Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 1: Von Salz und Muscheln -------------------------------- Eine seichte Brise weht über die anwesende Trauergesellschaft. In der Ferne hört man das Meer rauschen und über uns kreischen die Möwen. Die Flagge Panems wellt sich im Wind um jedem Anwesenden das herrschaftliche Siegel unseres Landes zu präsentieren. Wir stehen auf einer weiten Salzwiese am Rande des Distrikts, an einer Klippe über dem Meer. Vor uns steht Bürgermeister Southshore auf einem hölzernen Podest, direkt über einem frisch ausgehobenen Grab. Mit weit ausgebreiteten Armen spricht er zu den Anwesenden – uns Siegern, der Eskorte aus dem Kapitol und allen übrigen Trauernden aus dem Distrikt. Wir Sieger stehen eng beieinander, endlich wieder vereint – wenn auch einer mehr in diesem Jahr. Das hellrote Haar von Riven schimmert unter ihrer goldenen Krone. Als einzige von uns steht sie oben auf der Bühne neben dem Bürgermeister. Ihr Gesicht wirkt leer, auch wenn ihre Augen gerötet sind. Neben mir steht Mags, ihre runzlige Hand fest in meiner. Doch auch Finnicks Nähe spüre ich, ruhig wie ein Fels in der Brandung hinter mir. „Eric hat mit seinem Mut bewiesen, dass wir aus Distrikt vier im wahrsten Sinne des Wortes mit allen Wasser gewaschen sind. Sein Einsatz für unseren Distrikt wird immer unvergessen bleiben. Seine Tapferkeit möge zukünftigen Tributen eine Lehre sein. Die Geschichte seines ehrenhaften Kampfes wird auch noch die, die nach ihm kommen inspirieren in der Arena zu einem Helden zu werden um Ruhm und Ehre für seinen Distrikt zu erringen. Heute wollen wir seinem Heldenmut gedenken und ihm größte Ehre zuteil werden lassen.“ Leises Schluchzen füllt die Stille. Neben dem Grab steht Erics Familie an seinem Sarg, in ihre beste Klamotten gekleidet. Sowohl seine Mutter als auch sein Vater sind schmächtige Fabrikarbeiter. Selbst ihre beste Kleidung ist mit geflickten Löchern versehen. Ein älteres Mädchen, seine Schwester, steht mit versteinertem Gesicht neben ihnen, während die Eltern einander weinend in den Armen halten. Southshore blickt sie nicht einmal an, als er seine Rede beendet. „Auf Eric Keenway, Tribut der 73. alljährlichen Hungerspiele! Möge die See deine Seele hüten!“ Murmelnd wiederholen wir Anwesenden die letzten Worte. Vier Friedenswächter ergreifen den Sarg, dessen polierte Oberfläche in der Sonne glänzt. Die festliche Flagge Panems ist darüber gespannt und darauf wiederum ist eine einzige weiße Rose festgesteckt , wie eine letzte Erinnerung daran wer seinen Tod zu verantworten hat. Sie lassen seinen Sarg hinab in das Erdloch, während im Hintergrund die Hymne gespielt wird. In der Tat ist es so etwas wie eine Ehre auf dem Friedhof beerdigt zu werden. Ein solches Begräbnis kann sich nicht jede Familie leisten, vermutlich auch Erics eigentlich nicht. Nur die Wohlhabendsten aus Distrikt vier können sich einen Sarg und Grabstein leisten. Die meisten werden verbrannt und anschließend auf dem Meer verstreut, ohne eine einzige Erinnerung an ihr Leben zu hinterlassen. Nur die gefallenen Tribute und verstorbene Sieger werden noch hier beerdigt – großzügig gesponsert von dem Kapitol. Nicht einmal im Tod lässt das Kapitol uns vergessen wer die Macht hat. Sobald der Sarg im Grab verschwunden ist schreitet Erics Familie vorwärts. Jeder von ihnen streut eine handvoll Salz herab in sein Grab. „V-vielen Dank, Bürgermeister Southshore“, sagt die Mutter unter Tränen zum Podest gewandt. „Ich bin mir sicher unser Eric… er hätte sich bestimmt geehrt gefreut.“ Immer mehr Tränen strömen über ihr Gesicht als sie sich an ihren Mann klammert. „Er hat so große Träume gehabt“, fährt sie fort, „e-er wollte…“ Doch ihre Worte versiegen als die Tränen erneut die Überhand gewinnen. Stattdessen tritt die Schwester vor, ihre Miene immer noch unbeweglich. Kaum merklich verändern die Friedenswächter ihre Haltung. „Was meine Mutter sagen will“, erklärt sie mit erstaunlich fester Stimme, „ist, dass Eric mehr war als nur ein mutiger Tribut. Er war ein herausragender Koch und-“ „Ah ja, meine Liebe, selbstverständlich war Eric ein wunderbarer Junge“, unterbricht der Bürgermeister sie, „und ich bin mir sicher, dass ihr sein Andenken bewahren werdet. Seine Geschichte wird man sich noch in Jahren zur Inspiration erzählen. Leider neigt unsere Feier sich dem Ende zu und wir haben, fürchte ich, keine Familienrede vorgesehen. Aber wir werden uns an seine Geschichte erinnern.“ Erics Mutter legt ihrer Tochter eine Hand auf den Arm und diese schluckt ihre Worte hinunter. Mit gesenktem Kopf sagt sie: „Natürlich, Bürgermeister. Vielen Dank für ihre Worte.“ Damit sind wir an der Reihe unsere Ehre zu erweisen. Jeder nehmen wir eine handvoll Salz aus dem Behälter neben dem Sarg, um es auf den Sarg herab rieseln zu lassen. Von fern ertönt Glockengeläut aus der Stadt, zu Ehren Erics. Für einen Moment trifft mein Blick den von Erics Schwester. Beschämt wende ich mich ab. Ich erinnere mich kaum an ihn. Das einzige Bild was ich von ihm vor Augen habe ist das eines großen 18-jährigen, der sich selbstsicher bei der Ernte freiwillig meldet. Blonde Haare und kräftig gebaut, das Musterbild eines Karrieretributes aus der Akademie. Nichts weiß ich über ihn, habe ihn nie kennengelernt. Meine Trauer fühlt sich nicht echt, nicht berechtigt an. Nach uns treten Riven und Bürgermeister Southshore an das Grab. Auch sie streuen ihre handvoll Salz herab. Erst jetzt kommen Riven die Tränen. Stumm laufen sie ihre Wangen herab. Sie scheint die Zähne fest zusammen zu beißen als sie vom Grab zurück tritt. Den Blick auf Erics Familie vermeidend reiht sie sich bei uns als wir aus dem Weg treten um dem Rest der Trauergesellschaft Platz zu machen. Einige aus der Akademie sind erschienen, allesamt ehemalige Trainingspartner oder Ausbilder. Keiner von ihnen vergießt eine Träne. Nacheinander werfen sie das Salz hinab bis der Sarg bedeckt ist. Erst dann schaufeln die Friedenswächter Erde hinein. Am Ende erinnern nur ein Hügel frischer Erde und ein silberner Grabstein an Eric Keenway, den Jungen aus den 73. Hungerspielen, der als viertletzter starb, getötet von einem Jungen aus Distrikt fünf. Die Glocken verklingen, während die Leute sich langsam verstreuen. Insbesondere der Bürgermeister scheint es eilig zu haben den Friedhof zu verlassen. Auch Riven stürzt förmlich von dannen, begleitet von Mags und den übrigen Mentoren – bis auf Finnick. Zum Abschied tätschelt Mags sacht meine Hand. „Sie braucht uns jetzt.“ Ehe ich mich versehe sind Finnick und ich die Einzigen auf dem Friedhof, abgesehen von Erics Familie. Doch diese haben sich in einem engen Kreis zusammen gestellt ohne uns weiter zu beachten. Finnick lächelt mich sanft an. Mit einer Hand wischt er die Tränen von meinen Wangen. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass ich geweint habe. „Hast du heute wieder Morfix genommen?“, fragt er leise, seine Stimme warm und zeitgleich doch traurig. So viel ungesagtes schwingt in seinen Worten mit. Ich greife nach seiner Hand an meiner Wange, ehe ich nicke. „Ohne hätte ich das nicht durchgestanden.“ Traurig blicke ich ihn an. Meine Stimme ist immer noch heiser von dem Tag des Finales. Er seufzt, doch es ist kein Vorwurf an mich. Wir wissen beide, dass es an manchen Tagen nicht ohne das Medikament geht das meine Gedanken vernebelt und mir für ein paar Stunden Sorglosigkeit verspricht. Eines Tages vielleicht, doch heute ist es nicht so weit. „Ich bin so stolz auf dich. Isla hat mir erzählt wie gut du dich geschlagen hast während ich weg war. Ganz ohne Morfix beim Finale, das ist schon ein Sieg für uns.“ Zögerlich zieht er mich in eine Umarmung. Er drückt mich fest, aber dann löst er sich schnell wieder. Es darf uns keiner so sehen, das ist die erste Regel. So schwer es auch ist, doch es darf niemand wissen was wir füreinander empfinden. Solange unsere Liebe geheim ist kann sie auch keiner als Waffe gegen uns einsetzen. Dennoch sehne ich mich danach ihn festzuhalten, ihn nie wieder gehen zu lassen. Anders als Mags sagt wird es mit jedem Mal schwerer ihn wieder ins Kapitol gehen zu lassen sobald sie nach ihm rufen. Ich weiß nie, wann ich ihn wiedersehen werde. Was mit ihm passiert. Ob es ihm gut geht oder seine Ängste ihn quälen. Die Ungewissheit ist manchmal schlimmer zu ertragen als die Geister meiner Vergangenheit. „Du willst bestimmt noch die anderen besuchen, nicht wahr?“, ruft er mich leise zurück in die Gegenwart. Ich nicke. Es ist nicht nur die Beerdigung des für mich unbekannten Tributs heute, wofür ich das Morfix brauche. Eng beieinander, doch ohne Hände zu halten, wandern wir die Reihe an Gräbern entlang. Vier weitere Tribute aus den Jahren nach meinem Sieg liegen dort beerdigt. Auf den Gräbern wachsen kleine, knotige Pflänzchen mit weißen Blättern und auf einigen stehen Grablichter. Nicht unweit von Erics frischem Grab liegt es auch schon, das Grab von Pon Amberson. Mein kleiner Mittribut liegt hier begraben. Er ist nicht der ruhmreiche Karrieretribut welcher freiwillig in den Tod gegangen ist, sondern ein zwölfjähriger Junge der starb weil er der falschen Person vertraut hat. Und weil ich ihn nicht beschützen konnte. Ein weiterer silberner Grabstein mit der schlichten Inschrift Pon Amberson – Tribut der 70. Hungerspiele ist das Einzige was an ihn erinnert. Ich lasse mich auf die Knie sinken. Finnick bleibt neben mir stehen und beobachtet wie Erics Familie den Friedhof verlässt. „Hallo Pon“, flüstere ich. Ich hole tief Luft, den Blick gen Himmel gerichtet. „Schon wieder ist ein Jahr um. Ich hoffe du verzeihst mir, dass ich nicht öfter da war.“ Ich schlucke gegen den Kloß an der sich in meinem Hals bildet. „Dieses Jahr gibt es wieder eine Siegerin.“ Unwillkürlich frage ich mich, wie oft ich wohl noch hierher kommen werde um Pon dies zu erzählen. An wie vielen Gräbern werde ich in ein paar Jahren vorbei gehen müssen? Meine Hände fangen an zu zittern. Finnick legt mir eine Hand auf die Schulter ohne etwas zu sagen. Ich richte meinen Blick wieder auf das sprießende Grün vor mir. Fahrig rupfe ich ein wenig Unkraut weg von den Salzpflänzchen, ehe ich weiter sprechen kann. „Zuhause im Garten wächst alles wunderbar. Erst vor ein paar Tagen haben wir Erdbeeren gepflanzt. Die würdest du bestimmt mögen…“ Eine Weile erzähle ich so weiter, von dem Garten und allem was in letzter Zeit so in Distrikt vier vor sich ging. Zum Abschied streiche ich über den Grabstein, kalt unter meinen Fingern. Es sind erst drei Jahre die Pon tot ist, doch es fühlt sich an wie eine kleine Ewigkeit. „Ich vermisse dich.“ „Ich auch“, ergänzt Finnick, „wir alle.“ Kurz drehe mich zu ihm um und drücke seine Hand. Ich weiß, dass es ihm nicht so leichtfällt mit einem Toten zu reden wie mir. Sein Blick gleitet geistesabwesend über die Reihe an Gräbern. Es ist nicht nur Pon den er vermisst, das wird mir wieder einmal schmerzlich bewusst. „Pass gut auf Eric auf, ja?“, füge ich noch hinzu. Vielleicht ist es kindisch so mit ihm zu reden, doch es hilft. Jedes Wort laut auszusprechen macht es ein Stück weit erträglicher. Als würde er mir immer noch zuhören. Erneut laufen die Tränen über mein Gesicht. Pon verdient jede einzelne von ihnen. Er war so jung und unschuldig, es hätte ihn einfach nicht treffen dürfen. Nur schweren Herzens kann ich aufstehen. „Auf wiedersehen, Pon.“ Langsam gehen Finnick und ich weiter durch die Reihen der Gräber. Er sagt nichts, doch ich weiß, dass auch er in Gedanken bei den verstorbenen Tributen ist. Bevor ich in sein Leben trat hat er nie den Friedhof besucht, das hat er mir erzählt. Die Angst vor den Erinnerungen an die Spiele war zu groß. Wenn er die Gräber nicht gesehen hat, so hat er es mir gesagt, dann sei es als wenn sie vielleicht nie gestorben wären. Er konnte es schlichtweg nicht ertragen, diese Endgültigkeit des Friedhofs. Merkwürdig, denke ich, dass mich der Friedhof nicht ebenso beunruhigt. Die Beerdigung eines Tributs ist unerträglich, der Anblick der verzweifelten Eltern am Grab ihres Kindes, die Erinnerung an Snow und das Kapitol. Doch der Friedhof, menschenleer so wie jetzt, hat etwas eigenartig tröstliches. Eventuell rede ich mir aber auch nur ein, dass die Tribute hier unter den Salzblumen Frieden gefunden haben, weit weg vom Kapitol und mit dem Rauschen des Meers als Kulisse. Wir erreichen das Ende der Reihe und stehen jetzt vor einer Art Schrein direkt an der Klippe. Eigentlich ist es nur ein knorriger alter Baum, gekrümmt von Wind und Wetter. An seinen dicken Ästen jedoch hängen unzählige Muschelschalen, an bunten Bändern um die Äste geknotet. Manche sind von der Sonne bereits ausgeblichen, andere noch frisch. Von wieder anderen ist nichts als das zerfledderte Band übrig geblieben. Jede Muschel ist ein Wunsch für einen Verstorbenen, aufgehängt von Familie oder Freunden. Mitunter sind Worte auf die rosige Innenseite der Schale geschrieben oder geritzt. Da niemand sonst in Sicht ist treten Finnick und ich Hand in Hand unter den Baum. Ein leichter Windstoß fährt zwischen die Äste und bringt die Muscheln zum Klirren. Mir fährt ein wohliger Schauer über den Rücken aufgrund des vertrauten Geräusches. Der Muschelbaum ist eine Erinnerung an all jene die kein Grab auf dem Friedhof haben. Egal ob reich oder arm, hier kann jeder seine Muschel aufhängen. Direkt unterhalb der ausladenden Äste bleiben wir stehen. Ich blicke hinauf in das Geäst. Unzählige Muscheln schwingen über mir im Wind hin und her. Es ist schwer eine einzelne auszumachen, doch ich meine zu erkennen, dass die letzte die ich im vorigen Jahr für meine Familie aufgehängt habe bereits verschwunden ist. Wenn eine Muschel verschwunden ist, so heißt es im Distrikt, dann hat der Wunsch die Toten erreicht. Ich greife in meine Tasche und ziehe eine frische Muschel heraus. Erst an diesem Morgen habe ich sie am Strand gefunden, weswegen der Geruch des Meeres ihr immer noch anhaftet. Ein fröhliches gelbes Band ist durch ein kleines Loch an der Oberseite gefädelt. „Hebst du mich hoch?“, frage ich Finnick. „Na klar.“ Er umfasst mich an der Taille und hebt mich vorsichtig hoch, bis ich die unteren Äste erreichen kann. Mit flinken Fingern knote ich das Band dreimal zusammen. Drei Knoten für das Glück, wie es die Tradition will. Einen Moment halte ich inne, die Hände um die Muschel geschlossen. Die Augen geschlossen denke ich an meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder und schließlich an David. Alle meine Menschen, die ich geliebt und verloren habe. Zuerst meine Mutter an die Grippe als ich klein war, dann meinen Vater an einen Hochseeunfall und schließlich sowohl David als auch meinen kleinen Bruder in einem Brand. Doch mindestens am Tod meines Vaters hat das Kapitol Schuld. Mein Vater wäre nicht gestorben, hätte ich mich nicht Präsident Snow widersetzt. Hätte ich Maylin aus Distrikt zwei getötet, dann wäre er heute vielleicht noch da. Doch er hatte einen mysteriösen Unfall auf hoher See, an dessen Folgen er gestorben ist. Weil ich es nicht in mir hatte Maylin zu töten, die Tributin mit rebellischem Gedankengut. David, mein Freund aus Kindheitstagen und später auch mehr als das, die Person die ich liebte – oder doch nur zu lieben glaubte, ist hingegen in einem Feuer in der Fischfabrik in der er arbeitete verbrannt. Auch mein damals erst siebenjähriger Bruder, der ihn nur in der Mittagspause besucht hatte, ist dabei umgekommen. Vielleicht eine sinnlose Strafe für mein Überleben in den Spielen, vielleicht aber auch nur ein grausamer Zufall. Wahrscheinlich werde ich es nie mit Gewissheit sagen können. Ich blinzle die Tränen fort. Wir sind nicht im Guten auseinander gegangen, David und ich. Er konnte nicht verstehen warum ich bereit gewesen wäre mein Leben für Pon zu opfern. Dennoch hat sein Tod mich tief getroffen. Ich habe davon erst erfahren kurz bevor ich aus dem Kapitol zurück nach Distrikt vier gebracht wurde, als frischgebackene Siegerin der Hungerspiele. Anders als für Riven in diesem Jahr stand bei meiner Ankunft keine Familie am Bahnhof um mich überglücklich willkommen zu heißen. Meine Familie sind jetzt die anderen Sieger. Bis ich eines Tages im Tode wieder vereint werde mit meiner Familie passen sie auf mich auf. Von meiner Familie fliegen die Gedanken so auch zu den anderen toten Tributen aus meinen Hungerspielen. Insbesondere zu Aramis, meiner ehemaligen Verbündeten. Auch sie möchte ich in meine Wünsche einschließen. Vermutlich hat sie irgendwo in Distrikt zehn ein Grab, doch das werde ich nie sehen. Ohne sie würde ich vermutlich heute nicht hier stehen. Wo auch immer sie jetzt alle sind, ich hoffe inständig es geht ihnen gut. Ich gebe meiner Muschel einen kleinen Kuss. Sanft setzt Finnick mich wieder auf der Erde ab. Für einen Moment hält er mich einfach so fest. Die Wärme seiner Arme spendet mir Geborgenheit. Ich lehne meinen Kopf an seine Brust und fühle mich als würde ein Sonnenstrahl mein trauriges Herz wieder erwärmen. Am liebsten würde ich ihn hier festhalten, doch er löst sich vorsichtig, aber nicht ohne mir vorher ins Ohr zu flüstern. „Ich liebe dich.“ Seine Stimme ist schwer mit unausgesprochenen Gefühlen. Seufzend streiche ich ihm über den Rücken. Werden wir je aufrichtig nebeneinander stehen können ohne Angst haben zu müssen unsere Gefühle zu zeigen? Vermutlich nicht. Er ist schließlich der Darling des Kapitols, der Traum vieler Frauen und eine Gallionsfigur der Hungerspiele. Finnick Odair, der jüngste Sieger in der Geschichte. Ihm liegt das Kapitol zu Füßen – solange er nach ihren Regeln spielt. Und ich bin nur Annie Cresta, die durch mehr Glück als Verstand überlebt hat, ihren Verstand verloren hat und die sich einfach nur von einem Tag zum nächsten kämpft. Seine Liebe zu mir verstößt gegen alle Regeln des Kapitols. Lieber liebe ich jedoch in Angst als gar nicht zu lieben. Jede gestohlene Stunde zusammen mit Finnick ist mehr wert als alle Reichtümer im Kapitol. Jetzt ist Finnick an der Reihe und knotet seine Muschel an einen Ast. Für einen Moment verharrt auch er in Gedanken an seine Familie und alle die er noch verloren hat. Ich weiß, dass er schon lange ein Waise ist, schon vor seinen Spielen. Wir reden nicht oft darüber, denn manchmal ist es einfacher die Vergangenheit ruhen zu lassen. Nur in den frühen Morgenstunden, wenn die Welt stumm und noch in den Schleier der Nacht gehüllt ist, dann reden wir mitunter über die Albträume. Auf eine eigenartige Art und Weise fühlt es sich in diesem Zwischenstadium von Nacht und Tag an als wären die Dinge weniger real, was es einfacher macht darüber zu sprechen. Vielleicht sind wir Sieger einfach nicht dafür gemacht eine Familie zu haben, denke ich. Gebrochen und kaputt gibt es niemanden außer den anderen Siegern der wirklich unser Leid versteht. Wir sind gefangen in unserer eigenen Welt von blutbefleckten Träumen, grausamen Schmerzen und dem Drang nach Vergessen. Ich fasse Finnick wieder bei der Hand. Falsch, denke ich, wir sind nicht ganz ohne Familie. Wir sind jetzt eine Familie. Über uns klappern leise die Muscheln im Geäst als wäre es Musik. Zaghaft hebe ich meine Stimme. Die Erinnerung an das alte Lied füllt mich aus als die Worte über meine Lippen schweben. Tief unten, Im Meer, Im bunten Riff, Wer lebt dort wohl? Es ist die kleine Meerjungfrau In ihrem Muschelsplitterhäuschen Sieh, Wie sie mit den Wellen schwimmt Mit den Wellen schwimmt Hör, wie lieblich sie singt Sie singt Ein kleines Wunder sie ist Sieh, Wie ihr Haar schimmert Ihr Haar schimmert Hör, Wie klar ihre Stimme ist Ihre Stimme ist Ein kleines Wunder sie ist Tief unten, Im Meer, Im bunten Riff, Dort lebt die kleine Meerjungfrau Sie schwimmt mit den Wellen Mit den Wellen Ewig.   Ich habe keine besonders schöne Singstimme und noch dazu ist es das einzige Lied was ich vollständig kenne. Es ist ein altes Seemannslied aus Distrikt vier, das meine Mutter mir beigebracht hat. Vielleicht gerade deswegen fühlt es sich richtig an es zu singen. Mein und Finnicks Blick treffen sich als die letzten Töne verklingen. Tränen schimmern in seinen unfassbar grünen Augen. „Hab ich so schlimm gesungen?“, frage ich, fast schon überzeugend scherzend, wäre meine Stimme nicht so schwach. Ein breites Grinsen huscht über sein Gesicht. „Ich liebe es wie fürchterlich du singst.“ Nun rollen die Tränen seine Wangen hinab. Er wischt sie nicht fort und wendet auch nicht den Blick ab. „Und die anderen wissen es bestimmt auch zu schätzen wenn du für sie singst.“ Ich lächle zittrig. Die Wirkung des Morfix lässt langsam aber sicher nach und die angenehme Verneblung unerwünschter Gedanken lichtet sich, doch seine Anwesenheit erdet mich. „Danke, dass du das sagst.“ Finnicks tränen-verschleierter Blick wandert gen Meer. „Weißt du, heute wäre ein guter Tag für einen kleinen Ausflug. Unten im Distrikt ist alles in Feierstimmung und die Friedenswächter sind bestimmt noch ganz dusslig von der Siegesfeier gestern. Uns wird schon keiner vermissen.“ Mein Herz schlägt einen Schlag schneller. Den ganzen Tag ohne schlechtes Gewissen mit ihm verbringen? „Meinst du wirklich? Nicht, dass Cece uns nachher suchen lässt…“ Finnick verzieht bei der Erwähnung unserer Betreuerin aus dem Kapitol das Gesicht. Sie ist eine unausstehliche Person mit grell orangenem Haar und mindestens ebenso grellen Manieren, doch leider müssen wir sie jedes Jahr zu den Spielen wiedersehen. Erst heute Abend wird sie zurück in das Kapitol reisen – und hoffentlich erst zur Siegestour von Riven wieder auftauchen. Doch als er mir antwortet glitzert schon wieder der Schalk in seinen Augen. „Oh, darum würde ich mir keine Sorgen machen. Ich glaube der Bürgermeister hat sie heute ganz in Beschlag genommen, die Arme. Bestimmt will er sie heimlich durch die Akademie führen um mit den ganzen potentiellen zukünftigen Siegern zu prahlen. Nein, dieser Tag gehört uns.“ Er lächelt mich an und ich lächle zurück. „Dann nichts wie los.“   Die Sonne erklimmt langsam den Horizont als wir wenig später in unserem einfachen Ruderboot durch die Bucht gleiten. Ruhig rollen die Wellen unterhalb des Boots hinweg. Es verspricht ein klarer Tag zu werden, mit nur wenigen Schleierwolken am Himmel. Das Boot in dem Finnick und ich sitzen ist nur ein kleines hölzernes Bötchen, ein wenig angenagt vom Zahn der Zeit, doch größtenteils intakt. Seinen Rumpf haben wir gemeinsam erst vor wenigen Monaten neu lackiert und so erstrahlt es in einem fröhlichen Ozeanblau. Ich genieße die weite von Himmel und Meer nach der Enge unseres Distrikts und ich ahne, dass es Finnick genauso geht. Nach der langen Zeit im Kapitol muss einem die Weite hier draußen grenzenlos vorkommen. Vorsichtig strecke ich meine Fingerspitzen in das warme Wasser. Von oben betrachtet glitzert das Meer so unschuldig, doch das dunkle Blau der Tiefe, das unter dem Bug dahin zieht lässt, mich immer noch erschaudern. Was könnten sich in der Tiefe nicht alles für Monster verbergen… Messerscharfe Zähne blitzen urplötzlich in meinen Gedanken auf. Ruckartig ziehe ich meine Hand aus dem Wasser. Mit rasendem Herzen schaue ich auf meine Fingerspitzen, doch es sind keine Bissspuren zu sehen. Ich starre auf die sanften Wellen hinaus, mit einem Mal von Angst erfüllt. Die Piranhas sind nicht echt. Sie waren nur eine Schöpfung des Kapitols in der Arena. Es gibt keine Piranhas in Distrikt vier. Ich presse meine unversehrten Händen auf meine Ohren um das laute Rauschen der Wellen auszusperren. „Ich bin nicht unter Wasser. Ich bin nicht unter Wasser. Ich bin nicht unter Wasser. Das Meer kann mir nichts anhaben. Sie können mir nichts anhaben. Ich bin in Sicherheit. Ich bin in Sicherheit, ich kann schwimmen“, murmle ich zu mir selbst. Aber stumme Schreie schleichen sich in meinen Kopf, Hände greifen nach mir und Mäuler voll spitzer Zähne schnappen nach mir. Ich kneife die Augen fest zusammen in der Hoffnung die aufsteigenden Bilder so verdrängen zu können. Natürlich toben sie nur weiterhin hinter meinen Augenlidern. Dann spüre ich sanfte Hände auf meinen Schultern. Eindringliche Worte dringen durch das tosende Wasser um mich. „Annie, bleib bei mir. Bleib bei mir.“ Ich kenne diese Stimme. Finnick! Rasselnd hole ich Luft, es klingt wie der erste Atemzug einer fast Ertrunkenen. „Finnick? Fin, bist du das?“, frage ich überflüssigerweise. „Ja, ich bin bei dir“, er drückt mich noch fester an den Schultern, „ich bin direkt vor dir. Mach die Augen auf und du kannst mich sehen.“ Das Wasser der Arena schwappt noch immer um mich herum und irgendwo unter mir sind blutrünstige Piranhas. Shine aus Distrikt eins ist von ihnen gefressen worden! Es kann nicht sein, Finnick kann nicht bei mir sein. Er ist nicht mit mir in der Arena. Doch seine Stimme dringt weiter auf mich ein. „Die Arena ist vorbei. Du hast bereits überlebt.“ Große Hände legen sich vorsichtig auf meine, die noch immer fest an die Ohren gepresst sind. Etwas warmes berührt meine Stirn, während das Wasser um mich herum mich zu ertränken versucht. Ein Kanonenschuss übertont die nächsten Worte. Saß ich nicht eben noch in einem Boot? Gedanke um Gedanke schlägt über mir zusammen. Die Arena verschwindet aus meinen Gedanken. Zurück bleibt nur noch Angst – und das Gefühl von Händen die mich vorsichtig halten, Atem der über meine Wangen streicht. Die Dunkelheit um mich lichtet sich als ich zaghaft die Lider aufschlage. Mein Blick begegnet denen aus blau-grünen Augen. „Finnick“, hauche ich mit kratziger Stimme, „ist es echt?“ Ich sehe nur sein Gesicht ganz nah vor mir und er schüttelt den Kopf. „Nein, es ist nicht echt“, antwortet er ebenso leise. Ihm würde ich immer vertrauen. Ich lasse meine Hände sinken. Er zieht sich einen Schritt zurück, jedoch ohne mich loszulassen. Natürlich bin ich nicht in der Arena. Ich sitze in einem kleinen Ruderboot, um uns herum ist das Meer von Distrikt vier und über uns scheint die Sonne. Das Wasser um uns herum ist viel blauer als das eisige Grau das mich in der Arena überschwemmt hatte. In der Ferne kann ich bunte Schuppen glitzern sehen als ein Schwarm kleiner Fische vorbei gleitet, ganz ohne messerscharfe Reißzähne. Tief hole ich Luft und spüre wie ein Teil der Angst fortgeschwemmt wird. Die ganze Zeit über beobachtet Finnick mich ruhig. Dankbar schenke ich ihm ein Lächeln. „Es ist nicht echt“, sage ich noch einmal, wie um es mir zu bestätigen. Finnick nickt. „Es ist nicht echt.“ Vor Erleichterung fange ich unkontrolliert an zu lachen. Ungewollt kommt das Gelächter aus meiner Kehle, so erleichtert bin ich überlebt zu haben. Lange hält es jedoch nicht an, denn langsam aber sicher werde ich mir wieder der Realität um uns herum bewusst. Die Angst vor dem Meer war nicht immer da. Sie hat sich erst Wochen nach meinem Sieg zum ersten Mal gezeigt, als ich wieder auf einem Boot stand. Der Anblick von Wasser überall um mich herum hatte die Bilder aus der Arena auftauchen lassen, genauso wie jetzt. Seitdem traue ich mich nur noch in Finnicks Begleitung ans Meer. Umso dankbarer bin ich als vor uns eine dicht bewaldete Insel aus dem Wasser ragt, denn das bedeutet wir haben unser Ziel fast erreicht. Die letzten Meter legen wir schweigend zurück. Finnick rudert und ich sitze da, den Blick auf die unergründliche Weite des Meeres gerichtet. Mit einem sandigen Knirschen streift der Kiel den Strand. Gemeinsam hüpfen wir aus dem Boot in das kaum knietiefe Wasser. Zum Glück ist es glasklar und ich sehe nichts außer feinem Sand und Muscheln. Die letzten Meter ziehen wir das Boot, bis es sicher auf dem Sand liegt. Wir verstecken es hinter einigem Gestrüpp und losen Blättern am Strand. Es ist nur eine kleine Insel etwas vorgelagert in der Bucht von Distrikt vier auf der wir angelandet sind. Ein rostiges Schild steckt im Sand – „Betreten verboten. Zuwiderhandlungen stehen unter Strafe“ heißt es da neben dem Siegel des Kapitols. Aber Finnick weiß aus Erfahrung, dass sich niemand je hierher verirrt. Nicht zuletzt weil man verbotenerweise mit einem Boot vom Festland übersetzen muss. Nur wer die Schleichwege kennt wo man ungesehen von Friedenswächtern rudern kann ist überhaupt in der Lage unentdeckt auf die Insel zu kommen. Wenn ich seinen Geschichten glauben darf, dann hat er das bereits im zarten Alter von 15 Jahren perfektioniert. Die Friedenswächter interessieren sich andererseits auch nicht für die Insel und die verfallenden Häuser darauf, die jetzt vor uns aufragen. Emerald Isle liegt schon lange brach. Einst muss die Insel ein Urlaubsparadies gewesen sein, wenn man sich die heruntergekommenen Häuser so anschaut. Ausladende Häuser mit Säulen aus weißem Marmor, mehreren Stockwerken und Balkonen mit schmiedeeisernen Geländern. Nun sind die Fassaden jedoch fleckig und mit Ranken überwuchert. In den Gärten wachsen wilde Blumen und Sträucher, die Fensterscheiben sind zersplittert und Türen aus den Angeln gerissen. In vielen Häusern haben sich wilde Tiere eingenistet, Vögel und anderes Kleintier. Wo früher reiche Leute aus dem Kapitol Urlaub machten ist nun ein reichhaltiges Paradies für Flora und Fauna entstanden. Ich weiß nicht wie es hier früher ausgesehen haben muss, doch so gefällt es mir in jedem Fall besser. Hand in Hand gehen Finnick und ich den beinahe völlig überwucherten Pfad vom Strand entlang. Die Insel ist schon viele Jahre verlassen, seit den dunklen Tagen und der Rebellion die unser Land für immer veränderte. Seitdem ist niemand von dem Kapitol mehr hierher gekommen um Urlaub zu machen. Doch noch immer gibt es ein weitgehend intaktes Haus auf der Rückseite der Insel. Dieses ist jetzt unser Ziel. Es liegt auf einer kleinen Anhöhe über dem Strand, mit einem atemberaubenden Ausblick auf das Meer. Wir quetschen uns durch das rostige Gartentor, das sich durch den salzigen Wind vom Meer keinen Zentimeter mehr bewegen lässt. Seit unserem letzten Besuch vor den diesjährigen Spielen ist das Gras förmlich in die Höhe geschossen. Ich bin dankbar, dass ich mich heute für eine lange Hose entschieden habe, denn mit den Zecken ist nicht zu spaßen. Die schwere hölzerne Eingangstür ist nur angelehnt. Das macht nichts, denn außer uns kommt niemand hierher. Die meisten in Distrikt vier können sich einen freien Tag nicht leisten, selbst wenn sie den Mut aufbringen sollten hierher zu rudern. In der großen Eingangshalle ist es recht dunkel, nur durch eine Buntglaskuppel an der hohen Decke fallen einige Streifen bunten Lichts in den Raum. Staub tanzt im Regenbogenspiel des Lichts. Eigentlich sollte mir das prunkvolle Haus voller Erinnerungen an das Kapitol Angst machen, doch die Stille und der Verfall beruhigen mich stattdessen. In den stillen Stunden zwischen Nacht und Dämmerung rede ich mir gerne ein, dass Finnick und ich die letzten Menschen einer längst vergessenen Zivilisation sind und hier unseren Frieden gefunden haben. Zumindest für ein paar Stunden kann ich in diesem Glauben verharren. Der Staub kitzelt mich in der Nase und ich muss niesen. Das Geräusch hallt in der großen Halle wieder. Wir haben uns nie groß darum gekümmert die Eingangshalle wohnlich zu machen, doch anders sieht es im Salon aus, den wir jetzt betreten. Einst war dies das Speisezimmer, aber für uns ist es alles in einem. Über die letzten drei Jahre hinweg haben wir verschiedene Sachen nach und nach auf die Insel gebracht. Erinnerungen eines gemeinsamen Lebens das wir nicht wagen oben im Dorf der Sieger zu führen. Dennoch achten wir tunlichst darauf nichts hier zu lassen, dass direkt mit uns in Verbindung gebracht werden kann, sollten die Friedenswächter jemals hierher kommen. Gemeinsam haben wir aus den Überresten alter Möbel neue zusammen gezimmert, mottenzerfressene Vorhänge und Teppiche ausgetauscht. In einer Ecke steht ein einfaches Bett mit handgewebten Decken aus dem Distrikt. Es gibt ein altes Sofa, das zwar etwas muffig riecht, aber dafür umso bequemer ist. Strom gibt es keinen, daher stehen überall Kerzen in angelaufenen Kerzenhaltern aus Gold die wir im Obergeschoss gefunden haben. Nur ein verblasstes Rechteck an der Wand erinnert an den Fernseher der dort einst hing. Stattdessen hängen nun Girlanden aus Tauen und Muscheln an den Wänden, zu aufwändigen Mustern verknotet. Vor den gläsernen Schiebetüren die auf den Strand hinausgehen steht einzig noch der opulente Esstisch aus dunklem Holz. Darauf befindet sich eine zierliche blaue Vase, in die ich bei jedem Besuch neue Blumen aus dem Garten stecke. Es mag nicht viel sein, doch es ist unser Reich. Wir haben hier sogar eine Küche voller glänzender Töpfe, Pfannen und einem großen Kamin. Ursprünglich mag er nur eine Dekoration gewesen sein, oder aber es war schick so einen Kamin zu haben, ich weiß es nicht. Nun jedenfalls nutzen wir ihn zum Kochen wenn wir hier sind. Wir müssen nur aufpassen ihn nicht zu lange anzulassen, damit der Rauch uns nicht verrät. Ich gehe zu den Türen um frische Luft hereinzulassen. Auf der kleinen hölzernen Veranda dahinter steht ein einsamer alter Schaukelstuhl dessen Lack von Wind und Wetter bereits überall abplatzt. Er gehört zu meinen Lieblingsorten auf Emerald Isle. Finnick tritt hinter mich und legt seinen Kopf auf meine Schulter. „Es ist so schön endlich wieder daheim zu sein.“ Ich lehne mich stumm gegen ihn. Vermutlich ist diese alte, halb zerfallene Villa genau das – unser Zuhause. Ausgerechnet ein solcher Kapitol-Prunkbau. Doch das einfache alte Haus indem ich mit meiner Familie gewohnt habe ist nicht mehr für mich da. Davids Familie wohnt noch da, ohne Zweifel, doch ich bin nicht mehr willkommen. Sie scheinen zu spüren, dass ich für seinen Tod verantwortlich bin. Zumindest haben sie mir seit meiner Rückkehr aus dem Kapitol nichts als die kalte Schulter gezeigt. Bevor die Trauer mich erneut überwältigen kann gebe ich Finnick einen flüchtigen Kuss auf die Wange und gehe zurück in den Raum. „Wir sollten ein paar Fische zum Abendessen fangen“, sage ich, „und schauen was im Garten noch so reif geworden ist. Ich glaube einige Knollen Pfeilkraut könnten wir ernten. Ach und die Ableger der Bohnen die ich oben im Dorf gezogen habe sind hoffentlich auch gewachsen.“ Finnick lehnt noch immer im Türrahmen und beobachtet mich wie ich mir ein altes Fischernetz schnappe das über der Lehne des Sofas hängt. Ein leichtes Grinsen umspielt seine Mundwinkel. „Was?“, frage ich irritiert. Er lacht leise und kommt auf mich zu. „Lass uns fischen gehen. Und dann musst du mir unbedingt erzählen was ihr noch alles oben im Garten gepflanzt habt während ich… weg war.“ Wir nutzen den Nachmittag um in der seichten Buch hinter dem Haus einige kleinere Fische zu fangen. Ich traue mich nur dorthin wo das Wasser noch klar ist und selbst dann zucke ich zusammen sobald etwas meinen Fuß berührt. Auch den schlichten handgemachten Speer überlasse ich vollkommen Finnick. Jetzt wo die Wirkung des Morfix endgültig verklungen ist fühle ich mich wieder schwach und ausgelaugt von meiner Panikattacke vorhin. Eine Waffe in die Hand zu nehmen, welche ich in der Arena benutzen musste, würde nur noch mehr Schaden anrichten. Am frühen Abend braten wir die Fische zusammen mit den letzten Knollen vom Pfeilkraut über dem Kaminfeuer. Es ist ein einfaches Mahl, doch es lässt mich glücklich und zufrieden zurück. Während die Sonne untergeht sitzen wir eng aneinander gekuschelt auf der Veranda. „Danke, dass du mich vorhin zurück in die Realität geholt hast“, sage ich leise. Finnick gibt mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. „Bis ans Ende meiner Tage bin ich dein Anker, so wie du meiner bist.“ Als ich später am Abend schließlich in seinen Armen einschlafe sind alle Gedanken an die Verstorbenen längst verblasst. Ich fühle mich endlich nach langer Zeit wieder vollkommen glücklich und geborgen. Fast wünsche ich mir es würde kein Erwachen mehr geben, denn dann wäre dies meine letzte warme Erinnerung an eine Welt die viel zu wenig Liebe kennt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)