Zu den Strömen von Babylon von Encheduanna (eine schier endlose Wandung) ================================================================================ Kapitel 7: Glossar und Tage 33 bis 42 ------------------------------------- Glossar   Ḥalab = Aleppo (am oberen Euphrat / Perat). Eine der bedeutensten, da ältesten Städte des Orients, die sich auf dem Gebiet des ehemaligen Syrien befindet. Bekannt v.a. durch seine Zitadelle (Festung), die bereits seit dem Neolithikum besiedelt war und den über einen Kilometer langen Suq. Beides wurde - zusammen mit anderen Kulturgütern - im Krieg fast vollständig zerstört. Vor der gemeinsamen Zeitrechnung war Ḥalab eine bedeutende Handelsmetropole - eine florierende Stadt.   --------------------------------------------   Tag 33   Wir folgen weiterhin dem Orontes, der durch die Regenfälle teilweise so stark angeschwollen ist, dass er unseren Weg an einigen Stellen vollkommen überschwemmt hat. Die Kasdim wählen dann einen anderen, der uns weit vom Fluss wegführt.   Manchmal kommen wir an Tümpeln vorbei. An einem kleineren Teich machen wir Rast. In ihm wimmelt es von kleinen Fischen. Simche, der seit Stunden schon recht müde wirkte, ist plötzlich hellwach, kniet sich hin, steckt seine kleine Hand ins Wasser und versucht nach den schnell flüchtenden Fischlein zu greifen. Ich bin mir sicher, dass das auch Hannah sehr gut gefallen hätte. Ich lasse mich neben meinem kleinen Bruder nieder. Meine Hand ruht auf seinem Rücken und wenn ich mich vorbeuge, kann ich unser beider Spiegelbild auf der sich kräuselnden Wasseroberfläche erkennen. Mein Bruder ist schmal, fast mager. Ist es die Krankheit, die noch nicht ganz überstanden ist oder die Anstrengung der langen Wanderung? Oder beides? Ich umfasse ihn, damit er nicht ins Wasser fällt und spüre jede seiner Rippen. Er muss noch mehr essen, sonst wird auch er diese Reise nicht durchhalten. In einiger Entfernung sehe ich Jechonja stehen – er blickt zu uns hinüber und ich überlege, ob ich ihn heranwinken soll, lasse es dann aber. Er geht einige Schritte, hält dann inne und senkt den Blick, so als überlege er. Dann geht er weiter. Die Hände hält er dabei auf dem Rücken.   Später beim Essen sitzen wir alle im Kreis. Da es kalt ist, haben wir uns unsere Schlafdecken umgeschlungen und in unsrer Mitte brennt ein Feuer, das auch ein wenig Wärme gibt. Ich sehe mich in unsrer Runde um. Mutter, neben ihr Vater, dann kommen Schimschon, Jochanan, Simche, ich und Jechonja. Wir alle sind müde und erschöpft. Ich mache mir wirklich Sorgen um meine Brüder, aber ganz besonders um Simche, der sehr blass aussieht.       Tag 35   Am Abend erreichen wir wieder einen Hügel, auf dem sich eine uralte Ruine befindet. Ihre Mauerreste ragen in den nächtlichen Himmel. Hier sollen wir nächtigen. Jechonja sagt, dass es sich dabei wohl um Alalach handelt. Auf die Frage, woher er das wüsste, lächelt er nur und sagt, dass er darüber gelesen hätte.   „In Jeruschalajim?“   Er nickt.       Tag 36   Am Morgen weckt mich Jechonja und sagt: „Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“   „Was ist los?“, gähne ich.   „Du wirst erstaunt sein“, entgegnet er und ist schon am Zelteingang. Draußen deutet er auf den Fluss.   „Was?“   „Sieh genau hin.“   Ich tue es und plötzlich begreife ich. Verwirrt sehe ich auf. „Wie kann das sein?“   Jechonja grinst nur.   „Aber wir sind dem Orontes doch die ganze Zeit von Süden nach Norden gefolgt, also von seiner Quelle an bis hierher, wie kann es da sein, dass er …“   „… plötzlich andersherum fließt?“, vervollständigt Jechonja den Satz und grinst mich an. „Na, überleg mal.“   Mit diesen Worten wendet er sich ab, um das Zelt zusammenzubauen. Ich aber bleibe noch einen Moment lang stehen und sehe auf den Fluss, der sich in einem großen Bogen nach Westen wendet und auch nach Westen fließen müsste, stattdessen aber fließt er rückwärts! Ein Rätsel.   Wir verlassen den Orontes nach etwa einer Stunde und wenden uns nach Osten, einem hügeligen Land zu. Unser nächstes Ziel, so teilen uns die Kasdim mit, sei Ḥalab, die alte Hauptstadt des Reiches von Jamchad. Noch heute sei es bewohnt und dort würden wir einige Tage bleiben und neuen Proviant erhalten. Außerdem teilt man uns mit, dass dort das Wachpersonal wechseln würde.   „Aha“, meint mein Vater. „Vielleicht ist das der Grund, warum uns die Kasdim seit Tagen in Ruhe lassen?“   Ich stimme meinem Vater zu, denn in der Tat kam es in den letzten Tagen zu keinerlei Zwischenfällen. Sie lassen uns in Ruhe! Ich bin verwirrt, dass mir das nicht aufgefallen ist. Bin ich schon so blind? Lebe ich schon so sehr im Trott, dass mir das nicht mehr auffällt? Oder ist mir tatsächlich alles einerlei?   Auch am Abend bin ich nicht auf die Lösung des Rätsels um den Orontes gekommen. Ja, ich weiß noch nicht einmal, wo ich ansetzen soll. Ein Fluss, der zuerst von Süden nach Norden fließt, dann einen Bogen nach Westen beschreibt und weiter in diese Richtung fließen sollte, es aber nicht tut und stattdessen in entgegengesetzter Richtung fließt? Unmöglich! Und doch habe ich es mit eigenen Augen gesehen! Jechonja sitzt mir im Zelt gegenüber und beobachtet mich. Er lächelt, weil er genau weiß, dass ich noch immer grüble.   „Ich gebe dir einen Tipp: Der Fluss mündet ins Meer.“       Tag 37   Vielleicht wirkt es dumm, wenn ich schreibe, dass ich fast die ganze Nacht über diesem Rätsel brütete, doch in den Morgenstunden glaubte ich, die Lösung zu haben.   „Na?“, fragt Jechonja. „Fließt der Fluss in zwei Richtungen zugleich?“   „Wenn er zwei Quellen hätte, dann ja. Da er die aber nicht hat, sondern nur eine und seine Mündung das Meer ist …“   Ich unterbreche mich und sehe Jechonja lange an. Dieser lächelt und wartet ab.   „Also, da er ins Meer mündet“, fahre ich fort, „… muss es etwas mit dem Meer zu tun haben.“   „Und was genau?“   „Vielleicht drückt das Meerwasser in den Fluss?“   „Warum sollte das Meer das tun, Michal?“   Ich zucke mit den Schultern.   „Schade, das wäre meine Erklärung gewesen“, erwidere ich und beginne mein Lager zusammen zu bauen.   „Denk nach, was herrscht am Meer?“   Ich zucke mit den Schultern.   „Warst du schon einmal da?“, fragt er.   Ich nicke und sehe ihn wieder an. Er hält den Kopf leicht schräg. „Und was für Wetter herrschte da?“   Ich überlege kurz. Wie war das damals, als wir Onkel Gedaljahu in Akko besuchten? Es war warm, die Sonne schien, aber es war auch …   „Windig“, rufe ich und Jechonja macht ganz große Augen und nickt: „Ja, es ist windig am Meer. Und kannst du dir vorstellen, was der Wind mit der scheinbaren Fließrichtung des Orontes zu tun hat?“   Ich schaue ihn nur an.   „Na?“   Ich schweige und Jechonja nimmt einen Stein. „Schau her“, sagt er und winkt mich heran. Er zeichnet den Verlauf des Flusses in den Sand, deutet das Meer an und dann gibt er mir den Stein in die Hand. „Nun zeichne ein, woher der Wind kommt.“   „Er kommt vom Meer?“, überlege ich und Jechonja lächelt mich an. „Richtig. Und nun weißt du, wieso es so scheint, als würde der Fluss seine Fließrichtung ändern.“   Wir sehen uns einen Moment lang nur an, dann erhebe ich mich.   Von dem Hügelland, das wir betreten haben, geht ein ganz eigenartiger Geruch aus, der kaum zu beschreiben ist. Es riecht nach Trockenheit, Einsamkeit, Stille. Unglaublich, dass sich hier irgendwo Ḥalab befinden soll. Aber man sagte uns, dass wir es in einigen Tagen erreichen sollten.       Tag 38   Meine Eltern möchten nicht mehr, dass ich bei Jechonja schlafe, da es einige in der Gruppe gibt, die darüber sprechen. Jechonja meint, dass wir frühestens in Ḥalab zu unserer alten Ordnung zurückkehren könnten, da sonst die Gefahr bestünde, dass der Kasdu wiederkäme. Meine Eltern willigen ein, denn auch sie haben vor der Willkür der Kasdim Angst. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, bei Jechonja zu schlafen. Es ist anders, als mit Mutter und Vater und meinen drei Geschwistern. In Jechonjas Zelt habe ich mehr Freiraum – eine ganze Zeltseite nur für mich allein! Außerdem mag ich die Gespräche mit ihm. Wenn ich schreibe, dass mir all das fehlen wird, wirkt es vielleicht etwas seltsam, aber es ist so!   Alle sind schon ganz aufgeregt, wegen Ḥalab. Es soll eine Großstadt sein, größer als Jeruschalajim. Viel größer. (Wie kann etwas größer als Jeruschalajim sein? Ich kann mir das nicht vorstellen.)   „Und wenn wir da herumlaufen dürfen“, höre ich einige sagen. „… und es uns dort gefällt …“   Jechonja schaut mich von der Seite her an.   „Es ist eine uralte Stadt“, sagt er.   Ich nicke und kann nicht bestreiten, dass auch ich auf diese Stadt gespannt bin.       Tag 39   Wir befinden uns noch immer in diesem Hügelland, in das sich, wohl durch den Regen bedingt, grüne Farbtöne mischen. Wenn ich mich umsehe, dann bemerke ich lauter kleine buschige grüne Inseln, die aus dem Boden sprießen. Manchmal bin ich versucht, einfach stehen zu bleiben, um den Anblick dieses Landes in mich aufzunehmen, denn so etwas habe ich noch nie gesehen, noch nie. Und ich denke, dass es vielen anderen ebenso geht und sie ebenso wie ich staunen. Dieses Land ist so karg, so öde und wirkt gerade deswegen so offen. Aber ich spüre, dass es sich einem nur so zeigt, im Grunde aber ein Geheimnis in sich birgt … Man muss nur genau hinhören, dann erzählt es einem der Wind, der diese herrlich klare Luft mit sich bringt.   Wir gehen an einer Anhöhe vorbei, auf der eine einzelne Zeder steht und ich wünschte, wir würden hier Pause machen …   Simche ist an meiner Seite. Ich nehme seine Hand. Ihm geht es wieder besser, gleichwohl er nach wie vor schmal aussieht. Er ist zu klein für sein Alter.       Tag 40   Morgen sollen wir Ḥalab erreichen. Noch aber wirkt es nicht so, als würde das Land eine Stadt so riesigen Ausmaßes beherbergen. Es wirkt so einsam, verlassen, ruhig, ja still. Oder schweigt es vielleicht nur? Man sagt uns auch, dass wir einer Handelsroute folgen würden, die die Urahnen der Kasdim anlegten. Jechonja lächelt und flüstert, dass es diese Art von Handelswegen schon lange vor ihnen gegeben habe.   „Das lass nicht die Kasdim hören“, erwidert mein Vater.       Tag 42   Ḥalab!   Wir sind bereits gestern angekommen, nachdem wir die Stadt schon eine Weile vor uns hatten liegen sehen. Sie wirkte wie ein ockerfarbener Fleck in einer grünen Landschaft. Erst nach und nach schälten sich Einzelheiten heraus. Ich erkannte, dass die Stadt auf einer Art Terrasse angelegt ist. Und dann sah ich erste Häuser, die eng um diese Terrasse aneinandergereiht sind und kaum Raum für Straßen lassen.   „Wie die Davidsstadt“, denke ich jetzt, da ich zu diesem Hochplateau aufsehe, „wie sie …“ und spüre Tränen in den Augen. Wie lange habe ich schon nicht mehr an Jeruschalajim gedacht?   Von den Kasdim haben wir die Erlaubnis bekommen, uns innerhalb eines Viertels frei zu bewegen. Und dieses Viertel ist ziemlich groß. Überall reihen sich Häuser an Häuser. Kleine, große. Alle mit einem Flachdach und winzigen Fenstern versehen. Ich gehe durch enge Gassen, die auf mich wie ein Irrgarten wirken. Manchmal sind sie so schmal, dass man die Arme noch nicht einmal ganz ausstrecken kann und schon die gegenüberliegenden Hauswände berührt. Ich fahre mit den Händen über den Lehm, spüre das grobe Material, den Häcksel in ihm und weiß in mir ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit. Erst im nächsten Moment wird mir bewusst, dass ich schon seit Tagen keine Angst mehr habe und ich frage mich, wie das sein kann. Sind wir nicht noch immer der Willkür der Kasdim ausgeliefert? Könnten sie uns nicht noch immer jeden Moment herausgreifen und töten? Ich schließe die Augen, taste wieder nach den Häusern links und rechts von mir … Manchmal bin ich so auch durch Jeruschalajim gegangen. Manchmal – als kleines Kind und auch später. Wann immer ich Zeit fand. Ich liebe es, Häuser um mich herum zu haben. Zu wissen, dass sich hinter jeder Mauer und hinter jedem Fenster eine eigene Geschichte verbirgt, gibt mir ein wundervolles Gefühl.   Auch unser Haus besaß ein Flachdach, auf das wir an Sommerabenden gegangen sind, um dort lange bis nach Einbruch der Nacht zu sitzen, uns zu unterhalten und zu spielen. Das Dach war der Lebensraum der Familie. Hier schliefen wir auch und manchmal, wenn ich nachts wachgeworden bin und den Blick in den Himmel wagte, dann war ich überwältigt von dem, was ich dort sah. Wunderbar glitzernde und schimmernde Punkte aufgereiht an einer Schnur, die sich quer über den Himmel zog.   Und am Morgen stand ich auf, packte mein Bündel und ging zur Schule, zuerst allein und später mit Schimschon und Jochanan zusammen. Wir lernten rechnen und vor allem lesen und schreiben. Was für eine friedliche Zeit. Auch als die Kasdim zum ersten Mal über unsere Stadt herfielen und Menschen mit sich nahmen, blieb das Leben für die anderen gleich. Wir Kinder gingen weiter zur Schule beziehungweise in die Kindergruppe, mein Vater arbeitete weiterhin bei Hofe. Und meine Mutter bekam ihr viertes Kind, meinen Bruder Simche.   Unser Leben verlief in ruhigen Bahnen und wir dachten nicht viel über die Kasdim nach. Gut, sie waren gekommen, hatten einige Menschen, darunter vor allem das Tempelpersonal, verschleppt, aber uns andere ließen sie unbehelligt. Wir lebten unser Leben einfach so weiter wie bisher und die Kasdim zogen sich irgendwann auch zurück.   Wir fuhren weiterhin aufs Land zu Onkel Joschi und Tante Tamar, besuchten weiterhin Onkel Gedaljahu in Akko und fuhren sogar einmal nach Norden an die Grenze zwischen Jehudah und dem ehemaligen Jisrael. Dort leben Menschen, die vor über hundert Jahren von den Aschschurim hierher gebracht worden waren, während die einheimische Bevölkerung nach Aschschur und in die umliegenden Länder verschleppt wurde. Nur wenigen gelang die Flucht nach Jehudah. Darunter wohl auch der Familie meines Vater, die in der Nähe von Schomron gewohnt hatte. Wer jetzt dort lebt … Ich mochte diese Menschen nicht. Sie gehörten nicht dort hin. Ganz andere Sitten und Traditionen. Was wollten sie hier bei uns? Andere wieder sagten, dass man bedenken müsse, dass diese Menschen nicht freiwillig hier wären, dass sie viel lieber in ihren Ländern geblieben wären, ja, dass sie im Grunde ebenso Opfer der Machtpolitik der Aschschurim geworden waren wie die, die von dort wegverschleppt wurden. Aber das war ja vor so langer Zeit gewesen. Als ich geboren wurde, gab es die Aschschurim schon lange nicht mehr. Warum, so stellte ich mir immer wieder die Frage, kehrten die Leute dann nicht in ihre Länder zurück und warum kamen die, die einst hier gelebt hatten, nicht wieder? Warum?   Ich gehe hinter meinem Vater und Jechonja her. Die beiden sind vor mir. Ich will es so, da ich allein sein möchte, wenigstens für wenige Momente und diese Stadt erspüren. Doch just in dem Augenblick dreht sich Jechonja um und bleibt stehen. Offensichtlich wartet er, dass ich aufschließe. Aber ich tue es nicht. Bleibe stehen. Und ich sehe, wie sich auch mein Vater nach mir umwendet, wie auch er verharrt. Beide sehen mich an und ich, ich hebe plötzlich die Hand, so als wolle ich winken, dann drehe ich mich auf dem Absatz um und renne weg. Schon höre ich Schritte hinter mir, aber anstatt nun anzuhalten, zwinge ich mich zu noch schnellerem Lauf. Ich weiß nicht, was mich treibt, aber je länger ich laufe, desto besser geht es mir. Ich jage durch das Labyrinth dieser Stadt, kreuze Straßen und Plätze, schlage Haken und bin schon wieder im Meer der Gassen verschwunden. Ich renne so lange, bis ich Schmerzen in der Seite habe und kaum noch Luft bekomme. Dann erst bleibe ich stehen und lasse mich in einem schmalen Winkel zwischen zwei Hauswänden nieder. Ich hebe den Kopf und obwohl ich nur einen winzigen Teil des Himmels sehen kann, fühle ich mich hier, an diesem fremden Ort, frei, denn es ist hier wie in Jeruschalajim. Ich ziehe die Knie an, verschränke die Arme auf ihnen und lege meinen Kopf darauf. So verharre ich eine Weile, um mich auszuruhen und wieder zu Atem zu kommen. Das letzte Mal, dass ich so gelaufen bin, war bei meinem Onkel Gedaljahu am Meer. Da war ich 15 Jahre alt. Es war so windig und er holte ein neues Spielzeug aus der Tasche. Ein Stück Stoff über zwei dünne Hölzer gespannt und mit einer Schnur versehen. Er warf es in die Luft, der Wind ergriff es und ließ es wie einen Vogel fliegen. Rasch stieg es immer höher und höher, schon konnten wir es kaum noch sehen, da gab er Jochanan die Schnur, der sie prompt los ließ …   „Macht nichts“, hatte mein Onkel gesagt. „Wir können ein neues bauen, an das wir dann Jochanan binden.“   Und das hatten wir dann auch getan. Nein, natürlich haben wir Jochanan nicht an den Vogel, wie mein Onkel das Spielzeug nannte, gebunden – er wäre er viel zu schwer für dieses kleine Gerät gewesen –, aber am Abend standen wir wieder am Meer und ließen diesen neuen Vogel hoch in den Himmel steigen.   Ich bleibe lange dort sitzen, in diesem schiefen Winkel, und schaue, als ich mich etwas erholt habe, wieder hinauf zu dem kleinen Streifen des Himmels, den die beiden Hausdächer freigeben. Dieses Stückchen Himmel wirkt wie eingesperrt, wie festgehalten, ja wie dieses kleine Stückchen Stoff, dass Onkel Gedaljahu über die beiden Hölzer spannte. Ein Vogel also, den diesmal ich an der Schnur habe.   Als ich mich erhebe und zum Ausgang der Gasse gehen möchte, steht da plötzlich Jechonja und sieht mich an.   „Was?“, stammle ich. „Wie lange hast du schon dort gestanden?“   „Schon eine Weile.“   „Und warum hast nichts gesagt?“   Er geht nicht auf meine Frage ein, sondern öffnet seine Hand.   „Sieh her, was ich habe.“   „Datteln?“, rufe ich und sehe ihn an. „Woher hast du die?“   „Von einem Händler, an dem ich eben vorbeikam, als ich dich suchte.“   Ich hätte mit allem gerechnet. Damit, dass er mich ausschimpft oder dass er mich beim Arm packt und zu meinem Vater führt. Stattdessen hält er mir Datteln hin.   „Probier, sie schmecken köstlich“, sagt er ganz ruhig.   Und dem kann ich nur zustimmen. Sie sind so weich, so süß. Ich lächle ihn an und mir wird erst in dem Moment bewusst, was er da eigentlich gemacht hat.   „Sie schmecken nach Heimat“, flüstere ich und er nickt mir zu. „Danke.“   Dann legt er mir die Hand auf die Schulter. „So, und nun zeig du, was genau dich an dieser kleinen Ecke dort hinten …“   Er unterbricht sich und deutet auf das Ende der Gasse.   „…so fasziniert hat.“   „Ich hab dort einfach nur gesessen“, beginne ich. „Weil ich es brauchte.“   Wieder nickt er nur.   „Möchtest du noch eine Dattel?“   Wieder sehe ich seine Hand genau unter meiner Nase, schaue kurz hoch zu ihm, nehme sein Lächeln wahr und greife mir die letzte Dattel, dann laufe ich noch einmal in den kleinen Winkel zurück, sehe hinauf … Ich weiß nicht, was mich an diesen Anblick bindet. Dieses kleine Stückchen Himmel über meinem Kopf und ich hier unten zwischen den Häusern. Und dann spüre ich, dass Jechonja neben mir steht. Auch er sieht nach oben und dann lächelt er mich an. Wieder hält er mir seine geöffnete Hand hin.   „Ich habe auch ein paar Nüsse bekommen“, sagt er. „Wenn du magst …“   Und wieder nehme ich mir etwas, lächle ihn an und er nickt mir zu.   „Denkst du manchmal noch an Hannah?“, frage ich ihn.   „Natürlich“, entgegnet er. „Sie war ein kleines, kluges Mädchen.“   Ich nicke und sehe ihn einen Moment lang an. „Es ist seltsam, wie schnell man jemanden in die eigene Familie aufnehmen kann – und trotzdem vergeht die Trauer so schnell. Wenn ich an sie denke, dann empfinde ich nichts.“   Ich spüre Jechonjas Hand auf der Schulter.   „Ich denke, dass das ganz normal ist. Mach dir darüber keine Gedanken. Du denkst an sie, das zählt.“   Ich nicke. „Wie geht es dir mit all dem?“   Er holt tief Luft. „Ähnlich. Hier, auf der Reise sind wir andere Menschen. Wir kennen uns und kennen uns doch nicht.“   „Genau das meine ich auch! Genau das! Und das macht mich traurig. Aber nicht so, dass ich weinen müsste, sondern … Ach, ich kann es nicht richtig artikulieren. So als wäre ich nicht ich und wüsste trotzdem darum. Auch, dass ich um Jeruschalajim nicht trauern kann. Am Anfang war ich noch so traurig …“   „Es sind neue Dinge in dein Leben getreten – in unser aller Leben –, die zu bewältigen wichtiger sind, als die Trauer um diese Stadt.“   „Ja, aber immerhin haben wir dort gelebt. Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Ich kenne fast nichts anderes. Ich liebte diese Stadt und jetzt denke ich an sie und ich kann nicht weinen, nicht richtig traurig sein. Ich bin wie zu Stein erstarrt. Auch als ich vorhin sagte, dass die Datteln wie aus der Heimat schmecken würden, spürte ich nichts in mir. Ich sage Worte, nichts als Worte, aber sie sind bedeutungslos.“   Jechonja schweigt einen Moment lang, dann legte er den Kopf schief und streicht mir über die Wange.   „Denk darüber nicht zu viel nach. Das, was du vermisst, kommt wieder.“   „Geht es dir auch so?“   Er nickt. „Ja, ich denke, vielen wird es ähnlich gehen.“   Und plötzlich weiß ich, was mich an diesem kleinen, halbdämmrigen Winkel und dem winzigen Himmelsausschnitt darüber, so fasziniert und ich schwöre mir, die Schnur, die ich mir vorhin dachte, niemals loszulassen, um die Freiheit immer und immer spüren zu können. Am liebsten wäre ich hier noch eine Weile geblieben. Schon war ich versucht, an der Mauer hinab zu rutschen und mich wieder hinzusetzen, aber Jechonja schüttelt den Kopf.   „Wir müssen.“   „Immer müssen wir.“   Er nickt.   „Wann hat das ein Ende?“   Er zuckt mit den Schultern.   Ḥalab ist wirklich eine sehr schön – und tatsächlich viel größer als Jeruschalajim. Viel größer! Und genauso gern, wie ich sie mir ansehe, lausche ich Jechonjas Erklärungen. Er sagt, dass die Stadt sehr alt sei – das weiß ich ja schon – von vielen Völkern eingenommen und auch zerstört worden sei. Viele hätten ihre Spuren hinterlassen. Und könnte man sie befragen, würde sie einem viel zu erzählen haben. Eine Stadt sei wie eine alte Frau oder ein alter Mann … lebensklug, weise ... Leg dein Ohr an ihre Stein - sie wissen dir zu berichten ...   „Aber sie ist trotz der vielen Zerstörungen noch immer da.“   Jechonja nickt. „Zwar nicht mehr so wie vor 1000 oder 4000 Jahren, aber sie ist da.“   „Und wird sie bleiben?“   Er zuckt mit den Schultern. „Wenn man sich die Geschichte anschaut, kann es sein, dass sie einmal ganz verschwindet. Dass Menschen kommen, sie ihrer Schönheit berauben und sie dem Erdboden gleichmachen, sie auslöschen.“   Ich sehe mich um. Wir kommen gerade an einem Händler vorbei, der Tuch anbietet. Neben ihm steht ein Gewürzhändler. Und am liebsten wäre ich stehengeblieben, um diesen fremden und so intensiven Geruch in mir aufzunehmen, denn ich kenne ihn sehr gut. Einst in Jeruschalajim … als ich mit Hannah und ihrem Bruder Tovia durch die Straßen gezogen bin …, da trat mir genau dieser Duft entgegen und ließ mich träumen. Woher er wohl kommt? Ja, woher? Von hier? Ich möchte es glauben. Dieser tiefe, berührende Duft gehört einfach zu Ḥalab. Und dann tue ich es tatsächlich – ich bleibe stehen und hole wieder tief Luft. Ich rieche so viel Fremdheit, aber diese Fremdheit, die macht mir keine Angst. Sie ist mir vielmehr Heimat, ja, gerade so, als wäre ich schon einmal hier gewesen. Hier. Ich sehe mich um. Da steht ein Obsthändler und neben ihm ein Brotbäcker und neben ihm ein Schmuckhersteller, der uns eine Kette hinhält und da ein Sattler und ein Schmied – wenn ich richtig sehe, befinden wir uns auf einer langen Straße voller Händler. Und alle bieten ihre Waren feil. Sie rufen, sie lachen, sie gestikulieren. Einige, so wirkt es, winken nach uns. Sollen wir näher kommen? Wollen sie das? Ich bin versucht, weiter zu gehen – hinein in diese Straße, um mir all die Waren anzusehen. Einzutauchen in diese bunte Pracht und immer wieder den Geruch nach Duftölen in mir aufzunehmen und zu träumen wie einst Jeruschalajim.   Doch dafür habe ich jetzt keine Zeit. Wir müssen weiter. Aber ich wende mich noch einmal um.   „Was“, so denke ich, „… was, wenn Jechonja recht hat und all das einst verschwindet? Was dann? Was wird dann aus den Ladengeschäften und den Händlern werden? Wenn alles von Feuer verzehrt, nur noch in Asche daniederliegt?“   Ich versuche mir diese Straße vom Feuer verzehrt vorzustellen, doch gelingt es mir nicht. Und in diesem Moment wird mir bewusst, dass ich hier gerne bleiben würde. Hier, in dieser Stadt, in Ḥalab.   Wir gehen durch eine Straße, die hell wirkt, obwohl die Sonne nicht scheint. Woran mag das liegen? Ich sehe mich weiter um – die Häuser. Sie alle sind mit hellem Material verputzt. So freundlich, so offen … Sie sind wie das Sonnenlicht selbst. Allesamt.   „Wird Ḥalab einst verschwinden?“, frage ich wieder.   Jechonja schweigt.   „Wird es?“   Er reagiert wieder nicht und ich begreife, dass es keinen Sinn hat, weiter zu fragen.   „So wie jeder Mensch einst in die Scheol gehen muss“, setzt er da plötzlich an, „… so wird auch jedes Reich und jede Stadt sterben. Nichts ist ewig, auch wenn einem gerade das immer wieder entgegenschlägt, vor allem von denen, die uns gerade wegführen, aber auch von ihren Vorgängern. Immer steht die Ewigkeit dessen im Mittelpunkt, der gerade herrscht und dabei verhöhnt ihn seine eigene Endlichkeit. Im Grunde ist es zum Lachen: Derjenige, der sich am meisten aufbläst, hat auch am meisten Angst.“   Ich nicke nur, weil ich seine Worte erst einmal zu verstehen versuche.   „Und Jeruschalajim?“   Er lässt diese Frage unbeantwortet.   Mein Vater schimpft mit mir, als ich ihm wieder unter die Augen trete und meine Mutter klagt und weint. Aber ich bin gerade in einer Stimmung, in der mir all das egal ist. Vollkommen!   Städte können wie Menschen sterben. Und ebenso wie diese können sie ermordet werden.   Ein Teil von uns, darunter auch wir, brauchen erstmals nicht in Zelten zu schlafen, sondern haben Räume in einem großen Haus zugewiesen bekommen. Wir sind als Familie untergebracht und da sie denken, dass auch Jechonja zu uns gehört, darf er bei uns bleiben. Wir sagen nichts dagegen, denn im Grunde ist es schon so, dass er zu uns gehört. Und ich überlege mir, ob ich traurig darüber wäre, wenn er plötzlich nicht mehr bei uns wäre …   ... und ja, das wäre ich ... sehr sogar ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)