir haben alle so unsere Überraschungen“, erwidert er. Einer Eingebung folgend wendet er sich an Cordelia. „So wie du.“ Sein Blick gleitet zu ihrem Handgelenk und entdeckt das bunte, geflochtene Stoffband. „Ich bin ehrlich“, sagt er ernst, „ich habe einen Teil eurer Unterhaltung über deine Talente überhört.“ Er schiebt die Schüssel mit der Schokoladenmousse zurück zu Annie. „Du sagst du bist gut mit Nadel und Faden?“ Verwirrt sieht Cordelia ihn an, eine Hand schützend auf das Armband an ihrem Handgelenk gelegt. Ihr Blick flackert in Richtung der anderen Beiden, ehe sie ihm zunickt. „Ja, ich habe schon als Kind Segel genäht. Meine Familie hatte eine alte Maschine, aber immer wenn sie den Geist aufgegeben hat, musste ich per Hand nähen. Meistens haben wir eh nur alte Sachen repariert. Die ganzen neuen Segel kommen jetzt aus Distrikt acht.“ Langsam nickt Finnick und der Plan festigt sich. Sein Blick gleitet suchend durch das dunkle Apartment, bis er die Koffer des Vorbereitungsteams in einer Ecke entdeckt. Kurzerhand geht er hinüber, um mit einem Nähetui zurückzukehren. Ohne große Worte wirft er es Cordelia in den Schoß. „Sagen wir jemand würde sich verletzen – würdest du dich trauen, den Schnitt zusammen zu nähen?“ Ihre Augen werden groß. „W-was soll ich?“ Auch Annie und Edy sehen Finnick mit offenen Mündern an. Der fackelt nicht lange und greift sich eines der über und über mit weißen Bommeln besetzten Sofakissen. Die fand er schon immer hässlich. Mit einem Knirschen zerreißen die Fasern, als er eine Stoffschere hineinsticht und das Kissen der Länge nach aufreißt. Watte quillt aus dem Bezug. Mit einem Grinsen legt er es vor Cordelia auf den Glastisch. „Entschuldige die Improvisation, aber hier ist dein erster Patient!“ Der Gesichtsausdruck seines Schützlings schwankt zwischen Belustigung und Verwirrung. Schließlich entkommt ihr ein kleines Lachen. „Nicht dein Ernst?“ „Oh doch. Die Uhr tickt, Cordelia. Wenn du dich nicht beeilst verblutet dein Verbündeter – wie hieß er noch gleich? Cato?“ Sie schluckt, dann zieht sie die Nadel aus dem Etui.   „Und du bist dir sicher, dass sie das überzeugen wird?“, fragt Amber Finnick am Nachmittag, im Fahrstuhl auf dem Weg in den Versammlungssaal. Er zuckt mit den Schultern. „Wir müssen es nur gut genug verkaufen. Selbstverständlich ist sie keine Ärztin - aber hey, das wissen die Karrieros ja nicht. Die Aussicht auf eine Verbündete, die ihre Wehwehchen versorgen kann, sollte ihnen genug Überzeugung sein. Und wenn die Karrieros es glauben, wird es im Sponsorenshop auch das passende erste Hilfe Set für unser Vorhaben geben. So wird aus einer verrückten Idee plötzlich Wirklichkeit.“ Amber verschränkt mit gerunzelter Stirn die Arme vor der Brust. „Du schaffst es immer, dass es sich so leicht anhört...“ Aufmunternd zwinkert er ihr zu. „Die Macht des Glaubens!“ Mit einem Ping gleiten die Türen des Fahrstuhls auf. Seufzend wirft sie ihm einen letzten, langen Blick zu, dann wendet sie sich ab und strafft die Schultern. Er folgt ihrem wippenden Pferdeschwanz durch die Menge, bis hin zu einer gemütlichen Ecke, in der die Mentoren von Distrikt eins und zwei ihre Besprechung halten. „Heeey, Cash und, oh, Gloss ist auch da“, begrüßt Amber das blonde Mentorenpärchen aus Eins in einem derart unüblichen schleimerischen Ton, dass es Finnick an eine Meeresschnecke erinnert. Breit lächelnd lehnt sie sich über die Lehne des Sofas, auf dem Enobaria sitzt. Diese verzieht ihrerseits den Mund zu einem Grinsen, bei dem sie es schafft, sämtliche scharf angespitzten Zähne zu zeigen. In seinem Nacken prickelt es und nur die antrainierte Fassade lässt ihn höflich aber unbeteiligt weiter lächeln. „Oh, meine Lieblings-Enobaria ist auch da“, stellt Amber entzückt fest. „Heute ist wohl mein Glückstag.“ „Was wollt ihr?“, fragt Cashmere ohne große Umschweife. „Wir sind gerade mitten in einer Besprechung.“ Sie deutet auf Haymitch Abernathy, der, unbemerkt von den Mentoren aus Vier, in einem Sessel gegenüber der Karrieros sitzt und überhaupt nicht glücklich aussieht. Irritiert sieht Finnick ihn an, doch der Ältere meidet seinen Blick. Stattdessen stiert er in die Tiefen seines Wasserglases, wie in dem Versuch es nur durch seinen Willen in Whiskey zu verwandeln. „Wenn ihr wieder wegen dem Jungen mit uns reden wollt, dann kann ich gleich sagen, dass da nichts mehr zu machen ist“, fährt Cashmere unbeirrt fort. Gloss fügt hinzu: „Ich weiß nicht, was er den anderen Tributen erzählt hat, aber ein Bündnis ist definitiv vom Tisch, so viel ist sicher.“ Enobaria gibt ein eigenartiges Geräusch von sich, halb Lachen, halb Knurren. „Nach allem, was ich hörte, hielt er es wohl für schlau, Cato zu erzählen, dass er nicht so gemein sein solle.“ Ihre Zunge fährt über die spitzen Zahnreihen. „Niemand braucht ein Weichei in den Spielen.“ In Finnick brodelt es, doch er zwingt sich zur Ruhe. „Wir sind nicht wegen Edy hier“, wobei er die Betonung auf den Namen seines Schützlings legt, „sondern wegen Cordelia.“ Das verhilft den Mentoren zu einem kleinen Lächeln. „Ah, nun, das hört sich schon anders an“, entgegnet Cashmere. „Warum setzt ihr euch nicht zu uns? Dann können wir gleich mit Haymitch unser erweitertes Bündnis besprechen.“ Sie schenkt dem Mann einen strahlenden Blick, als wären sie beste Freunde. Der jedoch schnaubt nur. „Ich hab mir euer Gelaber angehört, weil Effie mich dazu gezwungen hat. Der Höflichkeit wegen, oder so.“ Er verdreht die Augen. „Aber jetzt kann ich es euch ja sagen, bevor wir Zeit verschwenden: Katniss wird nicht mit euren Tributen kooperieren, und auch sonst niemandem.“ Mit diesen Worten erhebt er sich leicht schwankend, ob vor Trunkenheit oder Entzugserscheinungen ist schwer zu sagen. Kurz schaut er zu Finnick und Amber hinüber. „Viel Erfolg euch.“ Dann verschwindet er in der Menge, bevor ihn jemand aufhält. Enobaria saugt die Luft durch die Zähne ein. „Sieht so aus, als wenn seinem Prinzesschen nichts gut genug ist. Ihr Verlust, nicht meiner.“ Sie gibt sich größte Mühe nonchalant zu klingen. Trotzdem meint Finnick eine Spur Enttäuschung in ihren Worten zu vernehmen. Ihn überrascht wenig, dass sie mit Distrikt zwölf ein Bündnis eingehen wollten, sondern mehr, dass das Flammenmädchen abgelehnt hat. Nicht viele können es sich leisten, einen derartigen Pakt auszuschlagen. Vermutlich ist sie die Erste aus Zwölf, die jemals dieses Angebot bekommen hat. „Nun“, seufzt Cashmere, „wir haben ja noch Distrikt vier.“ Sie schenkt Amber und Finnick ein gewinnendes Lächeln. „Cordelia erscheint mir ohnehin vielversprechender.“ Sie deutet auf den freien Platz neben Enobaria. „Bitte, setzt euch.“ Die Mentoren aus den Karrieredistrikten geben sich jedes Jahr hart zu überzeugen, so ist es auch diesmal wenig überraschend, dass sie um die Beteiligung von Distrikt vier feilschen. In allen Punkten verlangen sie Vorrang für ihre Distrikte, mehr Anteile an den Sponsorengeldern, mehr Entscheidungsgewalt über die Sponsorengeschenke, mehr Aufmerksamkeit. Wo möglich, zweifeln sie an den Fähigkeiten Cordelias, die sich im Training mittelmäßig schlage. Es ist ein Kampf mit harten Bandagen und Finnick vermisst wieder einmal Mags, die immer ruhig aber bestimmt an ihr Ziel kam. Vermutlich sind es Ambers zornige und dezent übertriebene Worte „Wenn eure Schätze verrecken, dann kann sie ihnen verdammt nochmal den Arsch retten!“, die den Ausschlag geben, doch am Ende besiegeln die Mentoren das Bündnis. Sie vermerken auf ihren Tablets den Zusammenschluss für die Spielmacher. Ein kleiner Sieg, denn der größte Anteil an Geldern ist für Eins und Zwei bestimmt. Trotzdem löst sich die Anspannung in Finnicks Gliedern nicht gänzlich. Er sieht den unsäglichen Geschwistern nach, die sich mitsamt Enobaria an die Bar zurückziehen – um die übrigen Mentoren zu verspotten. Wie jedes Jahr. Einmal mehr hat er Zweifel, ob das Bündnis eine gute Idee ist. „Lust auf eine Runde Training?“, fragt er Amber, um auf andere Gedanken zu kommen. „Bis die Bewertungen verkündet werden ist noch Zeit und ich hab wenig Lust beim Abendessen Ceces Gebrabbel wegen der Interviews morgen zuzuhören.“ Oder an seine Verpflichtungen, gegenüber Leuten wie Titania, erinnert zu werden, schiebt er stumm hinterher. An das Treffen versucht er nach Möglichkeit nicht zu denken. „Klar, warum nicht“, erwidert Amber. „Alles ist besser, als Cece zuzuhören.“ Vor der Halle angekommen tritt ihnen direkt Edmont, der bequemliche Friedenswächter, in den Weg. Finnick hebt grüßend die Hand, doch der sorgenvolle Gesichtsausdruck des Mannes lässt ihn diese gleich wieder senken. „Sorry, ihr beiden, aber... die Techniker sind gerade da drin, ihr könnt da jetzt nicht rein.“ Edmont wirft ihm ein entschuldigendes Lächeln zu, trotzdem tritt er vor und streckt eine Hand in ihre Richtung aus, um zu signalisieren, dass sie keinesfalls einen Schritt näher treten dürfen. Finnick erinnert sich nicht daran, dass der kleine Mann sich je wie ein ernstzunehmender Friedenswächter aufgeführt hat. „Techniker?“, echot er. „Ja, lange Geschichte“, der rundliche Mann ringt die Hände und schüttelt den Kopf. „Tut mir wirklich Leid!“ „Schon gut, schon gut“, beschwichtigt Finnick ihn, um keinen Aufruhr zu erzeugen. „Wir kommen morgen wieder.“ Dennoch traut er sich nicht, Edmont auf die Schulter zu klopfen, wie er es sonst täte. Etwas an seiner Haltung sagt ihm, dass der Mann heute Abend nicht sein Freund ist. Gerade wollen sie umkehren und zu ihrem Apartment zurück, da ertönt hinter ihnen die schnarrende Stimme von Johanna. „Sieht aus als hätten wir alle das Gleiche vor.“ Bevor Edmont erneut die Entschuldigung für das geschlossene Trainingscenter vorträgt, schüttelt Amber den Kopf. „Heute kein Training, heut ist Reparatur angesagt.“ Finnick wendet sich zum Gehen, doch Johanna starrt mit zusammengekniffenen Augen auf die verschlossenen Türen, wie in dem Versuch zu erkennen, was dahinter passiert. „Hm“, grummelt sie verstimmt. Edmont, der sie stumm anfleht, keinen Aufstand zu machen, ignoriert sie. „Wirst du es einen Tag aushalten, nicht deine geliebte Axt zu schwingen?“, stichelt Amber. Die Tatsache, dass Johanna diese Frage schlicht übergeht, ist für Finnick Anzeichen genug, das etwas sie beschäftigt. Langsam folgt sie ihm zurück in die Vorhalle, aber nicht ohne einen letzten Blick zu dem einsamen Edmont zurückzuwerfen. „Reparatur, eh?“ Sie schlüpft vor den beiden in den Fahrstuhl. „Hat wohl einer der Tribute gezeigt, was er von den Spielen hält. Ich hoffe es hat einen Spielmacher erwischt.“ Wie sie es sagt, hört es sich an wie ein brutaler Scherz. Dennoch fragt er sich, ob es nicht Wirklichkeit geworden ist. Immerhin sind die Spielmacher alleine mit den Tributen dadrinnen ... Der Aufzug zischt in halsbrecherischem Tempo nach oben, da fällt Finnick ein, dass er Johanna bisher nicht von Beetees Nachricht berichtet hat. Lieber hätte er es unten im toten Winkel der Halle erledigt, wo er offen reden kann, denn jetzt bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihr etwas Kryptisches an den Kopf zu werfen. Schon nähern sie sich dem vierten Stock. „Ach, Jo, was ich dir noch sagen wollte ... deine Tribute täten gut daran, sich von den gewissen Verdächtigen fern zu halten. Nur so eine kleine Empfehlung, weil ich dich gut leiden kann.“ Bei seinen letzten Worten öffnen die Türen sich schon wieder und Amber steigt aus. Johanna grinst ihn an. „Oh, ich habe immer das Auge offen für potentielle Feinde.“ Hastig hüpft auch Finnick aus dem Fahrstuhl, bevor sich die Türen vor ihm schließen und Johanna nach oben entschwindet. Er hofft, dass sie aus seinen Worten die richtigen Schlüsse zieht. Zumindest scheint sie etwas zu ahnen, sonst hätte sie anders reagiert. Amber wirft ihm einen Seitenblick zu, sagt aber nichts. Gemeinsam betreten sie das Appartement und sie entschuldigt sich in Richtung Wohnzimmer. Finnick dagegen verschwindet in den Flur zu den Zimmern, in Gedanken längst bei einer ausgiebigen Dusche und einem Nickerchen vor der Verkündung der Bewertungen. Er hört das Schluchzen, sobald er den Flur betritt. Nur gedämpft dringt es aus einem der Zimmer, doch er ist sich sofort sicher, dass es Annie ist. Oft genug haben ihre Panikattacken ihn in der Nacht überrascht. Mit wenigen Schritten ist er bei ihrer Zimmertür und klopft sachte dagegen. „Annie?“, fragt er zaghaft. Keine Antwort. Wieder klopft er. Ihre Schluchzer versiegen, aber trotzdem öffnet sie nicht die Tür. Seufzend lehnt er seinen Kopf gegen das Holz. „Darf ich reinkommen?“ Schritte auf der anderen Seite. Einen Spaltbreit öffnet sich die Tür, genug um einen Blick auf Annie zu erhaschen. Sie verbirgt ihr Gesicht hinter einem Vorhang aus Haaren. „Alles gut“, sagt sie leise, doch es klingt verschnupft. „Danach habe ich noch gar nicht gefragt“, stellt Finnick nüchtern fest. „Also, darf ich reinkommen – bitte?“ Wortlos tritt sie zur Seite und lässt ihn ein. Im Zimmer ist es dunkel. Einzig die kleine Schreibtischlampe brennt. Das Chaos offenbart sich Finnick, sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hat. Rund um den Mülleimer liegen zerknüllte Papierfetzen und der Arbeitsplatz ist übersät mit beschriebenen Bögen Papier. Er dreht sich zu Annie um, die mit um sie geschlungenen Armen dasteht. In ihrer rechten Hand hält sie einen abgenutzten Bleistiftstummel umklammert. Der Graphit hat graue Flecken auf der Haut hinterlassen. Sie scheint schon ewig hier zu sitzen. „Was wird denn das hier?“, fragt er, in Richtung der Unordnung zeigend. „Morgen ist doch das Interview“, erwidert sie, „also... muss ich noch die Kondolzenkarten schreiben.“ Mit vorgerecktem Kinn sieht sie ihn an. „Ich werde nicht die Standardsätze schreiben.“ Die Stirn gerunzelt hebt er eine der Seiten hoch, die nicht zerknüllt wurde. In zittriger Schrift stehen dort zusammenhanglose Satzfetzen, alle davon durchgestrichen. An manchen Stellen ist das Papier vom Stift zerrissen worden, oder von Tränen aufgeweicht. Nur grob kann er entziffern, was sie geschrieben hat. Gänsehaut kriecht über seinen Körper und da ist sie wieder, die Angst, die jeden anderen Gedanken verdrängt. Die Befürchtung, dass diese Aufgabe sie brechen wird. „Annie... das musst du nicht tun.“ Ihre Unterlippe beginnt zu zittern und sie beißt sich darauf. „Doch. Ich kann nicht...“ Tränen sammeln sich in ihren Augen, aber sie fallen nicht. „Ich kann nicht einfach irgendetwas schreiben. Dann könnte ich nie wieder in den Spiegel sehen.“ Eine besessene Entschlossenheit glimmt in ihrem Blick, die Finnick als Starrsinn begreift. „Die Karten sind doch völlig egal. Glaubst du sie bedeuten den Familien auch nur einen Deut? Sie sind stetige Erinnerung daran, was ihren Kinder widerfahren ist.“ Er schüttelt den Kopf. „Woran sie sich erinnern, sind die persönlichen Worte von uns, auf ihrer Beerdigung. Wenn sie uns in die Augen sehen, dann wissen sie, was keiner von uns in Worte fassen kann.“ Allein der Gedanke daran scheint Annie zu verängstigen, denn ihr Atem beschleunigt sich und ihre freie Hand wandert zu ihrer Ohrmuschel. Sie schüttelt den Kopf so doll, dass die Haare ihr wieder ins Gesicht fallen. Finnick lässt das Blatt los. Langsam tritt er an sie heran, bloß keine hektischen Bewegungen machend. Leise murmelt sie Worte, die er nicht versteht. Prüfend legt er eine Hand auf ihren Oberarm. Sie reagiert nicht, was ihm ein erleichtertes Aufseufzen entlockt. So ist zumindest besser, als wenn sie anfängt zu schreien oder um sich zu schlagen. Sanft bugsiert er sie zu ihrem Bett und setzt sie hin, falls ihre Beine den Dienst verweigern. Wirr vor sich hinredend rollt Annie sich einem Kätzchen gleich zusammen, den freien Arm um die Knie geschlungen. Normalerweise würde er sich neben sie legen, um sie nicht allein dem Grauen zu überlassen, doch dann fällt ihm die Überwachung wieder ein. Nur mittels seiner Stimme für sie da zu sein ist nicht einfach, vor allem, weil er nicht weiß, ob er überhaupt zu ihr vordringt. Er versucht es mit beruhigenden Worten, von denen jedoch keines den Anfall aufhält. Manche Albträume kann sie nur alleine durchstehen, so sehr er ihr auch helfen will. Um sich wenigstens nützlich zu machen, geht er zu ihrem Schreibtisch und sammelt die verstreuten Zettel ein. Fein säuberlich stapelt er die Entwürfe auf. Sämtliche zerknüllte Seiten wandern in den vollen Mülleimer. Dann setzt er sich, um darauf zu warten, dass ihre Panikattacke verklingt. Sein Blick fällt auf den Packen Kondolenzkarten. Die eigenen hat er längst abgegeben, beschrieben mit denselben Mustertexten wie die Jahre zuvor. Er greift nach der obersten Karte, die ihn mit einer schneeweißen Innenseite begrüßt. Nur die Anrede ist schon vorgedruckt, für Edys Eltern. Unbeweglich starrt er auf die leere Seite, ehe die Neugier ihn überwältigt und er nach einem von Annies Entwürfen greift, der nicht zerstört wurde. Worte können nicht ausdrücken, wie groß mein Bedauern über den Verlust von Edy ist. Ihr Sohn hat nicht verdient, was ihm widerfahren ist. Die Erinnerung an ihn, an seine Güte und Unbeschwertheit, wird uns immer bleiben. Sie wird mich jeden Schritt meines Weges begleiten - An dieser Stelle hört der Text abrupt auf und neue Zeilen folgen. Ihr Sohn war ein wundervoller Mensch. Er hätte zurückkommen müssen und nichts bedauere ich mehr, als mein Versagen. Die nachfolgenden Sätze sind von feuchten Tropfen zerflossen. Beim Anblick der vielen Zeilen auf der Suche nach Wahrheit wird ihm klar, dass sie hundertfach versucht hat ihr gesamtes Empfinden auf die kleinen Karten zu reduzieren, nur um immer wieder zu scheitern. Für manche Gefühle gibt es kein richtiges Wort und nicht einmal ein ganzes Buch wäre je genug. Es ist Irrsinn, danach zu suchen. Mitunter hilft es nur, das Gefühl gehen zu lassen, um sich selbst zu schützen. Vielleicht, überlegt Finnick, ist er abgestumpft, nachdem er die Karten so oft geschrieben hat. Aber es hält ihn über Wasser, keine Gedanken daran zu verschwenden. „Annie?“, fragt er, laut und deutlich, in die plötzliche Stille des Raumes hinein. „Finnick?“, kommt es heiser zurück. Sie sitzt auf der Bettkante, die Knie ans Kinn gezogen, und späht ihn unter den langen Haaren hindurch an. Wo sie die Hand aufs Ohr gepresst hat, ist ein roter Abdruck zu erkennen. Für einen Moment sehen sie einander stumm an. Dann deutet er auf das Blatt in seiner Hand. „Jede einzelne Zeile ist schon mehr als genug. Lass dich davon nicht auffressen. Ich bitte dich.“ Er geht zurück zum Bett, kniet sich vor ihr auf den Boden. „Es darf dich nicht dein Leben kosten. Bitte, Annie.“ Mit seinen Händen umfasst er die ihren und drückt sie fest. „Wir brauchen dich noch.“ Eigentlich meint er „Ich brauche dich“. Jetzt fallen die Tränen ihre Wangen herab, auf ihre umschlungenen Finger. Der Bleistift, den sie umklammert, bohrt sich schmerzhaft in Finnicks Handfläche, aber er ignoriert es. „Du musst einen Kompromiss machen, sonst treibt es dich in den Wahnsinn.“ Nickend weist er in Richtung Schreibtisch. „Du hast genug wundervolle Zeilen gefunden, um die beste Kondolenzkarte aller Zeiten zu schreiben. Das kannst du mir glauben, ich habe genug gesehen.“ „Was hast du damals auf meine Karte geschrieben?“, fragt sie ihn unvermittelt und ein Gefühl, einem Elektroschock gleich, durchzuckt Finnick. Alle aufmunternden Worte sind aus seinem Kopf verschwunden. Sein Mund wird trocken. Stammelnd versucht er die Frage zu beantworten. „Das kann ... nein, Annie, das solltest du nicht wissen. Wirklich nicht.“ Er will ihr in die Augen zu sehen, aber sie wendet sich ab. „Versteh doch, das würde nichts ändern“, fleht er. „Ich dachte nur du könntest nachempfinden, wie ich mich fühle“, stößt sie hervor. Fester noch als eben drückt er ihre Hände. „Das tue ich, mehr als du dir vorstellen kannst. Nur muss ich auch versuchen, dich vor dir selbst zu bewahren. Es ist eine der härtesten Lektionen als Mentorin.“ In einer stummen Entschuldigung streicht er ihr über den Handrücken. „Lass uns die Karten beschriften, ja? Ich helfe dir.“ Endlich sieht sie ihn wieder an. „Du bleibst bei mir?“, fragt sie, die Stimme so heiser, dass sie kaum vernehmbar ist. „Natürlich.“   Nachdem alle elf Karten beschriftet sind, ist Annie soweit beruhigt, dass ihr Atem wieder ruhig und stetig ist. Vor der Verkündung der Bewertungen frischt sie sich im Badezimmer auf, ehe sie an Finnicks Seite in das Wohnzimmer zurückkehrt, wo das ganze Team auf sie wartet. Cece strahlt die beiden erfreut an, als sie den Stapel Kondolenzkarten überreichen. „Wunderbar, endlich einmal alles zur rechten Zeit bereit“, flötet sie gutgelaunt und stopft die Karten in ihre Handtasche, bevor die Tribute einen Blick darauf erhaschen. „Schnell, setzt euch, es geht gleich los!“ Sie zupft an einer herabhängenden orangeroten Locke und zwirbelt diese um ihren Finger. „Ach, ich bin ja so gespannt wer dieses Jahr die Bestenliste anführt!“ Ihre Begeisterung findet kaum Widerhall im Rest des Teams. Edy und Cordelia selber sind weiß wie die Wand hinter ihnen. Lange müssen sie nicht zittern, denn schon erscheint das goldene Siegel des Kapitols auf dem riesigen Fernseher. Die Hymne erklingt und aus dem Augenwinkel sieht Finnick, wie Cece still mitsingt. Caesar und Claudius machen sich aufgeregt daran, die Tribute ein weiteres Mal kurz vorzustellen und dann ihre Bewertungen zu verkünden. Wie erwartet hagelt es hervorragende Noten für die Karrieros. Erst Distrikt drei dämpft die Begeisterungen der Moderatoren, bevor es weiter zu Edy geht. „Edy, die Überraschung aus Distrikt vier“, tönt Flickerman aus dem Fernseher. In Finnicks Brust schlägt das Herz schneller. „Noch so jung und schon freiwillig, aber kann er die Erwartungen auch erfüllen?“ Angespannt sitzen sie allesamt da, den Blick auf die Leinwand geklebt. „Hier haben wir, meine Damen und Herren... Acht Punkte!“ Jubel verschlingt die nachfolgenden Worte des Moderators. „Großartig Edy!“, übertönt Cece alle anderen. „Das ist mein Distrikt vier!“ Doch schon fährt Amber ihr mit einem harschen „Pssshh“ dazwischen. „Cordelia ist an der Reihe!“ Pikiert sieht die Betreuerin sie an, lässt sich dann aber wieder in ihren plüschigen Sessel sinken. „Wir haben es hier sicherlich mit einer zielstrebigen jungen Frau zu tun, ohne Frage Claudius. Aber kommen wir zu ihrer Bewertung. Das sind... ebenfalls acht Punkte!“ Niemand kann Cece mehr zurückhalten. Überglücklich stürzt sie sich auf die beiden Tribute und drückt sie an sich. Finnick erhascht nur einen kurzen Blick auf Edy, dem langsam die Farbe in die Wangen zurückkehrt. Zaghaft zieht er die Mundwinkel nach oben, scheinbar überrumpelt, dass er es geschafft hat, die Spielmacher zu überzeugen. Endlich zerstreut sich Finnicks Anspannung. Zweimal acht Punkte, das hilft. Ausatmend fällt er in die weichen Kissen, doch etwas Piksendes lässt ihn sogleich wieder nach vorne schnellen. Er greift hinter sich und zieht ein Sofakissen aus seinem Rücken. Grinsend stellt er fest, dass es das von Cordelia Zusammengeflickte ist, ihr Patient Null. Vor lauter Absurdität würde er am liebsten lachen. Auf dem Fernseher läuft die Verkündung der Bewertungen weiter. Jetzt, wo er sich keine Sorgen mehr um die eigenen Schützlinge macht, ziehen die übrigen Noten an Finnick vorbei. Große Überraschungen sind ohnehin nicht dabei. Cece lässt eine Flasche Champagner herbei bringen und nestelt umständlich mit ihren langen Fingernägeln am Korken herum. Aber natürlich ist es nicht vorbei, bis die letzten Noten verkündet sind. Und in diesem Jahr sind die übrigen Distrikte nicht wie sonst arme Kinder mit bleichen Gesichtern voll Todesangst. Auf ihre Bewertungen ist er daher ebenso gespannt. „Für Thresh gibt es... zehn Punkte!“, donnert Flickerman endlich. Finnicks Blick gleitet zu Amber hinüber, die eine Augenbraue hebt. Zehn. Das Kapitol weiß genau, was sie tun. Sie machen ihn zu einer Zielscheibe für die Karrieros. „Kommen wir nun zu Distrikt zwölf...“ Der Junge bekommt eine Acht, die erste Überraschung. Er hat weniger Eindruck als das Mächen hinterlassen, obwohl auch er in Flammen stand. Ihre beiden Tribute merken ebenfalls, dass bei den Bewertungen etwas vor sich geht. Jene vorsichtige Freude, die Edy eben zeigte, verschwindet wieder von seinem Gesicht. Gebannt starrt er auf die hohen Punktzahlen seiner Konkurrenten. Caesar Flickerman verkündet gerade die Note des Flammenmädchens, da ertönt ein durchdringender Knall. Schreiend lässt Annie sich auf den Boden fallen, Köpfe drehen sich zu ihr herum. Cece steht schuldbewusst dreinblickend in der Ecke, die schäumende Champagnerflasche in der Hand. Finnicks Augen aber sind nach wie vor auf den Bildschirm geheftet. Groß schimmernd erscheint dort die Elf. Niemand außer ihr hat elf Punkte. Während seine Gedanken sich überstürzen, beugt er sich zu Annie herab, die panisch ihre Hände auf die Ohren presst. Beruhigend redet er auf sie ein, bis der Anfall ihren Körper verlässt. Sobald sie sich wieder beruhigt hat, ist das Programm vorbei, die Elf fort und Cece schenkt allen Champagner ein. Doch die Freude über die gute Bewertung ist für Finnick längst verflogen. Wenn Distrikt dreizehn keinen Gedanken an die Tribute aus Zwölf verschwendet, so befürchtet er, dass dies ein Fehler wird. Elf Punkte erringt man nicht alleine durch körperliche Stärke. Ob es etwas damit zu tun hat, weswegen Edmont sie nicht ins Trainingscenter lassen konnte? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)