Zu den Strömen von Babylon von Encheduanna (eine schier endlose Wandung) ================================================================================ Kapitel 5: Tag 28 ----------------- Tag 28  Heute sind wir wieder auf dem Weg. Der Regen hat aufgehört. Zwischenzeitlich kommt sogar die Sonne hervor, aber die Temperaturen sind nicht sehr hoch, sodass wir alle warm angezogen, nebeneinander her gehen. Und kaum bemerke ich, dass wir am Rand gehen, beschleicht mich wieder die Angst, dass die Kasdim kommen und einfach einen von uns aus der Reihe nehmen könnten. Einfach so. Ich sehe sie weiter vorn laufen, diese panzerbewehrten Männer, deren Anblick allein schon furchterregend ist. In den letzten Tagen hatten wir sie nicht gesehen, weil sie sich selbst in ihre Zelten zurückgezogen hatten. Sie wollten nicht hinaus und uns reglementieren, um nicht nass zu werden. Aber jetzt, jetzt sind sie wieder da.   Immer achte ich darauf, dass uns kein Kasdu zu nahe kommt. Gleichzeitig versuche ich meine Familie stets in der Mitte der Gruppe zu halten. Niemand von uns soll zu weit außen gehen.   Plötzlich aber ist der Kasdu, der Jechonja und Hannah aus der Reihe nahm, wieder neben uns und starrt uns an.   „Hast du dich wieder mit deiner Frau vertragen oder soll ich dich jetzt umbringen?“, fragt er dann ganz unvermittelt.   Jechonja nickt.   „Was, umbringen?“   Jechonja schüttelt den Kopf. „Wir haben uns wieder vertragen.“ Und augenblicklich nimmt er meine Hand und zeigt sie dem Kasdu. „Seht her, es ist alles wieder gut.“   „Und warum schlaft ihr beide dann nicht mit eurer Tochter in einem Zelt?“   Ein heißer Schreck durchfährt mich und ich muss darauf achten, nicht zu stolpern.   „Weil ich schnarche und meine Frau dann nicht schlafen kann. Aber ab heute Nacht werden wir im gleichen Zelt schlafen“, erwidert Jechonja ruhig.   „Wenn nicht, dann nehme ich mir deine Frau und dich und das Kind bringe ich um“, sagt der Kasdu ebenso ruhig und wendet sich dann um. Mein Herz rast. Am liebsten wäre ich stehen geblieben, ganz einfach, um Luft zu holen und um ... um mir gewiss zu sein, dass das, was ich eben hörte, nicht stimmt, dass ich es mir nur einbildete, dass … Aber das ist unmöglich. Wir müssen weiter. Anhalten dürfen wir nur, wenn es uns die Kasdim erlauben. Es gibt um die Mittagszeit eine Pause und dann noch eine am Nachmittag und manchmal noch eine kleinere zwischendurch. Da wir aber gerade erst losgelaufen sind, gibt es jetzt keinen Halt. Ich sehe zu meiner Mutter hinüber, die mich mit kreidebleichem Gesicht anblickt. Ich spüre, dass sie mich am liebsten in den Arm genommen und unter ihren Gewändern verborgen hätte. Und ehrlich, da hätte ich mich in diesem Moment auch am liebsten versteckt. Ich weiß genau, dass dieser Kasdu keinen Spaß macht. Er würde Hannah und Jechonja umbringen und mich zu sich nehmen, wenn wir nicht das täten, was er will.   „Hauptsache wir leben“, höre ich da Jechonja neben mir sagen und spüre den leichten Druck seiner Hand. Und ich, ich wage nicht, ihm meine Hand zu entziehen.   „Das kann doch, das darf doch nicht …“, setzt mein Vater an, doch verschluckt er sich an seinen Worten und ich sehe, wie ihm der Blick entgleitet. Auch ich wende mich um. Der Kasdu ist schon wieder neben uns.   „Ich will einen Beweis!“   „Was?“, ruft meine Mutter.   „Ja, jetzt!“   Er deutet hinter sich auf das freie Feld. „Hier, sofort.“   Noch ehe ich begreife, was all das zu bedeuten hat, stößt meine Mutter einen grellen Schrei aus.   „Nein!“   Dann höre ich einen dumpfen Aufprall, fahre herum und sehe meine Mutter auf der Erde liegen. Sie wimmert leise, als ihr mein Vater wieder auf die Beine zu helfen versucht. Aber augenblicklich reißt sie sich los und fällt vor dem Kasdu auf die Knie und umfasst seine Unterschenkel.   „Bitte, tut uns das nicht an! Alles, nur das nicht!“   Der Kasdu will einen Schritt zurücktun, gerät beinahe ins Stolpern, so fest hält ihn meine Mutter.   „Ihr könnt mich umbringen, wenn ihr dafür meine Tochter…“   Sie unterbricht sich, schnappt nach Luft und sieht zu ihm mit leicht geöffnetem Mund auf.   „Nicht das!“, wispert sie und beginnt die Füße des Kasdu zu küssen. „Nicht das.“   „Jetzt und hier!“   „Nicht jetzt, nicht hier“, höre ich Jechonja dagegen reden.   „Jetzt!“   „Das könnt ihr nicht verlangen! Auf so hartem Boden täte es meiner Frau nur weh. Sie würde vor Schmerzen schreien. Ein Beweis, so wie Ihr ihn fordert, wäre das also nicht.“   Einen Moment lang schweigt der Kasdu, dann nickt er. „Gut, dann heute Nacht!“   Um seinen Mund zuckt es, als er nun doch einen Schritt zurück tut und meiner Mutter auf die Unterarme tritt. Obwohl es ihr weh tut – ich kann es deutlich an ihrem Gesichtsausdruck erkennen –, gibt sie keinen Laut mehr von sich. Sie starrt den Kasdu nur mit offenem Mund an. Als dieser sich umwendet und uns verlässt, bleibt sie auf dem Boden kauern und auch ich lasse mich auf die Knie und berühre meine Mutter am Rücken. Ich spüre, dass sie zittert. Auch mir ist eiskalt.   „Das gibt’s doch nicht! Das kann doch nicht wahr sein!“, schreit mein Vater auf.   „Jehoschua, beruhige dich. Wir müssen weiter“, erwidert Jechonja, aber mein Vater fährt herum und blitzt ihn an.   „Was sagst du da? Ich soll mich beruhigen? Ich? Wo du gerade dabei bist, meine Tochter zu verhökern wie … wie eine Hure … Ich habe dich als Bruder aufgenommen und du … du …“   Mein Vater ist fassungslos, das spüre ich genau.   „Jehoschua, bitte, lass uns das heute Abend besprechen und jetzt weiterziehen. Die Kasdim sind nah und sie werden uns nicht noch einmal davonkommen lassen“, höre ich Jechonja sagen. Seine Stimme klingt so ruhig.   Mein Vater gibt ein leises Schnauben von sich und reibt sich die Nase. „Du hast Glück, dass die Kasdim nahe sind. Aber heute Abend entkommst du mir nicht, das sage ich dir, du Schweinehund. Wenn wir heute Abend ins Lager kommen, bring ich dich mit meinen eigenen Händen um! Du bleibst mir nicht am Leben! Du nicht!“   „Was ist ein Weinehund?“, höre ich Hannah krähen, doch niemand geht auf sie ein.   „Oder arbeitest du etwa mit den Kasdim zusammen? Du machst mir nichts vor!“, ruft mein Vater und macht wieder einige Schritt auf Jechonja zu.   „Nichts dergleichen. Aber nur zu! Schlag mich und brüll auch weiter! Dann wirst du gleich am eigenen Leib spüren, dass ich nicht mit den Kasdim zusammenarbeite, denn dann werden sie kommen und uns alle umbringen: deine Frau, deine Kinder, Hannah, mich und auch dich.“   Keuchend lässt mein Vater die Arme sinken. „Der Ewige steh uns bei, das Unglück ist über uns hereingebrochen!“   „Ich würde es nicht so bezeichnen, sondern nur als Verkettung widriger Umständen. Aber uns alle eint doch, dass wir überleben wollen.“   „Und wie?“, schaltet sich meine Mutter ein. „Wie sollen wir das anstellen?“   „Ich überlege mir etwas.“   „So?“, entgegnet mein Vater. „Tust du das? Dir geht es doch nur um deinen eigenen Hintern! Meine Tochter ist dir doch vollkommen egal!“   Jechonja schweigt einen Moment lang und sieht meinen Vater nur an, ehe der den Mund öffnet und ruhig zu sprechen beginnt: „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mir mein eigenes Leben weniger wichtig ist als das deiner Tochter.“   „Du Scheißkerl!“, erwidert mein Vater. „Du gibst es also zu, dass du das Leben meiner Tochter für deines opfern wirst?“   „Nein, das habe ich ganz und gar nicht gesagt! Und wie dir sicher nicht entgangen sein wird, sind unser beider Leben dummerweise aneinandergekoppelt. Stirbt der eine, stirbt auch der andere.“   „Ja, weil du dummer Hund sagen musstest, dass … dass … Hannah deine und Michals Tochter ist!“, schnaubt mein Vater und funkelt Jechonja an. Dieser steht noch immer vor ihm und hält die Arme vor der Brust verschränkt.   Und meine Mutter gibt ein mattes Seufzen von sich. „Schon allein, dass sie mit in dein Zelt muss, ist laut unserem Gesetz gleichbedeutend mit einer Eheschließung“, lässt sie sich vernehmen. „Kein Mann darf bei einer Frau liegen, es sei denn er hat die Absicht, sie sich zur Frau zu nehmen.“   „Sie geht nicht mit in das Zelt dieses Kerls!“, brüllt mein Vater.   „Dann wäre unser Schicksal besiegelt!“, entgegnet Jechonja und wendet sich an meine Mutter: „Ich kenne das Gesetz sehr genau. Allerdings bezieht sich dieses bei einer Frau liegen auf den Geschlechtsakt. Da der aber nicht geplant ist, sehe ich kein Problem, zumal es sich um eine Notsituation handelt.“   „Ich mag deine überhebliche Kaltschnäuzigkeit nicht!“, bringt mein Vater hervor.   „Ich würde es nicht als kaltschnäuzig bezeichnen, sondern als Mittel zum Überleben. Und solange das Urteil noch nicht gesprochen ist, ist es unser aller Aufgabe, für unser Leben zu kämpfen! Und wer sagt, dass Michal mit in mein Zelt muss? Vielleicht findet sich eine andere Lösung?“   Aber letztlich muss ich doch mit in Jechonjas Zelt, denn ihm will keine andere Lösung einfallen. Und uns anderen ebenso wenig. Das Denken ist wie gelähmt.   Kurz nachdem wir unseren Lagerplatz erreicht und unsere Zelte aufgebaut hatten, hocken wir nun alle zusammen und essen schweigend unser Brot, dazu Fisch. Ich sitze zwischen Ima und Abba, der noch immer oder wieder wütend ist. Aber so wie wir alle hat auch er begriffen, dass es darum geht, dem Kasdu etwas vorzumachen. Wir müssen eine Familie spielen.   „Ich tue das nur, um meine Tochter zu retten. Du bist mir vollkommen egal. Wenn du morgen früh tot in deinem Zelt liegst, werde ich dem Ewigen dafür danken“, sagt er und versucht dabei finster zu wirken, doch jeder merkt, dass es nur Schau ist. So wie wir alle ist auch er sehr erschöpft von diesem Tag.   Jechonja nickt nur. Ich sehe immer wieder zu ihm hinüber. Er wirkt vollkommen in sich gekehrt. Kann ich ihm vertrauen? Nun, mir bleibt ja gar nichts anderes übrig, obwohl ich das Messer, das mir meine Ima heimlich zusteckte, sicher in meinem Gewand weiß.   „Wenn er dich anfasst, dann stich ihn nieder!“   Diese Worte sage ich mir während des Essens immer wieder, auch in dem Moment, da sich Jechonja erhebt und zu mir hinüber sieht.   „Wir beide werden nicht sterben!“, sagt er und streckt mir seine Hand entgegen. „Und nun komm, Michal.“   Sogleich nimmt mich meine Mutter in den Arm. Ich weiß, dass sie weint und auch ich muss meine Zähne fest zusammenbeißen, dass ich nicht zu heulen beginne.   „Was hast du vor? Was?“, fragt sie und in ihrem Blick erkenne ich mütterliche Verzweiflung.   „Ganz einfach: Ich werde die Schwäche des Kasdu ausnutzen.“   Und mein Vater zischt: „Du hast doch gar keinen Plan! Nie einen gehabt. Du willst meine Tochter doch nur opfern und dich dadurch frei kaufen.“   „Vertraut mir! Eurer Tochter wird kein Haar gekrümmt.“   Mein Vater gibt ein unartikuliertes Geräusch von sich, dann sagt er: „Wenn du Hurensohn meine Tochter entehrst, bringe ich dich eigenhändig um.“   „Nichts dergleichen wird geschehen“, versichert Jechonja und an mich gewandt sagt er: „Wir müssen, die Zeit drängt.“   Ich erhebe mich.   „Ich bring diesen Kerl um“, schnaubt mein Vater.   „Komm.“   Ich spüre Jechonjas Hand in der meinen, als wir einige Schritte gehen.   „Du musst keine Angst haben“, sagt er leise.   „Hab ich nicht.“   Unsere Blicke treffen sich und ich sehe, dass es um seinen Mund zuckt.   „Dann bist du sehr mutig.“   „Es geht ja ums Überleben“, entgegne ich und mein Herz schlägt mir bis zum Hals dabei.   Er sieht mich nur an.   „Weißt du, ich hab wirklich keine Angst“, sage ich.   „Das ist schön! Aber nun hör mir genau zu“, fährt er fort, als wir uns in seinem Zelt wiederfinden und er eine kleine Öllampe, so eine, wie ich sie zum Schreiben auch nutze, entzündet und in unsere Mitte stellt. Dann beugt er sich zu mir hinüber und flüstert: „Dies ist mein Plan ...“   „Ja?“   „Du darfst nicht erschrecken, egal, was ich dir jetzt gleich sagen werde.“   „Werde ich nicht.“   „Mein Plan erfordert, dass wir beide gut zusammenarbeiten.“   „Was soll ich tun?“   „So tun, als ob, damit der Kasdu denkt, es wäre echt. Kannst du das?“   „Wie?“   „Wir spielen dem Kasdu etwas vor, was er für real hält. Hast du das verstanden?“   Ich nicke. „Und was ist meine Aufgabe?“   „Mitspielen, damit es echt wirkt. Nenn mich mal bei meinem Namen.“   „Jechonja“, erwidere ich.   „Nicht so, als würdest du mich rufen wollen, sondern so, als wäre mein Name eine süße Frucht, die du gerade in deinem Mund zugehen lässt.“   Ich bin verwirrt und das bemerkt er wohl auch, denn er nimmt meine Hände in die seinen. „Ich mach es dir einmal vor.“ Und er sagt meinen Namen auf eine Weise, die mich irritierte. Und dabei sieht er mir tief in die Augen und beginnt mit seinen Daumen über meine Hände zu streichen. „Michal.“   Ich beiße mir auf die Unterlippe und er, er beginnt leise zu lachen. „So geht das. Und jetzt du. Los!“   „Kann nicht.“   „Doch, das kannst du. Denk an die süße Frucht in deinem Mund. Welche magst du am liebsten?“   „Datteln.“   „Also, denk dir, du hättest eine Dattel im Mund. Wie würdest du beispielsweise deiner Freundin allein durch deinen Tonfall verständlich machen, dass dir diese Frucht so gut schmeckt? … Nur, dass diese Dattel nicht Dattel heißt, sondern meinen Namen trägt ...“   „Je …“, setze ich an, schließe die Augen und versuche mich daran zu erinnern, wie wir einst zu meinem Onkel aufs Land gefahren waren und ich unter einem Dattelstrauch stand und mir so viele reife Früchte pflücken durfte, wie ich wollte. Wie schmeckten Datteln? Nach Honig, nach unendlicher Süße. Ja! Und sie sind so weich. „… chonja.“   „Michal“, flüstert er.   „Jechonja.“   „Gut so. Der Kasdu muss davon überzeugt sein, dass wir hier drinnen …“   „… beieinanderliegen?“   Er nickt.   „Nennt man sich immer beim Namen, wenn man sich nah kommt?“   „Manchmal, ja, wenn man sich sehr lieb hat.“   „Und dann fühlt man sich genauso, wie wenn man eine Dattel im Mund hat?“   „Ja, so ungefähr.“   „Jechonja … Konja.“   „Michal.“   Bei diesem Wort löscht er die kleine Öllampe. Die Dunkelheit verschluckt sein Gesicht, aber seine Hände, die spüre ich noch immer in den meinen.   „Hab keine Angst.“   „Ich hab keine.“   Und das stimmt, auch als ich seine Hand an meiner Wange spüre und er wieder meinen Namen sagt. Und auch, als ich draußen ein Geräusch vernehme und er mir noch näherkommt und flüstert: „Ich glaube, der Kasdu ist da. Ich sehe mal nach.“   Schon ist er am Eingang des Zeltes. Ich nehme eine Bewegung wahr, dann höre ich gemurmelte Worte, die ich nicht verstehe. Wir würden also so tun müssen, als lägen wir beieinander. So tun als ob, mit einer Dattel im Mund. Eine Zeit vergeht, dann kommt er zurück und ich nehme wahr, dass er leise lacht.   „Was?“, flüstere ich.   „Ich hab mit ihm gesprochen und er ist gegangen.“   „Was? Wie hast du das angestellt?“   „Ich habe einfach gesagt, dass es dir nach der Weise der Frauen ginge und wir nicht beieinanderliegen könnten. Und das hat er akzeptiert. Die einfachsten Lösungen fallen einem immer erst zum Schluss ein.“   Die letzten Worte bringt er schnaubend hervor und ich spüre, dass eine Anspannung von mir abfällt, derer ich mir zuvor nicht bewusst gewesen bin. Ich fühle mich müde und dennoch bin ich so aufgeregt. Ich greife mir an die Brust, schließe kurz die Augen.   „Und hat er gesagt, ob … ob er wiederkommen will?“   „Nein!“   Diese kurze Antwort reicht mir. Ich verstehe, dass die Gefahr keineswegs gebannt ist, dass sie noch immer überall lauert. Aber wir haben Zeit gewonnen, Zeit. Und ich begreife, wie wichtig das in unserer Situation ist.   „Und wir sollten keine schlafenden Hunde wecken.“   „Und was heißt das?“   „Ihm keinen Anlass für irgendeinen Zweifel geben.“   Ich nicke. „Heißt das, dass wir …“   „Ich fürchte, ja. Ab heute müssen wir vor den Kasdim so tun, als wären wir Mann und Frau.“   „Aber, aber es könnte doch sein, dass der Kasdu sich nur einen Spaß erlaubt hat und es nicht so meint?“   „Was für ihn Spaß ist, ist für uns Ernst!“, entgegnet er. „Das darfst du niemals vergessen. Dieser Kasdu kann uns umbringen, wenn es ihm gefällt – das ist sein Verständnis von Spaß.“   Wieder nicke ich und beiße mir auf die Unterlippe.   „Es tut mir leid, Michal“, lässt sich Jechonja vernehmen.   „Ich war noch nie verheiratet, weder im Ernst noch im Spaß“, erwidere ich.   „Es ist gut, dass du es so locker nimmst“, lacht er. „Aber jetzt, sollten wir schlafen. Bau dir dein Lager, dort an der Wand.“   Er hat die Öllampe noch einmal entzündet und weist auf eine Ecke, in der schon eine Decke liegt. Ich nicke, greife mir einige Kissen und lege mich nieder. Jechonja tut es mir gleich – an der anderen Zeltwand – und löscht das Licht.   „Gute Nacht, Michal.“   „Du, darf ich dich noch etwas fragen?“, flüstere ich.   „Nur zu.“   „Ich weiß, dass es sich nicht schickt, dich das zu fragen, aber was genau hast du in Jeruschalajim gemacht?“   „Das solltest du als meine Ehefrau aber wissen.“   „Ich bin’s aber nicht“, erwidere ich und höre ihn wieder leise lachen.   „Hast du dich schon einmal gefragt, warum Gott all das zulässt?“   „Das hier? Jetzt?“   „Nein, unser aller Schicksal. Die Grausamkeiten, die wir alle seit Beginn unserer Reise zu erdulden hatten? Und davor, der Untergang unserer Stadt.“   „Nein … ja … Ich weiß, dass der Ewige zu schwach war, um uns zu schützen. Sein Tempel wurde geplündert, weil er den Kasdim nichts entgegensetzen konnte. Marduk, ihr Gott war stärker als der Ewige. Und deswegen befinden wir uns jetzt hier. Der Ewige ist schwach, wir sollten ihn vergessen.“   Ich höre Jechonja leise lachen.   „Einige Leute, gar nicht mal so wenige, deuten es nicht als Schwäche des Ewigen, dass wir uns jetzt hier befinden …“   „Sondern?“   „Sie betrachten es als wohlverdiente Strafe für Vergehen, die wir alle begangen haben.“   „Welche Leute? Wer denkt so?“   „Kennst du Jirmejahu, den Propheten?“   „Jirmejahu?“, erwidere ich und setze mich wieder auf. „Etwa den Spinner, der immer in abgerissenen Kleidern im Jaffator stand und seine wirren Reden hielt, die niemand hören wollte? Und hat nicht König Jehojachim eine Buchrolle von ihm verbrannt? Das war ein ganz großes Ding!“   „Ja, aber Baruch Ben Nerija, seinem Schüler, diktierte er sie noch einmal neu. Und Jirmejahu ist kein Spinner.“   „Doch, das ist er!“   „Er ist einer meiner Freunde, weißt du?“   „Auch wenn er nur Mist erzählt?“   „Mist?“   „Es hat doch einen Grund, warum König Jehojachim seine Buchrolle verbrannte.“   „Eben weil der die Wahrheit nicht hören wollte.“   „Die Wahrheit?“   „Dass er ein schlechter König ist, weil er die Armen aus der Unterstadt unterdrückte und dem Ewigen den Rücken zukehrte …“   „Ja, ja …“, unterbreche ich ihn. „… aber so was macht man einfach nicht, einen König auf seine Fehler hinweisen. Das ist nicht klug.“   „Jirmejahu wurde dafür auch mehrfach bestraft, inhaftiert und gefoltert.“   „Wirklich? Das habe ich nicht gewusst.“   „So etwas dringt auch nicht leicht an die Öffentlichkeit“, entgegnet Jechonja. „So etwas wird verheimlicht.“   „Lebt er noch?“   „Ja, er lebt noch …“   „Und warum ist er nicht mit uns gegangen?“   „Er wurde nicht ausgewählt. So ist er zurückgeblieben.“   Es entsteht eine Pause, in der ich höre, dass sich Jechonja auf seinem Nachtlager bewegt.   „Um noch einmal auf Jirmejahus Anklagen zurückzukommen, so richteten sie sich nicht nur gegen den Königshof, sondern auch gegen die Oberschicht allgemein …“   „Meinst du damit etwa…?“, setze sich und Jechonja unterbricht mich: „Ja, das meine ich. Er sprach auch gegen die, die in der Oberstadt wohnten.“   „Und was warf er uns vor?“   „Du weißt, was sich im Ben-Hinnom-Tal befindet?“   „Gräber der Ahnen und Kultstellen für unsere Götter: den Milkom und Ba’al.“   „Aha! Aber Jirmejahu ging es darum, alle Bewohner daran zu erinnern, dass der einzige Gott, den sie anbeten sollen, auf dem Zijon thront. Und da die Bewohner Jeruschalajims um den Ewigen auf dem Berg Zijon wussten, aber nicht nur ihn allein verehrten, sondern auch anderen Göttern opferten und den Armen, Witwen und Waisen gegenüber ungerecht waren, haben sie Gott regelrecht provoziert“, entgegnet Jechonja.   „Was ist denn das für ein Mist? Wir ... ich soll daran Schuld haben, dass … dass …“   Jechonja schweigt.   „Ist das auch deine Meinung?“   „Ich habe mal einen Mann aus der Oberstadt dabei beobachtet, wie er sich von einem Armen den Dreck vorm Haus hat wegkehren lassen und ihn dann ohne Lohn nach Hause schickte, obwohl er gewusst haben musste, dass dieser Mann das Silber nötig gehabt hätte. Ich sprach den Mann daraufhin an, er aber hielt es nicht für nötig, zu antworten.“   „Und?“   „Und? Das war kein Einzelfall!“   „Schon möglich! Aber es ist ungeheuerlich, zu behaupten, dass all das, was wir jetzt erleben, unsere gerechte Strafe ist. Wenn der Ewige nur ein winziges Interesse an uns hätte, würde er uns nicht so leiden lassen … Ich zum Beispiel habe mich nie schlecht benommen!“   Wieder lacht Jechonja leise.   „Was ist?“, erwidere ich.   Jechonja schweigt.   „Ich … ich bleibe jedenfalls dabei, dass der Ewige einfach zu schwach ist gegen die Kasdim und sich einige eben gerade das nicht eingestehen wollen und uns etwas von einer wohlverdienten Strafe predigen, doch das führt zu nichts. Der Ewige ist zu schwach, um uns zu bewahren. Und deswegen sollte er nicht mehr Ewiger heißen. Er ist nämlich nicht ewig.“   „Ich sehe es ein bisschen anders“, entgegnet Jechonja.   „So, wie denn?“   „Der Ewige straft nicht nur …“   „Sondern?“   „Tröstet auch.“   Ich schnaube. „Na, wo denn? Wo hat er uns denn schon einmal getröstet? Und … und wo hat er uns denn schon einmal etwas Gutes getan? Warum müssen wir diesen Gott denn überhaupt anbeten?“   „Eine sehr gute Frage! Aber um dir das zu erklären, müsste ich etwas weiter ausholen. Wenn du möchtest erzähle ich dir davon ein andermal, denn jetzt ist es schon spät.“   „Gut! Aber dass wir an allem selbst Schuld haben sollen, das … das … Kein Wunder, dass Jirmejahu für solche Äußerungen gefoltert wurde!“   „Michal!“   „Klar! Wer hört so etwas gerne? Das ist … das ist …“   Ich balle die Hände zu Fäusten, so wütend bin ich.   „Weißt du“, beginne ich dann. „Ich habe gesehen, wie sie einem Mann beide Hände abgehackt haben. Würde Jirmejahu dem ins Gesicht sagen, dass er daran selbst die Schuld trägt?“   „Natürlich nicht!“   „Du würdest es aber tun, oder?“, frage ich dann.   „Ich auch nicht.“   „Hättest du Angst davor, dass dich der Mann mit seinen blutigen Stümpfen anfallen könnte …“   „Michal, hör auf!“   „Ich finde dieses ganze Gerede einfach abstoßend und eklig!“, erwidere ich.   „Niemand würde diesem Mann sagen, dass er Schuld hat.“   „Dann verstehe ich nicht, wie jemand so denken kann, dass wir an allem selbst Schuld sind.“   „Es geht hier nicht um die Einzelschuld, sondern darum, wie wir uns als Volk verhalten haben – als Gemeinschaft. Und als Gemeinschaft haben wir gefehlt. Und jeder einzelne wird nun dafür zur Verantwortung gezogen.“   „Was für ein Blödsinn. Du willst doch nicht allen Ernstes sagen, dass Gott all das, was uns geschehen ist, so wollte? Dass er die Kasdim schickte, um uns zu strafen?“   „Doch, so ließe es sich denken.“   „Was bist du? Auch so ein Spinner wie Jirmejahu?“   „Ich bin kein Prophet. Ich denke nur über das Wesen Gottes nach.“   „Auf welcher Grundlage?“   Wieder lacht Jechonja leise. „Du stellst Fragen.“   „Ja“, erwidere ich. „Also?“   „Wir haben alte Schriften, das weißt du, oder?“   „Ja!“   „Und diese handeln von Gott. Diese sind mein Ausgangspunkt. Ich habe sie in Jeruschalajim immer wieder gelesen und sie auch zu interpretieren begonnen.“   Ich blase die Wangen auf.   „Und warum?“   „Weil sie für uns noch immer von großer Bedeutung sind.“   „Aber wieso sind sie das?“   „Eben weil sie uns in unserer heutigen Situation sagen, dass der Ewige ein lebendiger Gott ist, der einst große Wunder wirkte und es wieder tun wird …“   Ich will widersprechen, denn es ist Quatsch, was er da von sich gibt. Und doch schweige ich, weil ich mich plötzlich sehr müde fühle. Und, weil ich weiß, dass es in unserer jetzigen Situation Wichtigeres gibt ...   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)