Metropolentänzer von lady_j ================================================================================ Prolog: Presseschau ------------------- Citytipp – Musik und Konzerte „Ich habe kleine grüne Männchen gesehen“ - Auf einen Kaffee mit Ostblocc Wer regelmäßig im Zentrum verkehrt, kennt sie längst, alle anderen feiern sie als Newcommer – das DJ-Kollektiv Ostblocc hat den Gipfel der hiesigen Technoszene erreicht. Ein Interview über EDM, Berlin und, ja, Aliens. Vor nicht ganz zehn Jahren gründeten Mathilda Alster, Salima Melek, Yuriy Ivanov und Ivan Papov das DJ-Kollektiv Ostblocc, damals als reine Zweckgemeinschaft, um irgendwie in der Stadt Fuß zu fassen. Lange Zeit galten sie als Geheimtipp, wurden vor allem durch ihre regelmäßigen Gigs im Szeneclub Zentrum bekannt. Der Durchbruch kam vor knapp drei Jahren. Nach unzähligen Streams, Mixes, Partys und Clubsets haben nun zwei der vier DJs ihre ersten eigenen EPs herausgebracht. Vor einer Woche erschien „Oohmmm, bitches“ von Mathilda Alster, vor bereits einem halben Jahr Yuriy Ivanovs „Allee der Kosmonauten“ (beide bei Yamashita Records). Ich treffe die beiden im Café Abgefahren im Weserkiez. Das ist ein guter Kompromiss, denn Mathilda lebt in Kreuzberg und Yuriy in Marzahn. Die Vibes kommen sofort an: Sie – zierlich, zuckerwatterosa Haare, gepierct. Er – groß, rothaarig, tätowiert. Nach einer Minute sind wir beim Du und führen den Rest des Gesprächs berlinernd (was zwecks besserer Lesbarkeit nicht transkribiert wurde). CT: Ich fange Interviews immer gern mit einer leichten Frage an: Lieblingsclub in Berlin? MA: Definitiv der Bunker! Wer den nicht liebt, feiert nicht richtig. YI: Der Bunker ist eine wichtige Adresse, aber ich bin gerade sehr gern im Octavian, dem neuen Club am Ostkreuz. CT: In beiden Clubs habt ihr schon aufgelegt. Dabei tretet ihr immer unter dem Label „Ostblocc“ auf. Habt ihr euch nie DJ-Personas zugelegt? MA: Nein, das wollten wir irgendwie nie. Am Anfang war es einfach praktischer, denn wir haben sehr oft bis auf die letzte Minute nicht gewusst, wer wann Zeit hat und die Gigs machen kann. Da ist es auch für die Veranstalter einfacher, nur „Ostblocc“ anzukündigen. Wir sind immer noch froh, dass uns damals so viel Vertrauen entgegengebracht wurde, denn die Person, mit der du den Gig vereinbart hast, war selten dieselbe, die dann bei dir im Club aufgetaucht ist. Naja, und irgendwie haben wir das so beibehalten, obwohl wir heute zu neunzig Prozent einzeln angefragt werden. Was wohl auch an unseren unterschiedlichen Stilen liegt, das haben wir am Anfang nicht immer so ausleben können, da haben wir genommen was ging. Wenn aber jemand heute Salima bucht, kann nicht einfach ich plötzlich aufkreuzen. Das geht nicht mehr. CT: Wer hatte die Idee, ein Kollektiv zu gründen? YI: Das war ich. Wir wussten von Anfang an, dass wir zusammen arbeiten und Geld verdienen wollten, nur nicht, in welcher Form. Ein Kollektiv ist da eine gute Möglichkeit, und vor allem sozial. Außerdem wachsen wir gerade, weil wir ein Mentoringprogramm für angehende Künstler*innen aufgebaut haben. Auch dafür bietet sich die Organisation im Kollektiv an. CT: Erzählt mir mehr über euer Mentoring. MA: Damit haben wir gerade erst begonnen. Es gibt viele junge Talente in der Szene, viele kommen aus der LGBTQIA+ Community. Diese Leute wollen wir gezielt fördern; schließlich liegen auch unsere Wurzeln in der Community, wir sind ja auch eng mit dem Zentrum verbunden. YI: Wir gucken schon nach Leuten, die gut zu uns passen, also von unserem Wissen profitieren können. Aber je mehr wir werden, desto vielseitiger werden wir auch. CT: Ihr habt euch von Anfang an als queeres DJ-Kollektiv bezeichnet, richtig? MA: Ja, genau. Das wird sich auch nicht ändern. CT: Wird es jetzt so weitergehen? Oder gibt es bald Ostblocc Records? YI: (lacht) Das wäre doch mal eine Idee! MA: Merken wir uns für später. CT: Ihr habt dieses Jahr eure ersten EPs herausgebracht, beide bei Yamashita Records, dem Label von Kane Yamashita. MA: Richtig. Kane unterstützt uns seit ein paar Jahren, ohne ihn wären wir jetzt noch lange nicht so weit. CT: Mathilda, „Oohmmm, bitches“ ist gerade erst erschienen, die ersten Reviews sind überwiegend positiv. Erzähl uns was dazu. MA: Ich freue mich unglaublich, dass es endlich soweit ist! Wir haben jetzt bestimmt ein Jahr lang an den Tracks gearbeitet, und sie zeigen einfach ganz viele meiner Facetten und das, was mir wichtig ist. Ich bin ja auch weniger im Bereich Techno unterwegs, sondern habe mich auf GOA und Trance spezialisiert – das kommt, finde ich, sehr gut rüber. YI: Allein der Titel sagt ja schon alles. MA: (lacht) Richtig! Ich glaube, wir wollten beide mit unseren ersten EPs zeigen, wo wir herkommen, was uns ausmacht. CT: Yuriy, „Allee der Kosmonauten“ ist nach einer Straße in Marzahn benannt. YI: Ja! Außerdem haben alle Tracks einen Bezug zur Geschichte der russischen Raumfahrt, das passt ganz gut zu mir. CT: Du wurdest in Moskau geboren, richtig? YI: Genau. Und so kommt da einfach Vieles zusammen: Russland, Berlin, Marzahn. MA: Dein Hang zu allem Außerirdischen… CT: Habt ihr schon mal UFOs gesehen? YI: Nein, aber kleine grüne Männchen, auf’m Klo im Bunker, wenn du verstehst. (lacht) MA: Oh ja, die kenne ich. CT: Mathilda, was steht bei dir als nächstes an? MA: Ich hoste nächsten Monat den Pink Saturday im Zentrum, dann geht es auf eine kurze Festivaltour, und im Bunker wird man mich auch ein paarmal erleben können. Im Winter wird es dann etwas entspannter, vielleicht kommt dann in ein paar Monaten eine neue EP. Mal sehen. CT: Yuriy, du arbeitest schon an den nächsten Tracks. Neulich hast du über Social Media den Titel der neuen Platte angekündigt. YI: Ja, sie heißt „Magnitogorsk“ und wird hoffentlich im Dezember erscheinen. Bis dahin gibt’s aber auch noch das ein- oder andere Set im Club. CT: Wir dürfen also gespannt sein. Eine letzte Frage, die ich traditionell immer stelle, weil Berlin die Stadt der Liebe ist - YI: Oh nein. CT: Ihr ahnt es sicher schon. Nur für die Statistik: Seid ihr Single? MA: (lacht) Nein! Ich bin seit drei Jahren glücklich vergeben. YI: Tja. Ich nicht. MA: Liegt vielleicht daran, dass du auf kleine grüne Männchen stehst. YI: Die sind selbst in Berlin schwer zu finden. „Oohmmm, bitches“ und „Allee der Kosmonauten“ sind auf allen gängigen Streamingplattformen verfügbar. ~*~ Start Berlin - Das Unternehmermagazin für die Hauptstadt Berlins junge Gründer, Teil 5 Alleingang Kai Hiwatari hat nichts mit seiner mächtigen Familie gemein, bis auf den Nachnamen. In Berlin hat er eine Consulting-Agentur für sustainable Business-Management gegründet. Zu unserem Interview kommt er mit dem Rad, auch modisch hat er sich dem berliner Verständnis von “Business Casual” - mehr Casual als Business - angepasst. SB: Kai, du bist jetzt dreißig und hast schon einige Ups and Downs in Berlin erlebt. Zuerst als CEO von “City Darling”, einer Dating App für die Hauptstadt. Das Business ist nach zwei Jahren pleite gegangen, und das, obwohl Jürgens-McGregor Mitinvestoren waren. Dann bist du bei deinem alten Chef, Giancarlo Tornatore, eingestiegen und warst bis vor Kurzem noch CFO von “The Fab Shop”. Das wiederum läuft super, wie ich höre, gab es da zuletzt noch mal saftig Kohle von drei großen Investoren. Währenddessen hast du per Fernuni noch einen MBA in Sustainable Business hinterhergeschoben - dabei hast du schon einen MBA von der London Business School in der Tasche. Und jetzt also die eigene Agentur. KH: Das war schön zusammengefasst. SB: Dann vielleicht zuerst zu den unbequemen Fragen: Wie ist es, wenn das erste Unternehmen floppt? KH: Erstaunlich okay! Es war ja mehr ein gemächlicher Sinkflug denn ein Absturz, und so konnten wir die bestmögliche Lösung für alle finden. Ich habe damals sehr eng mit dem Betriebsrat der Firma zusammengearbeitet und muss ganz ehrlich sagen - der Flop von “City Darling” hat niemanden ans Existenzminimum gebracht. SB: Na, und dann ging es ja steil bergauf mit “The Fab Shop” - den du mit deinem Vorgänger bei “City Darling”, Giancarlo Tornatore, aufgezogen hast! KH: Nicht nur mit ihm. Die Ehre gebührt vor allem der Mitgründerin Olivia Emerald; die meisten Ideen kommen von ihr. SB: Warum jetzt der Alleingang? Keine Herausforderungen mehr? KH: (lacht) Das klingt wesentlich beeindruckender als die Wahrheit. Nein, um es kurz zu machen: Es war an der Zeit. SB: Die neue Firma heißt “Phoenix Consulting”. Warum sustainable Business-Management? KH: Warum nicht? Die Zeichen stehen seit langem auf Nachhaltigkeit. Und gerade junge Unternehmen können da von Anfang an Vieles richtig machen. Was nicht heißt, dass sich nicht auch bei gestandenen Firmen Anpassungen lohnen. Man muss nur den ersten Schritt wagen. SB: Sind berliner Unternehmen offener für so ein Angebot als andere? KH: Berlin ist noch weit davon entfernt, das nächste Silicon Valley zu werden. Selbst in Deutschland gibt es andere Start-up-Hochburgen. Aber ja, die meisten Anfragen bekomme ich von hier. Ich habe das Gefühl, dass viele Unternehmen sich weiterentwickeln wollen. Und Nachhaltigkeit spielt ja auch in viele Bereiche mit rein: von der Raumnutzung über Datenhaltung bis hin zu HR. Gerade Start-ups wenden beispielsweise das deutsche Arbeitsrecht nicht richtig an, mit großen Nachteilen für die Belegschaft. SB: Lebst du was du predigst? KH: Ich hoffe doch! (lacht) Es gibt immer noch Verbesserungsmöglichkeiten, deswegen arbeiten wir ständig an uns selbst. Momentan sind wir zu fünft und ich lege den Fokus auf faire Arbeitsbedingungen, denn der Workload ist schon sehr beträchtlich. Doch wir achten z.B. auch darauf, als Firma einen möglichst geringen Carbon Footprint zu hinterlassen. SB: Also keine Flugreisen? KH: Keine Flugreisen! Bisher kommen wir mit der Bahn sehr gut zurecht. Ich muss aber gestehen, dass ich privat durchaus noch fliege. Ungefähr einmal im Jahr besuche ich Freunde und Familie in Japan. SB: Ich glaube, das ist fair. KH: Ja, aber auch ein unglaubliches Privileg. SB: Eine letzte Bitte im Namen aller unserer gestressten Businessmenschen da draußen: Gib einen Tipp, wie man in Berlin am besten abschalten kann. KH: Tanzen in den einschlägigen Technoschuppen. Gibt nichts besseres. SB: Das war eine sehr berlintypische Antwort. KH: War es? Oh je. Kapitel 1: Viel zu lange nicht gesehen -------------------------------------- „Oh wow.” Garland ließ sich auf den Rücken fallen und wickelte sich nachlässig in die Decke ein. Yuriy erfreute sich an der Wärme des anderen, denn obwohl die Tage kühler wurden, war ihre Heizung noch nicht angesprungen. Wie immer kam ein wenig Zugluft durch die Ritzen der Balkontür herein und strich über seine nackte Haut. Er überlegte, ob er sich zumindest sein Shirt wieder anziehen sollte, doch in diesem Moment sank Garlands Kopf auf seine Schulter. „Das war der Hammer.” Sie grinsten sich an, bevor Yuriy aufstand, um das Kondom zu entsorgen. Dann kroch er zurück unter die warme Decke, nahm die vorherige Position wieder ein. Garland war unglaublich im Bett, und der Sex tat seiner Seele gut. Ansonsten gab es nicht viel dazu zu sagen, denn es war wirklich nur das: Sex. Seit Garland sich komplett von Brooklyn losgesagt hatte, genoss er seine Freiheit viel zu sehr, und außerdem hatten sie schon vor sehr langer Zeit festgestellt, dass sie nicht ernsthaft etwas voneinander wollten. Von ihren Freunden wusste höchstens eine Handvoll von ihren Treffen zu zweit, und das, obwohl es schon seit einer ganzen Weile lief. Ein paar Minuten spürten sie noch den soeben erlebten Orgasmen nach, dann ergriff Garland erneut das Wort: „Bist du dieses Wochenende ausgebucht?” „Tatsächlich nicht”, antwortete Yuriy, „Dafür bin ich nächste Woche für zwei Tage in Leipzig. Wieso, sollen wir uns nochmal treffen?” „Ich weiß nicht; willst du?” Yuriy zögerte. „Kann sein, dass ich noch Pläne mache.” Er warf einen Seitenblick auf Garland, der jedoch nur die Schultern hob. Es war nie ein Problem, wenn einer von ihnen keine Zeit hatte. Manchmal sahen sie sich zwei oder drei Wochen lang nicht, was auch an Yuriys Karriere lag. Ihr Kollektiv war in den letzten Jahren ordentlich gewachsen, und er selbst war nun über Berlins Grenzen hinaus bekannt. Den anderen ging es ähnlich, und so kam es nur noch selten vor, dass sie zusammen auflegten. Das war schade; andererseits machte es ihn einfach glücklich, endlich von seiner Musik leben zu können. Jedoch ahnte er, dass dies auch einer der Gründe war, warum er immer noch nicht in festen Händen war - schließlich arbeitete er regelmäßig nachts. Garland nahm den Kopf von seiner Schulter, als Yuriy sich umdrehte und nach seinem Handy griff, das neben dem Bett auf dem Boden lag. Er entsperrte das Display und beinahe sofort hellte sich sein Gesicht auf, bevor er eine Nachricht zu tippen begann. Garland, der seine Mimik aufmerksam beobachtet hatte, legte sich auf den Bauch. „Lass mich raten”, sagte er grinsend, „Kai ist wieder hier?” „Gerade gelandet”, antwortete Yuriy ohne aufzusehen. „Wie lange war er in Japan? Zwei Wochen?” „Drei.” „Also eine halbe Ewigkeit!”, sagte Garland theatralisch. Yuriy ließ die Hände sinken und sah auf ihn hinab. „Was soll das denn heißen?” Der andere schwieg sich zunächst aus. Statt zu antworten, stützte er den Kopf in eine Hand und legte die andere auf Yuriys Brust. Von dort ließ er sie langsam abwärts wandern, unter die Decke, über seinen Bach, zwischen seine Beine. „Uff, Garland!”, sagte Yuriy, aber es klang nicht unwillig. „Ach, Yuriy!” Die Hand rutschte wieder ein Stück höher, blieb knapp unter seinem Bauchnabel liegen, die Finger bewegten sich kraulend. Er schloss die Augen, seinetwegen konnte er so einschlafen. „Wie lange kennt ihr euch jetzt?”, hörte er Garlands Stimme an seinem Ohr. „Drei Jahre.” „Hm…” Das Kraulen hörte auf, stattdessen setzten nun kreisende Bewegungen ein. Fingerspitzen auf seiner Haut. Das machte Yuriy immer ganz schwach. „Und wie lange bist du schon in ihn verliebt?” Seine Augen öffneten sich. Ruckartig drehte er den Kopf zur Seite und starrte Garland an. „Jetzt guck doch nicht so. Keine Sorge, du hast dich gut im Griff, und die meisten machen ihre Witze, denken sich aber nichts dabei. Aber je länger ich dich beobachte, desto klarer wird mir, was los mit dir ist.” Garland sah ihn herausfordernd an und Yuriy starrte immer noch, doch jetzt zogen sich seine Augenbrauen zusammen. Garland seufzte. „Ich weiß, ich bin der Letzte, der Beziehungstipps zum Besten geben sollte”, fuhr er fort, „Aber vielleicht solltest du mal überlegen, ob du es ihm einfach sagst?” Yuriy schnaubte. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sein Handy erneut aufleuchtete. Das musste Kais Antwort sein. Doch anstatt sie zu lesen, legte er das Gerät wieder zur Seite. „Wie wäre es damit”, sagte er und beugte sich vor, sodass seine Nase beinahe Garlands berührte, „Hör auf, mich analysieren zu wollen. Okay?” Anstatt zu antworten, griff Garland in sein Haar und zog ihn in einen ihrer seltenen Küsse. Yuriy ließ es zu, auch dann noch, als der andere sich hochstemmte und mit einer fließenden Bewegung über ihm war, sich zwischen seine Beine schob. „Was wird das denn?”, fragte Yuriy amüsiert, denn es war deutlich spürbar, dass sein Bettgefährte noch lange nicht müde war. Garland drückte ihn auf die Matratze; seine Hand tastete nach der Packung Kondome, die vorhin zwischen die Bettdecken gerutscht war. „Wenn du nichts dagegen hast”, raunte er, „Dann würde ich jetzt dich gerne ficken, bevor du in deinen Chat mit Kai versinkst.” Als Kai aus der U-Bahn stieg, fiel sein Blick als erstes auf einen Fleck Kotze. Das Geräusch des Rollkoffers auf dem verstaubten Boden hallte im ganzen Bahnhof wieder, das gelbliche Licht verriet nicht, ob es draußen hell oder dunkel war. Es roch nach Kaffee, als er an dem winzigen Kiosk auf dem Bahnsteig vorbeikam. Er hatte den Dreck vermisst. Früher hatte er in Japan durchatmen können, doch seit ein paar Jahren merkte er, dass er froh war, wieder zurückzukommen. Drei Wochen ohne einen Hauch Knoblauchscharfalles in der Nase waren genug. Als er endlich nach draußen trat, bemerkte er, dass es Herbst geworden war. Es gab diesen einen Moment im September, in dem die Luft begann, anders zu riechen. Von da an wurden die Nächte kalt, dann die Tage, dann wurde es dunkler und grauer. Inzwischen war es deutlich zu spüren. Auch in seiner Wohnung war es kühl, und anders als vor seiner Abreise war es nun keine angenehme Kühle mehr. Es roch seltsam neutral und abgestanden, das Licht war schummrig, da er vor seiner Abreise die Rollläden halb geschlossen hatte. Selbst Raouls schrille Gemälde, die seine Wand zierten, wirkten abgestumpft. Als erstes riss Kai die Fenster auf. Im Vergleich zum Sommer war es draußen leiser geworden. Die Nachbarn von gegenüber - inzwischen hatte bestimmt zweimal die Belegschaft der WG komplett gewechselt - saßen nicht mehr jeden Abend auf dem Balkon und der Strom der Spaziergänger musste in den letzten Wochen versickert sein. Kurz stützte er sich auf das Balkongeländer und nahm seine Umgebung auf. Selbst das Laub an den Bäumen verfärbte sich schon - letzte Farbtupfer vor dem Winter. Miguel hatte sich nicht gemeldet, aber das hatte er auch nicht erwartet. Ja, es war scheiße, wie es gelaufen war, aber was sollte er tun? Die Gefühle des anderen hatte er einfach nicht erwidern können, für ihn war es nicht mehr als ein Sommerflirt gewesen. Und er hatte es unbedingt beenden wollen, bevor er nach Japan flog. Es war besser so. Dennoch würde er es nicht vermeiden können, ihm über den Weg zu laufen, denn Miguel war seit Kurzem nicht mehr nur mit Ostblocc befreundet, sondern auch Mitglied des Kollektivs. Manchmal nervte es, wie sehr alle in seinem Bekanntenkreis miteinander verstrickt waren. Damals zum Beispiel, als Lai und Raoul sich getrennt hatten, waren sie alle irgendwie mit in das Drama reingezogen worden. Inzwischen hatten sich die Wogen geglättet, aber Himmel - so etwas wollte er nicht nochmal erleben. Irgendwann ging er zurück in die Wohnung, schloss die Fenster und drehte die Heizung ein Stück auf, in der es sofort zu gurgeln begann. Sein Koffer stand noch immer am Eingang, doch er ignorierte ihn und warf sich aufs Bett. Sein Handy blinkte, Yuriys Antwort war gekommen. Sie hatten sich eigentlich die ganzen letzten Wochen über geschrieben, aber es war trotzdem schön, wieder in derselben Zeitzone zu sein. Kurzentschlossen wählte er seine Nummer und hob das Handy zum Ohr. Es dauerte nicht lange, bis Yuriy abnahm. „Kai”, sagte er langgezogen, „Was gibt’s?” „Bist du morgen im Studio?”, fragte Kai ohne Umschweife. „Ja, Salima und ich coachen morgen. Wieso?” „Trifft sich gut”, meinte Kai, „Hast du Lust, vorbeizukommen? Ich habe einen Koffer voller japanischer Snacks und bevor ich das an meine Mitarbeitenden verteile, sollten wir uns das Beste rauspicken.” Yuriy lachte leise, und bei diesem Klang hoben sich Kais Mundwinkel beinahe automatisch. „Das klingt nach einem Angebot, das ich nicht ausschlagen kann”, antwortete Yuriy. „Kann ich bei dir pennen? Dann ist es morgen nicht so weit zum Studio.” „Das war der Plan. Cool, dann bis gleich?” „Gib mir eine Stunde.” Gut anderthalb Stunden später stand Yuriy vor Kais Tür. Er hatte auf dem Weg noch eine Flasche Wein geholt, weil sie irgendwie immer anfingen, Wein zu trinken. Ob Kai gleich morgen wieder ins Büro musste, wusste er nicht. Vielleicht hatte er auch noch einen Tag frei genommen. Die Tür öffnete sich und er blickte in Kais Gesicht. Für einen Moment sahen sie sich an, dann umarmten sie sich fest. Drei Wochen konnten wirklich eine lange Zeit sein. „Was ist mit deinen Haaren passiert?”, fragte er dann. Kais wilder Schopf wirkte irgendwie gebändigter; an den Seiten und am Hinterkopf waren die Haare nun kürzer, fielen etwas ordentlicher. „Ja sorry, hat gestört”, entgegnete Kai und ließ ihn endlich in die Wohnung. „Nicht gut?” „Es ist okay”, meinte Yuriy. Dabei lag sein Blick auf Kais nun sauber ausrasiertem Nacken und dem Stück nackter Haut, das dadurch über seinem Kragen zum Vorschein gekommen war. „Nur okay? Hm. Takao hat mega gesagt.” „Kann ich mir vorstellen. Wie geht es den beiden?” Kai war nicht allein in Japan gewesen, sondern zusammen mit Takao und Hiromi. Sie hatten die meiste Zeit bei Takaos Familie verbracht und sich, soweit Yuriy das mitbekommen hatte, nur für ein paar Tage getrennt, da Kai seine Mutter und die anderen beiden Hiromis Eltern besuchen wollten. Von seiner Verwandtschaft erzählte Kai grundsätzlich sehr wenig, weshalb Yuriy ihn inzwischen auch kaum noch danach fragte. Während Kai also von Takaos schrulligem Großvater erzählte, setzte Yuriy sich an den schmalen Bartisch, der seit neuestem die Küche komplettierte, und stützte das Kinn in die Hand. Kai kleidete sich inzwischen sehr stadtgemäß: Mehr Shirts statt Hemden und wenn doch letzteres, dann aus gröberem Stoff, gerade in der kühlen Jahreszeit. Er hatte sogar angefangen, Jacken und Pullover im Secondhand zu kaufen. Und seit er es satt war, sich nach jedem Regenschauer seine Schuhe in dreckigen Pfützen zu ruinieren, griff er auf robustere Modelle zurück. Auch Japan hatte an diesem neuen „Stilbewusstsein” anscheinend nichts ändern können. Yuriy war ein bisschen stolz auf sich, war er doch nicht ganz unschuldig daran. Kai ging in der Küche auf und ab, stellte zwei Weingläser vor Yuriys Nase, als nächstes die Flasche, dann betrachtete er den schrillbunten Berg Süßigkeiten auf der Anrichte. „Worauf hast du Lust?” „Überrasch mich”, meinte Yuriy, der schon die Gläser zum Sofatisch trug. Im Sommer saßen sie meistens auf dem Balkon, aber dafür war es jetzt zu kühl. Er öffnete die Weinflasche und schenkte ihnen ein. Kai setzte sich neben ihn und hielt ihm eine Schachtel hin. „Mochi”, sagte er. „Wie war es bei dir so? Wie geht’s Boris?” „Boris? Wer soll das sein?” Sie grinsten sich an. Seit Boris seinen Security-Job aufgegeben hatte, um Vollzeit als Fitnesstrainer zu arbeiten, verpassten Yuriy und er sich meistens knapp. Boris’ Auftragsbuch war voll, vor allem, weil er nun auch im Jugendzentrum ihres Kiezes Kickboxing-Kurse anbot. Die Kids hatten große Brüder und die großen Brüder fuhren voll auf Crossfit ab. Und bei Boris klingelten die Taschen. Eigentlich würden Yuriy und er sich längst eine bessere oder doch zumindest zwei einzelne Wohnungen leisten können, doch es bestand für beide einfach kein Grund, ihre WG aufzulösen. Stattdessen hatten sie sich eine neue Küche und die eine oder andere Ausstattung gegönnt. Es könnte schlechter laufen, so viel war klar. Schade war wirklich nur, dass sie ihre Kalender checken mussten, um mal einen Tag zu finden, an dem sie beide Zeit für einen Filmabend hatten. Auch heute hatte Yuriy seinen Mitbewohner nur kurz gesehen, nämlich als er vom Jugendzentrum nach Hause gekommen war um zu duschen (vermutlich hatte er Garland sogar noch im Treppenhaus getroffen), bevor er weiterzog zu einem seiner „Opfer”. „Alles wie immer”, sagte Yuriy, „Aber erzähl du - hast du noch was Spannendes in Japan erlebt, von dem du mir noch nicht erzählt hast? Was war das für eine Nummer mit Takaos Bruder?” Er hatte zwischendurch ein paar seltsame Nachrichten von Kai bekommen, vermutlich, als dieser betrunken war, und war nicht ganz hinter die Geschichte gestiegen, die er ihm erzählen wollte. „Ach, das!”, sagte Kai und lachte. „Es ist ein bisschen peinlich, aber auch sehr lustig.” „Schieß los.” „Okay, du hast es so gewollt. Takaos älterer Bruder. Schwör, damit hätte ich niemals gerechnet.” Yuriy unterdrückte ein Grinsen; Kai wurde immer sicherer in seinem Slang-Gebrauch. „Der Typ ist mit irgendeinem Idol verheiratet”, fuhr Kai fort, „Total süße Kleine, aber sie hat es faustdick hinter den Ohren, ich möchte nicht wissen, was bei denen im Schlafzimmer so abgeht. Die beiden haben mich die ganze Zeit mit Blicken ausgezogen, ich wusste gar nicht, wohin mit mir.” Yuriy brummte. „Hmm, kinky. Ist was passiert?” „Sie haben mir nach drei Tagen ein eindeutiges Angebot gemacht. Aber ganz ehrlich, das kann ich Takao einfach nicht antun. Und ich habe meinen Stolz, weißt du.” „Manchmal zumindest.” „Ja, manchmal”, bestätigte Kai todernst. Yuriy schmunzelte und warf dem anderen einen Blick über den Rand seines Glases hinweg zu. „Also kein kinky Sex für dich”, stellte er fest. „Hast du es Miguel schon erzählt?” „Wa-?” Kai, der auch gerade einen Schluck Wein nehmen wollte, ließ die Hand sinken und sah ihn erstaunt an. „Wieso Miguel?” Für ein paar Sekunden waren sie stumm. Yuriy hob fragend die Augenbrauen, während es hinter Kais Stirn zu arbeiten schien. „Hab ich dir nicht davon erzählt?”, fragte er schließlich. „Ich habe Miguel gesagt, dass das mit uns nichts wird. Noch vor meiner Abreise. Ha.” Er interpretierte Yuriys entgleisende Miene richtig. „Habe ich wohl nicht. Zugegeben, ich hatte auch keine Lust, darüber zu sprechen. Naja. Jetzt weißt du es.” „Äh, okay”, meinte Yuriy, dem auf die Schnelle keine gute Erwiderung einfiel. „Dann, hm, auf dein Singledasein?” „Wir waren nicht mal zusammen.” „Oh, ihr elenden Berliner. Niemals legt ihr euch fest.” Er spürte, wie Kais Faust sich in seinen Oberarm bohrte. „Du musst gerade reden. Treibst es seit Jahr und Tag mit Garland aber es ist nichts Ernstes…” Die letzten Worte murmelte er nur noch, ohne Yuriy dabei anzusehen. Der hob die Augenbrauen. „Es ist nichts Ernstes!” Natürlich wusste Kai davon. Yuriy hatte es nicht lange vor ihm geheim halten können. Es gab Momente, in denen er glaubte, der andere könne seine Gedanken lesen. Aber auch er kannte Kai inzwischen so gut, dass er an der kleinsten Regung ablesen konnte, was in ihm vorging. Boris behauptete manchmal scherzhaft, sie würden sich stumm verständigen können, und ja, ganz Unrecht hatte er wohl nicht. „Lassen wir das”, sagte Yuriy schließlich, weil er Kais Unbehagen spürte, „Sollen wir irgendwas gucken?” So endete der Abend: Sie machten es sich auf der Couch gemütlich und Kai warf Netflix an. Dabei tranken sie den Wein aus und bedienten sich großzügig an den Mitbringseln aus Japan. Irgendwann fühlte Yuriy, wie Kais Finger über seinen Unterarm strichen. „Hast du dir schon wieder ein Tattoo stechen lassen?” Er folgte dem Blick des anderen, dessen Zeigefinger einige Linien nachfuhr, die sich leicht von den sie umgebenden abhoben. „Das?”, fragte er, „Das ist doch nur ein Lückenfüller. Hab ich schon vor zwei Monaten machen lassen.” Kai brummte nur, beendete sein Tun aber nicht. Yuriy wusste, dass er seine Tattoos mochte. Selbst nach Jahren fand er noch Details, die ihm vorher nie aufgefallen waren, was er Yuriy auch jedes Mal wissen ließ - mit mal mehr, mal weniger ungläubigem Unterton. Aber Yuriy machte es ihm auch nicht leicht, denn er ließ genauso regelmäßig kleine Veränderungen vornehmen oder eben Lücken füllen. Jetzt schwiegen sie. Kai sah wieder in Richtung des Fernsehers, doch seine Hand ruhte noch auf Yuriys Arm, streichelte sehr sanft seine Haut. Kapitel 2: Denn du lebst ja nicht vom Moos allein ------------------------------------------------- „Morgen, Kai! Wie war der Urlaub?” Er machte sich gerade einen Kaffee, als Mariam, eine seiner Consultants, auf ihn zukam. „Morgen”, sagte er, „Erholsam. Hab schon gehört, dass hier auch alles ganz normal war. Was gibt’s bei dir?” Er nahm ungefragt eine weitere Tasse aus dem Schrank und reichte sie ihr. „Danke. Der Studi fängt heute an, erinnerst du dich?” Auch Mariam betätigte nun den Kaffeeautomaten. Sie hatten vor kurzem eine Werkstudierendenstelle ausgeschrieben, vornehmlich für niedere Aufgaben wie das Erstellen von Präsentationen oder die Pflege ihrer Social-Media-Profile. Es hatte erstaunlich viele Bewerbungen gegeben, sodass er die Aufgabe kurzerhand an seine Personalerin abgetreten hatte. Den glücklichen Auserwählten sah er heute also zum ersten Mal. „Wie hieß er noch gleich?” „Wyatt Smith”, antwortete Mariam. Kai warf ihr einen Blick zu. „Es ist echt der Brite geworden?” „Frag mich nicht, anscheinend hat er sich durchgesetzt. Ich bin fürs Einarbeiten zuständig. Hab ihm gesagt, er soll um zehn hier sein, und wir würden dann gegen elf mal zu dir reinkommen, passt das?” „Ja, kein Problem, ich bin heute Vormittag frei.” Sie liefen gemeinsam durch das kleine Büro, in dem Phoenix Consulting zurzeit residierte. Es lag in einem umfunktionierten Industriegebäude in Gesundbrunnen und war weitaus bescheidener als alles, was Kai kannte. Doch es erfüllte seinen Zweck und soweit er es einschätzen konnte, fühlten seine Mitarbeitenden sich hier wohl. Sie saßen alle zusammen im großen Hauptraum, nur sein eigenes Büro war abgetrennt (manchmal vergab er es an die anderen, wenn beispielsweise jemand in Ruhe telefonieren musste). In der Küche stand ein ziemlich luxuriöser Kaffeevollautomat, der im Vergleich aber kaum Müll produzierte. Sie waren sich einig, dass er der teuerste Gegenstand im ganzen Büro war und mit ihren Leben beschützt werden musste. „Du hattest gestern einen Ersttermin, oder? Wie lief’s?”, fragte er sie, als sie bei Mariams Platz angekommen waren. „Alles wunderbar”, sagte sie, „Ich habe die ganz normale Vorstellungsrunde gemacht und ein bisschen unser Portfolio präsentiert. Die scheinen ganz interessiert, ich erwarte eigentlich heute oder morgen eine Antwort.” „Okay, super. Sag mir Bescheid, wenn sich was tut.” „Alles klar.” Sie glitt mit einer eleganten Bewegung an ihren Platz, sah dann aber nochmal zu ihm auf. „Hör mal, ich weiß, dass du Grypholion allein machen willst”, sagte sie. „Solltest du trotzdem Unterstützung brauchen - ich habe Kapazität.” Er war etwas erstaunt, nickte aber. „Gut, ich merke es mir.” Wieder einmal lobte er sich im Stillen dafür, Mariam eingestellt zu haben. Sie war klug und in genau dem richtigen Maße ehrgeizig. Nicht umsonst hatte sie ihm ihre Hilfe angeboten, während niemand sonst in der Nähe war. Und er war geneigt, sie mit ins Boot zu holen, wenn es soweit war. Grypholion war ein Jürgens-McGregor-Unternehmen, eine Cyber-Security-Klitsche, die sich vor allem für nachhaltiges Datenmanagement interessierte. Kai wusste noch nicht, was er von diesem Auftrag hielt, denn er hatte das Gefühl, dass Ralf unmittelbar damit zu tun hatte, aber er würde sich die Sache zumindest einmal ansehen. Die nächsten Stunden verbrachte er damit, Verträge zu sichten und zu unterschreiben und sich Grypholions Portfolio anzusehen. Es half nichts, er würde jemanden brauchen, der sich mit IT auskannte. Auf diesem Gebiet war sein Team noch etwas dünn aufgestellt. Tatsächlich hatte er schon jemanden im Auge, doch wusste er nicht, ob sein Wunschkandidat mit ihm zusammenarbeiten wollen würde. Nun, wenn er es nicht bald klärte, würde es zu spät sein, also sollte er sich demnächst zu diesem schon seit einiger Zeit geplanten Telefonat durchringen. Er hatte den Gedanken noch nicht ganz beendet, als Mariam an die Tür klopfte und beinahe sofort eintrat. Kai war sich nicht sicher, ob sie die eigentliche Bedeutung eines Klopfens kannte und schrieb auch diese Eigenart ihrem Ehrgeiz zu. Jetzt allerdings war sie nicht allein, sondern in Begleitung eines jungen Mannes, der irgendwo zwischen höflicher Zurückhaltung und kaum zu kontrollierender Aufregung zu schweben schien. Kai fühlte sich sofort an seine Studientage zurückerinnert, denn sein neuer Studi sah exakt so aus wie alle anderen seiner Art: aalglatt und ein gut gemeinter, aber dennoch nicht perfekt sitzender Anzug - den er sich in den nächsten Tagen sowieso gleich wieder abgewöhnen konnte, denn sie putzten sich hier wirklich nur in Ausnahmefällen heraus. „Hey Kai”, sagte Mariam, „Ich wollte dir kurz unseren neuen Werkstudenten vorstellen - Wyatt Smith. Wyatt, das ist Kai Hiwatari, der Chef von dem Laden hier.” Kai kam um seinen Tisch herum, um Wyatts schweißige Hand zu schütteln. Der wirkte aber eher aufgeregt als nervös, wie ein Pony, das am liebsten sofort lospreschen wollte. „Sie kommen frisch aus England, nicht wahr?”, fragte er, um das Eis zu brechen. „Genau!” Wyatts Augen wurden rund. „Ich freue mich, hier sein zu dürfen, Mr. Hiwatari! Danke, dass Sie mich genommen haben!” „Oh, da bedanken Sie sich bei Layla, unserer HR-Spezialistin. Wo haben Sie studiert?” „Cambridge, Sir! Und ich bin noch nicht ganz fertig…” „Cambridge, schön. Und dann ausgerechnet nach Berlin?” „Ich habe für mein Auslandssemester gezielt nach Unternehmen recherchiert, die mich interessieren”, entgegnete Wyatt eifrig, „Mr. Hiwatari, ich bewundere Sie sehr!” „Hn.” So viel Ehrbekundung verwirrte ihn etwas. Er wechselte einen Blick mit Mariam, die sich köstlich zu amüsieren schien. Nun, ein etwas zu eifriger Werkstudent war allemal besser als jemand, der nicht aus dem Knick kam. „Nun gut, Mr. Smith”, sagte er schließlich, „Lassen Sie uns heute doch zusammen zum Lunch gehen, damit ich Sie ein bisschen besser kennenlernen kann.” Er sah auf die Uhr. „Um eins? Oder habt ihr was vor, Mariam?” Sie schüttelte den Kopf und Wyatt wirkte, als würde er gleich anfangen zu hyperventilieren. „Natürlich, Mr. Hiwatari, gerne!” Yuriy verließ am frühen Nachmittag das Studio, um zu Hause weiterzuarbeiten. Musik zu produzieren war noch einmal etwas völlig anderes als sie zu mixen, aber mit Kanes Hilfe stieg er langsam dahinter. Erstaunlicherweise war Kane sehr reflektiert, was sein Talent an den Turntables anging, und er gab offen zu, dass er ein besserer Produzent als Künstler war. Aber genauso gern gab er sein fundiertes Wissen auch weiter. Sowohl Yuriys als auch Mathildas EPs wären niemals so schnell entstanden, hätte er ihnen nicht unter die Arme gegriffen. Nun arbeiteten sie schon an neuen Tracks, was aber wesentlich länger dauerte, da sie inzwischen viel mehr unterwegs waren. Bevor er für heute Schluss machen konnte, musste Yuriy beispielsweise noch ein paar Telefonate führen, die seine nächsten Termine betrafen - zwei Nächte in einem Club in Leipzig, in den er gerade recht regelmäßig eingeladen wurde, und ein Set für ein kleines Festival in Warschau Ende des Monats. Seine Arbeitswoche begann inzwischen erst am Mittwoch, da er an den meisten Wochenenden arbeitete und dann Montag und Dienstag frei nahm (ganz am Anfang war alles durcheinander gegangen, bis er diesen Rhythmus für sich beschlossen und seitdem auch durchgezogen hatte). Zu seinem Erstaunen war Boris auch zu Hause. Inzwischen lief er nicht mehr halbnackt durch die Wohnung, dafür war es zu kalt; er stand in Shirt und Jogginghosen in der Küche, den Becher mit seinem Proteinshake in der Hand. Sie waren beide froh, sich zu sehen, und anstatt sich sofort wieder an den Schreibtisch zu setzen, machte Yuriy sich eine Tasse Kaffee und ließ sich von Boris auf den neuesten Stand bringen. „Übrigens”, sagte Boris, nachdem er sich eine Weile über seine Klienten ausgelassen hatte, „Wenn du Kai siehst, erinnere ihn bitte mal freundlich daran, dass wir seinen Trainingsplan erst zu einem Drittel durchgeackert haben. Er hat noch ein paar Wochen Programm bei mir.” „Kann ich machen.” Als Kais Name fiel, durchrieselte Yuriy etwas, er wusste nicht, was. Für einen Augenblick starrte er in seinen Kaffee. Wenn er nicht mit Boris darüber reden konnte, mit wem dann? „Sag mal”, fing er an und blickte wieder auf, „Wusstest du, dass Kai mit Miguel Schluss gemacht hat?” Boris hob die Augenbrauen. „Die waren zusammen?” „Nun, nein, nicht wirklich. Aber trotzdem, was auch immer es war, es ist vorbei.” „Das heißt, Kai ist Single”, schlussfolgerte Boris. Er wartete, doch Yuriy gab nur ein leises Brummen von sich, bevor er wieder schwieg. Er fand einen losen Faden an seinem Ärmel und begann, daran herumzunesteln. „Yura?”, hakte Boris nach. Mit einem Ächzen ließ Yuriy die Hände sinken. „Ich habe ein Problem”, sagte er. Nun war es Boris, der brummte. „Nun, ich könnte jetzt sagen, ich habe es schon immer gewusst”, meinte er. „Bist du verliebt?” „Keine Ahnung”, sagte Yuriy ehrlich, „Aber es ist auf jeden Fall mehr als… Als ich immer dachte, dass es ist.” Boris musterte ihn eine Weile; bei jeder anderen Person wäre Yuriy das unangenehm gewesen, aber Boris und er waren sich dafür viel zu vertraut. „Warum jetzt auf einmal?”, fragte Boris schließlich. „Das mit Miguel ging doch gar nicht so lange, das kann es doch nicht sein.” Nun war es Yuriy, der sich Zeit mit der Antwort ließ. Wenn er ehrlich zu sich war, dann waren seine Gefühle nicht einfach plötzlich aufgeflammt. Es hatte schon immer eine gewisse Anziehungskraft zwischen ihm und Kai gegeben. Er hatte das genossen, damit gespielt, aber nie mit einem Hintergedanken. Über die Zeit, die ganzen letzten drei Jahre, hatte sich das sehr langsam, aber unaufhaltsam geändert. „Vor einem Jahr”, erzählte er, „Hat Kai mir gesagt, dass er in Berlin bleiben möchte. Davor habe ich immer gedacht, er würde die Stadt bei der nächstbesten Gelegenheit verlassen. Aber dann fing er an, Pläne für Phoenix Consulting zu machen, und jetzt ist er immer noch hier und wird auch hier bleiben. Aber darüber konnte ich mir gar nicht so viele Gedanken machen, denn kurz darauf hat das mit Miguel angefangen.” „Und jetzt ist Kai nicht nur fest in Berlin, sondern auch Single”, meinte Boris, „Und du hast keinen Grund mehr, dir einzureden, dass du nichts von ihm willst.” „Er hat sich verändert, Boris.” „Jepp.” Sein Mitbewohner zählte auf: „Besserer Klamottengeschmack - check. Kein Stock mehr im Arsch - check. Hat das Kapital gelesen - check. Ein schön ausdefiniertes Set Muskeln - check. Gern geschehen, übrigens.” „Das hast du schön zusammengefasst”, sagte Yuriy schwach, während Boris ihn breit angrinste. „Inzwischen verdient ihr sogar ähnlich!”, fiel ihm noch ein, „Klar, Kai hat mehr Rücklagen, aber du kennst ja seine Bude - reich ist anders.” „Ich war es, der ihn davon überzeugt hat, weiter zu mieten statt zu kaufen, falls du dich erinnerst”, warf Yuriy ein. Boris und er mussten über so etwas nicht einmal nachdenken, denn außerhalb von Marzahn waren weite Sprünge für sie auch nicht möglich. So viel zu „gleich verdienen”. „Ja, Herrgott, okay, ich ziehe zurück.” Wieder schwiegen sie sich an. Yuriy hatte das Gefühl, dass sein bester Freund das Problem nicht verstand. „Eins habe ich nie kapiert”, sagte Boris in diesem Moment, „Was ist damals zwischen euch abgegangen, als wir ihn im Zentrum aufgegabelt haben? Ich dachte, du hast ihn dir abgeschleppt?” Yuriy winkte ab. „Nein. Also, doch, eigentlich war das der Plan. Ich glaube, sogar beidseitig. Aber irgendwie hat es nicht funktioniert. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Und dann hat er mir erzählt, wer er ist, wo er herkommt… und…” „...das konntest du nicht mit deinen Idealen vereinbaren”, beendete Boris, doch es klang ganz wertungsfrei, wofür Yuriy dankbar war. „Eventuell habe ich ihm ziemlich deutlich gesagt, dass ich nie mit ihm zusammen sein möchte”, murmelte Yuriy. Er erwartete einen lauten Ausruf von Boris, doch der hob nur die Schultern. „Aber das war vor drei Jahren, oder?” Er nickte. Und Boris nickte. Das Grinsen war schon wieder zurück im Gesicht seines Gegenübers. „Na also!”, sagte er laut, „Wo ist das Problem?” Yuriy erwiderte nichts. Stattdessen starrte er schon wieder missmutig in seine Tasse. Das Problem war: Kai und er waren Freunde. Vielleicht inzwischen sogar beste Freunde. Und auch wenn der andere ihn bereits sehr viele Nerven gekostet hatte, wollte er diese Freundschaft nicht aufs Spiel setzen. Er wusste ja nicht einmal, wie tiefgreifend seine Gefühle waren - vielleicht steigerte er sich da nur in etwas hinein. „Was ist mit Garland?”, fragte Boris auf einmal. „Was soll mit ihm sein?” Yuriy hatte gar nicht über ihn nachgedacht. Aber Boris hatte Recht; das mit Garland konnte schwer weitergehen, wenn er Kai wollte. Wie er seinen Bettgefährten kannte, würde der allerdings in etwa genauso überrascht reagieren wie sein Mitbewohner, wenn er das Thema anschnitt - also gar nicht. „Ich denke, Garland ist gerade mein kleinstes Problem”, murmelte er deswegen. Anstatt zu antworten stand Boris auf und ging um den Tisch herum. Yuriy hörte, wie er hinter ihm mit Geschirr hantierte. Dann fing er plötzlich an zu singen: „Geh zu ihm und lass deinen Drachen steigen, geh zu ihm, denn du lebst ja nicht vom Moos allein…” „Argh, Boris!” Yuriy wirbelte zu ihm herum, doch Boris wich ihm aus und trällerte lachend weiter: „Augen zu, dann siehst du nur diesen einen, halt ihn fest und lass deinen Drachen steigen!” Dabei duckte er sich von Yuriys halbherzigen Schlägen weg und floh schließlich in sein Zimmer. Yuriy blieb in der Küche zurück, ein ungläubiges Lächeln auf den Lippen. Oh Gott, er war zu alt für so was. Kai hatte ein gemeinsames Abendessen vorgeschlagen, um den ersten Vorstoß zu wagen. Er hatte nur angedeutet, was er wollte, damit aber scheinbar doch Interesse bei seinem Gegenüber wecken können. Garland kam pünktlich, ihre Begrüßung fiel sogar recht herzlich aus. Sie kamen gut miteinander aus, was vor allem an der alten Geschichte lag, die sich damals zwischen ihnen und Brooklyn ereignet hatte. Inzwischen wohnte er allein, zwar nicht im Prenzlberg, wie er es sich gewünscht hatte, sondern in Kreuzberg. Aber er schien glücklich dort. „Schön, dass es geklappt hat”, meinte Kai und ließ dem anderen den Vortritt, als sie das kleine Restaurant betraten. Es lag direkt am Landwehrkanal und war im Sommer schöner, gerade wegen der Terrasse, aber auch drinnen gab es gemütliche Ecken. Sie mussten sich ein wenig in ihre Nische zwängen, aber als sie einmal saßen, waren sie für sich. „Du hast mich neugierig gemacht, Kai”, sagte Garland, „Natürlich konnte ich da nicht nein sagen. Ist es was Geschäftliches?” „Allerdings. Also… Wein?” Während sie auf ihre Getränke warteten, hielten sie etwas Smalltalk. Dabei musterte Kai sein Gegenüber verstohlen. Garland war wesentlich entspannter geworden; manchmal fragte er sich, ob es am regelmäßigen Sex mit Yuriy lag. Kai wusste nicht, was er davon halten sollte. Er fühlte sich nicht in der Position, die beiden dafür zu verurteilen. Es war nur seltsam; vor allem, da er mit Yuriy durchaus schon über die pikanteren Details gesprochen hatte. Er verscheuchte die Bilder aus seinen Gedanken, denn sie waren jetzt absolut nicht angebracht. Zum Glück kamen in diesem Augenblick ihre Getränke. „Der Grund, warum wir uns heute treffen, ist eigentlich ganz einfach”, sagte Kai, nachdem sie den ersten Schluck genommen hatten. „Ich habe gerade einen recht großen Auftrag bekommen. Es geht um eine Cyber-Security-Firma und momentan sieht es ganz so aus, als könnte ich Unterstützung gebrauchen.” Garland sah ihn aufmerksam an. „Okay. Weiter.” „Du hast dich doch auch gerade selbstständig gemacht”, fuhr Kai fort. „Du hast Erfahrung mit IT, warst Scrum Master, und jetzt bist du sogar Agile Coach. Oh, und war da nicht was mit Data Analysis?” „Ganz am Anfang”, sagte Garland, „Ich musste es auffrischen, aber es gehört zu meinem Portfolio, ja.” „Sehr gut. Pass auf - Meine Firma ist gerade etwas dünn aufgestellt, was die ganze IT-Sparte angeht. Es reicht für die kleinen Dinge, aber wenn wir in so eine Technik-Klitsche reingehen, brauchen wir Profis. Ich suche jemanden, der sich mit Entwicklerteams, Big Data und dem ganzen Kram auskennt. Und da bist du mir eingefallen.” Garland nickte langsam. „Klingt interessant. Wann würde es denn losgehen? Ich habe noch Kapazitäten frei, aber nicht sofort.” „Ich schätze, in so einem Monat sind wir soweit.” „Klingt machbar.” Er legte den Kopf schief. „Kannst du mir schon verraten, um wen es geht?” „Oh.” Kai mimte das Grinsen des anderen. „Grypholion.” „Heilige Scheiße, Kai. Das ist groß. Gehören die nicht zu Jürgens-McGregor?” „Jepp.” Er drehte sein Glas auf der Tischplatte. „Auch deswegen wäre mir jemand, der schon einmal für ein Jürgens-McGregor-Unternehmen gearbeitet hat, lieber. Ich denke, es könnte ein Friedensangebot von Ralf sein. Das würde ich ungern in den Sand setzen.” „Verstehe”, murmelte Garland. Kai gab ihm ein paar Minuten, um sich noch einmal alles durch den Kopf gehen zu lassen. In der Zwischenzeit kam ihr Essen, und sie begannen schweigend darin herumzustochern. „Ich würde es gern machen”, sagte Garland irgendwann. „Schön”, entgegnete Kai. „Aber…” Er druckste ein wenig herum. „Was ist mit… Also. Die Sache mit Yuriy. Ist das okay für dich?” Kai sah erstaunt zu ihm auf. Dann legte er das Besteck weg. „Das ist was Privates”, sagte er, „Und hat mit unseren geschäftlichen Abmachungen nichts zu tun. Und außerdem - habe ich bisher irgendwas dagegen gesagt? Siehst du”, fügte er hinzu, als Garland den Kopf schüttelte. „Ich will aber auch nicht, dass es zwischen uns steht”, sagte er dann. Kai nickte nur und aß weiter. Als er dahinter gekommen war (natürlich hatte Yuriy ihm nicht freiwillig davon erzählt), hatte er sich geschworen, sich in diese Sache nicht einzumischen. Wieso auch, Yuriy konnte schlafen mit wem er wollte. „Lass uns morgen zu den Details telefonieren”, sagte er, „Oder willst du ins Büro kommen? Ist ja nicht so weit weg…” „Gern. Wie du willst.” Garland sah ihn sehr aufmerksam an, doch Kai ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er lehnte sich zurück und griff nach seinem Glas. „Was?” „Hast du Lust, über Privates zu sprechen?” Er trank langsam, um Zeit zu gewinnen. „Okay”, sagte er dann. Was soll’s. „Es geht um Yuriy”, sagte Garland und Kai hob überrascht die Augenbrauen. „Weißt du, ob er glücklich damit ist, Single zu sein?” Darauf wusste Kai keine Antwort. Wenn er ehrlich zu sich war, so sprachen sie kaum über das Thema Beziehungen. Klar, sie wussten, mit wem der jeweils andere ins Bett ging. Aber darüber hinaus endeten diese Konversationen eher in dummen Sprüchen als in einem ernsthaften Austausch. „Ich weiß nicht”, gab er schließlich zu. „Wieso fragst du? Läuft es bei euch nicht mehr?” „Doch, schon”, sagte Garland. „Es ist okay für uns beide. Aber in der ganzen Zeit, die das nun schon läuft, hatte ich nie das Gefühl, dass es jemand anderen gibt. Vielleicht hat er dir erzählt, dass ich es kurz beendet habe, weil ich Mystel kennengelernt habe.” Kai nickte. Im letzten Winter war Garland in so etwas wie eine Beziehung geraten, die sich nach ein paar Monaten im Sande verlaufen hatte. Yuriy hatte das überhaupt nicht gestört; dafür hatte er aber auch keinen Widerstand geleistet, als Garland wieder bei ihm auftauchte, nachdem Mystel weg war. „Ich finde das nicht ungewöhnlich”, sagte Kai, „Vor Miguel war bei mir auch jahrelang tote Hose. Und naja, das mit Miguel war auch nichts Ernstes.” „Weißt du”, unterbrach Garland und sah ihn mit einem Mal sehr fest an. „Ich glaube, Yuriy macht das nicht mit Absicht. Manchmal glaube ich, dass er auf jemanden wartet. Ich meine, ganz ehrlich, was für einen Grund gäbe es sonst? Er kann reden, ist attraktiv und gut im Bett. Wenn er wollte, könnte er sich nullkommanichts jemanden anlachen.” Kai brummte. Garland erschien ihm beinahe frustriert, so wie er die letzten Worte ausgesprochen hatte. Er wurde nicht ganz schlau aus dem anderen. Ob Yuriy und er sich gestritten hatten? Was auch immer es war, es war nicht seine Angelegenheit. „Ich bin genauso ratlos wie du, Garland”, sagte er und hob die Schultern. Er sorgte dafür, dass seine Worte so klangen, als wolle er einen Schlussstrich unter das Thema ziehen. So genau wollte er darüber auch gar nicht nachdenken. Yuriy, auf jemanden warten? Was sollte das? Kapitel 3: Morgens bin ich so solide, doch am Abend werd‘ ich schwach --------------------------------------------------------------------- Kai machte selten bis nie vor 18 Uhr Feierabend. Doch heute war kein normaler Freitag, denn ihm stand eine Trainingseinheit mit Boris bevor. Er wusste nicht, ob er sich darauf freute. Trainieren - ja, Zeit mit Boris verbringen - okay. Aber sich von ihm neunzig Minuten lang schinden lassen? Das grenzte an Selbstgeißelung. Jedoch, und das war der springende Punkt, brachte das Training bei Boris wirklich etwas. Kai war immer schon sportlich gewesen, doch gerade in seinen ersten Jahren in Berlin hatte er sich ein wenig vernachlässigt. Zwar blieb er dank seines Rennrads immer schlank, doch ansonsten verlor sein Körper an Definition. Das hatte sich inzwischen dank Boris rasant geändert. Einige seiner Hemden spannten schon ein wenig und ja, die Zahl der einschlägigen Komplimente, die er beim Ausgehen erntete, hatte sich erhöht. Vor allem aber liebte er das neue-alte Körpergefühl, genug Kraft und Ausdauer zu haben. Und so schulterte er die Sporttasche und verließ pünktlich um 16 Uhr sein Büro. Die anderen waren noch über ihre Rechner gebeugt, das Klackern der Tastaturen war das einzige Geräusch. Er räusperte sich vernehmlich, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. „Okay Leute, ich bin raus für heute”, sagte er, als sie die Köpfe hoben, „Wenn doch noch was ist, ruft mich auf dem Handy an. Und noch ein kleiner Hinweis: Wenn ihr keinen Bock darauf habt, eurem Chef beim Feiern zu begegnen, geht am Samstag nicht ins Zentrum. Wenn doch, wisst ihr ja - solange ihr am Montag wieder hier sitzt, sind wir uns offiziell nie über den Weg gelaufen. Schönes Wochenende.” Draußen war es zugig und ein wenig nass. Zum Glück dauerte es mit dem Rad nur ein paar Minuten bis zu dem Fitnessstudio, in dem er sich mit Boris verabredet hatte. Der war auch schon da, umgezogen und alles, und fing sofort an, ihn zu anzutreiben. Kai, niemals um einen Spruch verlegen, stichelte zurück, zumindest so lange, bis Boris ihn zum Aufwärmen aufs Laufband verfrachtete und die Hand drohend über dem Geschwindigkeitsknopf schweben ließ. „Bist du sicher, dass du dir keinen Ernährungsplan von mir aufstellen lassen willst?”, fragte er, nachdem Kai ein paar Minuten gelaufen war, „Das könnte durchaus noch was tun für dich.” „Danke, aber du weißt doch, dass ich kein food prepper bin”, entgegnete Kai, „Das würde nicht funktionieren.” „Ja, okay. Alternativvorschlag: Es gibt da einen Shake, der ist echt der Hammer. Wenn du sowieso kein richtiges Frühstück machst, könntest du dir auch so was reinziehen. Einfach, um ein paar mehr Proteine zu bekommen. - Du kannst jetzt hier Schluss machen, wir gehen hoch zum Crossfit.” In den nächsten Minuten zwang Boris ihn durch eine ganze Reihe von Eigengewichtsübungen, und da nach Wochen, in denen sie hier drin gezittert hatten, endlich jemand auf die Idee gekommen war, die Heizung anzumachen, war er am Ende ordentlich durchgeschwitzt. Doch Boris war noch lange nicht fertig mit ihm. „Gehst du morgen ins Zentrum?”, fragte Kai zwischen zwei Klimmzügen, halb auch, um eine Sekunde Pause zu haben, was er aber natürlich nie zugeben würde. Dabei bemerkte er, dass Boris’ Blick gerade einer Frau folgte, die an ihnen vorbeiging. Er stieß ihn mit dem Fuß an. „Hey, meine Muskeln, nicht ihre.” „Oh, du weißt doch, ich mache da keinen Unterschied.” Boris grinste. „Ein guter Hintern ist ein guter Hintern, egal, an wem er dranhängt. Und jetzt mach weiter, du bist hier noch nicht durch. So ist’s brav. Und noch zehn.” Kai verdrehte stumm die Augen, seine Arme brannten. „Und nein, ich bin nicht im Zentrum, sondern auf meiner Couch”, fuhr Boris fort, „Ich bin morgen nämlich auch den ganzen Tag unterwegs. Da schaff ich es nicht mehr, auch noch die Nacht durchzumachen.” „Du wirst alt.” „Ja, und noch mal zwanzig, Hiwatari, weil du noch aufmucken kannst.” Kai schaffte zehn, dann rutschten seine Hände ab. Damit schien er Boris allerdings beeindruckt zu haben, denn der drückte ihm die Wasserflasche in die Hand und winkte ihn weiter zu den Beinpressen. „Yuriy ist heute in Leipzig”, sagte er aus heiterem Himmel, während Kai sich gegen die Gewichte stemmte und er sich locker auf das Gerät stützte. „Hmhm”, machte Kai mit zusammengebissenen Zähnen. Der andere hatte ihm ganz schön was aufgelegt. „Die fahren da unten richtig auf ihn ab, er war bestimmt fünf Mal dort im letzten halben Jahr. Noch drei.” Kurz darauf fiel der Block mit den Gewichten scheppernd wieder an seinen Platz und Kai atmete tief durch. „Wann kommt er wieder? Morgen Nachmittag?” „Ja, oder am frühen Abend. Mach mal noch fünf drauf.” „Dein Ernst?!” „Maul halten, pumpen.” Er wartete, bis Kai sich wieder abmühte, dann sprach er weiter: „Übrigens hat Yuriy mir erzählt, dass du Miguel abserviert hast?” Kai brummte angestrengt. „Darf ich fragen, warum? Noch fünf. Wir wollen ja nicht, dass du Stockbeinchen hast.” Verbissen beendete Kai seinen Satz, erst dann ließ er sich dazu herab, Boris’ Frage zu beantworten. Er erzählte ihm dasselbe wie Yuriy: Dass es ihm sowieso nicht ernst gewesen war mit Miguel und dass es deswegen auch überhaupt nicht wichtig war, wie es geendet hatte. „Ich kann das nicht so durchziehen wie Yuriy und Garland”, sagte er schließlich, „Und erst recht nicht mit Miguel.” „Na gut, aber das mit Yuriy und Garland ist auch rein zweckmäßig.” Nach dieser Aussage pausierte ihr Gespräch, denn Boris peitschte ihn durch den dritten Satz, und danach fühlten sich Kais Beine schon sehr mitgenommen an. Doch er wurde prompt zum nächsten Gerät geschickt. Erst als er dort die erste Runde hinter sich hatte, nahm er den Faden wieder auf: „Haben Yuriy und Garland sich eigentlich gestritten oder so was? Ich hatte neulich ein Gespräch mit Garland und er hat irgendwas angedeutet, ob ich weiß, warum Yuriy noch Single ist… Klang fast, als wollte er ihn loswerden, obwohl ich mir das eigentlich nicht vorstellen kann.” Boris zog die Augenbrauen zusammen und antwortete nicht sofort. Stattdessen beugte er sich vor, als wollte er die Gewichte überprüfen. „Nein, ich glaube nicht”, sagte er, als er wieder hochkam. „Aber naja, Yuriy ist halt nicht sehr freigiebig mit seiner Liebe. Um ehrlich zu sein - mach das Bein mal ein bisschen grade, sonst kommt das doch gar nicht an. Ja, besser. - Um ehrlich zu sein, sind wir beide wohl einige der wenigen, die ihm wirklich nahe stehen. Du darfst dich geehrt fühlen.” „Das tue ich”, gab Kai offen zu. „Ich mag das, was wir haben.” Das Grinsen des anderen blieb ihm nicht verborgen, und augenblicklich bereute er, was er gesagt hatte. „Was?!” Boris tätschelte sein Knie. „Pause.” Sie lehnten sich etwas abseits ans Fensterbrett und Kai trank in großen Zügen aus seiner Flasche, während Boris ihn immer noch grinsend von der Seite ansah, offensichtlich sehr erfreut über die Wirkung seines harten Regimes. Sie zogen ihre Telefone heraus, um den Stand des Trainingsplans zu vergleichen und setzten hier und da ein paar Häkchen. Boris brummte zufrieden. „Aber ganz ehrlich”, sagte er, während er das Handy wieder einsteckte, „Niemand sollte mit über dreißig noch so gut aussehen wie Yuriy. Eigentlich müsste er langsam anfangen zu modern, wie wir alle, oder? Aber naja, du weißt ja, was man sich über Rothaarige so erzählt.” Er stieß Kai mit der Schulter an und lachte dreckig. „Oh Gott, Boris…” „Gib’s zu”, unterbrach ihn der andere, „Du würdest ihn nicht von der Bettkante stoßen. Oder?” Kai verdrehte die Augen. „Kuznetsov, du machst mich fertig.” „Lenk nicht ab, ich will eine ehrliche Antwort.” Er stieß die Luft aus. „Schön!”, sagte er, „Nein, würde ich nicht. Aber so läuft das bei uns nicht, und das weißt du”, fügte er hinzu und senkte automatisch die Stimme, denn das war nichts, worüber er einfach so offen reden konnte. Boris verstand ihn scheinbar, denn er legte den Kopf schief, wartete aber einfach nur ab. „Wir sind Freunde. Das ist wertvoll”, sagte Kai, „Und nichts, was ich für einen Fick einfach so aufgeben würde. Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen Yuriy von der Bettkante stoßen und ihn dafür als Freund zu behalten und ihn anpacken zu dürfen, aber danach nie wieder ein Wort mit ihm zu wechseln - da müsste ich gar nicht lange nachdenken. Ich würde meine Finger bei mir behalten.” „Hm, es sei denn, ihr wäret euch einig…” „Was soll das, Boris?” Jetzt wurde er doch wieder lauter. Er war genervt. „Ich hab es ein bisschen satt, dass ihr ständig eure Witze über uns macht. Zwischen mir und Yuriy ist nie was gelaufen. Und nach meinen Erfahrungen ist das auch gut so. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass er gerade sehr glücklich damit ist, frei zu sein und Musik zu machen. Vielleicht solltest du ihn einfach mal machen lassen.” „Hey, ist ja gut!” Boris hob abwehrend die Hände, doch er grinste schon wieder, wenn auch nur leicht. „Ich hab nur dummes Zeug gelabert. Na los, lass uns zum Stairmaster gehen, dann bist du durch.” Er drehte sich um und ging auf die Treppe zu, die zurück in die untere Etage führte. Kai wartete einen Augenblick, bevor er ihm folgte. Ihm war ein bisschen warm geworden über die letzten Minuten, obwohl er sich gar nicht bewegt hatte. Aus irgendeinem Grund war er nervös. Was er Boris gerade gesagt hatte, hatte er schon sehr oft gedacht. Und es stimmte ja auch. Er musste es sich selbst nur immer und immer wieder klarmachen, sonst würde es Probleme geben. Natürlich gingen die Zwillinge am Samstag mit ihm feiern. Giulia schaffte es auch nach knapp drei Jahren, bei fast jedem von Mathildas Auftritten dabei zu sein - woher sie die Energie dafür nahm, war Kai schleierhaft. Und seit Raoul wieder Single war, hängte er sich des Öfteren an seine Schwester. Mathilda hatte sie netterweise auf die Gästeliste gesetzt, und heute war einer dieser Tage, an denen das tatsächlich einen Unterschied machte. Und so mussten sie nicht lange in der Kälte stehen, bevor sie eingelassen wurden. Unten im Club war es angenehm warm, und Kai bereute kein Bisschen, lediglich ein Shirt unter seinem Mantel zu tragen. Giulia stand auf einmal in einem sehr kurzen Fummel vor ihm und Raoul - Raoul hatte er schon aus den Augen verloren. Vermutlich war er auf direktem Weg zur Tanzfläche gegangen. „Sollen wir erst mal was trinken?”, fragte er Giulia, die sich bei ihm einhakte. Er bahnte ihnen den Weg zur Bar in der Haupthalle, wobei sie hier und da die Leute grüßten. Mathilda würde heute nur kurz selbst auflegen. Die von ihr gehostete Partyreihe diente auch dazu, neue Talente bekannt zu machen. Einige von ihnen waren Mitglieder des Kollektivs, aber nicht alle. Die Musik war solide und die Tanzfläche gut gefüllt, aber Kai hatte definitiv schon wildere Nächte erlebt. Allerdings spürte auch er die Auswirkungen der Arbeitswoche, und das, obwohl er heute sogar ausgeschlafen hatte. Wenn nicht noch etwas Großartiges passierte (und das tat es eigentlich nicht, nicht mehr), dann würde er es einfach etwas ruhiger angehen lassen. „Matties Set fängt um zwei an”, sagte Giulia, nachdem sie mit Gin Tonic angestoßen hatten. „Also in einer halben Stunde. Ich würde gerne hoch zu ihr. Kommst du mit?” Kai winkte ab. „Geh nur, ich bleib erst mal hier.” Er hatte kein Problem damit, in einem Club allein zu sein. So konnte er die Eindrücke in sich aufnehmen und langsam runterkommen; er brauchte das. Die laute Musik, die tanzenden Menschen. Inzwischen fühlte er sich hier fast zu Hause. Und wenn er ab und an Smalltalk halten musste, sei’s drum. Manchmal entwickelten sich daraus durchaus interessante Gespräche. Er stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tresen ab und beobachtete die tanzende Menge vor sich. Wie sie bunt ausgeleuchtet wurde, wie hier und da Pailletten und Schmuck das Licht zurückwarfen. Der Beat war beinahe etwas zu leicht für ihn, aber er war sich sicher, in ein paar Minuten würde er trotzdem genug Lust zum Tanzen haben. Vielleicht nach diesem Drink oder dem nächsten. In diesem Moment spürte er, wie sich jemand neben ihn stellte. „Ich habe ein Déjà-vu”, sagte eine vertraute Stimme sehr nahe an seinem Ohr, und Kai wandte den Kopf. Blickte in zwei helle Augen, die im diffusen Licht zu leuchten schienen. „Yuriy!”, stellte er überrascht fest. „Ich dachte, du gönnst dir mal ein paar Stunden Schlaf?!” Der andere hob nur die Schultern. „Boris hat gesagt, dass du heute hier bist”, antwortete er, „Und ich wollte dich sehen.” Darauf wusste Kai nichts zu erwidern, also lächelte er nur. Als nächstes stahl Yuriy sein Getränk. Sein Blick wanderte in Richtung der kleinen Bühne, auf der sich die Turntables befanden. „Das ist bestimmt Jenny”, sagte er, „Die hat es voll drauf, ist aber vor Auftritten so nervös, dass sie lieber auf Nummer sicher geht, und dann wird’s ein bisschen langweilig.” Kai nickte abwesend. Yuriy hatte den Arm hinter ihm auf den Tresen gelegt und sie standen nahe genug beieinander, um sich zu berühren. Er roch frisch geduscht, eine angenehme Alternative zu dem muffigen Geruch des Kunstnebels, den sie heute hier versprühten. Kai nahm dem anderen das Glas wieder ab, doch nur, um festzustellen, dass es inzwischen leer war. Yuriy winkte pflichtschuldig dem Barkeeper, als er ihn vorwurfsvoll ansah. „Warum eigentlich Déjà-vu?”, fragte Kai dann. Yuriy grinste und strich ihm kurz über den Rücken. „Erinnerst du dich nicht?” „Oh. Das.” Er nahm den neuen Drink entgegen. „Wie könnte ich das je vergessen?” Dabei war dies nicht einmal die Bar, an der sie zum ersten Mal ins Gespräch gekommen waren. Aber immerhin, der Club stimmte. Sie teilten sich auch das zweite Getränk, schwiegen dabei die meiste Zeit. Derweil wurde die Stimmung um sie herum etwas ausgelassener. Kai meinte, Mathildas rosa und Giulias brünetten Schopf oben auf der Empore zu sehen, aber bei dem ständig wechselnden Licht konnte er sich nicht sicher sein. Schließlich drehte er sich wieder zu Yuriy. „Tanzen?”, fragte er, doch sein Gegenüber verzog den Mund. „Rauchen?”, entgegnete er. „Das heißt, wenn Boris es dir nicht verboten hat.” „Boris kann mir gar nichts, der raucht selber noch”, sagte Kai. „Na dann. Lass uns an die frische Luft gehen, okay? Der Raucherraum ist so stickig.” Kai nickte nur, stürzte den Rest des Drinks runter und stieß sich vom Tresen ab. Augenblicklich wurde er von den tanzenden Menschen eingekesselt und streckte blind die Hand nach hinten aus, damit Yuriy ihn nicht verlor. Kurz darauf schlossen sich dessen kühle Finger um seine, und er zog ihn durch die Menge. Eigentlich sahen die Türsteher es nicht gern, wenn man grundlos vor dem Club herumhing. Schließlich befanden sie sich in einem Wohnviertel, und das funktionierte nur, weil die Clubräume zu einem großen Teil halb unter der Erde lagen. Dennoch, die Nachbarhäuser standen ziemlich nahe, und so wollte man Lärmbelästigung und die damit verbundenen Anzeigen natürlich so gut es ging vermeiden. Es war ein Glück für sie, dass Yuriy als quasi hauseigener DJ in manchen Dingen einen Freifahrtschein bekam. „Jo Alex, wir sind kurz rauchen”, sagte er zu einem der Türsteher. Der schnalzte mit der Zunge, nickte dann aber. „Aber geht um die Ecke, ja? Damit die Kids nicht denken, sie könnten das auch machen.” „Geht klar.” Sie schoben sich durch die winzige Eingangstür. Obwohl die Stoßzeit sich langsam dem Ende näherte, war die Schlange vor dem Club noch ziemlich lang. Einige harrten hier bestimmt schon seit zwei Stunden aus. Auch deswegen ging Kai ungern an Samstagen feiern, wenn er nicht auf der Gästeliste stand; es dauerte einfach zu lange. Er folgte Yuriy, der sich gar nicht so weit vom Eingang entfernt in den Schatten stellte, wo sie niemand sehen würde, und ihm eine Schachtel Zigaretten hinhielt. Es war kalt, sie hatten ihre Jacken nicht mitgenommen, was Kai jetzt ein wenig bereute. Nachdem Yuriy ihm Feuer gegeben hatte, rieb er sich flüchtig über die Arme. „Wie war es in Leipzig?”, fragte er dann. „Gut”, antwortete Yuriy, „Gefällt mir dort. Gibt halt sehr viele Studierende, und der Club, in dem ich immer bin, ist auch top. Die Managerin mag mich, ich glaub, das könnte was Längerfristiges werden. Wobei ich dann nicht teurer werden sollte.” Kai nickte. „Freut mich für dich.” Er hörte, wie Yuriy zittrig ausatmete. „Ist dir kalt?” „Dir etwa nicht? Rauch’ mal ein bisschen schneller, ich will wieder rein.” „Hetz’ mich nicht, ich bin ein wichtiger CEO.” „Hör mal, wichtiger CEO, ich schubs dich gleich.” „Dann schubs ich zurück.” Prompt empfing er einen Stoß gegen den Arm, der jedoch nur halbherzig ausgeführt war. Yuriys Hand war eiskalt. Davon ließ Kai sich nicht beirren, er holte in Yuriys Richtung aus und der andere duckte sich lachend weg. Dabei stieß er mit dem Fuß gegen etwas, das ein lautes, hölzernes Rattern von sich gab. Das plötzliche Geräusch ließ sie innehalten. Kai spürte, wie warme Asche von seiner Kippe rieselte. „Was zum Fick?” Er tastete in der Dunkelheit herum, bis seine Zehen auf den Gegenstand trafen, der sich sofort wieder in Bewegung setzte. „Oh. Das ist ein Skateboard. Wie kommt das denn hierher?” „Keine Ahnung.” Er konnte nicht sehen, was in Yuriys Gesicht vorging, dazu war es zu dunkel, aber sie standen jetzt wieder sehr dicht nebeneinander und blickten dorthin, wo sie das Skateboard vermuteten. „Kannst du fahren?” „Ich konnte mal”, erwiderte Kai. „Du?” „Ich bin groß, dünn und schwul. Das sind nicht die besten Voraussetzungen.” „Also nein.” „Nein”, gab Yuriy zu. „Aber hey, wenn du lustig bist, zeig mir einen Ollie.” Kai hob eine Augenbraue. „Jetzt? Alex reißt uns die Eier ab.” „Nicht, wenn wir Richtung Karl-Marx-Straße gehen.” Er konnte förmlich hören, wie der andere grinste. „Oder hast du Angst, aufs Maul zu fallen?” Kai schnaubte. Ja, davor fürchtete er sich tatsächlich ein bisschen, vor allem, wenn ihm das vor Yuriy passierte - aber verarschen lassen wollte er sich nun auch wieder nicht. Ehe er es sich überlegen konnte, schnipste er den Rest seiner Zigarette weg und setzte sich in Bewegung. Er trat auf das Ende des Skateboards, um es aufzuheben. Dann drehte er sich zu Yuriy um und machte eine auffordernde Kopfbewegung. „Wenn ich’s noch kann, gibst du mir einen Döner aus.” „Deal.” Dass sie immer noch nur in Shirts draußen herumliefen, war für den Moment vergessen. Sie umrundeten die Schlange der Wartenden vor dem Club, kassierten einige schräge Blicke, machten sich aber nicht viel daraus. Ein Block weiter war die Straße asphaltiert und leicht abschüssig. Neben ihnen ragte ein kleines Einkaufszentrum auf, also fürchteten sie auch keine Beschwerden vonseiten der Anwohnenden. Yuriy hockte sich auf die Bordsteinkante und zündete sich eine zweite Zigarette an. „Na dann zeig mal”, sagte er. Kai schob das Board ein wenig mit dem Fuß hin und her. Von seinem Standpunkt aus sah er eine Gruppe Männer am Ende der Straße, die langsam in ihre Richtung kam. Na toll, auf Publikum hatte er jetzt keinen Bock. „Ich warte”, kam es von Yuriy. Er zeigte ihm den Finger und stellte sich auf das Board, das sich sofort in Bewegung setzte. Beinahe wäre er wieder abgesprungen, doch er konnte gerade so das Gleichgewicht halten und rollte ein Stück den Abhang hinab. „Das ist kein Ollie, Kai!”, rief Yuriy. „Fick dich!” Er ging in die Hocke und fuhr eine Kurve, dann hielt er an, indem er ein Bein auf den Boden setzte. Yuriy war nun ein ganzes Stück von ihm entfernt. Wenn er ein bisschen mehr Schwung holte, dürfte der Sprung eigentlich funktionieren. Eigentlich. Himmel, worauf hatte er sich hier eingelassen? Ganz nüchtern war er auch nicht, obwohl die kalte Luft den Gin Tonic schon fast vollständig aus seinem Kopf getrieben hatte. Aber einen Rückzieher konnte er jetzt auch nicht mehr machen. Also stieß er sich ab, etwas stärker dieses Mal, und rollte auf Yuriy zu. Es war erstaunlich, wie sein Körper sich an die alte Routine erinnerte. Beinahe automatisch verlagerte er das Gewicht, stieß sich ab, sprang nach oben und - rutschte vom Brett ab und verlor den Halt. Unsanft landete er auf dem Hintern, das Brett flog klappernd zur Seite weg. Von der Männergruppe, die inzwischen auf ihrer Höhe angekommen war, kam ein langgezogenes „Uuuuuffff.” Dann war Yuriy an seiner Seite. Sein Körper bebte vor unterdrücktem Lachen, doch seine Stimme klang etwas besorgt. „Alles okay?” Seine Hand berührte ihn vorsichtig an der Schulter Kai richtete sich ächzend auf. „Ja, schon gut.” Als er den Kopf hob, waren die anderen Typen schon weitergezogen, bis auf einen, der sie, eine Flasche in der Hand, weiter beobachtete, womöglich in Erwartung eines weiteren Stunts. Vielleicht war er auch einfach nur besoffen. Kai warf ihm einen bösen Blick zu. „Kiekst’n so?”, rief er herausfordernd, und siehe da, der Typ trollte sich. Seufzend drehte er sich zu Yuriy um, hielt jedoch inne, als er die Mimik des anderen bemerkte. „Was?” „Du hast berlinert”, stellte Yuriy fest. „Nicht richtig?” „Doch”, sagte er. „Ich bin schockverliebt.” Kai zog zweifelnd einen Mundwinkel hoch und schubste ihn halbherzig. „Das bist du doch seit Jahren.” „Hm. Das stimmt allerdings.” Etwas Warmes durchrieselte ihn, sammelte sich in seinem Magen. Was passierte hier eigentlich gerade? Gut, sie warfen sich öfter halbe Liebesgeständnisse an den Kopf - es lag auch ein bisschen an den Witzen der anderen, die sie dann einfach weitersponnen. Aber das hier... das war anders. Vielleicht lag es an Yuriys Tonfall oder an der bescheuerten Situation, in die Kai sich gebracht hatte. Ihm fiel einfach keine passende Erwiderung ein. Stattdessen starrte er Yuriy an, und der gab diesen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zurück. Ihm war, als könnte er im Licht der Straßenlampen einen Hauch Nervosität bei dem anderen erkennen. Irgendwo weiter die Straße rauf zersprang klirrend eine Glasflasche auf dem Asphalt. Jemand rief „Schwuchteln!” und andere Stimmen brachen in schallendes Gelächter aus. Die Anspannung zwischen ihnen zerbrach, und kurz war es, als hätte der Moment nie stattgefunden. Yuriy wandte sich um und unterbrach so ihren Blickkontakt. Kai nutzte die Gelegenheit, um sich zu sammeln. „Sollen wir sie schubsen gehen?”, fragte er. „Das Shirt ist neu”, entgegnete Yuriy in einem gelangweilten Tonfall und zupfte wie zur Bestätigung daran herum. „Gegenvorschlag: Wir gehen dorthin zurück, wo wir in Ruhe Schwuchteln sein können, ziehen uns den Rest von Matties Set rein, und bevor wir nach Hause gehen spendiere ich dir noch ein Portion Trostpommes.” Er stand auf und hielt Kai auffordernd die Hand hin, damit er ihn hochziehen konnte. „Mit Ketchup und Majo?”, fragte Kai, bevor er den Rückweg Richtung Zentrum einschlug. „Aber natürlich. Hey. Du hast Staub am Arsch.” Kapitel 4: Ich denk an dich, was soll ich machen? ------------------------------------------------- Bald würde es zu kalt zum Fahrradfahren werden. Seine Hände waren schon ganz steif, als er endlich beim Studio ankam - und das, obwohl er nicht einmal die ganze Strecke fuhr. Er konnte kaum sein Handydisplay entsperren. Die SMS vom Gesundheitsamt mit dem Testergebnis war endlich gekommen, kurz darauf schon die Meldung von Boris. So sich ihr Sexualleben nicht revolutionär veränderte, ließen sie sich einmal im Jahr gemeinsam durchchecken. Garland hielt es ähnlich, deswegen hatte Yuriy eigentlich auch keine bösen Überraschungen erwartet. Er hatte sogar schon beinahe vergessen, dass die Nachricht kommen würde, denn in seinem Alltag passierten gerade genug andere Dinge. Das Studio gehörte Kane; sie mieteten es von ihm für die Aufnahmen und die tatsächliche Musikproduktion. Vieles entstand aber immer noch an ihren eigenen Sets, denn so konnten sie die Zeit im Studio gezielter nutzen. Kane griff ihnen wann immer es ging unter die Arme, aber bei seinem kleinen Label tummelten sich inzwischen so einige Musikschaffende, und so hatte er alle Hände voll zu tun. Neben dem eigentlichen Studio gab es in dem Gebäude auch Seminarräume, in denen sie ihre Coachings hielten oder sich auch mal mit einem Auftraggeber trafen. Es kam gut bei den Leuten an, wenn sie direkt dorthin eingeladen wurden, wo „alles” passierte. Yuriy hatte den Fakt, dass „Allee der Kosmonauten” zu bestimmt achtzig Prozent an seinem eigenen Computer entstanden war, daher immer lieber überspielt. Heute war Ivan da, der sich gerade mehr darauf konzentrierte, ein paar basslastige Remixe herzustellen als sein ganz eigenes Ding zu machen. Bei seinen Fans kam das gut an. Yuriy half ihm beim Abmixen, was leider immer noch ganz schön lange dauerte, da sie beide Perfektionisten waren. Als er gerade seine Jacke über einen Stuhl warf, steckte Kane den Kopf aus der kleinen Küche und begrüßte ihn. „Hey! Willst du auch einen Kaffee?” Yuriy nickte und kam näher. „Wusste nicht, dass du heute hier bist.” „Wollte ich ursprünglich auch gar nicht! Aber ein paar Termine haben sich verschoben, also dachte ich, ich sehe mal nach euch. Sag mal…” Er reichte Yuriy eine Tasse Filterkaffee aus der Kanne, die er gerade gebrüht hatte, „Erinnerst du dich an die Zahlen, die ich dir neulich gegeben habe? Du wolltest doch einen Freund von dir fragen, ob er sich die mal ansieht.” „Richtig.” Wieder griff Yuriy nach seinem Telefon. Kane hatte Kosten überschlagen, um das Studio weiter auszubauen, war dann aber unsicher geworden. Yuriy hatte angeboten, Kai zu fragen, ob er die Rechnung überprüfte. Das war vor zwei Wochen gewesen, kurz nach dessen Urlaub. „Sorry, ich hatte es auch vergessen. Ich frag mal nach.” Er ging zurück in die „Lounge”, die eigentlich nur ein Eingangsbereich mit ein paar alten Sofas war, warf sich auf ein Polster und wählte Kais Nummer. Es war egal, dass der andere auch schon längst im Büro war - wenn er beschäftigt war, nahm er einfach nicht ab und Yuriy wusste Bescheid. Heute meldete er sich allerdings schon nach drei Freizeichentönen. „Hey, was gibt’s?” „Hey, sag mal, erinnerst du dich an die Zahlen, die ich dir neulich geschickt habe? Die von Kane? Hattest du Zeit, dir das anzusehen?” „Ach ja.” Er hörte, wie Kai mit Papier raschelte. „Ja, ich hab sie hier. Es waren ein paar Fehler drin, aber nichts Großes.” Er hielt inne. „Mist. Ich hab per Hand korrigiert. Soll ich dir das einfach einscannen? Oder warte… Ich schick es dir.” „Es hat auch keine Eile...glaube ich”, sagte Yuriy. „Kein Problem!”, unterbrach Kai ihn, „Ich schick dir meinen Praktikanten, der hat eh noch viel zu wenig zu tun. Und kennt sich in der Stadt nicht aus. Heute Morgen ist er die Ringbahn falsch herum gefahren und war eine halbe Stunde zu spät.” „Der Arme”, sagte Yuriy feixend. „Übrigens, Servicemeldung: Boris und ich haben unseren jährlichen Check schon hinter uns, vergiss bitte deinen nicht.” „Hm?” Kai schien in der ersten Sekunde tatsächlich verwirrt. „Ach, das. Hab ich doch schon vor Japan gemacht. Bei mir ist alles in Ordnung, aber alles andere hätte mich bei meinem Liebesleben auch gewundert… Wie sieht es bei euch aus?” „Alles gut”, antwortete Yuriy, „Yay.” Ihm lag ein verbaler Seitenhieb in Richtung Miguel auf der Zunge, den er sich aber verkniff. „Großartig”, meinte Kai monoton, wahrscheinlich war er mit halbem Auge schon wieder in seine Arbeit vertieft. „Das ist doch ein Grund zu trinken, oder? Lass uns später was ausmachen.” „Hmm”, machte Yuriy, „Das ist ein Date.” Kai lachte nur. „Alles klar.” Sie verabschiedeten sich und Yuriy ließ die Hand mit dem Handy sinken. Legte den Kopf zurück auf die Lehne und seufzte. Er hatte das mit dem Date durchaus ernst gemeint. Irgendwie. Genauso, wie sein scherzhaftes Liebesgeständnis neulich vorm Zentrum eben auch nicht nur so gemeint war. Da hatte Kai ihm allerdings auch eine Steilvorlage gegeben. Seitdem fragte er sich, ob das mit Absicht passiert war. Bisher hätte er schwören können, zu wissen, wie Kai tickte, aber seit einigen Tagen war er sich da nicht mehr sicher. Als sie auf dem kalten Asphalt hockten und Kai ihn angesehen hatte, schien etwas in seinem Blick zu liegen, das mehr als nur freundschaftlich gemeint war. Davon war eben am Telefon nichts zu merken, und das frustrierte ihn. Was er selbst fühlte, war ihm spätestens seit dieser Nacht klar. Boris hatte Recht, er hatte seit drei verdammten Jahren Recht. Und jetzt? Die Gewissheit half ihm nicht weiter, denn wenn er eines wusste, dann, dass er Kai auf keinen Fall als Freund verlieren wollte. Es konnte einfach so viel schiefgehen. Und doch konnte er sich nicht davon abhalten, eindeutige Bemerkungen ihm gegenüber zu machen. Vielleicht, weil er trotzdem hoffte, dass Kai darauf einging. In diesem Moment tauchte Kane wieder auf und setzte sich schwungvoll neben ihn. „Mit wem flirtest du denn da die ganze Zeit? Doch nicht etwa mit dem Start-up-Hipster, der neulich hier war?” „Der Start-up-Hipster hat deine Zahlen korrigiert. Er schickt uns das Zeug heute noch her”, entgegnete Yuriy prompt, verscheuchte dabei alle Gedanken an Kai. „Ist noch was?” Kane zwinkerte ihm zu. „Ja, ich will noch was von dir”, fing er an. „Mir ist vorhin der Sänger abgesprungen, den ich für ein paar Tracks gebucht habe. Ziemlich kurzfristig. Also dachte ich, ich frage mal jemanden, von dem ich weiß, dass er Töne treffen kann. Na?” „Kane, ich will nicht den Gesang für deine Tracks machen, ich will sie remixen, wenn sie fertig sind”, sagte Yuriy etwas hilflos. Ja, er traf die Töne, aber alle seine Gesangseinlagen bisher waren rein aus der Not geboren. Es war ihm einfach unangenehm, sich selbst zu hören. „Okay, du darfst sie gerne remixen!”, rief Kane, „Aber ich weiß gerade echt nicht, was ich machen soll. Es ist wie verhext, niemand, den ich kenne, hat Zeit. Überlegst du es dir? Bitte?” Yuriy seufzte. Er konnte ihm keine Bitte ausschlagen, nicht nach allem, was der für ihn getan hatte. „Ja, ist gut. Ich überlege es mir.” Hoffentlich hatte Kane nichts gegen Autotune. Kai schob Kanes Finanzplan in einen Umschlag und lief in den Hauptraum, wo seine Consultants emsig vor sich hinarbeiteten. „Mariam”, sagte er, als er vor ihrem Tisch stand, „Kann ich mir Mr. Smith für eine Weile ausleihen?” Wyatt, der schräg hinter Mariam in einer ziemlich winzigen Ecke saß, zuckte merklich zusammen und warf ihm einen erwartungsvollen Blick zu. Sobald er Mariams Zustimmung hörte, sprang er von seinem Platz auf. „Was kann ich für Sie tun?” Kai gab ihm einen Wink, damit er ihm folgte. „Es hat tatsächlich nichts mit Ihrer Arbeit hier zu tun, aber Sie könnten mir einen großen Gefallen tun”, begann er. „Würden Sie einen kleinen Botengang für mich erledigen? Das rechnet sich natürlich auf Ihre Arbeitszeit an. Und Sie können die Stadt etwas besser kennenlernen.” Wyatt wirkte etwas unsicher, seit das Wort „Botengang” gefallen war, doch seine Motivation kannte anscheinend keine Grenzen. Kai ahnte, der Kleine wollte ihm um jeden Preis gefallen und würde wahrscheinlich alles tun, was er von ihm verlangte. Es war ein wenig unheimlich. Gleich zu Beginn hatte Wyatt ihm ausführlich erzählt, wie er Hiwatari Enterprises zum Thema einer seiner Studienleistungen gemacht hatte, wobei er auf Kais Namen gestoßen war. Danach hatte er seine Berliner Karriere beinahe obsessiv verfolgt und unbedingt für ihn arbeiten wollen. Ein einziger Trost war, dass Wyatt auch von mindestens drei anderen Menschen genauso fasziniert war wie von Kai. Woher er die Energie dafür nahm, war schleierhaft. „Das kriege ich hin”, sagte Wyatt nun tapfer. „Bisher konnte ich mich selbst auf Englisch gut durchfragen.” „Hmm”, machte Kai nur. Er musste mit Mariam sprechen und Wyatt einen Sprachkurs besorgen. Klar, er würde mit Englisch und dem bisschen Deutsch, das er konnte, über die Runden kommen, aber so leicht wollte Kai es ihm dann doch nicht machen. Er war sich sicher, dass Wyatt genug Auffassungsgabe besaß, um die Arbeit und einen Abendkurs zu bewältigen. „Also schön.” Er reichte ihm den Umschlag. „Das sind wichtige Unterlagen, die bei Yamashita Records abgegeben werden müssen. Die sitzen in einem Tonstudio im Wedding, die Adresse ist vermerkt. Finden Sie das?” Wyatt warf einen Blick auf den Umschlag. „Ich denke schon…” „Gut. Geben Sie das bitte direkt bei Yuriy Ivanov ab, er weiß Bescheid, dass Sie kommen.” Er machte eine Pause. „Er ist lang und rothaarig, Sie können ihn gar nicht übersehen.” „Yamashita Records. Yuriy Ivanov.” Wyatt nickte. „Das schaffe ich!” Bevor Wyatt aus der Tür rauschen konnte, hielt er ihn noch ein letztes Mal zurück: „Ein kleiner Tipp noch, Mr. Smith - S41 fährt im Uhrzeigersinn, S42 entgegen. Versuchen Sie sich das zu merken. Und machen Sie Ihre Mittagspause, wenn Sie wieder da sind, ein Dienstgang ist keine Pause!” „Wird gemacht!”, rief der andere überschwänglich, dann stürmte er hinaus. Kai konnte sich ein leichtes Kopfschütteln nicht verkneifen, bevor er sich wieder umdrehte. Sein Blick begegnete dem Mariams, die im Türrahmen der Küche lehnte und grinste. „Sag jetzt nichts”, sagte Kai zu ihr und sie kicherte. „Keine Sorge, ich fühle mich auch schon wie seine Ersatzmama.” Yuriy und Ivan saßen vor dem elaborierten Mischpult und stierten auf die Monitore, die an der Wand hingen. Ihre Augen verfolgten die verschiedenen Tonspuren, die sich dort abspulten, während der Track durch die Kopfhörer schallte. Irgendwann pausierte Yuriy und wandte sich dem anderen zu. „Wenn du wirklich noch einen Raise am Ende haben willst, musst du nochmal verlängern, ich finde, sonst ist es zu abrupt.” Ivan nickte. „Ja, hast ja Recht. Also doch die vollen sieben Minuten.” Yuriy nickte. „Sollen wir mal laut hören?” „Auf jeden Fall!”, entgegnete Ivan grinsend und schaltete von den Kopfhörern um auf die Soundanlage. „Dreh ordentlich auf - ich will das schon die ganze Zeit mal richtig scheppern hören.” Und wenn Vanja scheppern sagte, dann meinte er es auch so. Zum Glück befand sich das Studio in einem Flachbau und die nächsten Wohnhäuser waren außerhalb des dazugehörigen Geländes. Ansonsten hätten sie sicher schon Beschwerden bekommen. Kaum hatte Yuriy den Play-Knopf gedrückt, flog ihnen der Beat um die Ohren. Der Raum mochte ja schallgedämpft sein, aber gegen die in die Wand eingelassenen Lautsprecher würde wohl nur meterdicker Stahlbeton ankommen. Das Intro war erfreulich kurz, und wie immer bei Ivans Stücken kam der erste Raise schon nach ein paar Sekunden. Sie warteten den darauffolgenden Bass Drop ab, bevor sie grinsend einschlugen, zufrieden mit ihrem Werk. In diesem Moment wurde die Tür hinter ihnen aufgerissen. Dort standen Mathilda und Salima; letztere brüllte „EY!”, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und machte ihnen mit einer unmissverständlichen Geste deutlich, dass sie die Lautstärke runterdrehen sollten. Yuriy griff blind aufs Mischpult und erwischte die Pause-Taste. „Sorry”, sagte Ivan langgezogen. „Aber geiler Track, oder?” Mathilda nickte aufgeregt. „Mega, Vanja!” „Jaja, damit basst du alle weg”, sagte Salima, „Aber jetzt macht leiser, wir fangen gleich mit dem Coaching an. Ach so, Yuriy, da ist jemand für dich - Kais Praktikant? Kann das sein?” Yuriy, der kurz verwirrt dreingeschaut hatte, lachte auf. „Er hat echt seinen Praktikanten geschickt!” In den bösen Wedding. Kai traute sich wirklich was. Umständlich löste er sich von seinen Kopfhörern, um aufzustehen; wie immer hatte er es geschafft, sich komplett in dem langen Kabel zu verheddern. „Ist okay, ich kümmere mich drum. Danke, Salima. Vanja, bin gleich wieder da.” Die Lounge war voller Menschen, doch er erkannte den Praktikanten sofort. Inmitten der Mitglieder ihres Kollektivs wirkte er wie von einem anderen Stern mit seinem hellen Sweater unter dem teuer aussehenden Mantel und den gebügelten Hosen. Eingeschüchtert drückte er eine Dokumententasche an seine Brust. Als er Yuriy bemerkte, wurde seine Mimik erst erleichtert und dann ziemlich erschrocken, vielleicht, weil er realisierte, wie groß (oder wie tätowiert, oder wie russisch) er wirklich war. Yuriy hingegen lobte sich im Stillen dafür, sein Sozialpädagogen-Mojo über die letzten Jahre nicht gänzlich verloren zu haben. Er begrüßte links und rechts die anderen, dann hatte er sich einen Weg zu dem Jungen gebahnt. „Du bist Kais Prakti?”, fragte er, und wiederholte, nachdem die Augen seines Gegenübers rund vor Schreck wurden, die Frage gleich noch mal auf Englisch. „Äh, ja! Wyatt Smith, schön Sie kennenzulernen, Herr Ivanov!” Es war löblich, dass er es trotzdem auf Deutsch versuchte. Yuriy streckte die Hand aus. „Na dann, Wyatt. Gib den Wisch mal her.” Er zog die Dokumente aus dem Umschlag und blätterte sie durch; eine Geste, die er sich ebenfalls in der Schule bei den gestandenen Lehrenden abgeguckt hatte und die alle einschüchterte, die noch keine zehn Jahre aus dem Bildungssystem raus waren. Entsprechend nervös wirkte Wyatt auch. „Alles klar, danke dafür”, sagte er schließlich, „Willst du noch einen Kaffee oder so was? Hier wird’s gleich wieder ruhiger, dann kannst du dich auch noch fünf Minuten hinsetzen.” „Oh!” Dem Kleinen entfuhr ein erleichterter Atemstoß. „Ähm, ich sollte wahrscheinlich sofort wieder zurück… Das hier zählt ja als Dienstgang.” „Ach so?” Yuriys Mundwinkel zuckten. „Das trifft sich gut. Warte kurz, ich hab auch noch eine Nachricht für deinen Boss, die kannst du gleich wieder mit zurücknehmen.” In einer Ecke der Lounge hatten sie ihre Printwerbung - Poster, Flyer, Aufkleber und so weiter - gesammelt. Er griff wahllos nach einem Postkartenaufkleber und fand in derselben Box einen dicken Filzstift. Sonntag, 20 Uhr, Lilli am Schlesi, XO, kritzelte er und setzte seinen Namen und ein großes Herz darunter. Er hatte Kai ein Date angedroht, also würde nun auch eines stattfinden. Weiter dachte er noch nicht. Normalerweise machte es ihn nicht nervös, mit Kai auszugehen, vor allem, da sie selten wirklich nur zu zweit in eine Bar gingen. Irgendwer bekam immer Wind davon und schloss sich an. Heute hoffte er, dass dem nicht so sein würde, und bei dem Gedanken wurden seine Finger kalt. Er trug die Karte zurück zu Wyatt und drückte sie ihm in die Hand. Der Praktikant war offensichtlich verwirrt, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Vorsichtig steckte er die Karte in seine Manteltasche und nickte Yuriy zu, der sich mit der Schulter gegen die Wand lehnte. „Na dann bis bald”, sagte er. „Und wenn du mal feiern willst wie Kai Hiwatari, schreib mir auf Facebook oder so - ich setz dich auf die Gästeliste.” Er zwinkerte, und Wyatts Augen wirkten schon wieder, als würden sie ihm gleich aus dem Schädel fallen. Vielleicht fügten sich erst jetzt ein paar Puzzleteilchen in seinem Kopf zusammen. Dann nickte er tapfer. „Ich merke es mir, Herr Ivanov! Auf Wiedersehen!” Ziemlich exakt anderthalb Stunden, nachdem er Wyatt hatte ziehen lassen, klopfte dieser wieder an Kais Tür. Etwas linkisch kam er hereingeschlichen und übergab ihm mit hochrotem Kopf eine Postkarte, auf der das Logo von Ostblocc prangte. Kai musste sich zusammenreißen, um eine stoische Miene beizubehalten, als er sie entgegennahm. Während er Yuriys Nachricht las, konnte er jedoch nicht verhindern, dass sich ein Lächeln in seine Wangen grub. Er schnaubte belustigt. „Der Arsch.” Erst dann fiel sein Blick wieder auf Wyatt, der immer noch im Raum stand und nicht wusste, wohin mit seinen Händen. „Danke, Mr. Smith”, sagte er fest, „Gehen Sie in die Pause, na los.” Das ließ sich der andere nicht zweimal sagen; augenblicklich war er hinausgewischt und schloss leise die Tür hinter sich. Sobald er wieder alleine war, nahm er die Postkarte erneut in die Hand. Starrte auf die Anweisungen in Yuriys sauberer, wenn auch etwas eckiger Schrift, und merkte, wie sein Gesicht warm wurde. Es war kein schlimmes Gefühl; er lächelte schon wieder. Wahrscheinlich würde er Yuriy noch ein, zwei Stunden schmoren lassen, rein aus Prinzip. Aber dann würde er ihm zusagen. Kapitel 5: True Romantics ------------------------- Kai und Takao bezogen Hiromi längst in ihre gemeinsamen Sushiabende mit ein. Zu dritt war es zwar nicht dasselbe wie vorher, aber trotzdem sehr schön. Und mit der Zeit merkte Kai, dass er vor Hiromi genauso offen sein konnte wie vor Takao, was das Ganze erleichterte. Sie hatten es schon ein paarmal geschafft, sehr beschwipst von Sake zu werden und einige ziemlich peinliche Geschichten aus der Zeit aufzutischen, als Kai und Takao zusammen gewesen waren. Das war am Anfang noch nicht so leicht gewesen. Hiromi und Kai hatten sich sehr lange sehr zurückhaltend beäugt. Und ja, auch für Kai war es seltsam gewesen, Takao wieder langfristig in festen Händen zu sehen. Es war einfach anders als kurze Flirts, der er nie hatte ernst nehmen können. Inzwischen waren diese Differenzen aber aus dem Weg geräumt; Kai konnte sich für Takao und Hiromi freuen und Hiromi wusste seine Vorzüge ebenfalls zu schätzen. Und so stand er am Samstag vor ihrer Wohnungstür. Normalerweise trafen sie sich bei Takao, daher war er zum ersten Mal bei ihr. Für ihn war es eine halbe Weltreise, denn sie wohnte in Moabit. Es war eine ruhige Gegend mit hübschen Altbauten, wenn auch nicht so hip wie Friedrichshain. Hiromis Wohnung bestand aus einem großen Zimmer, Küche und Bad, die sie allesamt hell und luftig gestaltet hatte. Die Fenster gingen zum Innenhof, der Hauptraum hatte einen seltsam asymmetrischen Schnitt und es gab keinen Balkon, dafür aber Stuck an der hohen Decke. Als er hinter Hiromi in die Küche trat, fiel sein Blick auf Takao, der in den elektrischen Reiskocher starrte. Wasserdampf stieg auf. „Das sieht doch gut aus”, urteilte er und drehte sich um. „Hey, Kai! Schön, dass du da bist!” „Ich habe Sake und Bier”, sagte Kai, „Soll das in den Kühlschrank?” „Eine Flasche bitte gleich zu mir”, entgegnete Takao. Hiromi dirigierte ihn an den Küchentisch und gab ihm eine Tüte mit Nori-Blättern, damit er auch etwas tat. Währenddessen mischte Takao Essig und Zucker unter den Reis und Hiromi selbst widmete sich dem Fisch. „Wie geht’s dir?”, fing Takao an, „Was macht die Firma?” Das war ein guter Einstieg, denn mit Anekdoten aus seinem Leben als CEO konnte er die beiden immer gut unterhalten. Allein mit Takao sprach er auch mal über tiefgreifendere Themen. In Hiromis Gesellschaft klappte das noch nicht so gut, obwohl sie sich während ihrer gemeinsamen Reise zusammengerauft hatten. Hiromi hatte durchaus die Stilaugen bemerkt, die Takaos Bruder auf Kai geworfen hatte, doch anstatt ihm das zum Vorwurf zu machen hatte sie sich köstlich mit ihm darüber amüsiert. Und natürlich fanden alle Berichte über seinen neuen Praktikanten hier ihr bestes Publikum. „Aber komm, Kai”, rief Takao irgendwann, „Die Ringbahn ist gemein. Wie lange hast du gebraucht, um dahinter zu steigen, wie sie funktioniert?” „Lange genug”, gab Kai zu, „Ich brauche heute noch manchmal ein paar Sekunden, um mich zu vergewissern. Und wenn ich mir dann endlich sicher bin, kommt sie nicht.” „Das ewige Leid. Wir sollten froh sein, dass du es hierher geschafft hast.” Während sie den Reis abkühlen ließen, öffneten sich auch Kai und Hiromi das erste Bier. Draußen wurde es schon langsam dunkel. So lang die Tage im Sommer auch waren, im Winter waren sie dafür umso kürzer. Im Dezember ging die Sonne schon um drei Uhr nachmittags unter, und das war einer der Gründe, weshalb Kai wirklich froh über Weihnachtsbeleuchtung war. Aber noch war es nicht soweit. An manchen Tagen schien eine goldene Herbstsonne und der Himmel war blau und wolkenlos. Neulich erst war er mal wieder mit Giulia und Raoul über den Flohmarkt auf dem Boxhagener Platz geschlendert - bald würde der auch in die Winterpause gehen. Es war beinahe angenehmer als im Sommer, weil nicht ganz so voll und, weil der Kaffee, den sie sich gekauft hatten, nicht zu warm sondern gerade richtig war. „Übrigens.” Takao ergriff das Wort, als längst das Essen auf dem Tisch stand und sie sich schon am Reis und Fisch bedienten. „Wir überlegen gerade, ob wir dieses Jahr über Weihnachten und Neujahr nach Japan fliegen. Hiromi hat noch ziemlich viel Urlaub und ich bin bis dahin wahrscheinlich auch wieder reif für die buchstäbliche Insel.” „Gute Idee”, gab Kai zu, „Wollt ihr nur zu euren Familien oder plant ihr was Besonderes?” „Silvester in Tokio wäre schon gut, oder?”, meinte Hiromi. Sie war gerade sehr auf ihr Essen konzentriert, und Takao warf Kai über den Tisch hinweg einen bedeutungsschweren Blick zu. Kai war sich nicht sicher, ob er das meinte, was er dachte. Seine Mundwinkel zuckten. „Silvester in Tokio ist super, das solltet ihr auf jeden Fall machen.” „Was machst du? Bleibst du hier?”, fragte Takao. Kai nickte. Ein Besuch bei seiner Familie im Jahr genügte ihm vollkommen. Den Konflikt mit seinem Großvater hatte er bis heute nicht beendet, vielmehr machten sie beide lediglich gute Miene, wenn sie aufeinander trafen. Kais Mutter war mit dieser Situation weniger als einverstanden, und ja, es tat Kai leid, dass sie das Ganze mit ansehen musste, aber sie war auch nicht der Typ Mensch, der Machtworte sprach. Und so saß sie zwischen den Stühlen und griff nur dann ein, wenn es zwischen Soichiro und ihm zu eskalieren drohte. Das machte ihre Treffen nicht entspannter. So sehr er sich auch jedes Mal freute, Misaki zu sehen, so froh war er auch, wenn er nach spätestens zwei Wochen wieder gehen konnte. Es war kompliziert. „Verstehe”, sagte Takao und ging nicht weiter auf das Thema ein. Hiromi hob den Kopf und blickte verständnislos von einem zum anderen, doch sie sagten jetzt nichts mehr, und sie akzeptierte ihr Schweigen. Die nächsten Minuten verstrichen in einträchtiger Stille. Dann rang Kai sich dazu durch, das Gespräch wieder aufzunehmen und Hiromi nach ihrem Befinden zu fragen. Sie war Referentin der Geschäftsführung bei einer großen Versicherung und hatte nach eigenen Angaben ihre Seele an den Teufel verkaufen müssen, um diesen Job zu bekommen. Kai hatte großen Respekt davor, hoffte aber, dass sie und Yuriy nie für ein längeres Gespräch aufeinander treffen würden. Jetzt erzählte sie bereitwillig von den neuesten Eskapaden ihres Bosses und dem Chaos, das, genauso wie bei anderen großen Firmen, bei ihnen herrschte. Nun war Takao derjenige, der eher wenig mitreden konnte, was er aber gut verkraftete. Sein Blick wanderte zwischen ihnen hin und her und er schien ehrlich glücklich in dieser Situation. Schließlich beendeten sie das Abendessen und lehnten sich auf ihren Stühlen zurück. Hinter den Fenstern war es vollkommen dunkel geworden. Takao stand auf und stellte drei Sakebecher nebst der Flasche auf den Tisch. „Wir gehen morgen übrigens zu einem Kneipenquiz”, sagte er, während er ihnen einschenkte, „Willst du nicht mitkommen?” „Danke, aber ich bin schon verplant”, entgegnete Kai und nahm nickend einen Becher entgegen. „Ich habe ein Date mit Yuriy.” Ihm fiel erst auf, was er gesagt hatte, als Takao beinahe sein Getränk aus der Hand rutschte. „Wie ist das denn passiert?” „So war das nicht gemeint”, stellte Kai klar und versuchte zu grinsen, „Wir treffen uns einfach in der Lilli für ein paar Drinks.” „Zu zweit?” „Ja?” „Und ihr habt es Date genannt, weil…?” „Weil es witzig ist”, sagte Kai ungeduldig, aber es war offensichtlich, dass weder Takao noch Hiromi ihm ein einziges Wort glaubten. Takao räusperte sich vernehmlich und prostete ihnen zu. Sie tranken. „So, und jetzt die Wahrheit”, sagte er dann. „Es ist die Wahrheit”, antwortete Kai mit Nachdruck. „Ich treffe mich mit Yuriy. Wir trinken was. Weiter… weiß ich nicht.” Ihm wurde schon wieder so warm; hoffentlich lag es am Alkohol. „Hmm…” Eins musste man Takao lassen, er konnte Kais charakteristisches Brummen sehr genau nachahmen. „Wer hat denn den Vorschlag gemacht, dass ihr euch trefft?” „Yuriy. Und bevor du fragst, er hat angefangen, es ein Date zu nennen. Aber das ist nichts Besonderes, wirklich. Wir werfen uns die ganze Zeit dumme Sprüche an den Kopf.” „Kai, ohne Scheiß”, sagte Takao, „Das sind keine dummen Sprüche. Sobald ihr zusammen seid, flirtet ihr. Hart. Ich muss es wissen, ich habe es schon live erlebt.” Er öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch ihm wollte keine einfallen. Also schnaubte er nur. Hiromi legte den Kopf schief. „Hättest du was dagegen, wenn es ein Date wäre?” Er hob die Schultern, mehr, um noch eine Sekunde Zeit zu gewinnen. „Nein”, gab er zu. „Und denkst du, Yuriy hätte was dagegen?” Nun musste er wirklich überlegen, wenn auch nur unwesentlich länger als vorher. „Ich glaube nicht”, sagte er. Sie Lächelte. „Na dann ist doch alles klar.” Auf einmal fühlte Kai sich hilflos. War wirklich alles klar? Er hatte gar nicht so genau über sein Treffen mit Yuriy nachgedacht. Sie verabredeten sich ja regelmäßig zu zweit, und das zu wesentlich intimeren Dingen als Drinks in einer Bar. Herrgott, sie schliefen sogar im selben Bett, wenn sie beieinander übernachteten! Also was bitte war jetzt anders als sonst? Wenn er ehrlich zu sich war, so musste er nicht lang über die Antwort nachdenken. Was aber nicht bedeutete, dass er sich intensiv damit beschäftigen wollte. Sein Plan war, dieses Date - oder was immer es war - möglichst ohne große Erwartungshaltung auf sich zukommen zu lassen. „Drei verdammte Jahre, Kai”, sagte Takao in diesem Moment. Kai hatte gar nicht bemerkt, wie er eine zweite Runde Sake eingeschenkt hatte. Auf einmal war sein Becher wieder voll. „Seit drei Jahren zieht ihr Kreise umeinander. Ich weiß noch, wie du mir von ihm erzählt hast. Du hattest so ein krasses Pokerface - ich wusste sofort, es hat dich voll erwischt.” „Takao-” „Und dann ist er zu mir gekommen und war so klein mit Hut.” Takao deutete die Größe zwischen Daumen und Zeigefinger an. „Weil er dachte, dass ich als dein Exfreund noch irgendwas zu sagen hätte. Und glaub mir, ich habe Yuriy Ivanov noch nie kleinlaut erlebt.” Er sah zu Hiromi, als würde er ihr eine Anekdote erzählen, deren Protagonist nicht gerade mit am Tisch saß. „Ich wäre damals jede Wette eingegangen, dass es nur eine Frage von Tagen ist, bis sie sich aufeinander stürzen. Aber irgendwie haben sie sich wirklich einzigartig blöd angestellt.” „Takao, ganz ehrlich…” Kai beendete den Satz nicht. Stieß die unverbrauchte Luft aus, frustriert. Er wusste nicht, was er erwidern, ja nicht einmal, was er denken sollte. Emotional war er auf einem ganz seltsamen Level, seit Yuriy ihm so schamlos seine Einladung hatte zukommen lassen. Deswegen hatte er auch nicht viel mit ihm kommuniziert - was aber nicht weiter auffiel, denn Yuriy hatte zwei lange Tage im Studio verbracht und war dann nach Warschau gefahren, von wo er erst morgen wiederkam. Und Kai selbst war beschäftigt damit, sein erstes Treffen mit Grypholion vorzubereiten. Er hatte sich schlicht nicht die Zeit genommen, über den morgigen Abend nachzudenken und fand das eigentlich auch ganz gut so. „Hey, ich wollte dich jetzt nicht outcallen oder so”, sagte Takao. „Was ich sagen will, ist: Was hast du zu verlieren?” Bei dieser Frage verdrehte er die Augen. „Unsere Freundschaft, Takao!”, sagte er laut, „Verstehst du das denn nicht? Berlin ohne Yuriy - das geht nicht! Nicht nach dem ganzen Scheiß der letzten Jahre.” Sein Gegenüber öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Sah ihn ungeduldig an. Hiromi an seiner Seite verfolgte die Auseinandersetzung sichtlich überrascht von Kais Ausbruch, jedoch nicht im Mindesten beunruhigt. „Ist er der Grund, warum du hier gegründet hast?”, fragte sie neugierig. „Nein”, sagte Kai sofort und meinte es auch so. „Eventuell habe ich mich auch wegen unserer Freundschaft dafür entschieden, hier bleiben zu wollen. Aber es war nur ein Grund von vielen.” „Kai, alles was du hier sagst, zeigt mir, dass du mehr für ihn übrig hast als ein rein sexuelles Interesse”, sagte Takao sehr ruhig, und Kai hatte das Gefühl, dass er gerade den Streetworker vor sich hatte, der sich jeden Tag mit Familiendramen auseinandersetzte. „Also warum denkst du, es gäbe zwischen euch nur reine Freundschaft oder einen Fick? Ich kenne Yuriy nicht so gut wie du inzwischen, aber ich bin ziemlich sicher, dass er dich ähnlich schätzt und respektiert wie du ihn. Also sollte es doch möglich sein, dass ihr einfach mal über eure Gefühle füreinander redet.” In Kai kochte sehr kurz Ärger hoch, der sich aber eher gegen ihn selbst als die anderen richtete. Wann zur Hölle war es so kompliziert zwischen Yuriy und ihm geworden? Sie hatten jahrelang eine wunderbare Freundschaft geführt und es war nie ernsthaft etwas passiert, was anderes vermuten ließ. Lag es daran, dass er, während er Miguel gedatet hatte, merkte, wie er trotzdem mehr Zeit mit Yuriy verbrachte? Oder daran, dass er schon seine Meinung zu Garland und Yuriy hatte, diese aber niemals aussprach? Er seufzte resigniert. „Ich möchte das nicht unbedingt mit euch ausdiskutieren”, sagte er, weil es der Wahrheit am nächsten kam. Takao war sein Exfreund, verdammt. Und Kai merkte, dass er deswegen der letzte Mensch war, mit dem er sich über sein Liebesleben unterhalten wollte. Zum Glück respektierte der andere das. „Okay”, sagte er. „Dann lass uns noch ein paar Gläschen trinken, und ich lästere ein bisschen über meine Klientel.” Am Sonntagabend stand Yuriy unschlüssig vor seinem Kleiderschrank. Er war müde und nervös, eine seltsame Kombination. Erst vor drei Stunden war er aus Warschau zurückgekommen, und anders als sonst war es ihm nicht gelungen, im Zug ein bisschen Schlaf nachzuholen. Sein Gepäck lag noch unangetastet auf dem Boden, er würde sich morgen darum kümmern. Sich für die Lilli schick zu machen war absurd. Die Bar lag im Wrangelkiez und war ziemlich ungezwungen - im Hemd fiel man dort eher auf als im Fummel. Er hatte diesen Ort vor allem wegen seiner Lage gewählt - Kai wohnte quasi, also für Berliner Verhältnisse, um die Ecke - aber auch, weil sie im Notfall einfach dort abhängen konnten, ohne Hintergedanken. Nicht einmal Boris wusste von diesem Treffen. Es war einfach zu wahrscheinlich, dass die Information dann an die falschen Leute geriet und sie am Ende zu zehnt dort aufkreuzten. Hatte es alles schon gegeben. Er liebte seinen Freundeskreis, aber manchmal waren sie einfach zu eng verbandelt. Boris schraubte heute mit Sergeij in dessen Werkstatt an seinem Subaru herum, daher wähnte Yuriy sich in Sicherheit. Er zog ein recht unspektakuläres, aber gut sitzendes schwarzes Shirt aus seinem Schrank, warf es über und fuhr sich durch die Haare. Er musste unbedingt zum Friseur gehen, denn so langsam ließ sich der Mob auf seinem Kopf nicht mehr bändigen. Yuriys Gedankengang wurde unterbrochen, als er einen flüchtigen Blick in den Spiegel warf und ihm dabei etwas ins Auge stach. Mit gerunzelter Stirn trat er näher. Tatsächlich: Ein einzelnes weißes Haar zog sich durch eine der roten Strähnen, glitzernd im Licht der Deckenlampe. Vielleicht war es bisher verdeckt worden, jedenfalls war es ihm noch nie aufgefallen. Und das, obwohl es sehr dicht an seinem Haaransatz wuchs. Ergeben seufzend wandte er sich ab. Wenn Boris ihn demnächst stressen sollte, würde er ihn lautstark für sein plötzliches Ergrauen verantwortlich machen. Verdient hatte sein bester Freund es allemal. Obwohl es nachts bereits merklich kühler wurde, zog Yuriy nur seine Lederjacke über das Shirt. Seinen alten Mantel hatte er letzten Winter verschlissen, und bisher hatte er auch noch keine Zeit gefunden, sich einen neuen zu besorgen. Da es vom Schlesischen Tor aber nicht sehr weit war bis zur Bar, ließ er es drauf ankommen. Während der Fahrt dorthin nahm wieder die Nervosität Oberhand. Er redete sich ein, dass dies hier nur ein normales Treffen mit Kai sein würde, aber er konnte sich nichts vormachen. Dabei hatte er nicht einmal einen Plan im Kopf, kein großangelegtes inniges Geständnis und schon gar keine unangebrachten Annäherungsversuche. Wahrscheinlich würde er einfach mit ein wenig Nachdruck flirten und dann sehen, wohin der Abend führte. Bloß keine zu hohen Erwartungen. Klar, dass Kai die wenigen Erwartungen, die er hatte, weit übertraf. Er wartete am Gleis auf ihn, und als Yuriy ihn sah, wurde ihm das ganze Ausmaß seines „Problems” bewusst. Jepp, das hier war ein Date, er hatte es angezettelt und in Kais Blick lag etwas, das ihm bestätigte, dass das alles absolut richtig so war. Kai war genauso unauffällig gekleidet wie er selbst, doch irgendwie schaffte er es, dass Klamotten an ihm immer saßen wie maßgeschneidert. Als Yuriy ihm entgegen gekommen war, hatte er noch gelächelt, doch nun hob er die Augenbrauen. „Du siehst fertig aus. Bist du sicher, dass du den Abend durchhältst?” „Hey, ich werde jetzt erst richtig wach”, entgegnete er, und das war nicht einmal gelogen. Sein Körper begann sich daran zu erinnern, dass er nachts arbeitete und bescherte ihm einen kleinen Energieschub - der hoffentlich nicht sofort wieder verpuffen würde. „Dein Wort in Gottes Gehör”, stichelte Kai, aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern schlug den Weg raus aus dem Bahnhof und in Richtung Wrangelkiez ein. Während sie zur Bar liefen, stellten sie beide fest, dass sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr dort gewesen waren. Die meisten LGBTQIA+ Lokalitäten befanden sich im Westen der Stadt, es gab überhaupt weniger Orte in der Nähe, an denen sie sich ungestört treffen konnten. Womöglich lagen ihre wenigen Barbesuche aber darin begründet, dass sie, wenn, dann meistens auf direktem Weg in einen Club zogen. Die Lilli war mäßig voll, eine recht normale Situation für einen Sonntag im Herbst. Draußen saßen die eher Hartgesottenen, und da Yuriy bereits auf dem kurzen Weg hierher ziemlich kühl geworden war, stand außer Frage, dass sie sich drinnen einen Platz suchen würden. Sie bereuten ihre Entscheidung, sobald sie die Bar betraten. Denn die ersten Personen, die sie dort sahen, waren Gianni und Oli. „Na schau mal einer guck.” Prompt schallte Olis bühnenerprobte Stimme durch den Raum. „Wen haben wir denn da? Hanni und Nanni.” Immer noch wie angewurzelt verharrten sie am Eingang; Yuriy warf Kai einen Blick zu, den der andere erwiderte. Er formte stumm das Wort „Fuck” und Kai verzog den Mund zu einem resignierten Grinsen. „Eeeey!” Das war Giancarlo. „Wir haben noch was frei, kommt rüber!” Etwas anderes blieb ihnen auch nicht übrig. Yuriy jedenfalls hatte keine Lust, den ganzen Abend die Blicke der anderen beiden im Rücken zu spüren, wenn sie ihnen keine Gesellschaft leisteten. Außerdem würde das die Gerüchteküche innerhalb ihrer Clique durch die Decke gehen lassen. Also schoben sie sich durch den Raum und ließen sich auf eine winzige gepolsterte Bank sinken. Immerhin wurde ihm jetzt wieder warm. Die Leute saßen recht eng an bunt zusammengewürfelten Tischen; erst auf den zweiten Blick wurden die tatsächlichen Ausmaße der Bar erkennbar, die Perspektive wurde verzerrt durch Spiegel an der Wand und das schummrige Licht. Die kleine Bühne in der Ecke lag heute allerdings in der Dunkelheit. Yuriy spürte Kais Bein an seinem, während der sich umständlich aus seinem Mantel schälte. Es war ein tröstliches Gefühl. Noch einmal trafen ihre Blicke sich, und Yuriy versuchte ein entschuldigendes Lächeln, woraufhin Kai nur kaum merklich die Schultern hob. „Gianni”, sagte er dann und deutete auf die leeren Gläser, die schon auf dem Tisch standen, „Sollen wir eine neue Runde besorgen?” „Auf jeden Fall!”, entgegnete Giancarlo gut gelaunt. Als sie sich erhoben, um zur Bar zu gehen, strich Kais Hand kurz über Yuriys Schulter, was ihn dazu brachte, ihm nachzusehen. Er merkte erst, was er tat, als Oli ihn ansprach. „Und, warum seid ihr an einem Sonntagabend noch unterwegs?” „Nur was trinken”, entgegnete er, „Du weißt doch, mein Wochenende fängt jetzt erst an.” Er wollte Oli keine Chance geben, seine Antwort anzuzweifeln, als schob er sofort eine Frage hinterher: „Und ihr? Ich hätte euch nicht unbedingt in einem Laden wie diesem erwartet. Ihr wohnt doch um die Ecke vom Nolle.” „Das ist wohl wahr”, sagte Oli, „Aber bevor ich zu dem großen Star wurde, der ich jetzt bin, habe ich mich auf vielen kleinen Bühnen herumgetrieben - unter anderem auf dieser da.” Oli zeigte in den Raum hinein. „Und Gianni und ich wollen das ein bisschen feiern. Zumindest mit ein, zwei Drinks. Unser Wochenende ist nämlich tatsächlich schon zu Ende.” „Verstehe.” In diesem Moment kamen die anderen beiden zurück. Kai reichte ihm ein Glas, von dem sofort kaltes Kondenswasser auf seine Jeans tropfte. „Gin Tonic”, sagte er, als er sich wieder neben Yuriy setzte. Sie prosteten sich mit Gianni und Oli zu, und dann nahm der Abend irgendwie seinen Lauf. Yuriy hielt sich weitestgehend aus dem Gespräch heraus. Kai hatte wohl angefangen, mit Gianni über „The Fab Shop” zu sprechen, als sie an der Bar waren, und nun nahm letzterer den Faden wieder auf. Auch Oli mischte sich irgendwann in den Business-Talk ein. Es war Yuriy nicht unrecht, dass er schweigen konnte. Irgendwie war er doch ziemlich müde von den letzten Tagen. Das Festival in Warschau war ziemlich wild gewesen, er hatte letztendlich bestimmt eine Stunde länger gespielt als geplant, und dann hatte es eine ganze Weile gedauert, zurück zum Hotel zu kommen. Und auch wenn die Planung und Koordination seine Gedanken fast vollständig eingenommen hatten, so hatte er doch nie ganz seine Verabredung mit Kai verdrängen können. Auch die ständige unterschwellige Nervosität forderte nun ihren Tribut. Natürlich hatte er sich diesen Abend anders vorgestellt, aber ändern konnte er an der Situation nun nichts mehr. Er hoffte lediglich, dass Gianni und Oli wirklich nach dem nächsten Drink gehen würden; schließlich waren sie ziemlich weit von zu Hause entfernt. Sein Blick wanderte von den beiden, die ihm gegenüber saßen, zu Kai. Seine neue Frisur war noch nicht wieder herausgewachsen, wenn auch etwas voluminöser als noch vor ein paar Wochen. Die feinen Härchen in seinem Nacken glänzten im Licht einer gedimmten Glühbirne, die neben ihnen von der Decke hing. Yuriy wusste, dass seine Haut dort sehr weich war, doch er wagte nicht, Kais Hals zu berühren. Stattdessen legte er irgendwann wie nebenbei den Arm hinter ihm auf die Lehne, eine weit unverfänglichere Geste. Seine Finger strichen unauffällig über Kais Schulter, und nach ein paar Sekunden merkte er, wie der andere sich ganz leicht in die Berührung lehnte. Spätestens jetzt blendete Yuriy vollkommen aus, was um ihn herum passierte, und konzentrierte sich auf den Stoff von Kais Shirt unter seiner Hand und seine Wärme, die auf ihn abstrahlte. Er musste sich zusammenreißen, um nicht die Augen zu schließen und stattdessen doch ein paarmal in die Runde zu blicken, als würde er dem Gespräch interessiert folgen. Wie nebenbei leerten sich ihre Gläser. Gianni bemerkte es als erstes und hob seines in die Höhe. „Was meint ihr, noch eine Runde?” Erst bei diesen Worten schreckte Yuriy wieder hoch. Natürlich wollte er absolut keine neue Runde, jedenfalls nicht zu viert, doch anders als sonst hatte seine Schlagfertigkeit dank der letzten Tage ganz schön an Geschwindigkeit verloren. . „Ich weiß nicht, Gianni”, sagte Kai in diesem Moment. „Ich hab morgen ein ziemlich wichtiges Meeting.” Er drehte sich zu Yuriy um. „Sollen wir gehen?” „Was?” Enttäuschung schwappte über ihn, doch Kai blickte ihn bedeutungsschwer an. „Ich kann dich zur Warschauer bringen. Oder wir spazieren zu mir nach Hause und du nimmst die U5.” „Oh.” Langsam dämmerte ihm, was sein Begleiter ihm sagen wollte. „Oh! Ja, lass uns das machen.” Endlich erlaubte er sich ein Gähnen, das vielleicht einen Ticken zu stark ausfiel. „Ich bin auch irgendwie müder als gedacht”, behauptete er. „Schade! Das war kurz.” Oli streckte die Arme nach ihnen aus, doch da sie sich einig waren, ließen sie sich nun nicht mehr aufhalten. „Lasst uns doch noch mal was ausmachen”, schlug Yuriy vor, und tatsächlich konnte er Oli damit etwas besänftigen. „Dann auch gerne im Regenbogenkiez, wenn es mal wieder entspannter ist.” Er zwinkerte. „Ich nehm dich beim Wort, Ivanov!”, rief Oli ihm hinterher, doch er winkte nur noch einmal, bevor er Kai folgte, der schon fast an der Tür angekommen war. Draußen war es still und kalt. Zwar standen ein paar Leute zum Rauchen hier und da, aber sonst war so gut wie niemand auf der Straße. „Tja”, sagte Kai amüsiert, „Das war tatsächlich kurz.” Yuriy schüttelte den Kopf. „Wie viel Pech kann man haben? Sorry. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.” „Naja.” Kai nestelte an seinen Mantelknöpfen herum, warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Wenn du mich wirklich bis nach Hause bringst, haben wir schätzungsweise noch eine halbe Stunde. Mehr, wenn wir noch irgendwo ein Wegbier finden.” „Ich mag wie du denkst, Hiwatari…” Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Anschlag hoch und schob die Hände in die Taschen. Sein Outfit war absolut ungeeignet für einen langen Spaziergang, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Kai hingegen schien die Kälte nicht so viel auszumachen. Sie liefen zurück zum Schlesischen Tor und dann hinauf Richtung Warschauer Straße. Einmal ratterte eine U-Bahn vorbei, ein paar Meter über ihnen. Auf der Oberbaumbrücke wehte ein recht scharfer Wind. Sie vermieden die alte Brückenkonstruktion, unter der es immer nach Pisse roch. Yuriys Blick ging über die Spree, hin zu einem Apartmentturm etwas weiter weg, gegen dessen Bau er vor bald zehn Jahren noch demonstriert hatte. Davor waren die Flussufer hier Brachland gewesen; Brachland und Mauerreste. Obwohl ihm durch die Bewegung höchstens minimal wärmer wurde, schlug Yuriy keinen schnelleren Schritt an. Sie schwiegen sich die meiste Zeit an, aber es war nicht unangenehm, im Gegenteil. Sie genossen die Gesellschaft des anderen. Es war immer so zwischen ihnen, wenig Worte, viel Gucken, selbst bei ernsthaften Gesprächen. Yuriy mochte es, wie schnell Kai seine Gedankengänge verstand - und das trotz ihrer Sprachbarriere. Schwierig wurde es eigentlich nur, wenn Kai von Dingen sprach, für die es nur in Japan ein Wort gab. Aber ihm gelang eigentlich immer eine präzise Beschreibung, ob nun auf Englisch oder auf Deutsch. Im Notfall versuchten sie es mit russischen Begriffen. Russisch war Kais schlechteste Sprache, aber Yuriy sagte nie etwas dazu; er hatte zu viel Respekt davor, wie gut Kai die anderen beherrschte. Sie erreichten die Warschauer Straße, wo sich ein paar Hotels und Spätis abwechselten, in denen auch zu dieser späten Stunde zumindest noch das touristische Leben weiterging. Auf den Stufen des U-Bahnhofes gegenüber und in dem Haltestellenhäuschen der Straßenbahn saßen Teenager und tranken. „Sollen wir uns hier was mitnehmen?”, schlug Kai vor. Im Sommer hatten sie es regelmäßig so gehalten wie die Kids hier: Sich mit einem letzten Bier auf den Bordstein oder eine Bank gesetzt und es irgendwie geschafft, zu reden (oder besser: zu schweigen? Oder was auch immer sie taten, um miteinander zu kommunizieren), bis die Sonne aufging. „Später”, entgegnete Yuriy aber, da er ahnte, dass die Spätis hier teurer waren als dreihundert Meter weiter. Vor ihnen stolperte eine Gruppe Menschen aus einem der Hoteleingänge, sodass sie ausweichen und etwas näher zusammenrücken mussten. Er spürte, wie sich Kais Hand unter seinen Oberarm schob, während sie etwas schneller liefen. Die Touristen bogen gleich wieder in die Karakokebar ab, aus der selbst heute schräges Wummern nach draußen drang. Dann hatten sie die S-Bahn-Brücke erreicht. Schwarzer Himmel über der Stadt ohne Sterne und der Fernsehturm, wesentlich näher als Yuriy es gewöhnt war. Kai löste den Griff um seinen Arm. Je näher sie dem Frankfurter Tor kamen, desto mehr ebbte das nächtliche Gewimmel wieder ab. In der Mitte der breiten Straße war ein Grünstreifen, die Bäume ließen langsam ihre Blätter, das trockene Laub raschelte über ihnen im Wind. Nach ein paar Minuten überholte sie eine Straßenbahn, verströmte dabei ihr gelbliches Licht. Drinnen ein paar Menschen wie in einem Hopper-Bild. Der nächste Späti kam auch bald in Sicht - leuchtend und blinkend an einer Straßenecke, als hätte man den Ton abgedreht. Sie waren die einzigen Kunden, auch das ungewöhnlich, in den wärmeren Monaten war einfach mehr los. Kai nahm zwei Flaschen aus einem der Kühlschränke und Yuriy legte noch eine Schachtel Zigaretten drauf, bevor er bezahlte. Als sie wieder draußen standen, reichte er Kai eine der Flaschen. Dabei streiften sich ihre Hände. „Gott, Yuriy, deine Finger sind eiskalt!” Er hob nur die Schultern. „Das ist ja nun nichts Neues.” Kai schnaubte, sein Blick war zweifelnd. Yuriy hoffte, dass man ihm nicht ansah, wie kalt ihm wirklich war, aber er machte sich nichts vor; er war komplett durchgefroren. „Guck mich nicht so an, wir sind doch sowieso gleich da.” Das stimmte leider, und eventuell ignorierte er in den nächsten Minuten die Kälte und lief absichtlich etwas langsamer. Nun da sie die Hauptstraße verlassen hatten, war es noch ein wenig dunkler. Zu beiden Seiten standen Wohnhäuser, in denen nur noch wenige Lichter brannten. In der Ferne rauschte leise der Verkehr auf der Frankfurter Allee. Kais Wohnung war nur noch ein paar Aufgänge entfernt. Yuriy hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen - beispielsweise die Dinge, die er Kai eigentlich schon den ganzen Abend sagen wollte. Es wäre alles leichter gewesen, hätten sie sich zwischen fremden Menschen einen leichten Schwips antrinken können. Jetzt waren sie allein in der Dunkelheit und etwas passierte zwischen ihnen, schon die ganze Zeit, aber er war zu befangen, um es anzusprechen. Warum zur Hölle fehlten ihm ausgerechnet bei Kai die Worte? „Trinken wir noch aus, oder ist dir zu kalt?” Kais Stimme holte ihn aus seinen Gedanken. Sie standen vor dem Hauseingang, dessen Bewegungsmelder offensichtlich mal wieder kaputt war. Und das bei einem Neubau. Kurz kam Yuriy die Idee, dem anderen vorzuschlagen, oben noch einen Tee zu trinken. Aber das bedeutete auch, dass sie im grellen Licht der Wohnung sitzen würden, und er war sich nicht sicher, ob das so eine gute Entscheidung wäre. Also machte er nur eine vage Bewegung mit dem Kopf, und sie setzten sich auf die zwei Stufen, die zum Eingang führten. Schräg über Kai leuchtete das Klingelschild, ansonsten war kaum noch etwas zu erkennen. Die nächste Straßenlaterne wurde von einem Baum verdeckt. Jetzt, im Sitzen, berührten sich auch ihre Beine, ihre Hüften, ihre Schultern. Endlich war ihm nicht mehr ganz so kalt. Er griff in seine Tasche und zog die Zigaretten heraus. „Das hier ist eine gefährliche Stelle”, sagte Kai sehr leise, „Im Sommer sitzen hier manchmal Leute, und es ist schrecklich. Der Eingang ist wie ein Verstärker. Wenn du Pech hast, kann das ganze Haus mithören.” Yuriy schmunzelte und stieß den ersten Rauchschwaden in die Nacht. „Das erinnert mich an etwas”, sagte er. „Als wir gerade in unsere Wohnung gezogen waren, hat direkt unter uns ein Typ alleine gewohnt. Im Sommer haben wir immer die Fenster offen gelassen, und so konnten wir eigentlich alles hören, was er so in der Nacht getrieben hat. Das war nicht viel, aber einmal hatte er eine Frau dabei. Die beiden saßen wohl bei ihm auf dem Balkon, und er wollte sie rumkriegen. Hat gefühlt stundenlang rumgeturtelt, kam aber einfach nicht zum Stich. Was nervig war, weil er laut genug geredet hat, um mich wach zu halten. Aber irgendwann höre ich, wie Boris aus dem Bett steigt, das Fenster aufreißt - und dann brüllt er einfach nach draußen: Mädel, jetzt sag schon endlich ja! - und knallt das Fenster wieder zu.” Er nahm einen Zug. „Danach war Ruhe.” Kai lachte leiste. „Deutsches Dating, schweres Dating”, meinte er, „Euer Nachbar hat sicher den ganzen Abend gekämpft.” „Aber hallo”, sagte Yuriy. Er hob seine Flasche an und stellte enttäuscht fest, dass diese schon fast leer war. Aber er hatte ja seine Zigarette, und Kai schien auch noch ein bisschen länger zu brauchen. „Ich habe nie kapiert”, sagte Kai, „Wie daten hier funktioniert. Also, abgesehen davon, dass sich sowieso niemand festlegen will. Aber es gibt auch keine Datingkultur wie in den USA, oder?” „Nein”, bestätigte Yuriy, „Ich weiß gar nicht, ob es überhaupt eine einheitliche Kultur gibt. Kann ja nur für Berlin sprechen. Als ich aufgewachsen bin, war es so: Du gehst in die Disko, gräbst wen an, ihr knutscht rum und dann wart ihr zusammen. Klar, vielleicht hielt es nur ein, zwei Wochen. Aber es galt. Und war für die Zeit auch exklusiv.” Wieder erklang Kais Lachen. Yuriy schloss kurz die Augen, spürte die Wärme der herunterbrennenden Zigarette an seinen Fingern. „Und wie gräbt man Berliner so an?”, fragte Kai. „Hmm”, machte Yuriy langgezogen. „Ist eigentlich nicht so schwer. Du gehst hin und machst einen dummen Spruch. So…” Er senkte die Stimme und beugte sich zu Kai. „Na Kleener, wie wär’s mit uns beiden?” Der andere brachte wieder etwas Abstand zwischen sie, um ihn anzusehen. „Was bitte soll man darauf antworten?”, kam es verständnislos von ihm. „Oh, also entweder mit einem genauso dummen Spruch - dann weiß ich, dass es geklappt hat. Oder du lässt mich abblitzen.” „Ah.” Kai legte den Kopf schief. „Gib mir eine Minute.” Er griff nach seiner Flasche und trank sie aus. In Yuriy stieg leises Bedauern auf, denn das bedeutete, dass der Abend sich dem Ende neigte. Was sollte er tun, wenn Kai jetzt aufstand, um nach drinnen zu gehen? Ihn aufhalten? Doch Kai blieb sitzen. Irgendwann wandte er sich ihm wieder zu. „Ich hab was”, sagte er und Yuriy hörte sein Grinsen. „Mach nochmal.” „Was? Oh!” Es dauerte einen Augenblick, bis er verstand, und vielleicht setzte sein Herz für einen Pulsschlag aus. Dann riss er sich zusammen, räusperte sich theatralisch und stieß Kai mit der Schulter an. „Na Kleener”, säuselte er, „Wie wär’s mit uns beiden?” Er konnte nicht erkennen, was in Kais Gesicht vorging, aber ihm schien, als würde er ihn verschmitzt anblinzeln, bevor er ebenfalls näher kam. Seine Hand strich ganz leicht über Yuriys Bein. „Sag mal”, raunte Kai, „Ist das dein Handy in deiner Tasche oder freust du dich nur, mich zu sehen?” In jedem anderen Moment hätte Yuriy wohl losgeprustet. Aber gerade waren Kai und er sich so nahe, dass ganz andere Gedanken ihn beherrschten. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor er feststellte: „Das war ein dummer Spruch.” „Allerdings”, sagte Kai. „Der dümmste, den ich kenne.” Yuriy beugte sich vor und küsste ihn. Erst nach ein paar Sekunden wurde ihm bewusst, was er tat. Kurz schoss die blanke Panik durch ihn, bevor ihm auffiel, dass Kai ihm entgegen gekommen sein musste, und vor allem, dass er den Kuss erwiderte. Und dann dachte er erst mal gar nichts mehr. Vergaß, dass sie auf einer kalten, harten Treppenstufe im Dunkeln saßen wie zwei Teenager, denn Kai brachte ihn in genau diesem Moment dazu, den Mund zu öffnen, damit ihre Zungen sich berührten. Vorsichtig tastete Yuriy nach dem anderen, seine Hand wanderte Kais Arm hinauf und legte sich - endlich - in seinen Nacken, um ihn ein Stück heranzuziehen. Spürte die weiche, warme Haut unter den Fingerspitzen. Kais Lippen waren am Anfang noch kalt gewesen, doch das hatte sich schnell geändert. Und auch Yuriys Körper schien auf einmal ignorieren zu können, dass er eigentlich fror. Es war sicher bald Zeit, sich wieder zu lösen - ernsthaft, Küsse sollten doch nicht so lange dauern, oder? - doch sie fanden immer wieder zueinander, als passierte ihnen das zum ersten Mal. „Ich kann nicht aufhören”, murmelte Yuriy irgendwann in einer Atempause. „Dann tu’s nicht”, entgegnete Kai, bevor er ihm wieder entgegen kam und ihn noch verlangender küsste als zuvor. Und das war eigentlich die beste Entscheidung, denn sobald sie hiermit aufhörten, würden sie reden müssen, oder? In diesem Moment krallte sich Kais Hand, die immer noch auf seinem Oberschenkel lag, ganz leicht in seine Jeans. Diese Berührung löste erschreckend plötzlich einen Schauer in ihm aus, als würde sein Körper erst jetzt begreifen, wo er sich befand. Die Realität brach über Yuriy zusammen, und mit ihr die Kälte. Er fing an zu zittern, musste sich von Kai lösen, was das Ganze nur noch schlimmer machte. „Oh Fuck, Yuriy”, hörte er Kai sagen, dann fühlte er, wie der andere die Arme um ihn legte und seinen Rücken rieb, als könnte er damit Wärme erzeugen. „Lass uns hochgehen, sonst erfrierst du noch.” „Ist das so eine gute Idee?”, fragte er. Als Kai seufzte, spürte er seinen Atem am Ohr. „Es ist mir wesentlich lieber, als wenn du jetzt gehst”, sagte er. Kapitel 6: Wir haben erst angefangen ------------------------------------ Neben Yuriy aufzuwachen war nichts Neues, auch nicht an einem Montagmorgen. In der Vergangenheit war Kai in so einer Situation meist leise aufgestanden, hatte Kaffee gemacht und war zur Arbeit gegangen, denn Yuriy wusste, wo sein Zweitschlüssel lag und warf diesen in seinen Briefkasten, wenn er ging. Normalerweise war es auch so, dass sie einen höflichen Abstand hielten, wenn sie beide im Bett schliefen, oder Yuriy legte sich gleich auf die Couch. Gestern waren sie Arm in Arm eingeschlafen. Yuriy war noch immer sehr dicht neben ihm, er hörte seine tiefen Atemzüge. Allerdings hatte er sich so fest in die Decke gewickelt, dass Kai sein Gesicht nicht sehen konnte. Im ersten Moment hatte er das Bedürfnis, sich einfach aus der Wohnung zu schleichen wie immer. Aber so leicht ließ sich das wohl nicht lösen. Er streckte die Hand aus und berührte ihn. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis der andere sich regte, dann hörte er ein Seufzen, bevor blaue Augen ihn ansahen. „Hey”, sagte Kai. Yuriy blinzelte zu ihm hoch. „Hey”, sagte er rau. „Musst du zur Arbeit?” „Nein. Jedenfalls nicht sofort.” Er ließ sich wieder auf den Rücken fallen und legte den Arm übers Gesicht. Am liebsten hätte er noch ein bisschen gedöst. Er spürte, wie Yuriy sich bewegte, und als er in seine Richtung schielte, bemerkte er, dass er den Kopf aufgestützt hatte und ihn beobachtete. Die Stimmung zwischen ihnen war nicht unangenehm, trotzdem war er nervös. Sein Mund fühlte sich sehr empfindlich an, und das machte es nicht besser. Natürlich war es nicht beim Kuss auf der Treppe geblieben. Nachdem er Yuriy mit einem Tee auf die Couch verfrachtet und sich dann zu ihm gesetzt hatte, hatte es nicht lang gedauert, bis sie wieder aneinander hingen. Warum küsste Yuriy auch so gut? Es hatte ihm komplett das Hirn vernebelt. „Ich kann Kaffee machen”, sagte Kai schließlich und ließ den Arm wieder sinken. „Sollen wir dann darüber reden?” „Ja, das wäre wohl gut”, meinte Yuriy, „Beides. In der Reihenfolge.” Und so fanden sie sich zehn Minuten später - immer noch ungeduscht, immer noch in Shorts und T-Shirt - an Kais schmalem Küchentisch wieder, zwischen sich zwei dampfende Tassen. Yuriy schien spätestens heute komplett durch, was Kai aber auch nicht verwunderte, nach dem Wochenende, das hinter ihm lag. Seine Stimme klang etwas nasal, vielleicht hatte er sich erkältet. Yuriy war selten krank und noch seltener zurückhaltend in Gesprächen; wahrscheinlich wartete er darauf, dass Kai anfing zu sprechen. Der allerdings wusste selbst nicht, wie er beginnen sollte. „Also”, sagte Yuriy nach dem ersten Schluck aus einer Tasse und schaffte es tatsächlich, zu grinsen, wodurch er wieder fast wie er selbst aussah. „Die wichtigste Frage - Was zur Hölle ist gestern Abend passiert?” „Ich denke, das Was ist uns durchaus klar”, meinte Kai, „Interessant ist wohl eher das… Warum?” Sein Blick senkte sich ganz automatisch, denn das Warum betraf ihn genauso wie Yuriy. Schließlich hatte er gestern ebenso hart geflirtet. Er konnte nicht einmal sagen, wann er damit angefangen hatte. Vielleicht schon, als sie sich im Bahnhof gegenüber gestanden hatten, weil er spätestens in diesem Augenblick realisierte, dass er mit bestimmten Erwartungen zu diesem Treffen gekommen war. „Fragst du dich das wirklich?”, entgegnete Yuriy. „Dir ist klar, dass ich auf dich stehe, oder?” „Ja, verdammt, aber das macht es nicht besser”, murmelte Kai und hob nun seine eigene Tasse, um nichts weiter sagen zu müssen. Yuriy wusste schließlich ebenso sicher, wie Kai über ihn dachte. Es war nie ein Geheimnis zwischen ihnen gewesen, im Gegenteil, manchmal zogen sie sich gegenseitig damit auf, und wenn nicht sie, dann die anderen. Und Kai hatte es nie ernst nehmen wollen, aus dem einfachen Grund weil - „Du hast gesagt, du willst ums Verrecken nicht mit mir zusammen sein!”, sagte er lauter als geplant und realisierte verwirrt, wie beleidigt er klang. Yuriy starrte ihn entgeistert an. „Das war vor drei Jahren, Mann!” „Ja, und? Was hat sich geändert?” Für Kai war es immer dieser eine Satz gewesen, der ihn davon abhielt, etwas zu tun, das er später bereuen könnte. Damals hatten sie sich bewusst für ihre Freundschaft entschieden, und für ihn war die Sache damit erledigt. „Und jetzt sag mir bitte nicht, dass du nur mal ausprobieren wolltest, wie es so ist”, fügte er hinzu, weil er verwirrt war und auch irgendwie wütend auf Yuriy, der ihn erst in diese Situation gebracht hatte. „Jetzt hör aber auf.” Yuriy wirkte verletzt. Kai fühlte augenblicklich Reue, aber nun waren die Worte ausgesprochen. Und außerdem interessierte ihn die Antwort wirklich. Nur um sicherzugehen. „Denkst du wirklich, dass ich so bin?” Kai seufzte. „Tut mir leid”, sagte er und rieb sich die Stirn. „Ich bin nur verwirrt. Mehr als alles andere.” Wieder trafen sich ihre Blicke und Kai sah, wie Yuriys Kiefer sich nervös bewegte, wie er sich auf die Wange biss. „Vielleicht noch mal von vorn”, schlug Yuriy vor. „Was gestern passiert ist, war gut, oder?” In Kais Magen setzte ein angenehmes Blubbern ein. „Ja”, sagte er ehrlich. „Aber wenn es jetzt dadurch anders zwischen uns wird, dann wäre mir lieber, es wäre nie passiert.” „Dann haben wir wohl ein Problem”, meinte Yuriy, „Denn ich möchte schon, dass etwas anders wird.” Er ließ den Arm sinken, sodass seine geöffnete Hand kurz neben Kais Tasse auf dem Tisch lag. Kai zögerte, dann griff er nach dem anderen. Strich mit den Fingerspitzen über sein Handgelenk, über das eintätowierte Play/Pause-Zeichen, das ihm so vertraut war. Diese Geste beruhigte sie wohl beide, denn er hörte, wie Yuriy ausatmete. „Was ich damals gesagt habe, meinte ich auch so”, sagte er. „So sehr ich dich mag, ich hätte nicht mit dir zusammen sein können. Das hätte ich irgendwie nicht mit mir selbst vereinbaren können.” Kai hob die Schultern. „Verständlich.” „Nein, eigentlich nicht”, entgegnete Yuriy. „Ich komme mir vor wie der letzte Arsch. Weil ich dir die ganze Zeit Vorträge gehalten habe, darüber, wie du dein Leben zu leben hast und wie du Dinge besser machen kannst. Aber ich habe mich sehr lange nicht gefragt, wo du herkommst und was dich geprägt hat. Ich glaube, inzwischen verstehe ich das besser. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, was mich damals abgehalten hat, dann kommen mir diese Dinge jedenfalls ziemlich banal vor.” Kai war erstaunt. Er hatte es nie als belastend empfunden, wenn Yuriy ihm „Vorträge” hielt. Vor allem, da ihm diese Dinge durchaus einleuchteten. Und so hatte er womöglich sogar davon profitiert, immerhin wäre ihm die Idee für Phoenix Consulting auch nie gekommen, wenn Yuriy ihn nicht über Jahre hinweg in die richtige Richtung geschubst hätte. „Weißt du eigentlich, wie viel du für mich getan hast?”, fragte er deswegen. „Du hast mir geholfen, aus dem Deal mit Soichiro rauszukommen. Du hast mir gezeigt, dass ich Gutes tun kann, ohne dabei irgendwas kaputt zu machen. Ohne dich wäre ich jetzt da, wo ich niemals hinwollte.” Er stockte, spürte, wie Yuriys Finger sich um seine schlossen, bevor sie wieder losließen, um über seinen Unterarm zu streichen. „Aber deswegen zögere ich jetzt auch so sehr”, gab er zu, „Denn das schlimmste, was passieren könnte, ist, dich zu verlieren wegen einer… einer Dummheit.” „Warum denkst du, du könntest mich verlieren?” Er presste die Lippen aufeinander. Es fiel ihm nicht leicht, über dieses Thema zu sprechen, denn eigentlich schämte er sich ein wenig dafür. „Es war ganz ähnlich mit Takao”, sagte er schließlich. „Wir waren auch befreundet, bevor wir zusammen waren. Es gab eine Zeit, in der ich dachte, ohne Takao würde ich es keinen Tag länger hier aushalten. Und als wir zusammen waren, war es schön. Aber danach… War es einfach nicht mehr wie vorher. Ich meine, ich weiß, dass das normal ist. Aber wenn das mit dir auch passieren würde… Takao und ich haben uns auseinander gelebt. Wir sehen uns alle paar Wochen mal, ich weiß so gut wie nichts mehr über sein Leben. Und das will ich für uns einfach nicht. Berlin ohne dich - das geht nicht.” Wieder machte er eine Pause, suchte nach Worten. „Deswegen”, fuhr er nach ein paar Sekunden fort, „überleg dir gut, was du willst.” „Scheiße, denkst du, ich hab keine Angst?”, entgegnete Yuriy. „Alles was du gerade gesagt hast, habe ich auch schon gedacht. Ich will nicht mit irgendeiner kurzen Geschichte unsere Freundschaft kaputt machen. Aber ganz ehrlich, Kai: Freundschaft reicht mir nicht mehr. Ich will nicht nur mit dir abhängen und tiefsinnige Gespräche führen. Ich will auch nicht nur in deiner Vergangenheit herumwühlen, um all deine dunklen Geheimnisse aufzudecken. Und ich will mir erst recht nicht nur das Hirn mit dir rausvögeln.” Er machte einen Atemzug und Kai merkte, dass er in den letzten Minuten die Augenbrauen sehr weit nach oben gezogen hatte. „Ich will alles davon”, sagte Yuriy, „Und gerade will ich das so sehr, dass mir meine Angst scheißegal ist. Weil ich denke, dass wir das schon irgendwie hinkriegen würden.” Noch immer sagte Kai nichts, konnte nichts sagen, und Yuriys Blick wurde zweifelnd. „Was willst du, Kai?”, fragte er. Er nahm sich Zeit. Trank Kaffee und ließ zu, dass sich ihre Hände auf dem Tisch einmal mehr verschränkten. Langsam begriff er, was sein Gegenüber soeben gesagt hatte: Yuriy wollte ihn. Nicht nur mal so, wie eine flüchtige Idee, sondern ernsthaft. Eben weil er nicht ohne ihn sein wollte. Und irgendwie übertrumpfte die Vorstellung, ihn nicht mehr gehen lassen zu müssen, seine Befürchtungen. Selbst für ihre Freundschaft hatten sie arbeiten müssen, also warum sollte es in einer Beziehung anders sein? Sie waren daran gewöhnt. „Ich will keine halben Sachen”, sagte er endlich und hob wieder den Blick. „Ich will kein Rumeiern oder eine Probezeit oder was auch immer - wir kennen uns seit drei Jahren, ich glaube, ich weiß, worauf ich mich einlasse. Und ich will auch keine Nebenbeibeziehung, bei der ich dich nur einmal die Woche sehe. Ich bin zufrieden mit meinem Leben, und ich will jemanden, mit dem ich das teilen kann, und zwar alles davon. Aber so wie ich uns kenne wird das gar nicht so einfach. Also: Ganz oder gar nicht. Anders halte ich es nicht aus.” „Du weißt doch, was ich dir über die Datingkultur hier erzählt habe”, sagte Yuriy und kitzelte Kais Handfläche. „Mitgehangen, mitgefangen. Ich weiß, worauf ich mich einlasse.” „Sicher?” Seine Mundwinkel hoben sich. „Na, wir werden sehen.” Das Blubbern in seinem Magen hatte die ganze Zeit über angehalten, und jetzt kam schon wieder diese vermaledeite Wärme in seinem Gesicht dazu. „Also ja?”, fragte Yuriy. Kai sah ihn an, das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. „Es gibt noch eine Bedingung”, sagte er. „Die wäre?” „Das mit Garland muss aufhören.” „Kai.” Yuriy sah ihn an, als hätte er etwas Überflüssiges ausgesprochen. „Natürlich hört das auf.” „Und zwar bald, denn ich habe Garland gerade engagiert für... „ Seine Augen wurden weit. „Oh shit.” „Was ist los?”, fragte Yuriy, doch Kai war schon von seinem Barhocker gerutscht und zu seinem Bett gestürzt. Wühlte zwischen den Laken nach seinem Handy, fand es unter dem Kopfkissen. „Oh shit, es ist schon nach zehn”, stellte er mit Blick auf den Bildschirm fest, dann wandte er sich wieder zu Yuriy um. „Ich hab um eins einen Termin bei Grypholion.” „Mit Garland?” „Nein, aber ich habe ihn für das Projekt gekauft”, erklärte Kai. „Und ich will nicht der erste sein, der mit ihm über uns redet, also musst du es schnell machen. Verdammt, ich wollte eigentlich noch ins Büro, bevor ich dorthin fahre…” Unschlüssig stand er im Raum; er musste Mariam anrufen und wenigstens Bescheid sagen, dass er direkt zu Grypholion ging. Glücklicherweise nahm er seinen Laptop immer mit nach Hause und hatte so alle wichtigen Papiere bei sich. Trotzdem, er war ungeduscht und musste sich darüber hinaus noch in einen Anzug bequemen… „Kai.” Auf einmal war Yuriy vor ihm und sah milde lächelnd auf ihn herab. „Bevor du in den Arbeitsmodus verfällst, eine kurze Frage.” Er brummte zum Zeichen, dass er zuhörte. „Sind wir zusammen?” Da war sie wieder, die Hitze. Bekam er gerade rote Flecken am Hals? „Oh shit”, sagte er zum dritten Mal, „Ich glaube schon, oder?” „Gut. Nicht erschrecken, ich werde dich jetzt küssen. Und dann kannst du meinetwegen deinen Pflichten nachkommen, während ich noch eine Runde chille.” Aber dieses Mal war Kai schneller. Er zog Yuriy zu sich heran und küsste ihn fest. Es war wie eine Bestätigung. Ja, verdammt, er wollte diesen Mann für sich haben. Allein die Tatsache, dass er bisher nicht einmal geahnt hatte, wie gut sich diese Lippen anfühlten, grenzte eigentlich schon an ein Verbrechen. Sein Hirn machte noch zwei, drei, vier Minuten lang Pause, bevor sie sich wieder lösten und er endlich seine Gedanken zusammen nahm. Während Kai kreuz und quer durch die Wohnung eilte, holte Yuriy sich seine Kaffeetasse und rettete sich auf das Bett. Zwar sah es so aus, als würde er irgendetwas auf seinem Handy lesen, doch Kai war sich ziemlich sicher, dass er ihn heimlich beobachtete. Die Bestätigung kam, als er gerade sein Hemd zuknöpfte. „Verdammt, Kai. Boris hat echt ganze Arbeit geleistet”, sagte Yuriy, und sein Blick half nicht gerade dabei, die Knöpfe souveräner zu schließen. „Und das fällt dir jetzt auf?”, fragte er belustigt, während er weiter an sich herumfriemelte. „Hey, ich hab dich schon lange nicht mehr im Anzug gesehen! Was ist das überhaupt für ein Verein, für den du dich so schick machst?” Erleichtert seufzend schloss Kai den letzten Knopf und stopfte das Hemd in die Anzughosen, bevor er sich vor den Spiegel an seinem Kleiderschrank stellte. Seine Haare waren noch etwas feucht, aber wenn er sie mit etwas Spray bändigte, würde es schon gehen. Und es war ja auch noch etwas Zeit, bis er los musste. „Grypholion macht Cyber-Security”, erklärte er schließlich. „Die kümmern sich um Anti-Virenprogramme und Schutz vor Hackerangriffen und so. Das Unternehmen gehört Jürgens-McGregor, deswegen muss ich mir ein bisschen Mühe geben.” Er tauschte im Spiegel einen Blick mit Yuriy. „Ich kann deine Gedanken an deinem Gesicht ablesen”, stellte er fest. „Aber ich glaube, dass zumindest Ralf sich mir so wieder annähern will. Vielleicht hat er in den letzten Jahren ein bisschen was dazugelernt.” „Sei bloß vorsichtig”, warnte Yuriy, „Und lass dich nicht in irgendwas reinziehen.” Kai drehte sich zu ihm um. „Grypholion hat mich kontaktiert, weil sie ein Consulting wollen. Ich sehe mir die Sache an, und wenn mir irgendwas komisch vorkommt, bin ich raus. Ich schulde denen gar nichts.” „Das ist die richtige Einstellung. Bin stolz auf dich.” Ihm entwich ein leiser Atemzug, dann ging Kai noch einmal zum Bett, um sich, ungeachtet des gebügelten Hemdes, neben Yuriy fallen zu lassen. Der hob schnell seine Tasse an, damit er nichts verschüttete. Müde blinzelnd sah Kai zu ihm auf. „Und wann sehe ich dich wieder?” „Hmm. Heute Abend?” „Oh.” Warum war es im Bett so gemütlich? Er wollte sich wieder hinlegen und sich noch ein wenig an Yuriy schmiegen. „Wartest du, bis ich wiederkomme?” „Hättest du wohl gern!” Yuriy gab ihm einen Klaps auf den Bauch und ließ seine Hand dann dort liegen, vielleicht, um noch mal die Früchte von Boris’ Trainingseinheiten zu prüfen. „Ich muss leider auch demnächst los. Treffe mich mit Garland zum Mittag, und dann will ich nach Hause und an meinen Tracks arbeiten.” „Das ging ja schnell.” „Wir sind beide selbstständig und daher sehr flexibel. War auch in der Vergangenheit recht praktisch.” Zugegeben, Kai war überrascht, wie bald Yuriy reinen Tisch machen wollte, doch eigentlich bestätigte das nur noch einmal, dass seine Entscheidung richtig war. Außerdem schien es Yuriy nicht im Mindesten aus der Ruhe zu bringen, seinem Betthäschen den Laufpass geben zu müssen. Hatten sie es am Ende wirklich immer nur aus Bequemlichkeit miteinander getrieben? Er würde wohl nie ganz dahinter steigen, und wenn er ehrlich zu sich war, so reichte ihm das, was er bereits wusste, auch vollkommen aus. „Du kannst heute Abend vorbeikommen”, fuhr Yuriy fort, „Aber sei gewarnt, Boris ist auch da.” „Boris”, murmelte Kai. „Sag bloß, ich muss dich jetzt mit ihm teilen?” „Du weißt doch: Uns gibt es nur im Doppelpack. Aber wenn es dich tröstet, Boris macht heute Lasagne.” „Überzeugt.” Er streckte den Arm aus und strich mit dem Handrücken über Yuriys Wange. Seine Fingerknöchel fuhren sehr leicht über die Lippen des anderen, die sich ihm entgegenwölbten, und er begann zu bereuen, in den nächsten Minuten mit der Arbeit beginnen zu müssen. Ganz unvorbereitet sollte er nicht bei Grypholion erscheinen. „Ich will nicht aufstehen”, sagte er überflüssigerweise. Yuriy, der zuvor auf den Handybildschirm geblickt hatte, linste zu ihm herab. „Du bist doch der Chef. Ruf an und sag deinen Leuten, dass du nicht kommen kannst, weil…” Sein Gesicht hellte sich auf. „Weil du den DJ abgeschleppt hast!” Ächzend drehte Kai sich um und vergrub das Gesicht im Kissen. „Scheiße”, murmelte er, „Wir sind in Berlin. Das könnte sogar klappen.” Kapitel 7: Ist nicht so schwierig, oder? ---------------------------------------- Im Vergleich zu den Entfernungen, die Yuriy sonst so in dieser Stadt zurücklegte, war es von Kais Wohnung aus nach Kreuzberg beinahe ein Katzensprung. Garland und er hatten sich in der Oranienstraße verabredet. Während er in der U-Bahn stand und der Kiez vor den Fenstern vorbeiruckelte, merkte er, dass er schon die ganze Zeit ziemlich breit grinste. Kai war gegen halb zwölf gegangen und Yuriy hatte daraufhin geduscht und sich an seinem Kleiderschrank bedient. Aus dem Shirt, das er nun trug, stieg ihm Kais Duft in die Nase, und vielleicht war das der Grund, weshalb sich die letzten Stunden immer und immer wieder vor seinem inneren Auge abspulten. Er konnte immer noch nicht fassen, wie dieses schreckliche Date so einen Ausgang hatte nehmen können. Scheiße, er war mit Kai zusammen. Ihre Freunde würden ihnen das Leben schwer machen, sobald sie davon erfuhren. Zunächst aber musste er Garland beibringen, dass ihre Treffen zu zweit gezählt waren. Er hatte kein schlechtes Gewissen dabei – Garland hatte ihn damals, als Mystel in sein Leben getreten war, auch sehr unspektakulär davon in Kenntnis gesetzt. Er sollte es also verstehen können. Natürlich war ihr Verhältnis durch ihr Stelldichein inniger geworden; Yuriy hatte aufgrund einiger anfänglicher Missverständnisse über ein paar Dinge aus seiner Vergangenheit mit ihm sprechen müssen, die er sonst lieber unerwähnt oder zumindest nur angedeutet ließ. Und Garland war ehrlich mit ihm gewesen, was seine Gefühle für Brooklyn anbetraf, die ihm teilweise bis heute zu schaffen machten. Letztendlich hatte aber beides dazu geführt, dass das, was sie hatten, für beide Seiten genau das war, was sie brauchten. Und ja, rückblickend war Yuriy Garland sogar dankbar, immerhin hatte er auch ein bisschen was über sich selbst gelernt. Garland stand schon vor dem Restaurant, in das sie gehen wollten, wirkte allerdings etwas nervös. „Hey“, sagte er, als Yuriy vor ihm stand, „Das war ja jetzt sehr spontan. Muss ich mir Sorgen machen?“ „Hm, weiß nicht. Vielleicht?“, entgegnete er. Garland packte ihn am Arm. „Shit, ist etwa was mit deinem Test nicht in Ordnung?“ „Was?“ Yuriy starrte ihn an, dann begriff er, was der andere meinte. „Oh Gott, nein! Nein, damit ist alles gut. Es ist etwas anderes. Lass uns reingehen.“ Garland atmete erleichtert aus und kurz tat er Yuriy leid, denn er hatte gar nicht daran gedacht, wie sein plötzlicher Anruf auf ihn wirken könnte. „Sorry“, sagte er leise, aber der andere schüttelte nur den Kopf und wies zum Eingang des Restaurants. Sie fanden einen Platz am Fenster und Yuriy, der natürlich immer noch lediglich seine Lederjacke trug, war froh über die Heizungswärme. Es war mäßig voll dank des Mittagsandrangs, dennoch konnten sie sich hier unbeobachtet fühlen. Die Mittagskarte war übersichtlich und günstig, und so konnten sie schnell bestellen und sich dann den wesentlichen Dingen zuwenden. „Also“, fing Garland an, „Da du dich bester Gesundheit erfreust, ist meine größte Angst aus dem Weg geräumt. Schlimmer als das kann es nicht sein, also schieß los.“ Yuriy verzog amüsiert den Mund, dann sah er auf in Garlands Augen, die ihn neugierig musterten. Verdammt, er wusste nicht, wie er es formulieren sollte. Einfach so wie es war, oder? „Um es kurz zu machen“, sagte er, „Wir können uns nicht mehr treffen. Nicht so, meine ich.“ „Okay.“ Unbeeindruckt stützte sein Gegenüber das Kinn auf die Faust. „Darf ich fragen, warum?“ „Es ist etwas passiert.“ Sein Blick ging zur Decke, bevor ihm bewusst wurde, was er tat. „Aha?” Sein Gegenüber wartete noch ein paar Sekunden, dann verlor er die Geduld. „Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!” „Ja, schon gut!” Yuriy wusste ja selbst nicht, warum er so zögerte. Es war, als würde sich, sobald er es aussprach, herausstellen, dass alles nur ein Traum gewesen war. „Ich hatte ein Date mit Kai”, sagte er schließlich. Garlands Arm fiel auf die Tischplatte. „Nein!“ Ihm stand der Mund offen, dann grinste er anzüglich. „Ohne Scheiß jetzt? Erzähl mir alles. Wann? Wie?” „Gestern. Und es war schrecklich.” „Oh.” „Aber…”, fuhr Yuriy fort, und der Bierdeckel vor ihm auf dem Tisch war plötzlich sehr interessant, „Wir haben uns trotzdem geküsst.” „Oh!” „Dann haben wir geredet…” Jemand hatte etwas auf den Bierdeckel gekritzelt. Seufzend drehte Yuriy ihn um. „Und haben beschlossen, dass wir es miteinander versuchen wollen.” Es schien nicht möglich, dass die Augen seines Gegenübers noch runder werden konnten. Dann sammelte er sich, schlug die Hände zusammen – ob nun aus Resignation oder als Andeutung von Applaus war schwer zu sagen – und flüsterte: „Oh. Mein. Gott.“ Eine kurze Pause. „Wissen schon alle was davon?“ Er griff wie nebenbei nach seinem Essen, dass gerade gekommen war, und schob sich ohne hinzusehen den ersten Löffel davon in den Mund. Auch Yuriy zog seinen Teller zu sich heran. „Du bist der erste, der es erfährt.” Garlands Augenbrauen schnellten in die Höhe, aber er kaute noch und konnte deswegen nichts sagen. „Ich weiß“, meinte Yuriy, „Kai hat mich ein bisschen gedrängt, weil ihr beide wohl zusammenarbeitet?“ „Ja, er hat mich für ein Projekt angefragt“, sagte Garland. „Ihr lasst gerade echt nichts anbrennen, oder? Erst drei Jahre lang Flaute, und dann lässt man euch ein paar Stunden allein und - Zack.” Er klang immer noch eher ungläubig als belustigt, obwohl er sich reichlich Mühe gab. Es entstand eine kleine Pause, in der auch Yuriy endlich mit dem Essen begann. Er wartete ab. Garland stocherte sehr betont auf seinem Teller herum, dann legte er die Gabel zur Seite und griff nach seinem Glas. „Habt ihr es schon miteinander getrieben?” „Haben wir nicht”, entgegnete er, „Warum denken das eigentlich immer alle sofort?“ „Weil ihr drei Jahre lang thirsty aufeinander wart“, schoss Garland zurück. Nun war Yuriys es, der seinem Blick auswich, was aber nicht half, denn er fühlte sich immer noch beobachtet. „Weiß Kai Bescheid über… das, was wir so besprochen haben?“, fragte Garland schließlich. Yuriy seufzte. „In Ansätzen“, antwortete er. Es war schon eine Weile her, dass Kai und er tiefgründige Gespräche über ihre verflossenen Beziehungen geführt hatten. Grundsätzlich wussten sie zumindest grob, was im Leben des jeweils anderen vor sich gegangen war. Es waren die Details, die Yuriy schwerfallen würden, doch davon wollte er sich nicht aufhalten lassen. Nicht mehr. Und wenn er mit Garland über diese Dinge reden konnte, sollte es mit Kai doch umso besser funktionieren. „Verstehe”, sagte der andere in diesem Augenblick. „Ihr werdet das schon hinkriegen.” Diesmal lächelte er ganz ehrlich. „Obwohl euer Timing natürlich auch nicht bescheuerter hätte sein können. Ich habe wenig Lust, den Winter allein zu verbringen.” Er verzog den Mund. „Ich werde dich vermissen.” „Hey, ich bin nicht komplett aus der Welt!” „Korrigiere: Ich werde deinen Schwanz vermissen.” „Na wenigstens bist du ehrlich.” Yuriy musterte sein Gegenüber, versuchte zu ergründen, wie viel von seiner Leichtigkeit echt und wie viel vermutlich nur aufgesetzt war. Eigentlich war er der Überzeugung, dass Garland keine tiefergehenden Gefühle für ihn hegte; aber Yuriy hatte ihn durch einige Höhen und Tiefen begleitet, und es würde ihn nicht wundern, wenn Garland dadurch ein bisschen an ihm hing. Er wurde ja selbst nervös bei der Vorstellung, die vertraute Intimität mit Garland einzutauschen gegen die große Unbekannte, die Kai war. Natürlich wollte er mit Kai schlafen, und das lieber früher als später - doch es gab einfach Dinge, die sie klären mussten, was vermutlich kräftezehrende emotionale Arbeit bedeutete. „Ich fass es nicht”, murmelte Garland in diesem Moment. „Du und Kai fucking Hiwatari. Ich glaube, das hat niemand mehr für möglich gehalten, ehrlich!” Sie tauschten einen Blick. „Er ist halt auch echt heiß.” Yuriy gab nur ein amüsiertes Brummen von sich. „Ich hoffe, das steht dir nicht im Weg, wenn ihr zusammenarbeitet.” „Oh Gott, das habe ich schon wieder verdrängt.” Garland sah ihn an, und in seinem Gesicht stand pures Leid. „Ihr quält mich. Beide.” Grypholion saß in einem der frisch aus dem Boden gestampften Bürogebäuden östlich des Alexanderplatzes. Man konnte sie noch keine Wolkenkratzer nennen, aber Berlin war so flach, dass man auch so eine grandiose Aussicht von den obersten Stockwerken aus hatte. Und natürlich nahm Grypholion die obersten beiden Etagen für sich ein. Kai musste nicht lange am Empfangstresen warten. Ein kurzer Anruf des Mitarbeiters genügte, und Ralf Jürgens persönlich kam mit langen Schritten den Flur hinunter auf ihn zu. „Kai Hiwatari”, sagte er sehr laut, dann war er herangekommen und musterte ihn von oben bis unten. „Gut siehst du aus. Berlin scheint dir zu bekommen.” „Ich wollte bis eben nicht glauben, dass du dieses Meeting wirklich selbst abhältst”, gab Kai zu, setzte aber ein unverbindliches Lächeln auf, was ihm heute aus irgendeinem Grund sogar zu gelingen schien, denn Ralf fiel darauf herein. „Nicht nur ich”, sagte er, „Johnny ist auch hier. Komm, wir sind schon in den Konferenzraum gezogen.” Nun war Kai wirklich erstaunt. Mit Ralf hatte er früher zwar oft persönlich zu tun, Johnny jedoch hatte er seit ihrem gemeinsamen Studium nicht mehr gesehen. Ralf und er teilten sich die Arbeit auf und waren sowieso nur sehr selten gemeinsam unterwegs. Ihm schwante, dass diese Nummer hier größer war, als es den Anschein hatte, doch noch war er nicht abgeschreckt. Er würde sich anhören, was sie wollten und dann entscheiden. Die Einrichtung und Gestaltung der Büros war ziemlich generisch, auch wenn noch alles sehr neu roch. Die Farben waren eher dunkel gehalten, ein dicker Teppich dämpfte die Schritte. Die einzelnen Räume waren nur durch Glas getrennt, es saßen immer vier oder sechs Leute beisammen, dazwischen standen ein paar Pflanzen und Flipcharts. Die großzügigen Fenster blickten auf das Nachbargebäude und die Otto-Braun-Straße - als sie den Konferenzraum betraten, öffnete sich vor ihnen die Aussicht auf den Fernsehturm, dessen Spitze heute in tiefhängenden Wolken verschwand. Erst als Kai dieses Panorama in sich aufgenommen hatte, bemerkte er die beiden Personen, die noch anwesend waren. Der eine war Johnny McGregor, ein untersetzter Schotte mit wildem rotem Haar und seit neuestem einem dazu passenden Vollbart. „Hiwatari”, sagte er in einem Tonfall, der nicht preisgab, was er inzwischen von ihm hielt. Sie waren nie die besten Freunde gewesen, aber während des Studiums hatten sie die Gesellschaft des jeweils anderen durchaus zu schätzen gewusst. Ralf war derjenige gewesen, der ihr Dreiergespann zusammenhielt. Johnnys Händedruck war kräftig wie immer und wenn er sich anstrengte, konnte Kai ein grimmiges Lächeln unter dem Bart erkennen. „Johnny, hi”, sagte er, was er nicht unbedingt geplant hatte, die Worte kamen einfach so heraus. Wenn Johnny sich über diese informelle Begrüßung wunderte, so zeigte er es nicht. Die zweite Person, die auf sie gewartet hatte, musste wohl die CEO von Grypholion sein, Katharina Nowak, die sich ihm als Katja vorstellte. Sie konnte sich durchaus neben den beiden Investoren behaupten und hatte sich offensichtlich den Platz an der Stirnseite des Tisches erkämpft. Wie immer hielten sie ein wenig Smalltalk, versorgten sich mit Kaffee und Wasser und nahmen dann langsam ihre Plätze ein. Eigentlich hasste Kai dieses Vorgeplänkel; er kam lieber möglichst schnell zur Sache, um sichergehen zu können, dass er keine Zeit verschwendete. Heute jedoch erwischte er sich selbst dabei, wie er unverhältnismäßig oft über Ralfs und Katjas Witzeleien lachte und vergaß darüber die sarkastischen Bemerkungen, die er sonst immer von sich gab. Auch Ralf musste das bemerkt haben, denn er warf ihm verwunderte Blicke zu. Schließlich kamen sie doch noch zum Geschäftlichen. Erfreulicherweise schien bei Grypholion alles mit rechten Dingen zuzugehen. Ralf und Johnny beschritten hier einen neuen Geschäftszweig, hatten sich aber gute Kompetenz auf dem Gebiet der Cyber-Security aufgebaut. Katja brachte entsprechende Berufserfahrung mit, und da Berlin in der Start-up-Welt immer noch als günstiges Pflaster galt, war das Risiko nicht allzu hoch. Was Kai etwas erstaunte war, dass die beiden Investoren eine schnelle Vergrößerung der Firma planten, auch international. Um das zu bewerkstelligen, musste die Basis stimmen, und da kam er ins Spiel. „Das heißt”, fasste Kai nach etwa einer Stunde zusammen, „Ihr wollt vor allem eure Datenhaltung möglichst nachhaltig gestalten. Das betrifft natürlich auch die Auswahl der Server und der Programme, die ihr eventuell nutzt. Zweitens wollt ihr möglichst wenig Datenmüll verursachen. Den Punkt Datenschutz können wir etwas herunterpriorisieren, da ihr da sicher noch besser Bescheid wisst als ich.” Er erntete einstimmiges Nicken und sortierte noch einmal seine Notizen. „Gut”, meinte er dann, „Ich muss ehrlich sagen, ich habe angesichts der Größe eures Unternehmens angenommen, das allein machen zu können. Da ihr aber schnell skalieren wollt, sollten wir generell etwas größer denken - vor allem, wenn ihr wollt, dass wir auch die Skalierungsprozesse supervisen.” „Kommt drauf an, wie teuer das ist”, warf Johnny ein. Kai ging nicht darauf ein. „Unter diesen Umständen”, fuhr er fort, „Würde ich gerne eine meiner Mitarbeiterinnen mit ins Boot holen. Zusätzlich habe ich extern einen IT-Spezialisten angefragt, der noch mal einen frischen Blick mitbringt. Wir wären also zu dritt. Um uns mit euren Strukturen und Prozessen vertraut zu machen, brauchen wir ungefähr einen Monat, für die Lösungsfindung und Implementierung sicher auch jeweils noch einen… Sodass wir im ersten Quartal des nächsten Jahres alles aufgesetzt haben.” „Schneller geht es nicht?”, hakte Ralf nach. „Kommt ganz darauf an, wie schnell wir uns einarbeiten”, entgegnete Kai, „Ihr wisst, meine Agentur ist noch recht überschaubar. Ich habe also nicht unendlich Kapazitäten.” „Doch, doch, wir wollen dich”, sagte Ralf, „Und zeitlich passt das auch für uns.” Er wechselte einen Blick mit Johnny und Katja und erhielt Schulternzucken und ein Nicken. Nach einer kurzen Pause legte Ralf beide Hände auf den Tisch. „Ich denke, im Groben sind wir uns einig”, meinte er. „Kai, lass uns so verbleiben, dass Katja dir in den nächsten Tagen noch ein paar mehr Eckdaten zukommen lässt. Und wir warten dann auf dein Angebot.” „Alles klar. Wenn ich die Unterlagen bis morgen Nachmittag bekomme, hört ihr bis Ende der Woche von mir.” „Sehr gern”, sagte Katja und erhob sich. Das war für alle das Zeichen, dass das Meeting beendet war. Das große Nickenlächelnhändeschütteln begann. Sie tauschten ein paar Floskeln aus, dann musste Katja schon wieder zum nächsten Termin. Während Kai seine Unterlagen zusammenpackte, leisteten Ralf und Johnny ihm Gesellschaft. „Sollen wir vielleicht noch einen Kaffee trinken?”, schlug Ralf vor, „Oder musst du gleich weiter, Kai? Wir könnten auch heute nach Feierabend noch irgendwo hingehen.” „Der Kaffee wäre mir lieber, ich bin heute Abend schon verplant.” Der bloße Gedanke an Yuriy machte ganz seltsame Dinge mit ihm. Er grinste schon wieder. „Lasst mich vorher kurz mit den anderen telefonieren”, sagte er und versuchte, seine Mimik zu kontrollieren. Die anderen beiden gingen daraufhin hinaus. Nachdem er Mariam von den neuesten Entwicklungen berichtet hatte - über die sie sich natürlich besonders freute, bedeutete es doch mehr Verantwortung für sie - konnte Kai sich einen kurzen Blick auf seine eingegangenen Nachrichten nicht verkneifen. Yuriy hatte geschrieben: Mission accomplished :* und Kai tippte schnell Same , bevor auch er endlich den Konferenzraum verließ. „Okay, das ist jetzt wirklich unheimlich!” Ralfs Worte holten ihn wieder in die Realität zurück. „Ich habe dich noch nie, und ich schwöre: noch nie so gut gelaunt erlebt. Was zur Hölle ist passiert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?” Ertappt wandte Kai sich ihm zu, doch es war ausgerechnet Johnny, der ihm die Antwort abnahm: „Also ich wäre auch glücklich, wenn ich gerade einen Deal wie diesen eingefädelt hätte. Wir finanzieren dir doch sicher das nächste halbe Jahr, oder?” Kai verdrehte nur die Augen. Johnny war ein Geizkragen, und genau deswegen würde er sein Angebot etwas großzügiger rechnen müssen. Johnny war erst zufrieden, wenn er seine Geschäftspartner runterhandeln konnte. Im Erdgeschoss des Bürogebäudes gab es einen Coffeeshop, der überteuerten Espresso anbot. Kai fühlte sich ein bisschen in seine Studienzeit zurückversetzt, als es normal gewesen war, mit Ralf und Johnny an Orten wie diesen abzuhängen, meist irgendwo in der City of London, wo alle in Anzügen und Kostümen herumliefen. Hier fühlte es sich eher an, als wären sie in einem Paralleluniversum. Während die anderen beiden noch auf ihre Getränke warteten, setzte er sich mit seinem Cappuccino ans Fenster und zog noch mal das Handy aus der Tasche. Wann sehen wir uns heute?, schrieb er. Dann warf er einen flüchtigen Blick über die Schulter. Er wurde nicht ganz schlau aus Ralf, der sich noch nie so betont nett ihm gegenüber verhalten hatte wie heute. Ob er eventuell ernsthaft bereute, wie es vor drei Jahren gelaufen war? Womöglich ließ sein Stolz eine direkte Entschuldigung nicht zu, also machte er es mit beschämender Freundlichkeit wett. Johnny war wie immer, aber Johnny glaubte auch nicht daran, dass er Fehler machen konnte. Sein Handy leuchtete auf. Yuriy hatte geantwortet: Ich bin ab jetzt zu Hause, komm einfach später rum. Das rote Herz stach ihm in die Augen. Bei Yuriy schwang immer ein wenig Ironie mit, wenn er so etwas schickte, selbst jetzt noch. Es war irgendwie beruhigend; ansonsten hätte Kai wohl gar nicht mehr, gewusst, wohin mit seinen Gefühlen. „Ist es ein Kerl?” Ralf rutschte auf den Stuhl neben ihn. In seinem Blick lag etwas Wissendes, als er in Richtung von Kais Telefon nickte. Kai ließ die Hand sinken und sah ihn an, überlegte. „Möglich”, sagte er dann. „Oha.” Er wollte genervt gucken, aber irgendwie wurde ein Lächeln daraus. „Geht dich nichts an.” „Fair.” Ralf hob die Schultern. „Aber es erklärt einiges.” „Was erklärt einiges?” Auch Johnny hatte es nun zu ihnen geschafft, aber glücklicherweise winkte Ralf ab. „Wie lange seid ihr in der Stadt?”, fragte Kai, um das Thema zu wechseln. Halb nahm er an, dass die beiden gleich wieder abreisten, tatsächlich aber würden sie bis zum Wochenende bleiben. „Gut, dass du fragst!”, sagte Ralf, „Es gibt da nämlich noch etwas. Du hast doch Kontakte zu diesem DJ-Kollektiv, oder?” „Ja…”, machte Kai langgezogen. „Wieso?” „Wir feiern unser zehnjähriges Bestehen”, antwortete Ralf nicht ohne Stolz. „In ein paar Wochen in London. Wird eine Riesenparty, wir haben eine richtig gute Location direkt an der Thames gefunden. Du solltest auch kommen, ich schicke dir eine Einladung. Der Punkt ist aber, dass wir uns dachten, so ein hipper Berliner Underground-DJ würde das Ding noch perfekt machen. Kannst du uns jemanden empfehlen?” Kai ahnte, dass er sie gerade sehr zweifelnd anstarrte, doch sie verzogen beide keine Miene. „Ich kenne DJs”, sagte er schließlich, „Und sogar gute.” „Wie teuer sind die so?”, fragte Johnny sofort. Kai verzog den Mund. „Naja, sicher so dreitausend pro Abend”, meinte er - die Zahl hatte er komplett aus der Luft gegriffen. „Plus Flug und Hotel, natürlich.” „Dreitausend nur fürs Plattendrehen?”, sagte Johnny ungläubig. Kai hob die Schultern. „Das sind Club-DJs, keine Wanderblaskapellen”, entgegnete er, verschwieg aber, dass sowieso niemand von Ostblocc sich dazu herablassen würde, bei einer Firmenfeier aufzulegen. „Ich mach euch gerne bekannt.” Endlich gelang es ihm, seine Mimik unter Kontrolle zu bekommen und das Feixen hinter Gleichgültigkeit zu verbergen. Die beiden würden komplett auflaufen, vor allem, wenn er Yuriy vorwarnte. Aber ein bisschen Rache musste einfach sein. Natürlich musste Kai nach diesem Treffen noch einmal kurz im Büro vorbeifahren, wenigstens, um so zu tun, als hätte er seine Gedanken beisammen. Mariam und Wyatt waren beide aus dem Häuschen - erstere, weil sie bei Grypholion mitmischen durfte, letzterer, weil Kai überhaupt noch aufgetaucht war. Dass er durchaus auch in den Auftrag mit einbezogen werden könnte, wenn auch eher hinter den Kulissen, schien ihm nicht ganz so bewusst zu sein. Ansonsten war die Firma nicht untergegangen, nur weil Kai einmal einen Tag lang ungeplant außer Haus gewesen war. Auch das war beruhigend zu wissen. Und so erledigte er nur noch die dringendsten Korrespondenzen, bevor er Feierabend machte. Um kurz nach sechs machte er sich auf den Weg nach Hause, jedoch nur, um sich umzuziehen, zu duschen und alles zusammenzupacken, was er für den nächsten Tag brauchte. Es war nicht ganz einfach, mit den Öffis zu Yuriy zu kommen, er musste zweimal umsteigen. Manchmal, wenn er im Herbst oder Winter die Straßenbahn nahm und die Plattenbauten im Halbdunkel an ihm vorbeizogen, fühlte er sich ein bisschen wie in den Randbezirken von Moskau. Vielleicht hatte Marzahn aber auch schon längst die vagen Bilder seiner Erinnerungen verdrängt. Einmal hatte er mit Yuriy und Boris zu Neujahr den Film „Ironie des Schicksals” gesehen, in dem das Wohnviertel herrlich nach ihrem Kiez aussah; sein Eindruck konnte also gar nicht so weit hergeholt sein. Um halb acht stand er vor der Wohnung, die Haustür unten war offen gewesen. Halb befürchtete er, dass Yuriy inzwischen in seinen Tracks versunken war und sein Klingeln nicht hörte, dann wurde ihm tatsächlich geöffnet. Yuriy trug ausgewaschene Jeans und einen viel zu großen Pullover, von dessen weiten Ärmeln Kai sich nur allzu gern einhüllen ließ. Dann küssten sie sich ziemlich ungeniert noch im Türrahmen, bevor er endlich eintreten durfte. Ihm schlug der Geruch nach Tomaten und Käse entgegen, und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie hungrig er war. „Ich habe Boris heute auch verpasst, aber er hat für uns gesorgt”, erzählte Yuriy, „Ich glaube, er ist erst kurz nach neun wieder hier. Nimm dir was und komm rüber, ich muss noch schnell was fertig machen.” Das ließ Kai sich nicht zweimal sagen. Während er in der Küche hantierte, ging Yuriy schon zurück an seinen Platz. Er folgte ihm wenig später. Kai fühlte sich immer ein bisschen in seine Studienzeit zurückversetzt, wenn er bei Boris und Yuriy zu Hause war. Vielleicht, weil die WG so klein war, es gab nicht einmal ein gemeinsames Wohnzimmer. Doch seit Yuriy sein Zimmer umgestaltet hatte, war es nicht mehr ganz so schlimm. Der alte Kleiderschrank war einem neuen gewichen, der zwar ein Stück größer war, aber derart in den Raum integriert, dass es wirkte, als würde er weniger Platz einnehmen. Die großen Spiegel an den Schiebetüren befanden sich genau gegenüber des Bettes, was Kai heute zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Auch das Bett war neu und breiter als das vorherige. Kai hatte mindestens so oft hier genächtigt wie Yuriy bei ihm - gerne auch nach Partys, was verkaterte Folgetage nach sich zog, die sie natürlich ebenfalls in diesem Bett verbracht hatten, mehr oder weniger ansprechbar. Die größte Veränderung betraf aber Yuriys Arbeitsbereich. In einer Ecke des Zimmers hatte er sich eine Art kleines Heimstudio eingerichtet. Ein riesiger Monitor hing, flankiert von Boxen, an der Wand; die Tischplatte war handgefertigt, sodass eine größtmögliche Fläche ausgenutzt werden konnte. In sie waren verschiedene Controller eingelassen, nur ein paar Quadratzentimeter blieben frei für die Tastatur. Es gab auch ein ausziehbares Fach, in dem sich ein schmales Keyboard befand, das heute jedoch versteckt war. Erst als er schon im Raum stand, fiel ihm ein seltsamer, summender Ton auf: ein zu- und wieder abnehmendes metallisches Klingen, wie von einer futuristischen Maschine, die irgendwo in großer Entfernung arbeitete. Kurz darauf wurde ihm klar, dass das Geräusch aus den Lautsprechern drang. „Was ist das?”, fragte er, während er sich, sein Essen balancierend, aufs Bett setzte. Yuriy, der bis zu diesem Moment auf den Monitor gestarrt hatte, drehte sich schwungvoll zu ihm um. „Jupiter!” „Was?” „Space Sounds!”, sagte Yuriy begeistert, „Von der NASA. Das ist eine Data Sonification von den Voyager Recordings des Jupiter Approaches. Kann man sich runterladen. Inzwischen gibt es solche Aufnahmen von allen Planeten und der Sonne.” „...Data Sonifications?” Kai war nicht unbedingt schlecht in Physik gewesen, aber das war auch schon eine ganze Weile her. „Ja, um die Daten besser interpretieren zu können”, erklärte Yuriy. „Voyager hat damals gemessen, wie Sonnenwinde auf die Magnetosphäre verschiedener Planeten treffen. Dabei entstehen Vibrationen, die vom menschlichen Gehör wahrgenommen werden können - aber da Schall im Weltraum nicht transportiert wird, hören wir normalerweise nichts. Also wurden die Messungen im Nachhinein hörbar gemacht. Und das klingt dann so.” Er wies mit dem Daumen auf die Lautsprecher. „Aha. Und du nutzt das für deine Tracks?” „Jepp. Der hier heißt Kosmos. Kommt aber nicht auf Magnitogorsk, weil er nicht zum Thema passt. Ich schätze, ich hau ihn einfach früher raus. Das heißt, wenn er irgendwann fertig wird. Ich habe die letzten drei Stunden mit dem Äquivalent von zehn Sekunden Musik verbracht.” Yuriy seufzte und griff nach seinen Kopfhörern. „Wenn du mir noch eine Viertelstunde gibst, kriege ich es vielleicht noch hin.” Kai nickte nur und nahm noch eine Gabel voll Lasagne, die zugegeben wirklich gut war. Yuriy lächelte ihn dankbar an und setzte die Kopfhörer auf; kurz darauf verstummte das Summen. Nur noch das Klackern der Tastatur und der Regler war zu hören. Kai beendete in Ruhe sein Abendessen, und da es auch dann noch nicht so aussah, als würde Yuriy bald fertig sein, angelte er nach seinem Rucksack und zog seinen Laptop heraus, um noch ein paar kleinere To-Dos zu erledigen, die heute unter den Tisch gefallen waren. Ab und an schielte er in Richtung seines Freundes, der komplett von seinen Tonspuren vereinnahmt wurde. Das war ein neuer Anblick für ihn, obwohl er daran gewöhnt war, dass Yuriy in seiner Musik versank, bis er alles um sich herum vergaß. Beim Auflegen war es ähnlich. Alle in ihrem Freundeskreis wussten, dass Yuriy es nicht mochte, wenn man ihn während eines Sets störte. Niemand, mit Ausnahme der anderen Ostblocc-Gründungsmitglieder, traute sich, zu ihm hinter das Pult zu kommen. Wenn sie noch gemeinsam feiern wollten, mussten sie wohl oder übel warten, bis er zu ihnen kam. Nachdem sie mehr als eine halbe Stunde lang einträchtig nebeneinander gearbeitet hatten, beschloss Kai, für heute Schluss zu machen. Er klappte den Laptop zu, schwang sich aus dem Bett und näherte sich Yuriy, überlegte dabei, wie er dessen Aufmerksamkeit bekommen konnte, ohne ihn zu erschrecken. Doch der andere musste ihn aus den Augenwinkeln gesehen haben, denn er blickte zu ihm auf und zog die Kopfhörer herunter. „Ich sollte aufhören, oder?” „Wenn wir noch Zeit miteinander verbringen wollen, schon”, meinte Kai. Er fügte sich bereitwillig, als Yuriy nach ihm griff und zu sich zog, um ihn zu küssen. Zuerst stützte er sich noch auf den Armlehnen ab, dann kroch er auf Yuriys Schoß, hatte kurz das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren, aber das war nur der Stuhl, der nach hinten kippte. Yuriys Duft hüllte ihn ganz ein und beruhigte seine von den vergangenen Stunden strapazierten Nerven. Und seine Lippen taten ihr Übriges. „Fuck”, meinte Kai, als sie sich lösten, „Hättest du vor vierundzwanzig Stunden gedacht, dass es so kommt?” „Vor vierundzwanzig Stunden habe ich mein erstes graues Haar entdeckt”, entgegnete Yuriy trocken, „Also nein. Was aber nicht heißt, dass mir nicht gefällt, wie der letzte Tag verlaufen ist.” Er reckte erneut das Kinn, doch Kai wich ihm knapp aus. „Lass uns zum Bett gehen. Und zieh dieses Zelt aus.” Mit diesen Worten zupfte er an Yuriys Pullover. „Dann muss ich erst duschen, ich bin unter diesem Zelt nicht mehr frisch…” „Hmm… Vielleicht sollte ich dir Gesellschaft leisten?” Nun beugte Kai sich doch wieder vor. Kurz fragte er sich, ob er zu voreilig handelte, aber von Yuriy kam nur ein Brummen, das nicht unwillig klang. Kai schloss die Augen, als er spürte, wie die Lippen des anderen über seine Wange strichen, bis hin zu seinem Ohr. „Eventuell habe ich in der Vergangenheit schon öfter an so etwas gedacht”, flüsterte Yuriy und der warme Hauch seines Atems ließ Kai erschauern. Wenn Yuriy so weitermachte, würde er es nicht mehr bis ins Bad schaffen, soviel war klar. Doch bevor Kai zu einer Erwiderung ansetzen konnte, hörten sie, wie jemand die Wohnungstür aufschloss. Boris war nach Hause gekommen. Als er in Yuriys Zimmer spähte, stand Kai längst wieder auf seinen eigenen Beinen. „Hey”, sagte Boris, „Alles klar?” Yuriy nickte und öffnete den Mund; sie hatten sich mit einem Blick verständigt, und Kai wusste, dass sein Freund Boris möglichst ohne viel Gewese erzählen wollte, was zwischen ihnen los war. Doch der ließ ihn erst gar nicht beginnen. „Schön!”, sagte er, „Also, tut mir leid, aber ich bin total im Eimer. Ich hau mich aufs Ohr. Schönen Abend noch!” Und damit verschwand er wieder im dunklen Flur. Yuriy und Kai sahen sich irritiert an. „Sollte ich ihm nachgehen?”, fragte Yuriy. Kai hob die Schultern. „Vielleicht ist es besser, wenn wir das morgen machen.” „Wahrscheinlich; er sah ziemlich fertig aus.” Sie lauschten, und tatsächlich hörten sie nur noch kurz, wie Boris durch die Wohnung ging, dann fiel seine Zimmertür ins Schloss und Stille brach über sie hinein. Yuriy räusperte sich. „Ich wollte duschen gehen.” „Wolltest du”, bestätigte Kai, wusste aber nicht so recht, wie er die zerstörte Stimmung zwischen ihnen wieder kitten konnte. Also ließ er es. Yuriy schickte noch ein wissendes Grinsen in seine Richtung, bevor er den Raum verließ. Kai hörte, wie er kurz vor Boris’ Tür stehenblieb, vielleicht nachsah, ob sein Mitbewohner noch wach war, dann aber unverrichteter Dinge weiter zum Bad ging. Er selbst blieb allein zurück, und es wurde seltsam still um ihn herum. Yuriys Worte von eben hatte er keineswegs vergessen, und als er nun wieder daran dachte, stieg einmal mehr Hitze in ihm auf. Verdammt. Er wollte nichts überstürzen - aber was konnte schon schief gehen? Sie waren zwei Erwachsene, die aufeinander standen. So einfach, so gut. Und außerdem hatte er verdammt noch mal drei Jahre lang auf einen Moment wie diesen warten müssen. Kurzentschlossen stand er auf und folgte Yuriy. Kapitel 8: Ich komm' erst jetzt an dich ran ------------------------------------------- Yuriy musste den Luftzug gespürt haben, als Kai die Badezimmertür öffnete, denn er drehte sich beinahe sofort zu ihm um. „Oh, hallo”, sagte er und klang so gar nicht überrascht, „Was wird das denn?” Seine Augen wanderten von Kais Gesicht zu seinem Oberkörper, da der sich gerade das T-Shirt über den Kopf gezogen hatte. Als nächstes knöpfte er seine Jeans auf. „Ich dachte mir, vielleicht hast du Lust, deine kleine Fantasie wahr werden zu lassen”, sagte er. Yuriy stellte das Wasser ab. „Ich glaube, das würde mir gefallen.” Wieder ging sein Blick nach unten, und Kai nutzte den Moment, um ihn ebenfalls zu betrachten. Natürlich hatten sie sich auch vorher schon nackt gesehen, doch immer nur flüchtig und in einem ganz anderen Kontext. Yuriys Körper war, wie Kai es sich vorgestellt hatte: so viele gerade Linien; wie sich die Haut über Knochen, Sehnen und Muskeln legte; wie er dennoch alles andere als zerbrechlich wirkte. Seine Schultern waren breit genug, um Sicherheit zu vermitteln. Ein Muttermal auf seiner Hüfte überraschte ihn, und so war es das erste, was Kai berührte, nachdem er zu ihm in die Duschkabine gestiegen war. Flüchtig, weil er nicht anders konnte. Weil er es endlich konnte. „Machst du das Wasser wieder an?”, fragte er, woraufhin es lauwarm auf ihn herabregnete, beinahe zu kalt für diese Jahreszeit. Yuriys Haut allerdings war warm unter seinen Händen. Er reckte sich ein Stück, spürte Yuriys Mund auf seinem, als sie sich ohne ein weiteres Wort küssten. Seine Frisur fiel dem Wasser zum Opfer, die Tropfen prasselten kurz auf seine geschlossenen Lider, bevor er sich ein wenig drehte, um nicht direkt im Strahl zu stehen. Yuriys Hände strichen über seinen Rücken, seine Finger pressten sich fest in seine Haut, als wolle er jeden Wirbel, jede Rippe einzeln ertasten. Kai seufzte in ihren Kuss hinein, dann griff Yuriy in sein Haar, grob genug, um seinen Spieltrieb zu entfachen, und instinktiv biss er ihm in die Unterlippe. Wieder lief ein Schwall Wasser über seine Schultern, als er einen Schritt nach vorn trat - die Berührung kurzzeitig nicht unterscheidbar von denen seines Gefährten - sammelte sich dort, wo sich ihre Körper aneinanderpressten, kühl an einigen Stellen und Hitze an anderen. Von Yuriy kam ein Laut, bei dem ihm die Knie weich wurden. Kai löste sich von den Lippen des anderen und vergrub den Kopf in seiner Halsbeuge. Kurz schlossen sich Yuriys Hände um seine Oberarme, als wolle er ihn aufhalten, doch der Moment war vorbei, bevor Kai sich darüber Gedanken machen konnte. Er schmeckte das Wasser an seinem Hals und hier und da noch das kleinste bisschen Salz. Beinahe wäre Kai gestolpert, als Yuriy einen Schritt nach hinten machte, doch sie wurden beide von der Wand aufgehalten. Yuriy sog scharf die Luft ein. „Warte…” Vielleicht hatte die Kälte der Fliesen ihn überrascht. Womöglich überhörte Kai auch einfach, was er sagte, denn alles an dieser Situation stachelte ihn nur weiter an. Er legte die Hände an Yuriys Taille und drängte ihn noch ein wenig zurück; zuerst schien es, als würde der andere dagegen halten, doch dann ließ er nach, neigte den Kopf zur Seite, sodass seine Wange an Kais lag. Sie atmeten nun beide lauter, Kai hielt die Augen geschlossen, wollte nur hören und spüren, alle Eindrücke in sich aufnehmen. Yuriy war nicht der einzige, dessen Tagträume hier gerade Wirklichkeit wurden. Und er wollte mehr, viel mehr. Seine Finger kratzten über Yuriys Hüfte, während er ihn noch weiter gegen die Wand presste, und dann tiefer, dem Zentrum der Hitze entgegen... „Fuck, Kai, warte.” Yuriy griff nach seinem Handgelenk, drückte ihn von sich weg. Verwirrt öffnete er die Augen und löste sich sofort von seinem Freund, als er dessen Gesichtsausdruck bemerkte. Er wusste nicht genau, was es war, aber es war definitiv nicht positiv. „Was ist los?”, fragte er alarmiert. Der Moment dauerte vielleicht zwei Sekunden an, bevor Yuriy sich wieder fing. Der Abstand zwischen ihnen schien zu helfen. Er atmete einmal tief durch, erst dann verschwand die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen. „Alles in Ordnung?”, fragte Kai und streckte die Hand aus, um ihn am Arm zu berühren. Zum Glück ließ Yuriy es zu, strich nach einem Moment sogar selbst über Kais Schulter, eine entschuldigende Geste. „Ja, alles gut”, sagte er. „Hab ich dir wehgetan?” Kais Blick glitt nach unten, aber seine Finger hatten nicht einmal Kratzer auf Yuriys Haut hinterlassen. „Nein, gar nicht. Ich hab mich nur erschreckt, als du mich so gepackt hast.” Es schien, als wäre er von sich selbst überrascht, und ein wenig verärgert. „Sorry.” „Nein, mir tut es leid”, sagte Kai und kam Yuriy wieder etwas näher, diesmal, um ihn zu beruhigen. Erleichtert stellte er fest, dass auch das dem anderen nichts auszumachen schien. Es war alles wieder wie zuvor, hinge da nicht ein leises Unbehagen zwischen ihnen. „Lass uns lieber aufhören”, schlug Kai vor. Er war noch immer verwirrt, und diese Verwirrung mischte sich unter die Überbleibsel seiner Lust, eine sehr seltsame Kombination. Er konnte nicht wirklich klar denken, ahnte aber, dass es das Klügste wäre, das hier abzubrechen. Doch auch dieses Mal hielt Yuriy ihn auf. „Warte”, sagte er wieder, aber in einem anderen Ton, „Bleib hier.” Er überbrückte den Abstand und umarmte ihn, und instinktiv schlang auch Kai die Arme um Yuriys Mitte. Das Wasser, das noch immer lief, wurde etwas wärmer, vielleicht hatte Yuriy den Regler bedient. Er drehte den Kopf, damit sie sich ansehen konnten. „Lass mich machen, okay?”, fragte Yuriy. „Bist du sicher?” Etwas flackerte in den blauen Augen, das ausreichte, um Kais Lust in den Vordergrund rücken zu lassen. Bereitwillig ließ er sich küssen, und mit jeder Sekunde, die verstrich, verschwand auch sein Unbehagen. Schließlich wagte er die ersten Berührungen, achtete jedoch darauf, dass diese leichter und weniger fordernd waren. Er überließ seinem Freund die Führung, auch wenn sein ursprünglicher Plan anders ausgesehen hatte. Und dann wanderten Yuriys Hände über ihn und trieben erschreckend schnell alle Gedanken aus seinem Kopf. Der feste Griff dieser großen, schlanken Hände war alles, was Kai heute brauchte. Da er sich gerade so gemerkt hatte, dass sie sich in einem ziemlich hellhörigen Badezimmer befanden, unterdrückte er sein eigenes Stöhnen kurzerhand, indem er seinen Mund auf Yuriys presste. Ließ sich einige Minuten lang einfach treiben, bis er sich von den Lippen des anderen losreißen musste, weil sein Kopf nach hinten fiel. Auf einmal war er es, der an der Wand lehnte, keuchend. Yuriys Fingerspitzen strichen noch sehr leicht über seine Haut, lösten winzige, letzte Schauer in ihm aus; gleichzeitig spürte Kai, wie eine angenehme Ruhe über ihn kam. „Du siehst so heiß aus, wenn du kommst”, sagte Yuriy in diesem Moment, und es klang nur ein ganz klein wenig spöttisch. Kai brummte, für eine kluge Erwiderung war es noch zu früh. Endlich drehte Yuriy das Wasser ab und es wurde still um sie herum. Langsam aber sicher drang kühle Luft in die Duschkabine ein und Kais Gedanken klärten sich in gleichem Maße. „Hey”, sagte er und griff nach dem anderen, als der die Kabinentür aufstieß. „Erklärst du mir, was das eben war?” Yuriy zögerte, dann nickte er. „Ja. Aber lass uns erstmal rübergehen.” Sie trockneten sich schweigend ab, sammelten ihre Kleidung zusammen und schlichen nackt durch den Flur zurück in Yuriys Zimmer. Er schaltete die Deckenlampe aus, doch die Lichter der Stadt waren wie immer hell genug, um sich trotzdem zurechtzufinden. Sie krochen unter die Bettdecke und setzten sich etwas auf, um aus dem Fenster sehen zu können. „Also?”, fragte Kai schließlich. Er hatte den Kopf auf Yuriys Schulter gelegt und spürte nun, wie dessen Wange auf seinen Scheitel sank. Am liebsten hätte er einfach die Augen geschlossen und ein wenig gedöst, aber er wollte wissen, was mit seinem Freund los war, solange dieser bereit war, darüber zu sprechen. Yuriy seufzte. „Das ist ein schwieriges Thema. Und ein bisschen peinlich.” „Yura”, sagte Kai. Er benutzte diesen Spitznamen nicht oft, denn er war vorwiegend für Boris reserviert, aber manchmal half es, um den anderen aus der Reserve zu locken. „Du hast mir vorhin echt Angst gemacht. Wenn es etwas gibt, das ich wissen sollte, dann lieber jetzt als zu spät.” Yuriy drehte den Kopf und drückte seine Lippen kurz auf Kais Scheitel. „Du hast ja Recht”, murmelte er. „Aber ich muss dafür ein bisschen ausholen. Ich habe dir doch mal von meinen ersten Beziehungen erzählt.” Kai nickte. Irgendwann während der letzten Jahre hatte er ihn gefragt, wie es so war, am Rande Berlins aufzuwachsen. Yuriy erzählte nicht gern von seiner Schulzeit als (so dachte er zumindest damals) einziger Schwuler und ewiger Außenseiter mit komischen Hobbies zwischen den ganzen anderen Draufgängern. Seine Mitmenschen hatten ihn weitestgehend in Ruhe gelassen, der Zusammenhalt gegen die Lehrer war stärker gewesen als die Differenzen untereinander - aber es war eben auch keine Umgebung, in der nicht-heterosexuelle Teenager sich untereinander austauschen konnten. Sie wussten schlichtweg nichts voneinander. Und so hatte Yuriy seine Erfahrungen allein machen müssen, wobei einige von diesen wohl mehr als schlecht gewesen waren. „Deine ersten Beziehungen waren, ich zitiere, für den Arsch”, sagte Kai. „Aber ich dachte immer, das wäre, naja… Auf einer anderen Ebene als der sexuellen.” „Es war auf vielen Ebenen so”, meinte Yuriy. „Aber um es kurz zu machen: Ich habe meine ersten Erfahrungen auf Raves und nach irgendwelchen Partys gemacht. Wir konnten ja auch schlecht in den Wohnungen unserer Eltern… Das wollte jedenfalls keiner. Das einzige, was ich damals sicher wusste, war, dass man immer Kondome benutzen sollte, und das war’s. Du kannst dir vorstellen, von welcher Qualität der Sex unter diesen Bedingungen war. Ich hatte nichts dagegen, bottom zu sein, ich meine, ich wollte es einfach ausprobieren. Aber die ersten Male waren hirnloses Rein-Raus. Ziemlich schmerzhaft und so gar nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte. Also habe ich mir gesagt, das tue ich mir nicht mehr an, und war seitdem eigentlich immer lieber top. Aber irgendwie hat sich das mit der Zeit zu so einer Art Tick entwickelt.” „Hm?”, machte Kai. Während Yuriy gesprochen hatte, hatte er eine Hand auf seinen Unterarm gelegt und ihn sanft zu streicheln begonnen. Geschichten wie diese waren ihm leider nur allzu vertraut, wenn er so etwas auch nicht selbst erlebt hatte. Er hatte erst angefangen, mit Männern zu schlafen, als er nach London gezogen war. Davor war es unmöglich, den wachsamen Augen seiner Familie für längere Zeit zu entkommen. Doch so hatte er sich zumindest gut informieren können, bevor er in die Vollen ging. „Was meinst du mit Tick?”, hakte er nach. „Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll”, antwortete Yuriy, „Ich will beim Sex immer die Kontrolle behalten. Wenn jemand etwas mit mir macht, mit dem ich nicht gerechnet habe, kriege ich so einen Fluchtreflex. Und ich bin überhaupt nicht gern bottom. Ich meine, ich weiß, dass es darauf nicht ankommt bei der Frage, wer den Ton angibt, aber andersrum fühle ich mich einfach sicherer.” Kai richtete sich auf, um seinen Freund ansehen zu können. „Yuriy, das sollte aber nicht so sein”, sagte er, „Das weißt du, oder?” „Natürlich. Und es tut mir leid, dass du es so erfahren hast. Ich hätte es dir vorher sagen sollen.” „Hör auf, dich zu entschuldigen.” Kai war viel eher wütend auf die Umstände, die dazu geführt hatten, dass Yuriy so schlechte Erfahrungen machen musste. Er hatte nichts gegen Spontanität beim Sex, aber es gab einfach genug Menschen, die das mit bloßer Willkür verwechselten. Und ja, er fühlte sich auch schuldig, schließlich hatte er Yuriy unter der Dusche mehr oder weniger überfallen. „Du hättest es einfach sagen können”, murmelte er, „Dann hätte ich dich doch niemals so bedrängt.” „Ich wollte die Stimmung nicht kaputt machen”, entgegnete Yuriy, „Und außerdem war ich selbst überrascht. Ich hatte das schon länger nicht mehr. Nicht so.” Das machte es nicht besser, aber Kai versuchte, den Stich zu ignorieren, den diese Worte ihm versetzten. „Warum hast du dann weitergemacht?”, fragte er. „Hey. Du musst nichts machen, nur weil ich es bin, okay?” „Kai.” Yuriy sah ihn beinahe ungeduldig an. „Ich wollte das. Ich kenne solche Situationen, ich weiß, wo meine Reaktionen herkommen und ich habe mich heute bewusst dafür entschieden, trotzdem weiterzumachen. Weil ich nicht wollte, dass du gleich beim ersten Mal mit mir ein schlechtes Gewissen bekommst.” „Das habe ich aber trotzdem.” „Ja. So weit habe ich nicht gedacht.” Kai seufzte, aber er konnte Yuriy nicht böse sein. „Kann ich irgendwas tun, um es für dich einfacher zu machen?”, fragte er. „Wie du vielleicht gemerkt hast, übernehme ich auch gerne das Kommando, egal in welcher Position. Also wäre es mir schon lieb, wenn wir irgendwie eine Lösung finden können.” „Ich will mir doch auch nicht von ein paar miesen Erfahrungen mein Sexleben versauen lassen”, sagte Yuriy. Es entstand eine kleine Pause, und Kai merkte, wie sein Gegenüber nach Worten suchte. „Das mit Garland”, fuhr Yuriy schließlich fort, „Hat geholfen.” „Ach so?” Das machte Kai nun doch neugierig. Er hatte nie Detailfragen zu den beiden gestellt, aber wenn es etwas gab, was Yuriy Sicherheit vermittelte, wollte er es wissen. „Ja.” Sein Freund regte sich ein wenig; vielleicht war es ihm trotz allem ebenso unangenehm, über sich und Garland zu sprechen. „Das erste Mal mit Garland war halb im Suff, und es ist natürlich alles schief gegangen. Er hat mich dazu gebracht, auszupacken. Garland wechselt auch gerne nach Lust und Laune, deswegen wollte er sich erst gar nicht auf eine feste Rollenverteilung einlassen. Und ich muss sagen… Er hat einfach Ahnung von Sex?” Kai zog die Augenbrauen hoch; nun war er ganz Ohr, versuchte, den Anflug von Eifersucht zu ignorieren, der natürlich in ihm aufstieg. „Ja. Ich meine, Garland hat mir Dinge gezeigt, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Ich habe echt Wissenslücken, immer noch. Aber irgendwie hat er es mir leicht gemacht, auch mal die Kontrolle abzugeben. Am Schluss war es überhaupt kein Thema mehr. Ich dachte, ich wäre darüber hinweg, bis… Tja. Bis heute.” „Verstehe.” Kai sank zurück gegen Yuriys Schulter und legte die Arme so gut es ging um ihn. Sein Freund erwiderte die Geste. „Wir können uns Zeit lassen, wenn dir das angenehmer ist. Und einfach probieren, was uns gut gefällt und was nicht.” Kai grinste. „Ich kenne auch ein paar Tricks.” So hatte er sich den Start in diese Beziehung nicht unbedingt vorgestellt. Eigentlich mochte Kai spontanen, wilden, etwas rauen Sex, und das auch gern regelmäßig. Aber Yuriy war es wert, sich zurückzunehmen, viel zu kommunizieren. Mit ein bisschen Geduld würde er etwas später, aber dafür umso mehr auf seine Kosten kommen. Die Sache mit Garland bewies ja, dass es klappen konnte. „Und ich meine”, fuhr er fort und drehte den Kopf, um einen Kuss auf Yuriys Schulter zu drücken, „Was du mit deinen Händen anstellen kannst, hast du ja eben schon eindrucksvoll bewiesen.” Es schien fast, als gäbe Yuriy sich große Mühe, damit seine Partner die schlechten Erfahrungen, die er selbst gemacht hatte, nicht auch durchleben mussten. Kai verstand das, doch es weckte auch seinen Ehrgeiz. Er wollte in seinem Freund die gleichen Gefühle auslösen wie der in ihm. „Ich lasse dir sicher ab und an mal freie Fahrt”, fügte er hinzu. „Hey, in dem Fall weiß ich, was ich tue”, meinte Yuriy, und Kai hörte, dass er lächelte. „Knöpfchendrehen ist schließlich mein Job.” Boris fand wirklich erst am nächsten Morgen heraus, was zwischen ihnen lief. Was am Vorabend passiert war, hatten sie natürlich nicht vergessen, doch da sie darüber gesprochen hatten, stand es auch nicht zwischen ihnen. Sie waren in der Küche, kochten Kaffee und zogen sich gegenseitig auf, wie immer - bis Yuriy Kai packte, um ihn zu küssen (er konnte gar nicht genug von diesen Küssen kriegen, und würden die Umstände es erlauben, würde er alles, was ihr Freundeskreis jemals scherzhaft über ihre Knutschereien behauptet hatte, wahr werden lassen). So hatten sie sicher ein paar Minuten lang an der Anrichte gelehnt, bis ein lautes Räuspern sie unterbrach. In der Tür stand Boris, die Augenbrauen so weit hochgezogen, dass sie fast seinen Haaransatz berührten. „Was. Zum. Fick?”, fragte er, aber unter den gegebenen Umständen brauchten sie eigentlich gar nicht so viel zu erklären. Zur Strafe mussten sie sich allerdings den ganzen Morgen seine Sprüche anhören, und darüber hinaus mussten sie mit vereinten Kräften verhindern, dass Boris die „frohe Botschaft” sofort per Nachricht oder, noch schlimmer, Social-Media-Post in den Äther blies. Yuriy konnte ihn schließlich bezirzen und versprach, den Kühlschrank für eine Woche nach seinen Wünschen zu füllen (was eigentlich nur viel Eier und viel dunkle Schokolade bedeutete). Beim Rest ihres Freundeskreises wollten sie es etwas langsamer angehen lassen und beschlossen, dass es nicht schlimm war, wenn die anderen es erst erfuhren, wenn sich eine Gelegenheit dazu bot - weder Yuriy noch Kai hatten Lust auf eine große Verkündigung ihres Beziehungsstatuses. Und waren darüber hinaus sowieso viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Yuriy war wirklich froh darüber, dass er mit Kai so früh über seinen „Tick” hatte sprechen können. Er hatte im Vorhinein überlegt, wann und wie er das Thema am besten anschneiden konnte, und so wie es gelaufen war, war es vielleicht nicht perfekt, aber es hatte zu einem guten Ergebnis geführt. Denn nach diesem etwas holprigen Start begann die Phase, in der sie die Finger nicht voneinander lassen konnten. Irgendwie schafften sie es, sich in der ersten Woche fast jeden Tag zu sehen - außer am Samstag, denn Yuriy war von Freitag bis Sonntag wieder einmal unterwegs. Ihre gemeinsamen Nächte waren kurz, denn auch wenn sie sich buchstäblich vortasteten, taten sie dies sehr ausführlich. Yuriy merkte schnell, dass Kai nicht viel Vorspiel brauchte - er war wie ein Streichholz, das man nur einmal kurz anreißen musste, und Yuriy fragte sich ernsthaft, wie er diese Art Energie noch nie an dem anderen hatte bemerken können. Anfangs überforderte es ihn ein bisschen, aber mit der Zeit pegelten sie sich ein. Nach dem Akt wurde Kai allerdings anhänglich. Darin unterschied er sich sehr von Garland, der selten bis nie seine Nähe gesucht hatte. Das war Yuriy immer sehr recht gewesen, denn eigentlich konnte er gut auf überflüssige Berührungen verzichten. Selbst Umarmungen zur Begrüßung hatte er sich in einem langen, von Mathilda und Salima initiierten Prozess antrainieren müssen. Mit Kai allerdings wollte er diese körperliche Verbindung haben, und das eigentlich ständig. Das hatte nicht unbedingt nur etwas mit Sex zu tun, sondern wirkte auch wie eine Bestätigung, dass das hier wirklich passierte - dass sie tatsächlich zueinander gefunden hatten und sich alles so verdammt gut und richtig anfühlte. Und außerdem liebte er Kais Körper. Klar, Boris’ Training war daran nicht ganz unschuldig, aber das war nicht alles, und nicht einmal der wichtigste Grund. Kais Hände beispielsweise waren immer warm und vermittelten Halt, auch wenn sie kleiner waren als Yuriys. Und seine Haut war unglaublich weich. Kai hatte auch kein Problem mit Nacktheit, im Gegenteil: Wenn sie allein waren dauerte es meist nicht lange, bis er einen Grund fand, seine Finger unter Yuriys Oberteile gleiten zu lassen. Es gab kaum ein Gefühl von Scham zwischen ihnen. Als Yuriy die Stadt für zwei Nächte verließ, war es wie ein Schritt in ein altes Leben - mit dem Unterschied, dass er schon nach einer Stunde Zugfahrt die erste Nachricht an Kai schrieb. Es war eine belanglose Unterhaltung, doch sie hielt an, bis er wieder nach Berlin zurückkam. Sie trafen sich bei Kai, und in dieser Nacht warfen sie alle guten Vorsätze, es langsam anzugehen, über Bord, weil Yuriy ihm einfach zeigen musste, wie sehr er ihn vermisst hatte. Kai war in der Stimmung, sich von ihm dirigieren zu lassen, ging irgendwann aber dazu über, ihm zu sagen, was er wollte, und Yuriy kam diesen Wünschen nur allzu gerne nach. Der Blick aus den dunklen Augen, der ihm bestätigte, dass er seine Sache gut machte, entlohnte ihn. Danach lagen sie aneinandergeschmiegt im Bett und Yuriy hatte das Bedürfnis, Kai mit seinem ganzen Körper zu umschlingen, sich in seine Wärme zu hüllen bis sie ihn ganz durchdrang. Trotz allem erkannten sie ziemlich schnell, dass diese Beziehung viel Planung verlangte. Ihr jeweiliger Alltag war nicht gerade gut auf den des anderen abgestimmt: An Yuriys freien Tagen musste Kai früh aufstehen und ins Büro fahren, und an den Wochenenden war Yuriy meistens irgendwo gebucht. Selbst wenn er in Berlin arbeitete, bedeutete das, dass er am frühen Abend begann, seine Vorbereitungen zu treffen und nicht vor fünf Uhr zurückkam. Sein dadurch verschobener Schlafrhythmus würde das Ganze nicht besser machen. Er ertappte sich dabei, wie erleichtert er darüber war, dass der Winter begann; in der kälteren Jahreszeit hatte er weniger Auftritte, da die Festivals und Open-Air-Partys wegfielen. Was den Geldbeutel strapazierte war für ihre Beziehung umso besser, und dank des finanziellen Polsters, das er über den Sommer angespart hatte, machte er sich wenig Sorgen. Über kurz oder lang würden sie sich trotzdem entweder daran gewöhnen oder eine Lösung finden müssen. Zunächst war ihre Strategie, sich möglichst oft zu sehen, auch wenn das mit zusätzlichen Pendelfahrten verbunden war. Am Mittwoch stellte Yuriy fest, dass er Kai den Zweitschlüssel abluchsen musste. Sie waren eigentlich bei letzterem verabredet, doch der musste noch irgendetwas anscheinend sehr Wichtiges erledigen und deswegen länger im Büro bleiben. Zum Glück erreichte Yuriy die Information, bevor er im Studio alles einpackte, allerdings wusste er nicht, ob er sich noch für mindestens eine Stunde beschäftigen konnte. Er überlegte gerade, ob er einfach bei Phoenix Consulting, das ja auf dem Weg lag, vorbeifahren sollte, als Mathilda zu ihm kam. „Hey”, sagte sie, „Du bist ja noch hier, das trifft sich gut.” Er ließ die Hand mit seinem Telefon sinken. „Was gibt’s denn?” Seltsamerweise wirkte Mathilda etwas nervös, sah sich kurz um, bevor sie ihn leise fragte: „Kommst du kurz mit in den Seminarraum, damit wir das besprechen können?” Neugierig geworden folgte er ihr in das angrenzende Zimmer, wo noch die Stühle der letzten Gruppe in einem unordentlichen Kreis standen. Das Licht war ziemlich grell und die Einrichtung erinnerte ihn immer an seine alte Schule - graues Linoleum und weiße Wände mit vielen Abrieben. Er setzte sich auf einen der Tische, die an die Wand geschoben worden waren, und sah Mathilda erwartungsvoll an. „Was ist los?” Sie sprang neben ihm auf die Tischplatte, ihre Beine berührten den Boden nicht. „Ich wollte dich fragen, ob du meine nächste EP produzierst.” Das kam unerwartet. Normalerweise wirkte Kane als Producer für sie alle. Er hatte schließlich die meiste Erfahrung. Und in der Vergangenheit hatte das gut geklappt. Deswegen fragte er nun auch direkt danach: „Was ist mit Kane? Keine Zeit?” „Doch.” Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Aber irgendwie funktioniert das mit ihm nicht mehr so gut. Ich habe das Gefühl, dass er mich in eine bestimmte Richtung drängen will, die nicht… ich ist. Ich habe versucht, ihn darauf anzusprechen, aber er sagt, dass er mich so besser vermarkten kann. Du kannst dir denken, was ich davon halte.” Sie wechselten einen Blick. „Aber du kennst meinen Stil, Yuriy”, fuhr sie fort, „Und du weißt, was mir wichtig ist. Also - hilfst du mir?” Yuriy gab einen zweifelnden Laut von sich. Zeitlich würde er es wahrscheinlich sogar hinbekommen, aber er ahnte, dass sie Kane damit ganz schön auf die Füße traten. „Ich bin nicht so gut wie Kane”, meinte er schließlich. „Willst du mich verarschen? Du hilfst Vanja und Salima ständig mit ihren Tracks - und bei Allee der Kosmonauten hat Kane kaum etwas beigetragen! Das war doch schon fast fertig, als du es hergebracht hast!” „Mattie, ich kann Kane nicht so in den Rücken fallen!”, sagte Yuriy laut, „Er ist immer noch unser Boss, irgendwie. Und wir haben ihm echt viel zu verdanken. Denk mal an unseren Takeover am Wochenende, das würden wir ohne ihn auch nicht machen können.” Am Freitag würden sie zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder zu viert auflegen. Das war im Rahmen einer Partyreihe möglich, die Kane hostete und sollte im Octavian stattfinden. Doch Mathilda schien das egal zu sein. „Yuriy, denk nach. Wir verdanken ihm nicht endlos viel. Ja, er hat uns schnell bekannt gemacht, aber wir waren auch ohne ihn schon auf einem guten Weg! Es hätte vielleicht ein Jahr länger gedauert, aber wir hätten es auch allein geschafft. Und du kannst mir nicht erzählen, dass du unglaublich viel Neues von ihm gelernt hast, was die Produktion angeht. Du warst schon immer gut.” Yuriy wollte widersprechen, denn er hatte durchaus etwas dazugelernt, aber er sah ein, dass er damit nicht weiterkam. Also wartete er ab, was sie zu sagen hatte. „Ich habe gehört, er hat dich für Vocals angefragt”, sagte Mathilda. „Weißt du, warum? Er will dich beschäftigt halten, damit du nicht mehr so viel Production machst. Du sollst für ihn Platten drehen und ein paar niedere Arbeiten verrichten, nichts weiter. Seine größte Angst ist gerade, dass wir abhauen und unser eigenes Ding machen. Deswegen hält er uns, und vor allem dich, kurz.” „Woher willst du das wissen?” „Alle sagen das!”, entgegnete Mathilda. „Vanja hat mir neulich erzählt, dass er auch mit dir was machen wollte, aber dann war auf wundersame Weise das Studio nur frei, wenn du nicht da warst. Also hat er es mit Kane gemacht. Und Salima denkt auch, dass da was im Busch ist. Kane ist nett, ja, aber seine Karriere geht ihm vor. Er will dich nicht als Konkurrenten.” Das war fast zu viel Information auf einmal. Wenn Yuriy ehrlich zu sich war, so wollte er im Moment einfach nur ein bisschen mit dem Strom schwimmen, nichts weiter. Er hatte keine großartigen Pläne für die nahe Zukunft, aber was auch immer hier im Busch war, es wirkte, als sollte er bald welche machen. „Tja”, sagte er, „Und jetzt?” „Jetzt hast du die Fakten”, meinte Mathilda, „Mach damit, was du willst. Die anderen und ich sind auf deiner Seite, okay? Uns ist das Kollektiv wichtiger als Kanes Label. - Und, um zum eigentlichen Thema zurückzukommen, machst du es?” „Deine EP?” „Ja.” Er zögerte, aber nicht lange. „Meinetwegen. Aber du musst mit Kane sprechen; wir können das nicht hinter seinem Rücken machen, das gibt nur Ärger. Oder er sperrt wieder das Studio, wie bei den anderen.” Er seufzte. „Ich sag ihm wegen der Vocals ab. Hatte eh keinen Bock darauf.” „Gut!” Endlich lächelte sie, dann sprang sie auf die Füße. „Sollen wir Feierabend machen?” Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte dabei erfreut fest, dass Kai ihm inzwischen geschrieben hatte, er wäre auf dem Weg nach Hause. „Ja, gib mir noch fünf Minuten, um mein Zeug zu holen.” Während er im Studio seinen Laptop einpackte und nach seinen Kabeln und Datenträgern suchte, ließ Yuriy sich das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen. War er naiv gewesen, wenn es um Kane ging? Er hatte sich ihm eigentlich nie gleichgestellt gesehen, da Kane einfach mehr Erfahrung hatte. Yuriy war erst seit gut zwei Jahren freiberuflich, er hatte noch nicht einmal kapiert, was er alles von der Steuer absetzen konnte. So recht wollte er nicht glauben, dass Kane ihn jetzt schon als Konkurrenz sah. Aber so, wie er den anderen kannte, wäre es auch nicht ungewöhnlich. In Berlin gab es sowieso ein Überangebot von Musikern und Mini-Labels, gerade in ihrer Szene. Er musste sich also durchsetzen können. Und was wollte Yuriy? Das war schwer zu sagen. Er liebte es, aufzulegen, und seit er seine eigenen Tracks spielen konnte, war es noch ein Stück besser geworden. Und Musik zu produzieren ging ihm immer besser von der Hand. Mathilda war genauso ambitioniert, aber sie wollte später lieber ins Clubmanagement. Ob Salima auf ewig Djane bleiben würde, war fraglich; Vanja hingegen nahm jeden Gig an, den er kriegen konnte. Sicher, irgendwann würde sich die Überlegung lohnen, ein eigenes Label aufzumachen. Aber war es nicht noch zu früh dafür? Und außerdem, dachte Yuriy, als er zu Mathilda zurückkam, gab es in seinem Leben jetzt eine weitere Variable, die er mit einberechnen musste. „Fährst du mit mir U6?”, fragte Mathilda, als sie vor der Tür standen. „Äh, nein. Ich nehme die Ringbahn. Bin mit Kai verabredet.” „Ach so.” Sie war davon derart unbeeindruckt, dass Yuriy klar wurde, wie häufig das schon passiert war, noch bevor Kai und er zusammengekommen waren. Es war ihm früher gar nicht aufgefallen. „Grüß ihn von mir. Kommt er am Freitag?” „Hm.” Natürlich würde er das, und auch wenn er arbeiten musste, freute Yuriy sich darauf. Seine Gedanken drifteten ein bisschen ab, und wahrscheinlich grinste er schon wieder grundlos ins Leere. „Alles klar bei dir?” Mathilda klang fast besorgt. „Jepp”, entgegnete er, aber seine Mundwinkel blieben, wo sie waren. „Alles gut.” Kapitel 9: Wir sind ein wunderschönes Team ------------------------------------------ Enttäuscht stellte Yuriy fest, dass Kais Schokomüsli leer war. Nur noch ein paar Krümel klebten am Boden der Packung. Warum warf sein Freund sie nicht einfach weg? Kopfschüttelnd nahm er die Pappbox aus dem Küchenschrank und löste die Klebefälze, bevor er sie in den Papiermüll warf. Beim zweiten Blick in den Schrank fand er ein ominöses Proteinmüsli, dessen Existenz in dieser Wohnung sicher Boris zu verdanken war. Er hatte sich gerade diesem Schicksal ergeben und ein paar Löffel des Müslis mit Milch aufgegossen, als Kai aus dem Bad kam und mit ihm der Duft von Duschgel, Deo und Haarspray. “Dein Müsli ist alle”, informierte Yuriy ihn und merkte im selben Augenblick, dass das, was er im Mund hatte, eher nach Pappmaché schmeckte als alles andere. “Sorry”, sagte Kai etwas zerstreut. Er warf einen flüchtigen Blick in Yuriys Schüssel, öffnete eine andere Schranktür und stellte ihm ein Glas mit Schokoladenaufstrich hin. “Das macht dieses Zeug wesentlich erträglicher. Ich werde nie wieder einen von Boris’ Ernährungstipps annehmen.” “Ich hab dich gewarnt, aber du wolltest nicht hören”, entgegnete Yuriy. Kai war schon weiter zum Kleiderschrank gelaufen und wühlte in diesem nach passenden Shirts. “Ist heute euer erster Tag bei Grypholion?” “Jepp.” Kai hatte ein schwarzes Baumwollhemd aus dem Schrank gezogen und musterte es kurz, bevor er es überwarf. “Wird eine Weile dauern. Ich schätze, wir sehen uns dann erst heute Abend vor Ort.” “Vermutlich.” Es war Freitag und der Take-over von Ostblocc im Octavian stand kurz bevor. Sie würden am frühen Abend alles aufbauen und einen Soundcheck machen und sich dann noch ein wenig einstimmen, bevor es richtig losging. Das Programm war straff, denn sie legten nicht nur zu viert auf, sondern hatten den Rest der Zeit für ihre Kollektivmitglieder klar gemacht. “Einlass ist ab halb elf, weißt du, ja?” “Soll ich wirklich schon so früh da sein? Ich hab überlegt, ob ich mich davor nochmal hinlege…” Yuriy lachte. “Was meinst du, was ich mache, sobald du aus der Tür gegangen bist? Mach, wie es für dich am besten ist. Bringst du eigentlich deinen Prakti mit? Ich hab ihm gesagt, ich organisiere ihm einen Platz auf der Gästeliste, wenn er sich traut, mich direkt anzuschreiben.” “Untersteh dich!”, rief Kai, der inzwischen fast fertig mit seinem Styling zu sein schien. Er sah nach Business aus, wenn auch nicht ganz so schlimm wie neulich, als er Jürgens-McGregor getroffen hatte. Zu dem Hemd trug er dunkle Jeans und Chelsea-Boots, von denen Yuriy nur wusste, dass sie so hießen, weil Kai ihm irgendwann eine Einführung in Schuhkunde gegeben hatte. “Smart”, urteilte er und kassierte einen Blick, der ihn sofort daran erinnerte, dass er es heute noch nicht einmal geschafft hatte, eine Hose anzuziehen. Yuriy schob sich ungerührt noch einen Löffel Müsli in den Mund. Kai streckte die Hand aus und griff, nachdem er festgestellt hatte, dass seine eigene Kaffeetasse bereits leer war, nach Yuriys. “Da fällt mir ein”, sagte er, “Ralf und Johnny haben mich neulich gefragt, ob ich wohl einen DJ kenne, der auf ihrer Firmenfeier in London auflegt. Je mehr Berlin und Underground, desto besser.” “Ach Gottchen.” Yuriy seufzte. “Wie viel zahlen sie denn? Ich kenn ein paar Leute, die immer Geld brauchen.” “Hab ihnen dreitausend aus den Rippen geleiert.” Yuriy verschluckte sich. “Drei- dreitausend?”, fragte er, bevor er husten musste, “Aber ohne Flüge und Hotel?!” “Mit.” “Scheiße, Kai.” Er hatte Tränen in den Augen und war nicht sicher, wovon. “Ich nehm im Schnitt die Hälfte davon! Maximal zweitausend, wenn ich echt den ganzen Tag vor Ort bin oder so.” Kai hob nur die Schultern. “Ich hab dir schon mal gesagt, dass du dich unter Wert verkaufst.” Er grinste ihn an. “Hast du Lust? Wir könnten zusammen einen Ausflug machen. Sie haben mich zu der Party eingeladen und für’s Networking ist es bestimmt nicht schlecht.” “Wann ist das denn?” Antikapitalistische Ideale hin oder her, Yuriy war sich durchaus nicht zu schade dafür, ein paar reichen Schnöseln Geld aus der Tasche zu leiern. Er konnte einen Teil davon ja ans Kollektiv spenden. Als Kai ihm jedoch das Datum nannte, seufzte er enttäuscht. “Da bin ich mal wieder in Leipzig, dafür aber das letzte Mal in diesem Jahr.” “Schade. Aber wenn die anderen Zeit haben, kann ich gerne vermitteln.” Kai kam auf ihn zu. “Ich muss los. Wann genau hast du heute dein Set?” Yuriy legte die Arme um ihn und atmete noch einmal die geballte Ladung Stylingprodukte ein; zum Glück verflog dieser Dunst bald, und Kais Aftershave war weit weniger aggressiv. “Nicht heute, morgen. Um zwei”, sagte er schließlich. Kai ächzte gegen seine Schulter. “Erwarte mich bitte nicht vor Mitternacht.” “Aber bitte auch nicht später, ich will mit dir zu Matthies Remix von Baikonur tanzen!” Statt zu antworten reckte Kai das Kinn und küsste ihn. Yuriy ahnte, sein Freund hatte herausgefunden, dass er ihn damit von so ziemlich allem ablenken konnte, aber noch war er ihm deswegen nicht böse. Nur widerwillig ließ er von ihm ab. “Bis heute Abend, detka.” Doch Kai ließ sich nicht auf ein Versprechen ein. “Bis dann”, sagte er. Mariam und Wyatt trafen kurz nach Kai bei ihrem Treffpunkt am Alexanderplatz ein. Kai hatte nichts dagegen, dass Wyatt dabei war, im Gegenteil: Der Kleine konnte was lernen und gleichzeitig ein paar niedere Aufgaben für sie verrichten, während sie sich auf das Wesentliche konzentrierten. In den nächsten Wochen würden sie vermutlich eine Menge Leute kennenlernen, die in verschiedenen Abteilungen von Grypholion arbeiteten. Das Ziel war, sich die aktuellen Prozesse zu vergegenwärtigen und Baustellen zu identifizieren, um dann alles optimieren zu können. Nicht alle Mitarbeitenden waren froh über die Anwesenheit von Consultants, aber normalerweise konnten sie sich mit Professionalität und manchmal auch etwas Charme durchsetzen. Wyatt, das nahm Kai mit einem kurzen Blick zur Kenntnis, hatte die hellen Farben inzwischen aufgegeben, sah aber immer noch ein bisschen aus wie von einem anderen Stern. Kai unterdrückte den Drang, ihm zu sagen, dass es wirklich kein Problem war, wenn er den oberen Knopf seines Hemdes öffnete. Er wollte nicht riskieren, dass sein Schützling einmal mehr vor Aufregung verging. “Garland hat geschrieben, dass er gleich da ist”, sagte Mariam, “Anscheinend hat seine U-Bahn Verspätung.” Die beiden hatten sich inzwischen kennengelernt und Kai war froh, dass sie sich auf anhieb zu verstehen schienen. Das machte die Zusammenarbeit wesentlich angenehmer, und er war sich sicher, selbst wenn er andere Dinge zu tun hatte, würden Mariam und Garland das Ding schon schaukeln. Kurz darauf sah er, wie Garland aus dem U-Bahnaufgang kam und das kurze Stück zu ihnen sprintete. “Sorry”, sagte er, als er neben Kai zum Stehen kam, “Scheiß BVG.” “Keine Sorge”, entgegnete Mariam, “Da unser Chef uns wärmstens empfiehlt, die Öffis zu benutzen, darf er auch nicht böse sein, wenn sich hier und da mal was verspätet.” Kai schnaubte, dann traf sein Blick auf den Garlands, der ihn ziemlich breit angrinste. “Was?”, fragte er und ahnte schon, was ihm bläute. “Mir ist da was zu Ohren gekommen”, sagte Garland. “Ach ja?” “Jetzt tu nicht so.” Er gab ihm einen kleinen Stoß. “Ich will nur sagen - ich bin ein bisschen sauer. Aber ich finde es auch ein bisschen lustig.” “Schön für dich.” Kai wandte sich um, damit niemand sah, wie er lächelte. “Abmarsch, Leute. Wir müssen arbeiten.” Und setzte sich in Bewegung. Die anderen folgten ihm brav wie eine Schar Entenküken, und er hörte, wie Mariam Garland leise auszufragen begann, was der Schlagabtausch eben zu bedeuten hatte. Der jedoch schwieg wie ein Grab, und das war auch besser so. Kai hielt sich seinen Mitarbeitenden gegenüber zwar nicht sonderlich bedeckt, was sein Privatleben anging - es stand ihnen frei, sich über Social Media mit ihm zu befreunden oder ihn zu fragen, wie sein Wochenende war - aber von sich aus würde er ihnen nicht sofort alles erzählen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Wyatt etwas unschlüssig neben ihm hertrottete. Vermutlich suchte er nach einem Grund, ein Gespräch zu beginnen, wie eigentlich immer. Auch er traute sich nicht, nach etwas anderem zu fragen als dem Geschäftlichen. Zugegeben, Kai war ein bisschen beeindruckt von dieser Determiniertheit, zumal er immer noch nicht verstand, warum der Kleine so besessen von ihm war. “Also, Mr. Smith”, sagte er schließlich, denn ein guter Chef war leider einer, der Smalltalk halten konnte, das hatte er schmerzhaft lernen müssen. “Haben Sie sich inzwischen in Berlin eingelebt? Wo wohnen Sie eigentlich?” “Ähm, die Gegend gehört zu Charlottenburg, glaube ich. Richard-Wagner-Platz? Ich habe dort ein WG-Zimmer.” “Dann sind Sie heute ja schon einmal quer durch die Stadt gefahren.” Kai kannte sich inzwischen ganz gut aus, aber nach Charlottenburg verschlug es ihn tatsächlich recht selten, obwohl das Viertel sehr schön war. Eine Menge seiner beruflichen Bekanntschaften lebten dort. “Gefällt es Ihnen?”, ermittelte er weiter. Wyatt lief rot an. “Naja”, sagte er, “Ich sehe meinen Mitbewohner nicht oft. Er studiert Informatik und ist entweder in der Uni oder in seinem Zimmer. Ein etwas komischer Typ, wenn ich ehrlich bin. Ich habe mir natürlich schon viele Sehenswürdigkeiten angesehen!”, fuhr er schnell fort. “Berlin ist wirklich eine interessante Stadt, gerade auch wegen der Geschichte - obwohl ich zugeben muss, dass ich nicht viel darüber weiß, es war nie mein Lieblingsfach… Ich meine, ich glaube, ich habe schon so einiges hier gesehen und es wird nicht langweilig, aber gerade am Wochenende bin ich unschlüssig, wo ich hingehen kann. Ich will ja auch nicht immer nur Museen besuchen. Viele haben mir erzählt, die Parks und Seen sind im Sommer schön, aber jetzt ist es dafür doch schon ein bisschen zu kalt…” Kai nickte. Als er neu in die Stadt gekommen war, war es ihm ähnlich gegangen. Mit dem Unterschied, dass er Kollegen im gleichen Alter hatte, die ihn des öfteren in irgendwelche Bars oder gar Clubs mitschleppten. Und daraus war ja auch die ein- oder andere krude Freundschaft entstanden. Dann hatte er Takao kennengelernt, und das, davon war er immer noch überzeugt, hatte ihn gerettet. Und inzwischen war sein Freundeskreis dank Yuriy noch einmal stark angewachsen. Dennoch, er hatte das Gefühl nicht vergessen, wie es war, allein in eine völlig fremde Stadt zu kommen. “Vielleicht hängen Sie sich einfach mal an Miss Shields”, schlug er vor, “Soweit ich weiß macht sie freitags gerne mal die Stadt unsicher, oder Mariam?”, fügte er laut hinzu, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. “Glaub ihm kein Wort, Wyatt!”, sagte sie, “Ich bin langweilig. Mit mir schaffst du es höchstens in die nächste Bar. Wenn du feiern willst, musst du dich an den Boss hängen. Der Boss kommt hier nämlich in jeden Club rein. Ich frage mich sowieso, wann der Boss mich mal auf die Gästeliste setzen lässt, so als Entlohnung für meine harte Arbeit.” “Der Boss hat nicht gewusst, dass du scharf auf sowas bist”, entgegnete Kai, “Aber der Boss könnte das durchaus einrichten, wenn du lieb fragst.” “Soweit ich weiß steht der Boss heute Abend auf der Gästeliste vom Octavian”, warf Garland ein, “Oder etwa nicht? Hat mir ein Vögelchen gezwitschert.” “Lass mich raten, das Vögelchen war lang und rothaarig”, sagte Kai. “Bist du auch da?” “Freilich.” “Was ist im Octavian?”, fragte Mariam neugierig, und gleichzeitig kam von Wyatt: “Was ist Octavian?” In diesem Moment jedoch waren sie vor dem Bürogebäude angekommen, in dem Grypholion saß. Kai drehte sich zu seinem Team um. “Octavian ist das Codewort für acht Stunden Arbeit, die heute vor uns liegen, also los.” Besagte acht Stunden später fühlte Kai sich gerädert, versuchte aber sein bestes, sich nichts anmerken zu lassen. Es waren diese Momente, in denen er wirklich bereute, ausgerechnet eine Consultingagentur gegründet zu haben. Der ständige Austausch mit wildfremden Menschen zählte nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, war aber leider Kernbestandteil seines Jobs. Sie würden einfach weiter wachsen müssen, damit er sich in Zukunft nur noch auf dem Chefsessel räkeln konnte, während die anderen die Laufarbeit erledigten… “Kai?” Sie standen schon an den Fahrstühlen, als Katja Nowak persönlich aus ihrem Büro kam und sie einholte. Sie hatten sich in der Früh nur kurz die Hand geschüttelt, dann war sie schon zu ihrem Meeting-Marathon aufgebrochen, während Kai und die seinen von ihrem Assistenten durch die Büros geführt worden waren. Er hatte ehrlich gesagt fest damit gerechnet, sie höchstens einmal die Woche aus den Augenwinkeln zu sehen, denn sie war wahrscheinlich die beschäftigste Frau, die er momentan kannte. Umso erstaunter war er darüber, dass sie ihnen nun nachlief. Als sie sie erreicht hatte, lagen ihre Augen betont auf ihm, den anderen schenkte sie keine Beachtung. CEO-Gehabe, aber er verstand, warum sie sich das angeeignet hatte. Es war nicht leicht, sich gegen Männer wie Ralf und Johnny durchzusetzen. “Ich wollte nur fragen, ob ihr euch zurecht findet und alles gut gelaufen ist bisher”, sagte sie. “Ja, alles gut”, entgegnete Kai, “Ich denke, wir wissen jetzt, wie wir am besten vorgehen können. Mit ein bisschen Glück werden wir schneller sein als gedacht - aber erzähle das lieber nicht Ralf.” “Keine Sorge, es ist mir auch lieber, wenn wir beide hier einfach unser Ding machen.” Die Andeutung eines Lächelns umspielte ihre Mundwinkel und Kai hob kurz die Augenbrauen. “Dann sind wir uns ja einig.” “Wo wir gerade von Ralf sprechen”, fuhr sie fort, “Er hat mir ein gutes Dutzend Einladungen für diese Jürgens-McGregor-Party in London geschickt, mit der Bitte, dich nochmal wärmstens darauf hinzuweisen, dass es eine super Gelegenheit für’s Networking wäre.” Kai bemerkte, wie Mariam neben ihm nervös wurde. Seit er diese Party ihr gegenüber erwähnt hatte, war sie scharf darauf, ihn zu begleiten. Er hatte nichts dagegen, sie war seine beste Mitarbeiterin und würde sich die nächsten sechs Monate lang für Grypholion den Hintern aufreißen. Ein paar gute Kontakte und eine fancy Party waren da wohl der mindeste Bonus. Endlich sah Katja nicht mehr nur ihn an, sondern in die Runde. “Nimm doch gleich dein Team mit. Ich kann euch gern eine Handvoll Einladungen schicken. Um ehrlich zu sein brauche ich sowieso nicht so viele.” Kai neigte den Kopf. “Auch den Praktikanten?” “Als würde Ralf sich darum scheren. Nimm was du kriegen kannst, Kai. Wirklich.” Er schnaubte; sie war ihm schon jetzt sympathisch. Er würde sie demnächst auf einen Kaffee einladen müssen - auch wenn er ahnte, dass er dafür ihren Terminkalender stalken musste. “Schick mir die Einladungen”, sagte er schließlich und meinte zu spüren, wie Mariam innerlich explodierte. “Okay Leute, jetzt nochmal konzentrieren - haben wir irgendwas vergessen?” Ivan, Salima und Yuriy traten näher an Mathilda heran, damit sie zu viert das Pult begutachten konnten, das sie soeben für ihre Party bestückt hatten. Sie alle hatten ihre eigenen Vorlieben beim Setup der Technik. Früher hatten sie meist mit dem arbeiten müssen, was die Clubbetreiber ihnen hinstellten, heute richteten sich diese nach ihren Wünschen. Für ihren Take-over mussten sie nun aber Kompromisse finden, denn zwischen ihren Sets blieb keine Zeit, den Aufbau zu verändern. Sie hatten sich für die elaborierte Variante entschieden, sodass es kaum funktionale Einbußen gab. Neben vier rein digitalen Controllern, einem nicht zu verachtenden Mixer, Loops und anderen Effektmaschinen gab es auch zwei Plattenspieler. Salima war die einzige von ihnen, die Vinyl auflegte, aber sie bestand darauf. “Wir mussten das eine Kabel vom Interface tapen, aber Kane bringt nachher noch Ersatz mit. Passt halt ein bisschen auf, damit es keinen Wackelkontakt gibt. Sollte aber alles funktionieren”, urteilte sie. “Sollen wir einen Probelauf machen?” Yuriy war der einzige von ihnen, der das Octavian schon mal bespielt hatte. Es unterschied sich von den anderen Technoschuppen insofern, als dass es hier keine hohen Decken gab. Stattdessen befand sich der Club in einer eher niedrigen alten Lagerhalle, ein paar Meter weiter verlief die S-Bahntrasse und um sie herum war heruntergewirtschaftetes Industriegebiet. Die Wände waren recht dünn, und auch wenn sich die Betreiber Mühe gegeben hatten, die Akustik zu verbessern, gab es im Vergleich einige Einbußen. Das Reizvolle an Techno war gerade das Zusammenspiel von Musik und Raum, die Art und Weise, wie die Töne von Wänden und Decke wiederhallten und eine hypnotische Klangumgebung schufen. Die dröhnenden, tiefen Bässe, die man beinahe mehr spürte als hörte und die Yuriy so liebte, funktionierten in den ehemaligen Industriepalästen wie dem Bunker oder dem Don Quichotte wesentlich besser als hier oder gar im Zentrum, wo die Wände eine andere Beschaffenheit hatten und dadurch eine andere Tonqualität erzeugten. Als Club-DJ musste er sich, genau wie die anderen, auf die Gegebenheiten einstellen können. Doch er war sich sicher, dass sie trotz der verbesserungswürdigen Gegebenheiten ihren Spaß haben würden - laut einschlägiger Plattformen sollte es voll werden. Ihre individuellen Fanbases konnten sich inzwischen sehen lassen, und ganz nach Szene-Tradition hatten sie sich auf die Mund-zu-Mund-Propaganda verlassen, anstatt groß die Werbetrommel zu rühren. Während Salima an die Turntables trat, um ein kleines Probeset zu starten, gesellte Yuriy sich zu Ivan, der heute ungewöhnlich still war. “Alles klar?”, fragte er und lehnte sich neben ihn an einen der Pfeiler, die die Decke trugen. Ivan seufzte. “Nee, eigentlich nicht.” “Ist was passiert?” Sein Gegenüber nickte, seine Mimik wurde noch missmutiger. “Vor zwei Tagen kam ein Brief”, erzählte er. “Unser Vermieter verkauft das Haus. Klassiker. Komplettsanierung und der ganze Scheiß. Gibt ein Vorkaufsrecht, aber kann sich natürlich keiner leisten.” “Shit, Vanja”, sagte Yuriy, sein Blick wanderte zurück zu Salima, die davon genauso betroffen war. “Wollt ihr was machen? Braucht ihr Hilfe?” Er konnte sich vorstellen, an wen das Haus gehen sollte, nämlich an eine der Immobilienheuschrecken, die günstige Häuser kauften, einmal komplett aufhübschten und für den doppelten Preis neu vermieteten oder die Wohnungen gleich als Kapitalanlagen anpriesen. Von den ehemaligen Anwohnenden konnte sich das natürlich niemand leisten. Mieterproteste halfen, wenn es schnell ging und sie laut genug waren. Die städtischen Wohngesellschaften hatten ebenfalls das Recht, die Gebäude zu kaufen, und das war eine weitaus bessere, wenn auch in Yuriys Augen nicht perfekte Lösung. Dennoch, all das verursachte einen immensen Stress, der sich gut und gerne bis zu einem Jahr hinzog. “Salima und ich wollen mal mit Sergeij sprechen, der ist ja gut vernetzt”, sagte Ivan nun. “Aber wir wollen uns trotzdem langsam nach was anderem umgucken. So wie es aussieht, haben wir noch mindestens sechs Monate, aber du weißt ja, wie das mit Wohnungen gerade ist.” Yuriy nickte. Scheiße war es. Berlin war schon längst nicht mehr die Stadt der günstigen Mieten und des großen Leerstands, und vielleicht war auch das ein Grund dafür, weshalb er es sich mit Boris so gemütlich machte. Freiwillig würde er sich die Suche nach einer neuen Bleibe jedenfalls nicht antun. “Sergeij ist da ein guter Ansprechpartner”, bestätigte er, “Der kennt Leute, die euch mit dem Protest helfen. Und euch rechtlich beraten. Und wir können auch alle rumfragen, ob jemand jemanden kennt - du weißt ja, wie das läuft.” “Ja, danke”, sagte Ivan. “Ich denke auch, wir können das lösen. Nur den Stress braucht halt keiner. Salima und ich wollen einfach nur Musik machen, und jetzt müssen wir uns auch darum kümmern.” Er ächzte genervt und Yuriy verzog mitfühlend den Mund. Hätte es ihn und Boris getroffen, er hätte nicht gewusst, wie er das alles auf die Reihe kriegen sollte. Soziales Engagement war zeitaufwändig und kräftezehrend, und sowohl von Zeit als auch Kraft hatte er momentan nicht unendlich viel zur Verfügung. “Lass uns ein Krisentreffen machen, wenn wir die Party hinter uns haben, okay?”, schlug er vor, “Wir finden schon eine Lösung.” “Klingt gut”, meinte Ivan, “Und Danke. Ist gut zu wissen, dass wir das nicht alleine stemmen müssen.” Yuriy boxte ihn freundschaftlich gegen die Schulter, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu erwidern. Die anderen beiden riefen nach ihnen, damit sie ebenfalls ihren Soundcheck machen konnten. Kapitel 10: Unter deiner Sonne ------------------------------ “Du weißt, dass du mir alles erzählen musst, oder?” Garland stiefelte neben ihm die schlecht beleuchtete Straße entlang, sein heller Pferdeschwanz schaukelte bei jedem Schritt hin und her. Kai schob beide Hände in die Taschen seines Mantels. Die gute Laune, die in der Stimme seines Begleiters mitschwang, irritierte ihn ein wenig. Doch er würde nicht in der Wunde bohren. “Hat Yuriy dir nicht schon gesagt, was du wissen musst?”, brummte er. “Yuriy hat mir nur gesagt, dass euer Date scheiße war und ihr trotzdem am Ende rumgemacht habt. Aber wie es dazu gekommen ist - nein!” “Meine Güte Garland, wir saßen mit einem Spätibier vor meiner Tür, er hat einen dummen Spruch gemacht, ich auch, und dann ist es passiert. Punkt!” Er fing sich einen Seitenblick ein. “Das ist das berlintypischste Date, von dem ich jemals gehört - ach du Scheiße.” Sie waren um eine Ecke gekommen und beinahe in das Ende der Schlange vor dem Club hineingelaufen. Die Leute standen quer durch das mit Wellblech umzäunte Clubgelände und bis auf den Bürgersteig an. Es war kein ungewöhnlicher Anblick, nicht an einem gerade angebrochenen Sonntag. “Es lebe die Gästeliste”, meinte Kai und setzte sich wieder in Bewegung. Inzwischen kannte er viele der Türsteher und konnte auch heute zwei von ihnen mit Handschlag begrüßen. Dabei merkte er, wie er von den anderen Gästen, die meisten davon irgendwelche Studierende mit mehr oder weniger Promille im Blut, heimlich gemustert wurde. Er war auf Partys schon für vieles gehalten worden - Clubbetreiber, DJ, Drogendealer - und das hatte viel mit der Wahl seiner Klamotten zu tun. Dreißig war ein magisches Alter: Er konnte je nach Laune so tun, als wäre er ein Bachelorstudent oder ein mit allen Wassern gewaschener Geschäftsmann. Heute hatte er sich dafür entschieden, sehr nah an sich selbst zu bleiben. Sie wurden ohne zu murren (jedenfalls von Seiten der Türsteher) eingelassen, gaben die Mäntel an der Garderobe ab und machten sich auf die Suche nach Getränken und bekannten Gesichtern. Es war warm hier drin, die Hitze staute sich unter der niedrigen Decke, die Luft war etwas feucht. Kai wusste nicht recht, ob er froh sein sollte, statt des Mesh-Shirts aus Kunststoff (mit dem Mensch in Technoclubs nie etwas falsch machen konnte) doch eines aus dünner Baumwolle angezogen zu haben. Vermutlich hätte es keinen Unterschied gemacht, nass blieb nass. Er gähnte verstohlen; obwohl er ein paar Stunden geschlafen hatte, würde er irgendeinen Wachmacher brauchen, um wieder vollständig zu sich zu kommen. Als hätte er seine Gedanken gelesen, drückte Garland ihm ein eiskaltes Glas in die Hand, das augenscheinlich Cola enthielt. “Da ist Alkohol drin!”, warnte er ihn und Kai schickte ihm einen Blick, der ihm zu verstehen gab, dass er mit nichts anderem gerechnet hatte. Das Octavian war kein großer Club. Der Hauptdancefloor nahm beinahe die gesamte Fläche ein, es gab zwei, drei Bars und einen kleineren Nebenraum, in dem heute aber nicht aufgelegt wurde. Vermutlich würde man dort alle finden, die rummachen, high werden oder einfach ihren Rausch ausschlafen wollten. Kai und Garland standen an einem Gelb ausgeleuchteten Tresen und konnten den Hauptraum gut überblicken. Es war ziemlich dunkel, ein paar Scheinwerfer warfen spärliches Licht auf die Menge. Ab und zu knallte Stroboskoplicht durch ihre Pupillen und machten die Graffitis an den Wänden lebendig. Es gab hier wenig Überflüssiges. Abgesehen von den psychedelischen Gemälden waren die Wände roh und uneben, die Soundanlage machte ordentlich Wumms, die Bühne mit den Turntables lag minimal erhöht, zwei kleine, rote Strahler waren auf sie gerichtet, in deren Licht man aber nicht viel erkennen konnte. Es war unverkennbar Ivan, der gerade sein Set spielte. Die Musik dröhnte hart und schnell in ihren Ohren. Nach ihm war Mathilda an der Reihe, dann Yuriy und zum Schluss Salima, die die Leute wahrscheinlich mit ihren weitaus rhythmischeren Tönen wieder auf den Boden der Tatsachen brachte. Kai warf einen Blick auf sein Handy. Er hatte Yuriy geschrieben, wo er sie finden konnte, denn er war sich sicher, sein Freund chillte entweder backstage oder lief hier irgendwo herum und redete mit mehr oder weniger wichtigen Leuten. Tatsächlich hatte er schon eine Antwort erhalten. Er hoffte nur, dass Bin gleich da auch wirklich das meinte, denn es wurde langsam voll um sie herum. “Ist das nicht ein Track von Mathilda?”, fragte Garland in diesem Moment. Kai hob den Kopf und hörte genauer hin. Tatsächlich, diese Melodie kam ihm bekannt vor, nur eigentlich war sie einen Tick langsamer. Diese Version klang eher nach… Ivan. “Glaube schon”, sagte er und meinte sich zu erinnern, dass Yuriy ihm mal erzählt hatte, Remixes seien der beste Weg für DJs, sich gegenseitig zu promoten und Anerkennung zu zollen. Als er den Blick erneut schweifen ließ, sah er etwas weiter weg Salima, umringt von anderen Frauen, vermutlich ihre Freundinnen oder Fans. Und waren das nicht Mao, Rei und Lai? Erstere erkannte man eigentlich recht schnell an ihrer pinken Mähne, aber er war sich nicht sicher, ob er wirklich beide Männer in ihrer Gesellschaft gesehen hatte. Sie waren schon weitergegangen. “Ich glaube, ich habe vorhin Raoul und Giulia gesehen”, rief Garland ihm ins Ohr. Kai zog eine Augenbraue hoch. Seines Wissens nach war es die erste Party, auf der sowohl Lai als auch Raoul waren. Er hatte schon länger nichts mehr von den beiden gehört, nicht einmal Giulia hatte ihm etwas erzählt, und so fragte er sich kurz, ob das wohl gut ausgehen würde. Dann aber bemerkte er Yuriy, der sich gerade einen Weg zu ihnen bahnte, und seine Grübeleien waren vergessen. “Wolltest du nicht schon gestern kommen?”, fragte Yuriy und zog ihn an sich, bevor er auch Garland begrüßte. Kai verdrehte nur die Augen. Yuriy hatte gut reden, sein Arbeitstag begann jetzt erst und dementsprechend voll waren seine Energiereserven. Kurz fragte Kai sich, wie sie das auf Dauer aushalten sollten, aber da Yuriys Hand inzwischen seinen Rücken streichelte, verwarf er den Gedanken schnell. Wieder einmal sahen sie sich viel zu lange stumm an. Auch Yuriy setzte die stickige Luft hier drin zu, seine Haare waren wirr und kräuselten sich leicht an den Spitzen und ein feiner, glänzender Film lag auf seinen Armen. Auf seinem Shirt prangte ein kleines Ostblocc-Logo in Höhe der linken Brust, die Ärmel hatte er bis über die Schultern hochgekrempelt. “Wie läufts?”, fragte Garland. “Ganz schön voll, oder?” “Ja!”, entgegnete Yuriy begeistert, “Es sind einige Promoter hier und die Leute aus den anderen Clubs. Auch aus Frankfurt, Mannheim, München… Ich glaube, sogar ein paar aus Frankreich? Ich bin nur am Händeschütteln. Wenn das heute alles klappt, rennen die uns hoffentlich danach die Tür ein.” “Krass. Hat Kane für euch die Werbetrommel gerührt?” “Gar nicht mal so sehr! Er hat ein paar Anrufe gemacht, aber das war’s. Ist wohl alles Mund zu Mund Propaganda.” Garland hob anerkennend die Augenbrauen. Kai entging nicht, dass sein Blick danach etwas zu lange auf Yuriy lag, aber er sagte nichts dazu. Immerhin war es sein Arm, der um Yuriys Taille lag und seine Hand, die sich in seinen Gürtel gehakt hatte. “Wann musst du backstage?”, fragte er. “So zwanzig Minuten vorher”, entgegnete Yuriy, “Hey!” Kai hatte sein nächstes Gähnen unterdrücken wollen, doch sein Freund durchschaute ihn sofort. “Was wird das denn?” “Sorry”, sagte Kai. “Du bleibst heute wieder bis zum Schluss, oder?” “Ja, sicher. Wir müssen ja noch zusammenräumen und alles. Wieso?” Er verzog bedauernd den Mund. “Hör mal, ich bin echt fertig. Ich weiß nicht, ob ich so lange durchhalte. Werd wohl recht bald nach deinem Set nach Hause gehen.” Es war nicht gelogen, er war einfach nicht so fit wie er es gerne hätte, das merkte er schon jetzt. Yuriy wirkte tatsächlich ein wenig enttäuscht. “Soll ich später nachkommen?” Sie hatten ursprünglich geplant, die Nacht bei Kai zu verbringen - bevor Yuriy ihm gesagt hatte, wann genau er spielen würde. Und Kai hatte mitgedacht. Er schob umständlich die Hand in seine Hosentasche und zog seinen Zweitschlüssel heraus, um ihn Yuriy zu übergeben. “Nicht verlieren. Und wehe, du bist laut!” Statt zu antworten zwinkerte der andere ihm nur zu und löste sich dann von ihm, da der Barkeeper in ihre Nähe gekommen war. Oftmals blieb Yuriy bei alkoholfreien Getränken, wenn er arbeitete, manchmal gönnte er sich nach seinen Sets ein paar Drinks. Heute schien aber einer dieser Ausnahmetage zu sein, an denen er schon vor der eigentlichen Arbeit ein oder zwei Gläschen trank. Kai kannte Yuriy nun schon lange genug, um zu wissen, dass er sich nicht vor seinem Set abschießen würde. Andernfalls hätte er es in seinem Job nicht einmal annähernd so weit geschafft. Garland, der nun direkt neben Yuriy stand, stieß ihn an und sagte etwas zu ihm, das Kai nicht hören konnte. Yuriy nickte nur und sie lächelten sich flüchtig an. Schwer zu sagen, ob dieser Austausch eine tiefere Bedeutung hatte oder Garland nur auch etwas bestellen wollte, denn als Yuriy sich wieder umdrehte, hatte er gleich drei Getränke in den Händen. “Lai und Raoul sind hier”, sagte er wie aus dem Nichts, nachdem sie angestoßen hatten. “Ja, ich habe sie vorhin gesehen”, bestätigte Kai, “Weißt du da mehr?” “Nope. Hoffe nur, das clasht nicht.” Ja, das hoffte Kai auch. So süß Lai und Raoul als Paar auch gewesen waren, die Trennung war das genaue Gegenteil. Es lag nicht einmal so sehr an den beiden, die sich zwar recht oft und dramatisch gestritten hatten, bevor es komplett in die Brüche ging, sicher aber Freunde hätten bleiben können, hätten sich nicht so viele Menschen in die Sache eingemischt. Natürlich besaß Giulia einen riesigen Beschützerinstinkt Raoul gegenüber. Und Mao und Rei standen immer auf Lais Seite. Für eine gewisse Zeit hatte es ausgesehen, als würde sich ihre Clique aufspalten, und vor allem Leuten wie Mathilda oder Yuriy, die beide Seiten gut kannten, war das alles sehr auf die Nerven gegangen. Kai wusste bis heute nicht, wie das Schlimmste hatte verhindert werden können, doch er war sich sicher, dass Mathilda ihre Hände im Spiel hatte. “Apropos Raoul”, sagte Garland, “Ich werde mal sehen, ob ich ihn und Giulia finde. Dann habt ihr zwei Hübschen noch ein bisschen Zeit für euch.” Er lächelte - vielleicht etwas gequält, aber Kai konnte das nicht sicher sagen - und winkte kurz, bevor er in der Menge verschwand. Yuriy sah ihm kurz über seine Schulter hinweg nach, bevor er sich wieder zu Kai umdrehte. “Alles in Ordnung mit ihm?” Kai hob nur die Schultern. Für ein paar Minuten wurde es stiller im Raum. Anscheinend hatte Ivan sein Set beendet und übergab nun an Mathilda. Kurze Zeit später ertönte das Intro ihres Tracks Die Feuer von Varanasi und die Menge ging erneut steil. Yuriy kam mit dem Mund so nah an Kais Ohr, dass er seine vom Getränk kühlen Lippen spüren konnte. “Mathilda macht mich heute ein bisschen nervös. Sie wollte mir den Remix vorher nicht vorspielen.” “Den von Baikonur?”, fragte Kai, froh über den Themenwechsel. “Also wird das jetzt der offizielle Release?” “Ja, wir hauen heute alle neue Tracks raus. Vanja hat einen krassen Mashup mit einer von Kanes letzten Singles gemacht. Mathilda wie gesagt den Remix von Baikonur. Ich hab Kosmos fertig. Und Salima hat ihre Version von Giulia Tanzt, die ist sehr gechillt.” “Warte - du hast Kosmos fertig?” Yuriy tat, als wäre er entsetzt. “Folgst du nicht meinem Insta? Heute wird’s gedropped, morgen kannst du es überall kaufen und streamen.” “Ja sorry, ich schmachte immer nur deine Selfies an.” Wieder blickten sie sich an, doch noch bevor Kai nonchalant an seinem Drink nippen konnte, kam Yuriy ihm wieder näher, um ihn zu küssen. Nur am Rande fiel Kai auf, dass dies das erste Mal war, an dem sie sich öffentlich als Paar zeigten. Halb erwartete er irgendeinen Ausruf, weil ihre Bekannten sie entdeckt hatten, doch nichts passierte. Scheinbar waren sie alle wild im Raum verteilt. “Hast du es den anderen schon erzählt?”, fragte er, als sie sich lösten, und meinte ihren Beziehungsstatus. “Nein. Dafür war irgendwie keine Zeit. Sie werden es schon merken. Hey, bevor ich es vergesse, etwas anderes...” Kai sah zu Yuriy auf, um zu zeigen, dass er zuhörte. “Was hältst du davon, Miguel wegen der Sache in London zu fragen?” “Miguel?”, wiederholte er irritiert. “Ja”, sagte Yuriy. “Ich glaube, das könnte ganz gut passen. Er ist gut genug, um so eine Nacht zu überstehen, und die Kohle kann er sicher auch gebrauchen.” Kai spürte den Blick seines Freundes auf sich und verkniff sich, den Mund zu verziehen. Er hatte seit einer halben Ewigkeit nicht mehr mit Miguel gesprochen, geschweige denn, ihn persönlich zu treffen. “Ich weiß, es ist vielleicht ein wenig kompliziert zwischen euch”, fuhr Yuriy fort, “Aber meinst du, das ist so schlimm, dass ihr gar nicht mehr miteinander könnt? Wenn du willst, kann ich ihn auch darauf ansprechen.” Yuriy hatte Recht. Miguel und er hatten nicht einmal ernsthaft etwas miteinander gehabt, und es hatte auch keinen Streit zwischen ihnen gegeben - lediglich Enttäuschung. Damit sollte man doch umgehen können, oder? Also nickte er schließlich, bevor er, um nicht länger darüber nachdenken zu müssen, eine Kopfbewegung in Richtung des Dancefloors machte. “Na los, du wolltest doch tanzen, bevor du arbeiten musst.” Inzwischen war der Club brechend voll. Selbst wenn sie ausgelassen hätten tanzen wollen, wäre es ihnen wohl nicht gelungen. Ständig spürte Kai fremde Schultern, Arme, Hände in seinem Rücken, bevor sie sich ein bisschen Platz in der Menge gemacht hatten. Niemand achtete auf sie, und das war genau der Grund, weshalb Kai Raves weitaus mehr mochte als alle anderen Tanzveranstaltungen. Es war so gut wie unmöglich, sich irgendwie elegant oder auch nur systematisch zu Techno zu bewegen. Alle zappelten so gut herum, wie es eben ging. Die Pros schafften es, dabei eine gelassene Miene beizubehalten, aber das war es auch schon. Und außerdem wurde man selten bis nie angetanzt - wie auch, wenn die Gefahr, ganz unbeabsichtigt einen Ellenbogen ins Gesicht zu bekommen, durchaus real war? Für Kai war es perfekt so. Vor ein paar Jahren noch waren Clubs für ihn ein hinnehmbares Übel gewesen, um seine Freundschaft mit Ralf und Johnny aufrecht zu erhalten. Er hatte nie so wirklich verstanden, was so toll daran war, sich in irgendwelchen VIP-Lounges die Hirnzellen mit Alkohol und Koks abzutöten und dann mit Fremden auf der Tanzfläche zu grinden. Je öfter er auf Technopartys ging, desto mehr verstand er, was eigentlich hinter der Feierbegeisterung steckte. Es war vielleicht weniger das Feiern an sich, mehr das Aufgehen in der Musik, das er zuvor höchstens bei Live-Konzerten erlebt hatte. Und jetzt hatte er sich ausgerechnet in einen DJ verliebt. Während er Yuriy beobachtete, der sich benahm als wäre er hier zu Hause, konnte Kai sich ein Lächeln nicht verkneifen. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wo zum Teufel er falsch abgebogen war, um hier zu landen; dann erinnerte er sich wieder an den Mist, der in Russland passiert war und die Zerwürfnisse mit Soichiro, die ihn schließlich nach Berlin gebracht hatten. All das kumulierte sich in genau diesem Moment, in dem sein Freund sich vor ihm bewegte, bunte Lichter im Haar und schwarze Linien auf den Armen, die sich zu winden, neu ineinander zu verschlingen schienen. Als hätte sie nur darauf gewartet, spielte Mathilda Baikonur an. Durch die Tanzenden ging ein begeisterter Aufschrei, doch Yuriy blieb augenblicklich stehen wie ein Reh im Scheinwerferlicht, seine Lippen formten die Worte “Oh Shit”. Kai trat näher an ihn heran, um ihm beruhigend, vielleicht aber auch etwas ironisch, den Arm zu tätscheln, während es um sie herum noch ein Stück wilder zuging. Natürlich hatte Mathilda die BPM etwas hochgeschraubt und neue Tonspuren hinzugefügt, doch die Melodie, die auch im Original an Trance erinnerte, blieb unverkennbar. Kai mochte den Track, und der Mix war definitiv nicht von schlechten Eltern. Er zupfte an Yuriys Shirt. “Und? Was sagst du?” “Diese Frau ist genial”, gab Yuriy zurück und klang fast resigniert. “Sie hat ihn besser gemacht. Das verzeihe ich ihr nie.” Kai wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick rempelte ihn jemand von hinten an. Er stolperte gegen Yuriy, der schnell einen Arm um ihn legte, um ihn abzufangen. Hinter ihm erklang eine Frauenstimme: “Oh mein Gott, es tut mir so leid! Irgendwer hat geschubst - Shit, Kai?!” Normalerweise machte er sich nichts daraus, wenn so etwas passierte, denn meist war es mit einer entschuldigenden Geste abgetan, und dann wurde weitergetanzt. Dass er mitten auf der Tanzfläche angeschrien wurde, passierte eher selten und sprach dafür, dass der Mensch hinter ihm sich mit den Gepflogenheiten auf Technopartys nicht auskannte. Und eine Sekunde später wusste er, warum diese Stimme ihm so bekannt vorkam. “Mariam?” Er war wahrscheinlich noch erstaunter über diese Begegnung als sie. Einen Moment lang starrten sie sich an und ja, es war wirklich seine Mitarbeiterin. Was zum Fick. “Hi.” Sie wirkte ertappt, aber nur für eine Sekunde. Und eigentlich durfte Kai sich auch gar nicht wundern. War ja klar, dass Garland und sie sich nicht nur über Berufliches austauschten. Diese sich anbahnende Freundschaft war unheilvoll, so viel stand fest. Mariams Blick wanderte von seinem Gesicht über seine Klamotten (er war nun schlagartig doch froh, nicht komplett dressed in den Club gegangen zu sein) und schließlich zu Yuriy, der Kai immer noch festhielt und sich zu seinem Ohr beugte. “Und wer ist jetzt das?” “Äh, das ist Mariam, eine meiner Consultants”, entgegnete er laut, “Mariam, das ist Yuriy, mein…” Er stockte, warf einen Blick zurück zu Yuriy, der nur die Augenbrauen hochzog und ihn erwartungsvoll ansah. “Mein Freund”, sagte Kai und wendete sich Mariam wieder zu. “Oh. OH!” Falls sie verunsichert war, konnte sie es augenblicklich überspielen. Schon strahlte sie sie an. “Schön dich kennenzulernen! Sorry, Kai ist so verschwiegen, ich wusste gar nicht… Aber egal. Ich bin auf der Suche nach Garland - oder sollen wir zusammen an die Bar?” Ihr Blick saugte sich wieder an Yuriy fest und Kai unterdrückte ein Seufzen. Das wars dann wohl mit Tanzen. Wie zur Bestätigung kam Yuriy ihm wieder näher. “Ich sollte langsam gehen, sonst verpasse ich mein Set.” Sie tauschten einen Blick: Kai teilte Yuriy stumm mit, was er davon hielt, dass der ihn nun in so einer Situation allein ließ und Yuriy tat unschuldig. Dann drückte er ihm noch einen Kuss auf die Schläfe, bevor er sich einen Weg durch die Menge in Richtung des Backstagebereichs bahnte. Und Kai versuchte sein bestes, um Mariam wieder abzuschütteln. Doch die war unerbittlich, klebte an ihm und redete unentwegt auf ihn ein. Im Job brachte sie das sehr weit, hier überforderte sie ihn damit. Er war schlichtweg zu müde, um ein vernünftiges Gespräch zu führen - tanzen ja, reden nein. Zum Glück wurde er irgendwann von Giulia und Garland erlöst, die Mariam unter ihre Fittiche nahmen. Kurz darauf begann Yuriys Set, ein willkommener Grund für Kai, sich von den anderen zu lösen und wieder unter die Tanzenden zu mischen. Die Stimmung war gut, die Leute hatten sich eingelebt, der Höhepunkt der Party war erreicht. Und nach dem Geräuschpegel zu urteilen gab es hier einige, die Yuriys Tracks kannten und abfeierten. Kai hatte am Rande mitbekommen, wie diese im Verlauf der letzten beiden Jahre in mühevoller Kleinarbeit entstanden waren. Es hatte ihn immer wieder erstaunt, wie nervös Yuriy angesichts der Veröffentlichung gewesen war, und das, obwohl er seit Jahren als DJ arbeitete. Eigene Tracks zu produzieren war scheinbar doch nochmal eine ganz andere Hausnummer. Kai mochte Yuriys Musik; wahrscheinlich würde er diesen Stil unter tausenden wiedererkennen. Und Techno gehörte zu Yuriy, er konnte beide nicht voneinander trennen. Vielleicht lag es daran, wie sie sich kennengelernt hatten, immerhin war das erste, was er bewusst von Yuriy wahrgenommen hatte, die Musik gewesen. Als er erneut am Arm berührt wurde, war er beinahe genervt. Konnte er nicht einfach nur für ein Stündchen durchtanzen, ohne dass jemand etwas von ihm wollte? Er drehte sich um und erblickte Mathilda, die mit gerunzelter Stirn vor ihm stand. “Was ist los?”, rief er über den Bass hinweg in ihr Ohr. Sie zog ihn noch ein Stück zu sich herunter. “Yuriy hat gesagt, du kannst zu ihm kommen, wenn du willst!” Es dauerte eine Weile, bis ihm die Bedeutung der Worte klar wurde. “Du meinst… jetzt?”, fragte er, zog nun selbst die Brauen zusammen. Sie nickte und starrte ihn an, eine stumme Frage in den Augen, die er ihr allerdings auch nicht beantworten konnte. Niemand, mit Ausnahme anderer DJs, durfte Yuriy während seiner Sets stören. Absolut niemand. “Und du sollst ihm ein Wasser mitbringen”, ergänzte Mathilda. Vermutlich sah sie, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Die ganze Zeit über wendete sie nicht den Blick ab, als hoffte sie, so seine Gedanken lesen zu können. Schließlich war Kai es, der sich als erster bewegte. Er nickte. “Okay.” Kurz darauf drängte er sich, in der Hand eine Flasche Wasser, an den Leuten vorbei zur Bühne. Es war eigentlich keine Bühne, eher ein Verschlag aus Technik, ein paar Boxen und dem eigentlichen Pult, mit einem kleinen Seiteneingang. Vor diesem standen Ivan und Sergeij, trotz der lauten Geräuschkulisse in ein Gespräch vertieft. Auch sie starrten ihn an, als er ihnen stumm zu verstehen gab, dass er vorbei wollte. Sie machten ihm Platz, doch er meinte, zu spüren, wie sich ihre Blicke in seinen Rücken bohrten. Vielleicht hofften sie darauf, dass Yuriy ihn in hohem Bogen wieder nach draußen beförderte. Er war zum ersten Mal auf dieser Seite des Pults. Die Turntables waren mit dezenten Spots beleuchtet, die man von der Tanzfläche aus nicht sah. Es war eng, auf dem Boden verliefen kreuz und quer Kabel, und in den dunklen Ecken blinkten Geräte, deren Funktionen Kai sich nicht erschlossen. Yuriy stand eine Armlänge entfernt rechts von ihm, die Kopfhörer über den Ohren und beide Hände an den Reglern. Es war laut; erst jetzt bemerkte Kai, dass es auch hier Boxen gab, damit sie unverzerrt alles hören konnten, was auf die Tanzfläche geblasen wurde. Yuriy musste ihn aus den Augenwinkeln gesehen haben, denn er lächelte ihn flüchtig an, bevor er kurz mit den Fingerspitzen am Jogwheel drehte und mit der Linken zwei, drei andere Knöpfe bediente. Der Rhythmus veränderte sich, ein neuer Track begann. Auf der Tanzfläche erklangen Pfiffe. Erst jetzt nahm Yuriy die Kopfhörer ab, wandte sich ihm zu und winkte ihn heran. “Hi!”, sagte er grinsend, als Kai bei ihm war, und nahm ihm die Wasserflasche ab. Während er trank, warf Kai einen Blick auf die Menge, die aus dieser Perspektive wie eine diffuse Masse wirkte, die durch den Raum schwappte. Dann tauchte Yuriys Hand wieder in seinem Sichtfeld auf, drehte beinahe nachlässig an den Reglern, woraufhin der Bass noch ein wenig dröhnender wurde. “Was verschafft mir die Ehre?”, rief er ihm schließlich zu. “Spontaner Entschluss”, entgegnete Yuriy und schob ihn ein Stück zur Seite, um den zweiten Controller erreichen zu können, der blinkend zum Leben erwachte. Auf dem kleinen Display spulte sich stumm ein weiterer Track ab. Dann hob Yuriy den Kopf, um ihn anzusehen. Es war so eng, dass ihre Schultern sich berührten. “Und denkst du nicht, die anderen werden spätestens jetzt kapieren, was los ist?” “Sie sind jedenfalls ordentlich verwirrt.” Kai trat einen halben Schritt zurück, damit Yuriy mehr Platz hatte, aber viel mehr war auch nicht möglich. Er traute sich nicht, irgendetwas anzufassen, aus Angst, an den falschen Knopf zu kommen - obwohl er sich ziemlich sicher war, dass mindestens ein Drittel der hier zusammengesteckten Geräte gerade sowieso ausgeschaltet waren. Er war Yuriy bei seiner Arbeit noch nie so nahe gewesen. Zwar wusste er von diversen Livestreams, wie sein Freund sich an den Turntables gebärdete, doch so war es doch noch mal etwas anders. Im Gegensatz zu Mathilda und Salima, die sich von ihrer Musik tragen zu lassen schienen oder gar Ivan, der mindestens genauso steil ging wie sein Publikum, bewegte Yuriy sich recht wenig. Es gab auch so gut wie keine Interaktion mit den Tanzenden, höchstens mal ein unbestimmtes Lächeln in die Runde, wenn eine besonders gute Transition bejubelt würde. Heute benutzte er vier Controller gleichzeitig, was schon einiges an Erfahrung voraussetzte - meistens waren zwei absolut ausreichend. Die Tracks folgten nicht einfach aufeinander, sondern liefen ineinander, ergänzen sich, veränderte sich je nach der Stimmung, die im Club herrschte. Je mehr Controller desto mehr Kombinationsmöglichkeiten gab es. “Hey Kai.” Yuriys Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. “Hinter dir ist eine Box mit Tapes. Kannst du da mal ein Stück abreißen? So zehn Zentimeter?” Er musste ein wenig in der Dunkelheit herumtasten und fand dann tatsächlich eine Pappbox. Darin mehrere Rollen Tapes in Neonfarben. Er entschied sich für ein leuchtendes Grün und riss ein Stück des Bandes ab, mit dem er sich zu Yuriy gesellte. Der war schon wieder voll und ganz mit dem nächsten Übergang beschäftigt. Nach ein paar Sekunden kam der Drop ins nächste Stück und er hatte kurz die Hände frei. “Okay, jetzt musst du mir helfen.” Er nahm Kai das Tape ab und deutete auf ein Gerät, das über dem Zentrum des Pults lag und aus dem mehrere Kabel ragten. “Halt mal den Stecker dort fest. Den mit dem pinken Tape. Am besten ziehst du ihn ein bisschen nach oben.” Kai tat wie ihm geheißen, auch wenn es etwas gruselig war, sich so weit über die Regler zu beugen. “Was ist damit?” “Wackelkontakt. Wir dachten erst, es liegt am Kabel, aber der Stecker im Interface ist wohl hinüber.” Wieder justierte Yuriy erst die Musik, bevor er vorsichtig das alte Tape löste. Ihre Hände berührten sich, Yuriys Finger waren warm und arbeiteten präzise um die seinen herum. “Was passiert, wenn der abfällt?”, fragte Kai. Yuriy, der inzwischen mit dem grünen Tape herumhantierte, zog die Mundwinkel hoch. “Das ist das Audio-Interface. Wenn das kaputt geht, ist die Musik alle.” Angesichts von Kais erschrockener Miene lachte er. “Keine Sorge, sowas passiert ständig! Und außerdem habe ich es gleich gefixt. Kannst loslassen.” Schnell zog Kai die Hand weg und Yuriy wickelte die letzten Zentimeter des Tapes fest um den Stecker, bevor er sich sofort wieder seinen Controllern zuwendete. Er war sich sicher, auf der Tanzfläche hatte niemand bemerkt, dass es ein Problem mit der Technik gab, und so wie Yuriy sich benahm, musste er auch schon weitaus Schlimmeres erlebt haben. Trotzdem, Kai konnte darauf verzichten, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, wenn es plötzlich komplett still wurde. In den nächsten Minuten passierte nichts Aufregendes. Sie tauschten ab und an ein paar Worte, während Yuriy weiter den Club beschallte. Mit der Zeit begann Kai sich ziemlich wohl hier zu fühlen, auch wenn er wenig mehr zu tun hatte, als dekorativ herumzusitzen - in einer Ecke gab es einen winzigen Hocker, auf den er sich zurückzog, um nicht im Weg zu stehen. Auch von dieser niedrigeren Position aus konnte er beobachten, was sein Freund an den Turntables veranstaltete. Zwar hatte er keine Ahnung, welcher Knopf was bewirkte, aber Yuriys Bewegungen hatten etwas sehr Beruhigendes, beinahe Hypnotisches. Und der Sound war allemal gut. Irgendwann streckte Yuriy die Hand in seine Richtung aus. Kai hob eine Augenbraue, dann ließ er sich hochziehen. “Das ist Kosmos”, sagte Yuriy und deutete auf einen der Controller. In seinem Gesicht stand Vorfreude, aber anhand der Art und Weise, wie seine Finger auf das Pult trommelten, erkannte Kai, dass er auch nervös war. Also grinste er ihn herausfordernd an. “Na dann hau mal raus!” Er kassierte einen Stoß in die Seite, bevor Yuriys Hände wieder über das Pult wanderten. Dieses Mal blieb Kai stehen, als moralische Unterstützung. Soweit er es beurteilen konnte, verlief die Überleitung in den neuen Track ziemlich smooth - Yuriy hatte die Transition gut aufgebaut, es war hörbar, dass gleich etwas Besonderes passieren würde. Fasziniert stellte Kai fest, dass er trotz der räumlichen Trennung sehr genau spüren konnte, was für eine Stimmung auf der Tanzfläche herrschte. Wie schon bei Mathildas Version von Baikonur gingen die Leute auch jetzt mit, bejubelten den neuen Track. Und endlich hielt Yuriy inne, ließ von seinen Reglern ab, warf erst einen Blick in den Raum hinein und wandte sich dann zu ihm. “Hm. Guter Track”, urteilte er, und es war nicht ganz erkennbar, wie ernst er diese Aussage meinte. “Durchaus”, bestätigte Kai. In diesem Moment fand er Yuriy, der genau unter einem der roten Strahler stand, mit ernster Miene aber Freude in den Augen, unwiderstehlich. Bevor er sich wieder in der Musik verlieren konnte, kam Kai ihm ein Stück näher und küsste ihn. Er spürte, wie Yuriy ihm nachgab, sich ein wenig an ihn lehnte, dann hielt er ihn fest. Tonspuren webten ein Netz um sie, schirmten sie von allem ab, was um sie herum geschah. Es war egal, ob sie von der Tanzfläche aus gesehen werden konnten oder ob Kai meinte, einen Aufschrei von einer Person hören zu können, die wie Giulia klang. Es war wahrscheinlich sowieso nur Einbildung. Er legte die Hände an Yuriys Wangen, die irgendwie kühl waren, strich mit den Lippen über seinen weichen Mund, der ihm beinahe hungrig entgegenkam, und hätte sich wahrscheinlich in diesen Berührungen verloren, wäre ihm nicht irgendwann etwas aufgefallen. “Yuriy…”, murmelte er. “Hm?” “Dein Track.” Kai öffnete die Augen, nur, um in Yuriys zu starren. Die Musik lief immer noch, aber bestimmt schon seit einer Minute ohne großartige Veränderung. “Oh shit.” Schon war Yuriy wieder an den Turntables, doch anstatt wütend zu sein schien er belustigt. “Jetzt habe ich meine Cue Points verpasst, Kai!” Yuriy räumte gerade den Backstage-Bereich auf, als die anderen hereinkamen. Anscheinend hatten sie ihn gesucht. Ivan warf sich auf ein Sofa, Mathilda lehnte sich gegen ein Regal und Salima blieb an der Tür stehen, als befürchteten sie, dass er fliehen würde. Yuriy hob fragend die Augenbrauen, ahnte aber bereits, worauf das Ganze hinauslief. “So so”, fing Salima an, “Wer hat denn heute seine Transition verkackt? Die ganzen Normalsterblichen haben nix gemerkt, aber du denkst doch nicht, dass uns das entgeht?!” “Endlich erwischt es auch mal dich!”, fügte Ivan schadenfroh hinzu. “Aber bitte vergesst nicht”, sagte Mathilda, “warum er es vergeigt hat!” Sie verschränkte die Arme wie eine Lehrerin, deren Schüler unerwartet eine schlechte Note geschrieben hatte. “Knutschen hinter den Turntables, aha. Ich fall vom Glauben ab, Yuriy!” “Mit dem Typen, von dem er seit drei Jahren behauptet, nichts von ihm zu wollen!”, rief Salima. “Du bist am Arsch.” Vanja feixte und verschränkte die Arme hinterm Kopf. “Du bist am Arsch wenn du uns nicht sofort die ganze Geschichte erzählst!”, bestätigte Mathilda. Sie stieß sich vom Regal ab und setzte sich schwungvoll an den runden Tisch, der mitten im Raum stand. Salima zog von irgendwo eine Sektflasche hervor und stellte sie auf den Tisch und Vanja steuerte ein paar Gläser bei. Dann saßen sie vor ihm wie ein hohes Gericht, allerdings grinsend. “Und bitte”, meinte Mathilda. Etwa eine Stunde später hatte Yuriy auch die letzte ihrer neugierigen Fragen beantwortet. Er war müde und hatte einen kleinen Schwips vom Sekt. Es musste inzwischen etwa fünf Uhr in der Früh sein, was nicht bedeutete, dass der Club bereits leer genug war, um zu schließen. Doch für ihn war es Zeit, nach Hause zu gehen. Kai war schon längst weg; nach Yuriys Set waren sie kurz in den Nebenraum gegangen, um auf einem versifften Sofa neben irgendwelchen Betrunkenen noch ein wenig rumzuknutschen. Doch irgendwann war Kai beinahe eingeschlafen und hatte sich schließlich verabschiedet. Die anderen zogen ihn in eine Gruppenumarmung, denn trotz einiger Patzer verdiente diese Nacht eine solche. Sie verabredeten sich noch für eine baldige Krisensitzung zu Salimas und Ivans Wohnsituation, dann gingen sie alle ihrer Wege. Yuriy packte ein paar letzte Kabel zusammen, bevor er quer durch den Clubraum auf den Ausgang zusteuerte. Auf halbem Weg fiel sein Blick auf zwei Gestalten an der Bar, die ihm bekannt vorkamen. Der eine war unverkennbar Garland, und neben ihm saß Kais Kollegin. Mariam. Kurzentschlossen machte er noch einen kleinen Schwenk zu ihnen. “Hey, alles klar bei euch?” “Holy shit.” Mariam starrte ihn an, dann griff sie nach seinem Arm. “Heeey, du bist auch noch hier, wie gut! Sorry, ich habe ein bisschen viel getrunken.” Sie war ziemlich neben der Spur, aber darauf wies Yuriy sie nicht hin. Auch Garland hatte schon mal nüchterner gewirkt. Wahrscheinlich wäre es das beste, die beiden in ein Taxi zu verfrachten. “Braucht ihr Hilfe bei der Heimfahrt?”, fragte er. Mariam winkte ab, aber ihre Bewegungen waren so fahrig, dass Yuriy trotzdem sein Handy zur Hand nahm und versuchte, nebenbei einen Fahrer zu rufen. Und gleich einen zweiten für sich selbst. Wieder packte Mariam seinen Unterarm, beugte sich verschwörerisch zu ihm. “Garland hat mir alles erzählt”, sagte sie. “Dass ihr was miteinander hattet, und jetzt bist du mit Kai zusammen. Kann’s ihm nicht verdenken.” Ihr Blick kletterte an ihm herunter. “Holy shit. Hätte nicht gedacht, dass das Privatleben von meinem Chef so spannend ist. Obwohl, doch, schon irgendwie. Aber holy shit. Und stimmt es, dass Kai vorher was mit einem anderen Bekannten von euch hatte?” “Mariam!” Jetzt schien auch Garland zu bemerken, was um ihn herum geschah. Sein Ausruf klang etwas gequält. “Das war alles vertraulich!” “Taxi ist gleich da”, sagte Yuriy laut, “Na los, ab nach Hause mit euch.” Erstaunlicherweise hielten sie sich ohne viele Widerworte an seine Anweisungen. Mariam schwankte zur Garderobe und besorgte sowohl ihre als auch Garlands Jacke. Das Anziehen dauerte etwas länger, aber schließlich standen sie in der kalten Morgenluft. Mariam stakste auf eine Gruppe Leute zu, um sich eine Kippe zu schnorren oder etwas ähnliches. Noch bevor Yuriy sie zurückholen konnte, klammerte Garland sich an ihn, legte ihm den schweren Kopf auf die Schulter. “Sorry”, murmelte er, “Ich wusste nicht, dass sie alles ausquatscht, sobald sie betrunken ist…” “Schon gut”, sagte Yuriy, “Es ist ja auch nicht gelogen, oder?” Garland brummte, dann war er eine Weile still. Mariam lachte mit den anderen. “Hör mal”, fing Garland dann wieder an. “Ich freue mich für dich und Kai. Wirklich. Aber… ich vermisse dich. Nicht nur… du weißt schon. Ich meine das ernst.” Yuriy wusste nicht wirklich, was er sagen sollte, er war ja selber nicht komplett klar, auch wenn die Kälte half. “Tut mir leid”, meinte er schließlich. “Aber ich bin jetzt mit Kai zusammen. Und das ist mir schon sehr ernst.” “Ich weiß, ich weiß. Du warst immer verliebt in ihn. Die ganze verdammte Zeit, Yuriy. Ich weiß.” Yuriy sagte nichts. “Ich meine-” Garlands Kopf bewegte sich auf seiner Schulter. “Allein wie du ihn angesehen hast. Und er dich. Es war nicht auszuhalten. Wie hast du das so lange ausgehalten?” “Ich weiß nicht”, antwortete er leise. Von Garland kam ein müdes Ächzen. “Hör mal”, fuhr Yuriy fort und schielte auf den hellen Schopf des anderen, “Vielleicht sollten wir uns eine Weile nicht sehen? Also, auch keine Nachrichten und sowas. Das könnte dir vielleicht gut tun.” “Das wird hart”, nuschelte Garland. Er schien drauf und dran, an Yuriy gelehnt einzunicken. Zum Glück kam kurz darauf das erste Taxi um die Ecke. Yuriy pfiff Mariam heran, setzte sie und Garland auf die Rückbank und gab dem Fahrer Garlands Adresse. Hauptsache, sie kamen irgendwo an. Alles weitere würde sich in spätestens ein paar Stunden finden, schließlich waren sie alle erwachsen. Sobald er die beiden abgefertigt hatte, hievte er die schwere Tasche mit seiner Ausrüstung in den Kofferraum des zweiten Taxis, das inzwischen auch vorgefahren war. “Lange Nacht?”, fragte die Fahrerin, als er sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Sie hatte wohl beobachtet, wie er seine Freunde in das andere Auto bugsiert hatte. “Kann man wohl sagen”, entgegnete er, bevor er ihr Kais Adresse nannte. Die Fahrt nach Friedrichshain dauerte nicht lange, und doch reichten die paar Minuten im stillen, warmen Auto aus, um Yuriy müde werden zu lassen. Ja, er brauchte Schlaf. Ein bisschen tat es ihm leid für Kai, denn für den Rest des Tages war er sicher nicht zu gebrauchen. Doch es war Samstag und er hatte dieses Wochenende keinen weiteren Termin. Vielleicht konnten sie einfach im Bett bleiben und die Seele baumeln lassen, so wie früher - nein, eigentlich noch besser als früher. In Kais Wohnhaus schien niemand wach zu sein. Alle Fenster waren dunkel, die meisten Rollos heruntergelassen. Im Treppenhaus hallte jede seiner Bewegungen von den Wänden wieder, doch er bemühte sich erst, leise zu sein, als er die Wohnungstür aufschloss. Kai hatte mitgedacht: In der Küche verströmte die gedimmte LED-Leiste unter den Hängeschränken warmes Licht, sodass er nicht komplett im Dunkeln stand. Vom Bett kam kein einziges Geräusch, während Yuriy die Tasche abstellte, die Schuhe auszog und ins Bad schlich. Auch das Rauschen der Dusche konnte Kai nicht wecken. Schließlich lief Yuriy, lediglich in Boxershorts, ein letztes Mal durch die Wohnung und schaltete das Licht in der Küche aus, bevor er möglichst vorsichtig ins Bett kroch. Doch ausgerechnet jetzt musste Kai die Bewegung neben sich bemerkt haben, denn er machte einen jähen, scharfen Atemzug und drehte sich zu ihm um. “Yuriy?”, murmelte er, seine Stimme war kaum zu hören. “Ja”, erwiderte er leise. “Hi”, seufzte Kai. Vermutlich war er gar nicht richtig wach. “Hi.” “Wie spät ist es?” Die Worte waren nur schwer zu verstehen. “Keine Ahnung, detka”, antwortete er, obwohl er sich sicher war, dass Kai schon gar nicht mehr zuhörte. “Schlaf weiter.” Von dem anderen kam ein weiteres Seufzen, dann spürte Yuriy, wie er nach ihm tastete und griff nach seiner Hand. Kai brummte, dann lag er wieder still, seine Atemzüge wurden gleichmäßig. Seine Finger zuckten, als wolle er ihn festhalten, ließen dann aber locker, und Yuriy durchfuhr ein Gefühl, als wäre er angekommen, er wusste selbst nicht so genau, wo. Er rückte noch ein Stück zu Kai heran, zog die Decke über sie beide und schloss die Augen. Kurz darauf schlief auch er tief und fest. Kapitel 11: Bis das alles keinen Sinn mehr macht ------------------------------------------------ Zwei Wochen vor der Jürgens-McGregor-Party, am Freitag des Halloween-Wochenendes, traf Kai sich nach der Arbeit mit Miguel. Es war ihm unangenehm, aber es musste sein. Miguel hatte nämlich tatsächlich zugesagt, in London aufzulegen. Es war also vornehmlich ein berufliches Treffen; dennoch wusste Kai genau, dass er die Gelegenheit auch nutzen sollte, um ein paar Unstimmigkeiten zwischen ihnen aus dem Weg zu schaffen. Schließlich war er es gewesen, der sich in dieser Angelegenheit nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte. Das mit ihm und Miguel hatte eigentlich ganz unkompliziert angefangen. Sie hatten sich zwangsläufig kennenlernen müssen, denn je enger Kais Freundschaft mit Yuriy wurde, desto mehr von dessen DJ-Kollegen begegnete er. Manchmal schien es, als würde Yuriy die halbe Stadt kennen, und unter diesen vielen flüchtigen Bekanntschaften war Miguel einer derjenigen, die Ostblocc recht nahe standen. Er hatte ein paar Jahre später als die anderen seine Karriere gestartet, dann aber ebenfalls im Zentrum Fuß fassen können. Inzwischen war er Mitglied des Kollektivs. Zunächst hatten Kai und er sich nur flüchtig unterhalten, wobei Kai recht bald bemerkte, dass er es es Miguel angetan haben musste, denn der andere suchte immer öfter seine Nähe. Er hatte nichts dagegen, viel mehr gefiel ihm die Aufmerksamkeit, und vielleicht war er auch froh über ein wenig Ablenkung von dem Stress, den die Gründung eines eigenen Unternehmens mit sich brachte. Yuriy hatte das alles recht desinteressiert beobachtet, und inzwischen fragte Kai sich, wie viel davon wohl nur vorgetäuscht gewesen war. Anscheinend hatte Miguel ihn über Kai ausgefragt; Kai selbst machte nicht viel außer flirten. Zum ersten Mal geküsst hatten sie sich natürlich in einem Club, im Bunker, und ausgerechnet während Yuriys Set. Vermutlich hatte Miguel extra gewartet, bis Yuriy verschwunden war, um Kai anzusprechen. Der Plan war aufgegangen, und in dieser Nacht hatte Kai zum ersten Mal die berüchtigten Darkrooms von innen gesehen, wenn auch dort nicht viel mehr passiert war als knutschen und ein bisschen fummeln. Danach hatte es irgendwie seinen Lauf genommen. Sie hatten sich regelmäßig geschrieben und auch verabredet, und Miguel hatte sich bereitwillig von Kai mit nach Hause nehmen lassen. Nach ein paar Wochen dämmerte diesem allerdings, dass er sich gerade in etwas verstieg. Für ihn war Miguel nicht mehr als eine flüchtige Fickbeziehung, und er hatte nicht vor, diese länger andauern zu lassen, aber Miguel war da wohl anderer Meinung. Erst langsam wurde Kai klar, dass der andere ernsthafte Gefühle für ihn zu entwickeln begann, die er selbst so gar nicht erwidern konnte. Und so hatte er kurz bevor er nach Japan geflogen war die Reißleine gezogen. Miguel hatte das Ganze nicht wirklich gut aufgenommen. Es hatte keinen Streit gegeben, das nicht, aber Kai hatte ihm wohl schon ein bisschen das Herz gebrochen. Dennoch hätte er auch im Nachhinein nicht sagen können, wie er es besser hätte lösen können. Er hätte netter sein können, aber da lag wohl das Problem - nett war nicht seine Stärke. Mit diesen Gedanken saß er nun in einer Bar in der Gneisenaustraße und wartete. Er konnte sich schönere Freitagabende vorstellen, aber Yuriy arbeitete sowieso die ganze Nacht und hatte ihm schon gesagt, dass er morgen noch mal ins Studio musste, bevor sie sich trafen. Seine zweite EP sollte in den nächsten Wochen erscheinen und der Druck war entsprechend groß. Kai nippte schon an seinem ersten Glas Wein, als Miguel auftauchte. Ihre Blicke trafen sich sofort, aber es war nicht ganz so unangenehm, wie Kai erwartet hatte. Er stand auf und führte den anderen nach ein paar Höflichkeitsfloskeln zu einem Tisch, damit sie nicht für alle sichtbar am Tresen sitzen mussten. „Ich sollte mich wohl bei dir bedanken”, sagte Miguel, als er ebenfalls mit einem Getränk versorgt war, „Für den Job, meine ich. So gut werde ich normalerweise nicht bezahlt.” „Um ehrlich zu sein war das Yuriys Idee”, gab Kai zu, „Ich war nicht einmal sicher, ob ich überhaupt jemanden finden würde.” Miguel nickte langsam. „Verstehe. Dann nehme ich es mal als Friedensangebot.” „Friedensangebot?” „Kai.” Miguel seufzte und es war klar, dass er genervt war. „Hör auf mit dem Spiel. Ich weiß, dass ihr zusammen seid.” Kai versteifte sich. Er war davon ausgegangen, Miguel die neue Situation irgendwie beibringen zu müssen, weil er wusste, dass der es nicht unbedingt positiv aufnehmen würde. Und Yuriy hatte ihm versichert, Miguel nichts gesagt zu haben. Sein Gegenüber seufzte und zog sein Handy heraus, suchte irgendwas und hielt es ihm dann vor die Nase. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Kai ein Video, das irgendjemand im Instagram-Kanal von Yamashita Records hochgeladen hatte. Darin war ziemlich deutlich zu sehen, wie er Yuriy während seines Sets im Octavian küsste. „Oh”, machte er unintelligent. Zum ersten Mal bereute er, sich nicht für soziale Netzwerke zu interessieren. Aber selbst an Yuriy musste das irgendwie vorbeigegangen sein, denn er hatte ihm nichts von dem Video erzählt. Bei dem Stress, den sein Freund in letzter Zeit hatte, war das aber auch nicht verwunderlich. „Ja, oh.” Miguel steckte das Handy wieder weg und sah ihn missmutig an. „Weißt du, du hättest mir auch einfach sagen können, was zwischen euch ist. Damit hättest du uns eine Menge Ärger erspart.” Darauf erwiderte Kai nichts. Womöglich war alles, was er jetzt sagte, sowieso falsch. Und Miguel hatte auch nicht Unrecht, aber es war viel zu kompliziert, jetzt alle Nuancen seiner Gefühle für Yuriy darzulegen. „Gott, Kai. Was dachtest du denn bitte, wie ich reagiere? Wenn du gehofft hast, dass ich mich für euch freue - sorry, aber nein. Ehrlich gesagt fühle ich mich ziemlich verarscht. Nicht zuletzt wegen des Jobs.” „Das eine hat mit dem anderen wirklich gar nichts zu tun”, sagte Kai fest. Er hielt Miguels aufgebrachten Blick. Der schnaubte kurz. „Glaubst du das wirklich? Oh klar, Yuriy hat dir ja sicher nicht erzählt, dass er mich wie Scheiße behandelt hat, als wir was miteinander hatten.” Kai blinzelte. „Hat er”, wiederholte Miguel. „Zuerst hat er mir versichert, dass er überhaupt kein Problem mit uns hat. Und eine Woche später zeigt er mir die kalte Schulter. Zuerst war er mein Coach, dann hat er mich zu Salima geschoben, weil seine Gruppe angeblich zu groß wurde und ich ja schon ach so viel kann. Salima ist nett, aber ich kann mit ihrem Stil einfach nichts anfangen. Also sorry Kai, aber eure kleinen Spielchen beeinflussen auch meine Karriere, weil ich nämlich gerade keine Chance habe, etwas dazuzulernen.” Kai öffnete den Mund ohne genau zu wissen, was er sagen wollte. Reflexartig wollte er Yuriy verteidigen, weil das, was Miguel eben geschildert hatte, so gar nicht nach seinem Freund klang. Dann aber wurde ihm bewusst, dass das nicht unbedingt stimmte. Yuriy konnte richtiggehend fies sein, wenn man ihm eine Gelegenheit dafür bot. Also entschied er sich dafür, möglichst sachlich zu bleiben. „Davon wusste ich wirklich nichts”, sagte er und schlug dabei denselben Ton an, den er auch für schwierige Verhandlungen nutzte, „Und ehrlich gesagt finde ich, dass das etwas ist, das du nur mit Yuriy klären kannst. Das mit dem Job war seine Idee, und ja, vielleicht meint er es als Friedensangebot. Frag ihn halt. Und was uns betrifft - als wir was miteinander hatten, und selbst als ich es beendet habe, wusste ich nicht… war mir nicht klar, was zwischen Yuriy und mir passieren würde. Also lass es mich nochmal in aller Deutlichkeit sagen: Ich habe es nicht beendet, weil ich in Yuriy verliebt war, sondern weil ich keine ernsthaften Gefühle für dich habe.” „Du willst es immer noch nicht wahrhaben, oder?” Miguel verdrehte die Augen. „Kai, verarschen kann ich mich selbst. Ihr habt immer aufeinander gestanden, und alle wussten es. Und jetzt sind alle happy darüber, dass ihr es endlich gepackt habt. Nur ich stehe da wie der letzte Idiot, weil ich mir trotzdem Hoffnungen gemacht habe. Weil ich so blöd war und dachte, ich hätte eine Chance bei dir. Sorry, aber unter diesen Umständen kann ich mich einfach nicht für euch freuen.” „Okay!”, sagte Kai laut, nahm sich aber sofort wieder zurück. „Das musst du ja auch gar nicht. Aber ganz ehrlich - selbst wenn das mit Yuriy irgendwie anders wäre, hätte das nichts daran geändert, wie wir zueinanderstehen. Es hätte trotzdem nicht geklappt. Und angesichts der Tatsache, dass wir in zwei Wochen beide in London sind, würde ich diese Sache damit gerne abschließen.” Miguel verdrehte die Augen, nickte dann aber. „Okay”, sagte er, und sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass absolut gar nichts okay war. Aber damit musste Kai sich heute wohl begnügen. „Dann zum Geschäftlichen. Also. Was sind das für Typen, für die ich auflegen soll?” Yuriy brachte es auf ganze vier Stunden Schlaf, bevor er sich wieder aus dem Bett quälte und sich auf den Weg ins Studio machte. Boris war inzwischen mit Gold nicht mehr zu bezahlen, denn er hatte ihm ein Fresspaket in den Kühlschrank gestellt, auf das er mit ein paar leuchtenden Klebezetteln hinwies. Und so konnte Yuriy in der S-Bahn immerhin seinen knurrenden Magen beruhigen. Er hatte Kopfschmerzen, vom Schlafmangel, von der schlechten Luft im Club, von der wummernden Musik. Schon vor Jahren hatte er einen Tinnitus entwickelt, der sich bisher aber nur bemerkbar machte, wenn er wirklich gestresst war. Seit ein paar Tagen war es wieder einmal so weit. Die Musik übertönte das Fiepen zwar, weshalb er trotz allem weiterarbeiten konnte, doch sobald es stiller wurde, machte es sich wieder bemerkbar. Ja, er war froh, dass die Saison sich dem Ende neigte und seine EP bald erscheinen würde. Danach würde er sich einen schönen Weihnachtsurlaub gönnen. Wenn alles gut ging, konnte Kai sich auch zwei Wochen zum Jahresende frei nehmen - und auf mehr als ein paar Tage in trauter Zweisamkeit, die sie mit Nichtstun verbringen würden, wagte er sowieso nicht zu hoffen. Er war ein wenig erstaunt, als er das Studio nicht abgeschlossen vorfand. Flüchtig dachte er an Einbrecher, aber das Schloss schien normal zu funktionieren. Und drinnen brannte Licht. Schließlich klärte sich die ganze Situation, als er Kane über einen Haufen Unterlagen gebeugt in der Lounge vorfand. Yuriy räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen, und Kane zuckte zusammen. „Heilige Scheiße Ivanov, erschreck mich doch nicht so!”, sagte er. „Was machst du hier überhaupt?” „Techno”, entgegnete er knapp und stellte seinen Rucksack auf der Couch ab. „Und du?” Aus der Küche drang Kaffeeduft; er schlenderte zur Maschine und stellte zufrieden fest, dass Kane eine ganze Kanne gebrüht hatte. „Ob du’s glaubst oder nicht, aber ich hab auch ein bisschen was produziert, bevor ich wieder mit dem Papierkram angefangen habe.” Kane war ihm gefolgt und füllte seine eigene Tasse ebenfalls auf. Sie hielten ein wenig Smalltalk über den Stand des neuen Studios und Yuriys letzte Auftritte. Dann zeigte Kane ihm verschmitzt grinsend ein Video, das Salima beim Ostblocc-Takeover gedreht hatte. Darauf zu sehen waren Kai und er, wie sie sich hinter den Decks aufeinander stürzten. Yuriys Augen weiteten sich erschrocken, als er realisierte, dass irgendjemand das Video über den Insta-Channel des Labels geteilt hatte, aber Kane schien das Ganze für ziemlich gute PR zu halten. Er klopfte ihm feixend auf die Schulter. „Hab gehört, du bist immer noch ziemlich gut beschäftigt”, sagte er. „Was machst du so die nächsten Wochen?” Yuriy seufzte, dann zählte er auf: „Ein Interview mit diesen Typen, die den Berlin-Techno-Podcast machen, dann ein Set für diesen Radiosender in Tempelhof, Freitag einen Live-Stream, den die Leute vom Don Quijote hosten… nächste Woche ein Live-Set für AUDIO in Neukölln, ein b2b mit Mathilda im Garten vom Bunker am Donnerstagnachmittag, äh… ich glaub, dann bin ich in Leipzig? Nein, Prag. Nee. Doch Leipzig.” Kane hob die Augenbrauen. „Und du bist sicher, dass du nicht mit einer Agentur zusammenarbeiten willst? Du brauchst echt langsam einen Assistenten, Mann.” Yuriy hob nichtssagend die Schultern. Bisher regelte er alle seine Termine alleine, vor allem, weil er die Freiheit haben wollte, selbst zu entscheiden, wem er zusagte und wem nicht. Aber Kane hatte schon recht; sich von einer Agentur managen zu lassen würde sein Leben inzwischen wahrscheinlich wirklich leichter machen. Außerdem hatte es in der Vergangenheit auch öfter Missverständnisse gegeben, weil Veranstalter nicht wussten, wie sie ihn am besten erreichen konnten. „Ich denke darüber nach”, sagte er schließlich. „Gut. Und noch etwas…” Kane unterbrach sich und sah nachdenklich zu ihm hoch. „Na, das ist vielleicht nichts für zwischen Tür und Angel. Hast du eine Minute, bevor du loslegst?” „Sicher.” Yuriy folgte dem anderen zurück in die Lounge und ließ sich ihm gegenüber auf ein Sofa sinken. Kane räumte seine Unterlagen zusammen, bevor er schließlich das Wort ergriff: „Ich hab‘ gemerkt, dass es in letzter Zeit ein paar Unstimmigkeiten bei deinen Kollegen von Ostblocc gibt. Anscheinend geht das Gerücht um, dass ich euch klein halte.” Yuriy nicke langsam. „Ich kann verstehen, woher dieser Eindruck kommt”, fuhr Kane fort, „Aber ich will euch wirklich nichts Böses. Allerdings würde mich schon interessieren - plant ihr, ein eigenes Label zu gründen?” „Nein”, sagte Yuriy, „Zumindest noch nicht. Warum fragst du?” „Ich habe einfach den Markt im Blick. In Berlin werden inzwischen fast wöchentlich neue Label gegründet, und es wollen ja alle irgendwie von etwas leben. Also ja, ich würde euch schon als Konkurrenz sehen, wenn ihr sowas plant. - Wobei das auch nicht unbedingt sein muss…” Sein Tonfall hatte sich geändert und Yuriy hob fragend die Augenbrauen. Kane verschränkte geschäftlich die Hände ineinander. „Ich hätte da noch eine andere Idee. Das betrifft jetzt nicht euch alle, sondern erstmal nur dich. Könntest du dir vorstellen, bei mir einzusteigen? So richtig, meine ich. Als Producer, als zweiter Labelhead... in diesem Rahmen.” Yuriy blinzelte. „...Wat?!”, rutschte ihm raus, mehr ging in diesem Augenblick nicht. „Muss ja nicht gleich sein!”, sagte Kane schnell, „Aber ganz ehrlich, wir expandieren hier gerade ganz schön und ich könnte ein bisschen Unterstützung gebrauchen. Und ich frage mich halt, wie lange du planst, durch die Weltgeschichte zu tingeln und aufzulegen, bevor du dich wieder nach mehr Ruhe sehnst.” Yuriy starrte weiter. Kane wusste doch, dass er seit gerade einmal zwei Jahren von der Musik leben konnte. Er hatte nicht vor, in den nächsten fünf Jahren irgendwas großartig anders zu machen als jetzt. Andererseits wusste er genauso gut, dass es nicht unbedingt schlecht war, sich mehrere Standbeine aufzubauen. Die Frage war nur, ob seine Zeit dafür reichte. „Aber was ist mit den anderen?”, fragte er schließlich, um wenigstens ein bisschen von sich abzulenken. Kane hob die Schultern. „Für Ostblocc ändert sich erstmal nichts. Ihr bleibt weiter unter Vertrag und könnt euer Ding machen. Wenn von den anderen niemand Interesse hat, es auf eigene Faust zu versuchen, umso einfacher. Mit dem Vorteil, dass du vielleicht sogar ein bisschen mehr Zeit für Ostblocc hast, wenn du für sie produzierst - und zwar bezahlt.” Tja, das war allerdings der Haken an der Sache. Yuriy war sich nicht sicher, ob er die Pläne der anderen kannte. Salima und Ivan hatten gerade genug zu tun mit ihrem Wohnungsproblem. Mathilda wollte mehr als das, was sie jetzt hatte, aber ein eigenes Label? Das konnte er sich bei ihr nicht so wirklich vorstellen. Trotzdem. Es wäre nicht ungewöhnlich, einfach beides zu machen, Ostblocc und Yamashita Records. Er könnte sogar noch drei Kollektive gründen und niemand würde sich wundern. So funktionierte die Szene. „Ich muss das mit den anderen besprechen”, sagte er, weil ihm das trotz allem richtig erschien. „Sicher. Mein Angebot ist ja auch eher so mittelfristig gedacht. Aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du es dir einfach gut überlegst. Denn wenn du nicht willst, muss ich eine andere Lösung finden.” Nach dem Gespräch mit Kane hatte Yuriy das Gefühl, einen Schnaps zu brauchen. Natürlich freute er sich über das Angebot und die offensichtliche Wertschätzung seines Labelheads, aber das alles verringerte nicht unbedingt den Druck, der auf ihm lastete. Er wäre sehr zufrieden damit gewesen, einfach nur seine EP zu produzieren und das Jahr langsam aber sicher ausklingen zu lassen, aber das war ihm wohl nicht vergönnt. Kane verabschiedete sich bald darauf und Yuriy vergrub sich für ein paar weitere Stunden im Studio, wo er versuchte, seine Gedanken abzuschalten und sich auf seine Musik zu konzentrieren. Es gelang höchstens mäßig, vor allem nachdem ihm siedend heiß einfiel, dass er gleich am Montag unbedingt drei Telefonate führen musste. Vielleicht war die Idee, sich bei einer Agentur zu melden, doch gar nicht so schlecht… Als er nach Hause kam, war die Tür zu Boris’ Zimmer offen und verschwommene Videospielgeräusche erfüllten die Wohnung. Auf Yuriys Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Er schob seine Tasche in sein Zimmer, dann ging er rüber zu Boris. Sein Mitbewohner hing auf der kleinen Couch, die tatsächlich neben dem Bett noch hier reinpasste, einen Controller in der Hand und auf den großen Flachbildschirm an der Wand starrend. Boris brauchte keinen Platz für einen Schreibtisch, aber seine Mutter hatte darauf bestanden, dass er einen sehr hässlichen, aber auch sehr slawischen Teppich erbte, der nun beinahe den ganzen Boden bedeckte (sie hätte ihm auch einen für die Wand mitgegeben, doch zum Glück hatte Boris dafür doch zu wenig Platz). Dem Teppich war allerdings auch zu verdanken, dass Yuriy hier nie kalte Füße bekam. Seine Zehen sanken ein Stück in die kratzigen Flusen ein, als er sich neben Boris setzte. „Na?”, brummte der, ohne den Blick von seinem Spiel zu nehmen, „Dein Loverboy heute gar nicht da?” „Kommt später”, antwortete Yuriy, „Musst du heute noch mal los?” „Ich fahr gleich rüber zu Serjoga. Der muss sich mal unter die Karre legen, da klappert was, hab Angst, dass es die Achsenaufhängung ist. Könnte spät werden.” Yuriy machte ein enttäuschtes Geräusch und lehnte sich an Boris, sodass sein Kopf auf dessen Schulter lag. Er schloss die Augen. „Was los? Schlechten Tag gehabt?” „Zu viel auf einmal”, murmelte Yuriy. „Willst du drüber reden?” „Weiß nicht. Das würde ziemlich lange dauern. Es ist einfach… Arbeitsstress.” Wieder brummte Boris und Yuriy blinzelte zum Fernseher, auf dem bunte Farben hin und her zuckten. Er war sich sicher, dass er sich nach zwei Stunden zocken wie auf einem schlechten Trip fühlen würde, aber Boris schien da abgehärtet zu sein. „Das klingt jetzt sicher billig, aber versuch mal, ein bisschen abzuschalten”, sagte Boris. „Es ist Wochenende, und dieses Mal sogar für dich! Entspann dich, lass dich ein bisschen von Kai verwöhnen, he?!” Yuriy schnaubte nur, als er bemerkte, wie sein Mitbewohner feixte. Eine Antwort gab er ihm nicht. „Wie läuft es eigentlich bei euch?”, fing Boris wieder an. „Was genau meinst du?” „So generell. Passiert ja nicht alle Tage, dass mein bester Freund in eine feste Beziehung gerät. Noch dazu mit einem shady Start-up-Typen, den er schon seit Jahren anschmachtet.” Yuriy zuckte kurz die Schultern. „Es läuft. Und ich finde das ehrlich gesagt ganz angenehm so.” „Hm. Und wie kommt ihr mit dem Pendeln klar? Ist ja auch nicht gerade einfach, wenn du an den Wochenenden ständig unterwegs bist.” „Nein”, gab Yuriy zu. „Es ist anstrengend, aber noch geht es.” „Noch bist du verliebt genug, um den ganzen Stress auf dich zu nehmen, was?!”, sagte Boris. Yuriy verzog den Mund. Inzwischen hatte Boris das Spiel pausiert, die Figuren hüpften lustlos auf der Stelle und die bunten Farben flackerten ein wenig. „Ich glaube, Kai ist nicht sehr begeistert davon”, sagte Yuriy schließlich, „Ich meine, ich bin es auch nicht. Aber was sollen wir machen? Bisher hat er auch noch nichts dazu gesagt, aber es wird sicherlich irgendwann dazu kommen. Und dann müssen wir halt sehen, was wir machen.” „Also schiebst du das Problem einfach auf?” Jetzt nahm Yuriy den Kopf von Boris’ Schulter, um ihn anzusehen. „Ganz ehrlich, mir fehlt momentan einfach die Kraft für alles andere. Das mit Kai ist neu, und er ist mir wichtig. Aber meine Arbeit eben auch. Momentan kann ich beides haben, und solange das geht, will ich es auch so.” Boris nickte. „Darf ich dich was fragen?” Yuriy machte eine auffordernde Geste. „Wenn du dich entscheiden müsstest zwischen Kai und deiner Karriere…?” Er ließ den Satz unbeendet und Yuriy sank ächzend wieder zurück. „Das ist fies”, sagte er und holte tief Luft. „Ich kenne Kai seit vier Jahren, und ja, ich bin verliebt und ich nehme das mit uns ernst. Aber dieser Job, diese Karriere… das will ich, seit ich fünfzehn bin. Das ist mehr als mein halbes Leben! Und klar, es geht gerade unglaublich schnell und es ist unglaublich anstrengend. Aber ich würde es für immer bereuen, wenn ich mir diese Chance entgehen lasse.” Er machte eine Pause. „Ist das unfair?” Doch Boris schüttelte den Kopf. „Du vergisst, dass Kai auch ein Karrieremensch ist. Aber selbst, wenn nicht… Es ist wie du es sagst, Yura. Und irgendwann wird es dir zugutekommen, dass du weißt, wo deine Prioritäten liegen.” Er stieß ihn an, als er bemerkte, wie Yuriy das Gesicht verzog. „Und egal was ist, mich wirst du zumindest nicht los.” „Das ist...beruhigend.” „Finde ich auch.” Kapitel 12: Bis das alles keinen Sinn mehr macht, Teil 2 -------------------------------------------------------- Boris war schon längst zu Sergeij gefahren, als Kai schließlich vor der Tür stand. Yuriy hatte die Zeit, in der er auf ihn wartete, mal wieder mit Arbeit verbracht. Dieses Mal zwang er sich aber, den Computer herunterzufahren, bevor seine Gedanken wieder abschweifen konnten. Kai hatte Wein mitgebracht und erzählte knapp davon, was er in den letzten Tagen gemacht hatte, während er die Flasche entkorkte. Er musste aber gemerkt haben, dass Yuriy mit den Gedanken ganz woanders war, denn irgendwann hörte er auf. „Alles klar?”, fragte er, als er ihm ein Glas reichte. „Ja, tut mir leid”, sagte Yuriy, „Ich hatte einen… interessanten Tag. Lass uns rübergehen.” Während sie zu Yuriys Zimmer gingen, fasste er knapp sein Gespräch mit Kane zusammen. Kai war ein guter Zuhörer, und er hatte ein Gespür für Yuriys Stimmungslagen. Deswegen bemerkte er wohl recht schnell, dass Yuriy sich nicht uneingeschränkt über Kanes Angebot freuen konnte. „Wie wäre es, wenn du einfach ein paar Nächte darüber schläfst? Und dann sprichst du erstmal mit Mathilda und den anderen darüber”, schlug er vor und stellte sein Glas auf dem Fensterbrett ab. Yuriy warf einen flüchtigen Blick nach draußen, wo es bereits dunkel geworden war. Sie spiegelten sich im Fensterglas. „Ja, das ist der Plan”, sagte er schließlich. „Aber trotzdem. Irgendwie ist das alles gerade ein bisschen viel.” „Yuriy…” Kais Stimme war tiefer geworden und klang etwas rau, vielleicht lag es an seiner eigenen Müdigkeit. Augenblicklich bereute Yuriy ein wenig, das Gespräch so an sich gerissen zu haben. Kai hatte schließlich auch eine anstrengende Woche hinter sich. Er legte versöhnlich die Arme um ihn und spürte, wie Kai sich etwas reckte. „Ich weiß, normalerweise bist du derjenige, der mich daran erinnert - aber du musst dich entspannen, wirklich.” „Ich weiß doch”, murmelte er und schloss die Augen, genoss die Wärme des anderen. Er musste lernen, die Arbeit Arbeit sein zu lassen. Kai schaffte das ja schließlich auch. „Soll ich dich ablenken?” „Hmm?” Seine Mundwinkel hoben sich. Er wusste genau, worauf der andere hinauswollte. Kai hatte ihm schon vor Jahren im Vertrauen erzählt, dass er recht freigiebig mit Blowjobs war, wenn ihm der Sinn danach stand. Und es wäre gelogen, wenn diese Information nicht von Zeit zu Zeit Yuriys Fantasie beflügelt hätte, vor allem in den Wochen und Monaten, in denen ihm bewusst wurde, welcher Art seine Gefühle für Kai waren. Als diese Fantasien endlich hatten Wirklichkeit werden dürfen, war er nicht enttäuscht worden. Kai zog eine feine Linie aus Küssen über seinen Hals, während sich seine Hand zu Yuriys Gürtel vortastete. Auf Yuriys Haut begann es zu prickeln, er neigte willig den Kopf zur Seite. „Wenn du willst?”, murmelte er. „Ich will immer”, sagte Kai knapp und Yuriy lachte. Er hatte absolut nichts gegen diese Art von Ablenkung. Inzwischen hatten Kais Hände ihren Weg in seine Hose gefunden und er spürte ein angenehmes Ziehen im Bauch, während sich sein Glied unter den Berührungen zu regen begann. Er zog Kai zu sich heran, um ihn zu küssen und konnte nicht anders, als sich vorzustellen, was diese Lippen in ein paar Minuten mit ihm machen würden. Ihm entwich ein sehnsüchtiges Seufzen und er meinte, spüren zu können wie sich Kais Mund zu einem Lächeln verzog. „Zieh das aus”, murmelte Kai und zupfte an seiner Hose, doch Yuriy war noch nicht bereit, ihn zurückweichen zu lassen. Stattdessen küsste er ihn wieder, tauchte spielerisch mit der Zunge in seinen Mund ein und fühlte die Vibration von Kais leisem Stöhnen. Als sie sich endlich lösten, waren Kais Augen glasig. Dieser Anblick allein reichte, um den Druck in Yuriys Unterleib zu verstärken; er griff in Kais Haar und wollte sich gerade zu seinem Hals herunterbeugen als der andere eine Hand hob. „Ausziehen”, wiederholte er in einem Ton, der keine Widerworte duldete. Yuriy grinste schief, dann trat er einen Schritt zurück und begann, seine Kleidung abzustreifen. Kai sah ihm einen Moment lang zu, und seine Augen blitzten hungrig, bevor er sich sein eigenes Shirt über den Kopf zog. Allein zu beobachten, wie immer mehr von Kais Haut zum Vorschein kam, ließ Yuriys Herz schneller schlagen. Inzwischen kannte er diesen Körper, jeden noch so empfindlichen Punkt, wusste, was er tun musste, damit Kai binnen Minuten zitternd unter ihm lag - aber ein Blick seines Freundes genügte, um es bei dem Gedanken zu belassen. Es war Kai, der nun auf Yuriy zukam, ihn zurückdrängte, bis er mit dem Rücken an das letzte freie Stück Wand stieß, das es in seinem Zimmer gab; direkt neben dem Bett. „Was wird das denn?”, fragte er. Kai legte die Arme um seinen Hals, lehnte sich an ihn, und das Gefühl, wie ihre Körper sich berührten, überdeckte jede andere Wahrnehmung. Kai wollte genauso sehr wie er. Er wollte ihn packen und auf das Bett stoßen, in seine weiche Haut beißen, seine Spuren auf ihm hinterlassen. Aber Kai schien andere Pläne zu haben, denn er bewegte sich kein Stück, selbst dann nicht, als Yuriy den Mund gegen seinen Hals drückte, damit er seine Zähne spüren konnte. Dennoch konnte er ein leises Keuchen nicht unterdrücken. Schließlich schob er Yuriys Kopf sanft von sich weg. „Ich würde gern etwas ausprobieren”, sagte er. „Aha?” „Nichts sonderlich Elaboriertes.” Kai hob die Hand und strich mit den Fingerkuppen über seine Brauen, seine Wangen, seinen Mund. „Du könntest dich einfach überraschen lassen.” Es gab eine Zeit, in der diese Worte bei Yuriy Unbehagen ausgelöst hatten. Überraschungen hatten nie etwas Gutes für ihn bedeutet, und er vertraute niemandem, der behauptete, so gut im Bett zu sein, dass er besser als sein Partner wusste, was dieser brauchte. Bei Kai war es anders. Yuriy war sicher, sein Freund wusste, wie weit er gehen konnte. Und vor allem konnten sie einfach aufhören, wenn es nicht gut war. „Überraschung klingt gut”, sagte er also. Sie sahen sich kurz an. Kais Mundwinkel zuckten, dann biss er sich auf die Unterlippe, vielleicht aus Vorfreude auf das, was sich gerade nur in seinem Kopf abspielte. Yuriy atmete hörbar ein; er wurde nervös, aber auf eine gute Art. Nun war es Kai, der ihn küsste. Er ließ ihn gewähren. Kais Küsse konnten langsam und unglaublich intensiv sein, als wäre er etwas, das bis zur letzten Sekunde ausgekostet werden musste. Jedes Mal, wenn seine Zungenspitze über Yuriys Lippen strich, durchfuhr ihn ein kleiner Schauer. Die Wand war kalt in seinem Rücken, aber Kais Hände und Lippen, die sich schließlich immer tiefer tasteten, waren das ganze Gegenteil. Das Zittern in ihm verstärkte sich; er vergrub eine Hand in Kais Haaren, hielt sich aber davon ab, seinen Kopf dahin zu drücken wo er ihn gerne hätte. Stattdessen sah er zu, wie sich sein Mund an seine Haut schmiegte, wie ab und an seine Zunge hervorblitzte und eine feucht glänzende Spur hinterließ. Sein Glied zuckte sehnsüchtig, was Kai sicherlich mitbekommen hatte, ihn aber nicht dazu bewegte, sich zu beeilen. Wie beiläufig hob er die Hand, um Yuriy zu berühren, der scharf die Luft einzog. Sein Freund hob den Blick, und als sich ansahen zog sich alles in ihm zusammen. Dann erreichte Kai endlich sein Ziel und Yuriy gab sich ganz dem Gefühl hin, das sich von seiner Mitte aus ausbreitete. Kai wusste genau, was er tun musste, damit ihm die Knie weich wurden. Manchmal sah Yuriy weiter zu, beobachtete genau, wie Kais schöner Mund ihn verwöhnte. Es war ein Anblick, der sich auf die Netzhaut brannte. Jetzt aber lehnte er den Kopf nach hinten an die Wand und blinzelte zur Decke hinauf ohne diese wirklich wahrzunehmen. Sonst wäre das hier viel zu schnell vorbei. Innerlich ermahnte er sich, nicht allzu laut zu werden, denn dank der dünnen Wände hörte man hier wirklich alles. Das war das einzige, das er sich merken konnte. Es gelang ihm dennoch nicht, sein Stöhnen gänzlich zu unterdrücken. „Fuck”, seufzte er, „Kai … wenn du so weiter machst…” Den zweiten Teil des Satzes vergaß er in derselben Sekunde. Kurz darauf ließ Kai von ihm ab. Yuriy atmete ein paarmal tief ein und aus, um sich wieder etwas unter Kontrolle zu bekommen; sein Körper schrie nach noch mehr Aufmerksamkeit. Dann wurde ihm bewusst, dass Kai sich zur Seite gelehnt hatte, um den Nachttisch erreichen zu können. Yuriy beobachtete, wie er eine Tube Gleitgel aus der Schublade zog und hob die Augenbrauen. „Ähm, was…” Natürlich schwante ihm, was Kai mit dem Gleitgel vorhaben könnte, und die alten Ängste regten sich in ihm. Seine Gedanken mussten kurz in seinem Gesicht gestanden haben, denn Kai, der inzwischen wieder vor ihm kniete, hielt inne. „Lieber nicht?” Aber so schnell wollte Yuriy sich diesen Moment nicht kaputt machen lassen. „Schon gut”, sagte er, „Mach weiter.” „Okay”, sagte Kai, „Dann mach dich mal leicht.” Noch ehe Yuriy fragen konnte, was er damit meinte, packte Kai ihn an den Hüften und stemmte ihn hoch; instinktiv stützte er sich an der Wand ab und Kai schob sich zwischen seine Beine. Yuriys rechter Fuß war noch gerade so am Boden, doch sein linkes Bein lag nun über Kais Schulter. Der schien mit dem zusätzlichen Gewicht auf sich allerdings gar kein Problem zu haben. Yuriy hätte die Balance verloren, hielte Kais fester Griff ihn nicht an Ort und Stelle. Was aber auch bedeutete, dass er sich kaum bewegen konnte, ohne Gefahr zu laufen, dass sie beide zu Boden gingen. „Fuck!”, entfuhr es ihm zum zweiten Mal, und er konnte selbst nicht sagen, ob es eher panisch oder verlangend klang. In seinem Inneren wechselten sich beide Gefühle ab. Er warf einen Blick nach unten und bemerkte, wie Kai ihn aufmerksam musterte. Es war seltsam, ihn in dieser Position zu sehen, die so viel intimer war als alle bisherigen. Yuriy wurde warm, ein bisschen vor Scham, viel mehr jedoch vor Erregung. Kai hob fragend die Augenbrauen, doch er schüttelte nur ergeben den Kopf und lehnte sich zurück. Was zur Hölle passierte hier gerade mit ihm? Und dann war da wieder Kais Mund, der nun wirklich alles erreichen konnte. Yuriy fühlte die warme, feuchte Zunge und den leichten Sog seiner Lippen. Sein ganzer Körper war angespannt; er verharrte in seiner Position, die Wand im Rücken. Dieses Mal waren seine Augen fest geschlossen. Er wollte gar nicht so genau wissen, was Kai mit ihm machte, was er spürte reichte vollkommen aus. Erst als er gepresst die Luft ausstieß wurde ihm bewusst, dass er den Atem angehalten hatte. Er versuchte, sich bewusst zu entspannen, und das half, die diffus durch seinen Kopf schießenden Gedanken zu beruhigen. Langsam ließ er sich ein wenig mehr auf Kai sinken, von dem ein zufriedenes Summen kam. Seine Daumen strichen beruhigend über Yuriys Seiten, ohne dass er dabei den Griff löste. Oder aufhörte, ihn zu lecken. Gänsehaut zog sich über Yuriys Arme bis hinauf in seinen Nacken. Kai musste gemerkt haben, wie er erschauerte, denn der Druck seiner Zunge verstärkte sich. Und Yuriy gab einen Laut von sich, der so hingebungsvoll klang, dass es ihn selbst überraschte. Er tastete blind nach Kai und vergrub erneut eine Hand in seinen Haaren, dieses Mal weniger um ihn zu dirigieren als sich an ihm festzuhalten. Am liebsten hätte er ihm sein Becken noch etwas mehr entgegen gehoben, aber das ging in seiner derzeitigen Lage nicht. Er schwankte kurz, als Kai seine Hüfte losließ, fand sein Gleichgewicht wieder, dann krallte sich eine Hand in seinen Oberschenkel, hielt ihn fest. Als Kais Finger in ihn glitt, noch etwas kühl vom Gleitgel, war ihm egal, ob man sein Stöhnen durch die Wände hören konnte. Er hatte nicht erwartet, dass die Berührungen noch intensiver werden konnten, doch sie wurden es. Es war ihm nicht möglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Der letzte Rest seines Schamgefühls verabschiedete sich allerspätestens, als ein zweiter Finger dazukam. Verzweifelt tastete er an der Wand entlang, wollte sich irgendwo abstützen oder sich noch ein wenig höher stemmen, damit Kai noch mehr Spielraum hatte, er wusste es selbst nicht so genau. Seine Beine begannen zu zittern, während Kai Stellen an ihm reizte, von denen er nicht einmal geahnt hatte, dass er dort berührt werden wollte. Ein unglaublicher Druck hatte sich in ihm aufgebaut, der ihm jetzt vollkommen den Atem raubte. Und dann veränderte Kai irgendetwas, nur ganz leicht, aber es war alles, was Yuriy brauchte. Sein Becken zuckte nach vorn, sodass Kai ihn gerade so aufrecht halten konnte, er warf den Kopf in den Nacken und sein Schädel knallte dumpf gegen die Wand, doch er nahm es nur am Rande wahr. Erst als seine Sinne wieder zu ihm zurückkehrten wurde ihm der Schmerz bewusst. Er verzog das Gesicht. Kais Finger waren verschwunden, doch er hauchte noch ein, zwei warme Küsse auf die Innenseite seines Oberschenkels, bevor er ihn endlich wieder absetzte. Beinahe hätten Yuriys Knie nachgegeben, doch Kai hielt ihn fest. Mit einem mitleidigen Blick strich er ihm über den Kopf. „Autsch, das tut mir leid. Alles klar bei dir?” Yuriy stöhnte leise. Ihm war, als würden immer noch die letzten Vibrationen seines Orgasmus in ihm widerhallen. „Alles klar? Kai, du…machst Dinge mit mir…” Er unterbrach sich, als er Kai nun wieder klar sehen konnte. „Du hast da was im Haar”, sagte er mit einem müden Grinsen. „Ist das alles was dir dazu einfällt?” „Nein, aber...mein Hirn funktioniert gerade nicht.” Das war die Wahrheit. Yuriy hatte das Gefühl, vollkommen neben sich zu stehen. Seine Beine taten weh, sein Rücken kribbelte dort, wo die raue Tapete seine Haut aufgekratzt hatte, und in seinem Schädel pulsierte es. Und trotzdem schwebte er wie auf Wolken. Kai schnaubte belustigt und bugsierte ihn zum Bett, wo Yuriy sich seufzend auf den Rücken sinken ließ. Dann griff Kai nach einer Packung Taschentücher, um die Spuren der letzten Minuten zu beseitigen. Yuriy beobachtete ihn, das Grinsen war breiter geworden und hatte sich tief in sein Gesicht gegraben. Körperlich war er komplett am Ende; gleichzeitig hatte er schon wieder Sehnsucht nach der Nähe des anderen. „Komm her”, sagte er und streckte den Arm aus, damit Kai sich zu ihm legte. Dem entwich dabei ein leises Ächzen. „Scheiße. Meine Schulter tut weh.” Eine Sekunde verstrich, dann fingen sie an zu lachen. „Deine Schulter? Mir tut alles weh, alles”, gestand Yuriy. Kai legte die Hand auf seinen Bauch, strich sanft über seine Haut. „Das war so verdammt heiß, weißt du das?” Yuriy schwieg. Er wollte nicht so genau darüber nachdenken, wie er womöglich ausgesehen hatte. Aber so, wie Kai ihn jetzt betrachtete, musste es ihm gefallen haben. Kurzentschlossen drehte er sich auf die Seite, um ihn zu küssen, und augenblicklich kam Kai ihm entgegen, biss verlangend in seine Unterlippe. Endlich konnte Yuriy ihn wieder berühren, die Hände über ihn wandern lassen. Kai war wie geladen; seine Bewegungen wurden fahrig, und wann immer Yuriy ein wenig Druck ausübte stöhnte er leise in den Kuss hinein. Es wurde offensichtlich, dass er noch nicht auf seine Kosten gekommen war, denn Yuriy konnte seine Erektion deutlich an seinem Bein spüren. Als sie sich das nächste Mal lösten, hielt er Kai zurück. „Wie wäre es, wenn du dort weitermachst, wo du aufgehört hast?”, schlug er vor. Kai runzelte die Stirn, dann schien er zu verstehen. „Du meinst…?” Er sah ihn an, sein Blick war lustverschleiert. Es musste ihn wirklich einiges an Kraft kosten, sich nicht sofort wieder auf ihn zu stürzen. „Bist du sicher?” „Warum nicht?”, meinte Yuriy, „Ich bin gerade ziemlich entspannt.” Er zwinkerte ihm zu. „Kondome sind in der Schublade.” Daraufhin sagte Kai nichts. Stattdessen stemmte er sich hoch, um ihn wieder zu küssen. Yuriy zog ihn auf sich und tastete nach der Decke, um sie beide darin einzuwickeln. Kapitel 13: Diese Stadt ist zu klein für mich und mein Ego ---------------------------------------------------------- „Kai, du brauchst Insta, wirklich.” Mariam setzte sich neben ihn und zeigte ihm ihr Handy. Er konnte nicht viel erkennen, da sich die vor dem Zugfenster vorbeirasende Landschaft im Display spiegelte, also nahm er seiner Kollegin das Gerät ab. Er wusste, dass Wyatt vor einer Woche einen Instagram-Account für Phoenix Consulting angelegt hatte - auf Mariams Anordnung hin, die ihm seit Monaten in den Ohren lag, dass ihr Social Media Auftritt eine kleine Auffrischung brauchte. Gerade hatte sie den Praktikanten angewiesen, ein Foto von ihnen zu machen, wie sie vorbildlich umweltfreundlich(er) nach London reisten: Mit dem Zug über Köln und Brüssel. Sie waren schon seit zwei Stunden unterwegs und irgendwo mitten in Deutschland, mehr oder weniger beengt in ihrem eigenen Zugabteil. Kai hatte den Tisch okkupiert und seinen Laptop nebst einiger Papiere dort ausgebreitet. Garland saß ihm gegenüber und wischte geschäftig auf einem Tablet herum. Wyatt las etwas für die Uni und Mariam hatte sich offensichtlich zur Admin der Social-Media-Accounts ernannt. Jetzt sah Kai, dass sie schon ein paar Dutzend Follower hatten, ahnte aber, dass dies nur andere Firmen waren, die ihr Netzwerk ausbauen wollten. Sie hatten eine Handvoll Fotos veröffentlicht und das Profil wirkte ein wenig langweilig. Allerdings sah Kai seine Firma auch nicht in der Liga der fancy Start-ups, die den Menschen das Blaue vom Himmel versprachen und hippe Produkte vertickten. Ihm war es weitaus lieber, wenn sie seriös und professionell wirkten. Was aber auch bedeutete, dass es vielleicht nicht die klügste Entscheidung gewesen war, für die Reise ein Ostblocc-Shirt anzuziehen, einfach, weil es viel bequemer war als knapp zwölf Stunden in einem Hemd dazusitzen. Zum Glück war das Logo auf dem Bild halb von seinem Arm verdeckt. „Ich habe einen Account”, sagte er schließlich und gab Mariam das Telefon zurück. „Ich poste nur nichts und erzähle es auch keinem.” Und außerdem benutzte er die App kaum einmal; er hatte ja nicht einmal etwas von dem Video mitbekommen, das Miguel ihm neulich gezeigt hatte, obwohl er Yamashita Records folgte. „Oh, lass mich raten, du benutzt es nur, um deinen Schatz zu stalken.” Mariam seufzte theatralisch und Kai bemerkte, wie Garland ihm einen flüchtigen Blick über den Rand seines Tablets hinweg zuwarf. Er verkniff sich eine Antwort, doch Mariam schien auch keine erwartet zu haben. „Apropos Musik”, fing sie wieder an, „Was ist eigentlich mit unserem DJ?” „Miguel? Der ist schon seit gestern drüben”, antwortete Kai, „Wollte die Gelegenheit nutzen und noch ein paar Kollegen treffen, soweit ich weiß.” „Ach. Sag mal…” Sie rutschte etwas näher zu ihm heran und senkte die Stimme. „Ist das der, mit dem du...hm?” „Mariam!”, zischte Kai. Gut, drei der anwesenden Personen wussten von dieser Misere, aber er hatte keine Lust, das vor Wyatt mit ihr auszuwerten. Also fasste er sich kurz: „Ja, aber das tut nichts zur Sache. Wirklich nicht”, fügte er hinzu als Mariam schon wieder den Mund öffnete. „Wer möchte einen Kaffee?”, sagte Wyatt in diesem Moment, und zwar so laut, dass selbst Garland verwundert aufblickte. Kai reagierte in Sekundenschnelle und drückte seinem Praktikanten ein paar Geldscheine in die Hand. Kurz darauf war der in Richtung des Bordbistros verschwunden. „Eins muss man ihm lassen, Taktgefühl hat er”, bemerkte Garland und legte sein Tablet zur Seite. „Aber jetzt mal ehrlich Kai, gibt es Ärger zwischen dir und Miguel? Kann das gefährlich werden?” Kai winkte ab. „Das ist alles harmlos, denke ich. Der Ärger liegt eher zwischen Miguel und Yuriy.” Garland zog die Augenbrauen hoch. „Verletztes Ego”, erklärte Kai, „Für unser Wochenende bedeutet das aber gar nichts, klar?! Und überhaupt, hört auf, euch so sehr für mein Privatleben zu interessieren.” „Ich würde ja gerne weniger Interesse zeigen”, meinte Mariam, „Aber leider bist du mit einem der, ich zitiere Groove, heißesten Berliner Techno-Acts der letzten Jahre zusammen. Wenn das kein Gossip ist, was dann?” Kai wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Stumm blickte er Garland an, der jedoch die Hände hob. „Sieh mich nicht so an, sie hat von alleine angefangen, Yuriy zu stalken.” „Bitte, genau für so eine Art von Stoff bin ich nach Berlin gekommen. Hab ich dir mal erzählt, dass ich beinahe ein Praktikum bei einer Klatschzeitschrift bei uns zu Hause gemacht hätte? Ich wollte eigentlich immer Journalistin werden.” „Das kommt jetzt total überraschend”, brummte Kai. Er bemerkte, wie Garland verhalten grinste und konnte nicht umhin, erleichtert darüber zu sein, dass zumindest mit ihm die Wogen geglättet waren. Soweit er wusste herrschte zwischen Garland und Yuriy gerade Funkstille. Die Details zu dieser Abmachung kannte er nicht, und das war seiner Ansicht nach auch gut so. Zumindest lag keiner von ihnen mit den anderen im Streit und er konnte in Ruhe mit Garland dieses Projekt durchziehen ohne ständig von irgendwelchen privaten Konflikten abgelenkt zu werden. Mit Miguel war es schwieriger, aber er war sicher, dass er diesem auf einer Party mit mehreren hundert Gästen gut aus dem Weg gehen konnte. Er hatte lediglich die Verbindung zwischen Ralf und Miguel hergestellt, den Rest hatten die beiden unter sich ausgehandelt. Ihre Fahrt verlief insgesamt friedlich und ohne größere Komplikationen. Wie sich herausstellte hatte Wyatt im Vorfeld ziemlich viel Recherche betrieben und konnte sie daher in Brüssel zum richtigen Gleis führen. Kai war milde erstaunt über die verdeckten Talente seines Praktikanten, die hier zum Vorschein kamen: Er war zwar etwas zurückhaltend und schüchtern, konnte aber gut kommunizieren, wenn er sich zusammenriss - und das sogar ziemlich souverän in mehreren Sprachen. Außerdem war er einer dieser Menschen, die eher zu gut vorbereitet waren und nichts dem Zufall überließen. Und er blieb wirklich immer höflich, eine Eigenschaft, die nicht zu unterschätzen war. Am späten Nachmittag kamen sie in London an. Kai war müde; er hatte um vier Uhr in der Früh aufstehen müssen, doch auch davor hatte er nur wenig geschlafen, weil Yuriy und er sich viel Zeit für eine ordentliche… Verabschiedung genommen hatten. Er hoffte, dass sein Freund ausgeschlafen hatte, bevor er nach Leipzig aufgebrochen war. Sie hatten am Mittag ein paar kurze Nachrichten hin- und hergeschickt. Inzwischen musste Yuriy in Leipzig angekommen sein und sich auf die Nacht vorbereiten. Kai hingegen hoffte, im Hotel noch ein, zwei Stunden schlafen zu können, bevor die Party anfing. „Das Taxi ist da, Mr. Hiwatari.” Wyatts leise Stimme riss ihn aus den Gedanken. Vor ihnen hatte ein schwarzes Auto gehalten. Der Fahrer stieg aus, um den Kofferraum zu öffnen. Wyatt nannte ihm die Adresse des Hotels. Sie quetschten sich in den Wagen, Mariam und Kai in Fahrtrichtung, die anderen beiden ihnen gegenüber. „Sollen wir nachher im Hotel vorglühen?”, fragte Mariam mit leuchtenden Augen. „Ich muss mir auf jeden Fall etwas Mut antrinken, bevor ich Networking betreibe. Ich bezahl auch den Champagner.” „Schon gut”, sagte Kai, „Ich leg aus. Aber nur eine Flasche, sonst sind wir nicht zu gebrauchen.” „Du bist der beste Chef, Kai.” Zwei Stunden Schlaf und ein Glas Champagner halfen tatsächlich, um Kais Lebensgeister zu wecken. Die Sonne war schon untergegangen, als er sich nebst seiner Mitarbeitenden im Foyer eines modernen Nobelhotels wiederfand, gekleidet in einen dunklen Anzug mit weißem Hemd und einem hübsch gemusterten Einstecktuch. Mariam trug ein mitternachtsblaues Cocktailkleid, das im Licht ein wenig glitzerte, und zog schon jetzt einige Blicke auf sich. Garland kombinierte einen Blazer in einem dunklen, erdigen Ton mit einer schwarzen Hose und schaffte es, teuer auszusehen, und auch Wyatt bewies Stilgefühl mit einem maßgeschneiderten Anzug. Kai versuchte, sich eine ähnliche Veranstaltung in Berlin vorzustellen, dann erinnerte er sich daran, welche Art von Musik Miguel auflegte und unterdrückte ein Schmunzeln. Irgendwie wollte das alles in seinem Kopf nicht so recht zusammenpassen, aber Ralf und Johnny wussten schon, was sie sich dabei gedacht hatten. Hoffentlich. „Hey, Kai.” Als er sich umdrehte, sah er Katja von Grypholion auf sich zukommen. „Ihr habt es tatsächlich hergeschafft!” Sie stießen zur Begrüßung an und Katja lächelte einmal in die Runde. „Kommst du später mal zu mir?”, fragte sie an Kai gewandt, „Es gibt da ein paar Leute, die ich dir vorstellen möchte.” Das Dinner war leidlich interessant; um das Networking zu erleichtern gab es ein Buffet und viel zu wenige viel zu kleine Sitzgelegenheiten. Kai, der so etwas aus früheren Jahren gewohnt war, schaffte es trotzdem, satt zu werden, und zwar indem er sich mehr auf seinen abenteuerlich gefüllten Teller konzentrierte als auf seine wechselnden Gesprächspartner. Seine Mitarbeitenden hatte er recht bald weggescheucht, damit sie sich ein wenig amüsierten. Er mochte es sowieso nicht, wenn ständig jemand an ihm klebte. Ein paar ehemalige Kommilitonen erspähten ihn und jeder einzelne von ihnen interessierte sich natürlich brennend für alle Dinge, die vor drei Jahren zwischen Ralf und ihm vorgefallen waren. Start-up-Hengste waren in Sachen Gossip schlimmer als einschlägige Telegramgruppen nach einem großen Rave. Zum Glück ließen sich alle schnell ablenken, denn da Jürgens-McGregor ein unglaublich weit verzweigtes Netzwerk aufwies, waren so ziemlich alle mit Rang und Namen zwischen London und Moskau hier, und alle waren erpicht darauf, so viele Hände wie möglich zu schütteln. Der Saal war groß, konnte aber nicht verbergen, dass er zu einem Konferenzhotel gehörte. Die Wände waren karg, glatt verputzt; die einzige Deko waren einige bunte Strahler, die eine Illusion von Textur schufen. Die Grundfarbe war Weiß, von den Tischdecken auf dem Buffet bis zu den schon leicht kitschigen Kronleuchtern, von denen Elemente aus geschliffenem Glas hingen. Unweigerlich versuchte Kai sich Yuriy in dieser Umgebung vorzustellen und scheiterte kläglich. Selbst Miguel, den er in diesem Moment ein Stück weiter erspähte, wirkte fehl am Platz. Er hielt sich höchstens halb an den Dresscode, aber das konnte ihm wohl niemand übelnehmen, schließlich hatten sich Ralf und Johnny Authentizität gewünscht. Beinahe sofort nachdem Kai den Gedanken gefasst hatte, nun doch ernsthaft das Networking anzugehen, fand Katja ihn. Sie wurde von einer hochgewachsenen blonden Frau begleitet. „Das ist Judy Tate”, stellte Katja sie vor, „Vom Sportnachrichtendienst PPB aus den USA. Judy, das ist Kai Hiwatari.” „Freut mich”, sagte Kai, als sie sich die Hand gaben. „Judy ist gerade erst nach London gekommen, um hier ein neues PPB Studio aufzubauen”, erklärte Katja, „Sie interessiert sich für das Thema Nachhaltigkeit und meinte, sie wollte dich sowieso mal kennenlernen. Deswegen dachte ich, ich mache gleich Nägel mit Köpfen.” „Ach. Und ich dachte, ich kann euch noch ein paar DJs verkaufen.” Katja lachte, doch Judys Miene blieb ernst. „Ich hatte auf ein seriöses Gespräch gehofft”, sagte sie steif. Es war klar, dass sie nicht hierhergekommen war, um sich auf Jürgens-McGregors Kosten den Abend schönzutrinken. Vielleicht, so dachte Kai, war dieses Event auch für ihn gerade interessanter geworden. „Dann sollten wir uns in eine ruhige Ecke begeben und über Geschäftliches reden”, schlug er vor. Da die Sitzgelegenheiten immer noch belegt waren, gingen sie ins Foyer hinaus, wo es zwar etwas kühler war, zugleich aber auch leerer. Judy bewies erneut ihren Pragmatismus, denn sie hatte absolut nichts dagegen, sich in eine eher ungemütliche Ecke neben der Garderobe zu begeben und auf einem Fensterbrett zu sitzen. Sie tauschten ein paar Höflichkeiten aus und Kai erzählte knapp, wie und warum er Phoenix Consulting gegründet hatte, bevor Judy schließlich auch anfing zu sprechen. „Wie schon gesagt soll ich den europäischen Zweig der PPB hier in London aufbauen”, sagte sie. „In circa einem halben Jahr sollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die neuen Headquarters einziehen. Bis dahin ist natürlich noch viel zu tun. Ich bin vor allem mit dem Recruiting beschäftigt.” Kai nickte nur. „Nun ist es so, dass der Mutterkonzern sich seit einigen Jahren schon für nachhaltige Strukturen interessiert, in allen erdenklichen Formen”, fuhr Judy fort. „Bei einem kompletten Neustart wie diesem hier ist es natürlich das Beste, dies gleich mitzudenken. Wir arbeiten schon mit einer amerikanischen Consultingfirma zusammen, die sich vor allem um das Gebäude und die technische Infrastruktur kümmert.” Sie nannte einen Namen, der Kai ein Begriff war. „Dort haben wir die personellen Kapazitäten schon so gut wie ausgelastet. Aber gerade beim Mitarbeitermanagement könnten wir noch Unterstützung gebrauchen. Deswegen habe ich entschieden, noch jemanden an Bord zu holen. Ich bin gut mit Johnny McGregor befreundet, und er hat mir deinen Namen genannt.” Kai versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Ausgerechnet Johnny hatte ihn empfohlen? Wenn morgen die Hölle frierte, würde es ihn nicht wundern. „Das ist sehr großzügig von ihm”, meinte er. „Und ich verstehe richtig, dass du an einer Zusammenarbeit interessiert bist? Dazu muss ich ein bisschen mehr wissen. Du weißt, meine Firma ist noch recht klein und unsere Kapazitäten daher begrenzt. Außerdem sitzen wir in Berlin.” „Ich weiß, ich habe mit Katja gesprochen.” Judy machte eine ungeduldige Geste. „Für die nächsten Monate seit ihr ja ohnehin mit Grypholion beschäftigt. Das passt mir aber ganz gut. Ich rechne damit, dass wir im Februar nächsten Jahres soweit sind, dass ihr einsteigen könntet. Wobei ich dir schon jetzt sagen kann, dass das vermutlich deine gesamten Kapazitäten aufbrauchen wird.” Kai nickte. Er verstand: Wenn er sich auf eine Zusammenarbeit mit Judy einließ, würde er keine weiteren Aufträge annehmen können, musste wahrscheinlich sogar Aufträge schieben, denen er schon halb zugesagt hatte, oder noch mehr Leute einstellen. Letzteres wäre, dank Judys Geld, sogar möglich. Mit diesem Auftrag könnte er die Firma signifikant vergrößern und bekannter machen. „Das klingt interessant”, sagte er vage. „Ich könnte mir vorstellen, in ein paar Wochen noch mal nach London zu kommen, damit wir uns etwas genauer darüber unterhalten können.” Judy räusperte sich. „Ich war noch nicht fertig”, sagte sie. Als Kai fragen die Augenbrauen hob, warf sie ihm einen beinahe mütterlichen Blick zu. „Die PPB hat weltweit mehrere tausend Mitarbeitende”, fuhr sie fort. „Allein in London werden wir wohl rund achthundert Leute haben. Wir wachsen ständig, wir verändern uns ständig. Das heißt, mit einem Mal Consulting ist es nicht getan. Ich will in-house eine Sustainable Management Abteilung aufbauen. Für Prüfungen, Schulungen, das ganze Programm.” Wieder sah sie ihn an, doch Kai sagte nichts. „Ich kann mir vorstellen, Phoenix Consulting zu kaufen”, sagte sie, und dieses Mal sprach sie schnell weiter, sobald der den Mund öffnete: „Das funktioniert nur, wenn du bei uns bleibst. Du würdest selbstverständlich einen adäquaten Titel bekommen und direkt an mich reporten. Natürlich müsstet ihr nach London kommen, remote bringt das gar nichts.” Kais Mund stand immer noch offen. „Judy, ich… weiß gerade nicht, was ich sagen soll.” „Ich weiß.” Danach klang es, ehrlich gesagt, überhaupt nicht. „Aber sieh es mal so: Es ist eine ziemlich gute Chance. Alle wissen, was mit deiner Familie passiert ist, Kai. Und du hast es verdient, wieder mit den großen Jungs zu spielen. Johnny und Ralf finden das auch, deswegen haben sie mich auf dich gebracht. Und ich habe deine Arbeit gesehen. Es würde gut passen.” „Judy, das klingt ja alles ganz toll”, sagte Kai endlich, „aber bedenke, dass die wenigsten meiner Leute einen deutschen Pass haben. Ich selbst habe ja nicht mal einen europäischen. Ist das wirklich so eine gute Idee, jetzt, mit dem Brexit?” „Gerade jetzt!”, entgegnete sie prompt. „Wir sollten das über die Bühne bringen, bevor die da oben sich für einen harten Brexit entscheiden. Und, ganz ehrlich, Kai… Ich weiß, Berlin gilt gerade als neuer Geheimtipp für Unternehmen. Aber siehst du darin wirklich eine Zukunft? So vieles wird gegründet, so vieles geht nach ein, zwei Jahren wieder ein. Die PPB ist ein US-amerikanisches Unternehmen, uns interessiert der Brexit nicht. Und im Gegensatz zu dem, was in Berlin passiert oder eben nicht, sind wir ziemlich standfest.” Weil er immer noch nicht wusste, was er sagen sollte, griff Kai nach dem Glas Wein, das er nach dem Sekt mit sich herumgetragen hatte, und leerte es in einem Zug. Er hörte Judy leise lachen, was beinahe das ungewöhnlichste Geräusch des ganzen Tages war. „Ich gebe dir meine Kontaktdaten”, sagte sie. „Und wir reden in den nächsten Tagen darüber. Aber warte nicht zu lange. Es gibt andere Firmen, die nur allzu gerne mit uns mergen würden.” Kai schaffte es, vage zu nicken, doch nicht mehr, denn in diesem Moment stand wie aus dem Nichts ein schon etwas angeheiterter Ralf vor ihnen. „Na meine Business-Turteltäubchen, plant ihr schon die Weltherrschaft? Was hab ich dir gesagt, Judy, Kai Hiwatari ist der Mann. Der Mann.” „Ich brauche mehr Wein…”, murmelte Judy und stand auf, wobei sie Ralfs Arm, der sich um ihre Schultern legen wollte, auswich. „Kai. Du hast meine Karte. Lass uns reden.” Und sie stöckelte davon, ehe er sich auch nur verabschieden konnte. Stattdessen nahm Ralf ihn nun in einen halbherzigen Schwitzkasten. „Was eine Frau”, sagte er. „Ich sag dir was, wenn Judy Tate dich will, dann wärst du blöd, das auszuschlagen. Oder?” „Ralf, ich … Ich weiß nicht?” „Hm?” Es schien nicht, als hätte der andere ihn wirklich gehört. Ralf zog ihn langsam in Richtung des Festsaales, und auf einmal wurde Kai bewusst, dass inzwischen Miguels Set begonnen hatte. In diesem Augenblick fühlte er sich komplett überfordert. „Geil!”, sagte Ralf laut, und Kai brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, dass er die Party meinte. Seine eigene Wortwahl zum Geschehen wäre wohl anders ausgefallen; er war den Anblick schwankend tanzender Menschen in Anzug und Cocktailkleid nicht mehr gewöhnt. Es war beinahe grotesk. Die Musik allerdings, so viel musste er Miguel lassen, war anständig. Die Turntables standen zu ihrer Linken, nicht komplett zentral aber prominent genug. Als Kai in Miguels Richtung sah, entdeckte er Mariam und Garland in der Menge. Die beiden schienen ihren Spaß zu haben. Ralf wollte sich ins Getümmel stürzen, doch Kai hielt ihn am Arm zurück. „Warte mal”, rief er, und dann, nach kurzem Zögern: „Das mit Judy ist echt auf eurem Mist gewachsen, oder?” „Schuldig im Sinne der Anklage!” Ralf schien ziemlich stolz auf sich zu sein. „Johnny musste nur ein paar Anrufe machen, um sie ranzukriegen. Gut, oder?” Kai überging die Frage. „Warum?”, sagte er stattdessen. „Warum? Weil du es verdient hast, Junge, darum!” Ralf breitete die Arme aus. „Jemand von deinem Kaliber kann doch nicht in Berlin versauern. Das ist deine Chance! Erst London, dann die Staaten, dann nach Dubai oder, was weiß ich, Tokio! Hong Kong! Das ist doch eher deine Schuhgröße.” Kai sagte nichts, und Ralf schlug ihm aufmunternd auf die Schulter. „Jetzt genieß erstmal den Abend. Das Geschäftliche hat jetzt ausnahmsweise mal Zeit bis morgen.” Jemand kam mit einem Tablett voller Weingläser vorbei. Ralf machte einen Schritt nach vorn und nahm zwei Gläser, von denen er eines gegen Kais leeres austauschte. Dann schubste er ihn halbherzig in Richtung Tanzfläche. Als Kai über seine Schulter zurückblickte, war Ralf schon wieder verschwunden. Ihm war nicht nach Feiern zumute. Ehrlich gesagt war ihm nach gar nichts. Der stetige Alkoholfluss hatte ihn bereits etwas beschwipst gemacht, was aber eine denkbar schlechte Kombination mit seinen rasenden Gedanken war. Kurzentschlossen zwängte er sich zwischen den Tanzenden hindurch, bis er einen Teil des Saales erreichte, der im Dunkeln lag. Dort fand er endlich ein freies Sofa, auf das er sich fallen ließ. Er zog sein Handy heraus und entsperrte den Bildschirm, während er an seinem Wein nippte. Sein Daumen wischte über das Display, öffnete den Chat mit Yuriy. „Ich vermisse dich”, schrieb er, dann schob er das Gerät wieder in die Tasche. Es brachte nichts, auf eine Antwort zu warten; Yuriy arbeitete, sein Handy lag bestimmt irgendwo backstage in seiner Tasche. Hätte er sich vor zwei Jahren über Judys Angebot gefreut? Vor einem? Kai erinnerte sich an eine Zeit, in der er Berlin liebend gern verlassen hätte. Doch das schien ihm sehr lang her zu sein. Und doch war noch etwas von diesem Kai übrig, der ständig über das Was wäre wenn nachdachte: Was wäre wenn er sich nicht von seinem Großvater abgewandt hätte? Er wäre schon längst in London. Oder Dubai. Oder Hong Kong. Dort, wohin er bis vor ein paar Jahren noch zu gehören glaubte. „Mr. Hiwatari? Ist alles in Ordnung?” Vor ihm stand Wyatt, einen sorgenvollen Ausdruck im Gesicht. Kai hob die Schultern. „Ja, alles in Ordnung. Was ist mit Ihnen, Mr. Smith? Gefällt es Ihnen nicht?” „Ich brauche eine Pause.” Mit einigem Abstand setzte Wyatt sich neben ihn. „Mariam und Garland, äh, ich meine Miss Shields und…” „Schon gut”, unterbrach Kai. „Vielleicht sollten wir auch zum Du übergehen.” Er hielt ihm die Hand hin. „Ich bin Kai.” „Oh!” Wyatts Finger waren klamm. „Wyatt, Si- Kai. Freut mich.” Für eine Sekunde schien er explodieren zu wollen, dann fing er sich wieder. „Was ich sagen wollte: Ich war eine Weile bei Mariam und Garland, aber die beiden haben mehr Ausdauer als ich.” „Das braucht dir nicht peinlich zu sein, die beiden sind Partytiere.” Darüber lachte Wyatt ein bisschen zu laut, aber das störte Kai in diesem Moment nicht. Die Ablenkung war ihm sehr willkommen. Es mochte ein wenig armselig wirken, wenn er in einem Saal voller interessanter Persönlichkeiten ausgerechnet seinen Praktikanten als Gesprächspartner auserkor, aber immerhin musste er so endlich nicht mehr über Business reden. Stattdessen fragte Wyatt ihn schüchtern, wie er Kontakt zur Berliner Partyszene geknüpft hatte und Kai erzählte bereitwillig von den letzten „wilden Jahren”. Wyatt war anzusehen, dass er nicht damit gerechnet hatte, heute derartige Anekdoten zu hören, seine Augen wurden immer größer. Und so bekamen sie beide nicht mit, wie Miguel sein Set irgendwann beendete und die Musik wieder wechselte. Erst als Mariam sie fand wurde Kai bewusst, wie viel Zeit vergangen sein musste. Es war schon nach Mitternacht. „Hier seid ihr!” Mariam wartete gar nicht erst eine Antwort ab, sondern packte sie beide. „Ralf hat gesagt, ich soll euch suchen, er macht eine kleine Afterhour in seiner Suite, aber psst!” „Oh Gott”, murmelte Kai und überlegte, ob er die Flucht zum Hotel antreten sollte, doch Mariam ließ ihn natürlich nicht davonkommen. Vielleicht war es auch besser so; er bezweifelte, schlafen zu können, wenn er es jetzt versuchte. „Du bist auch gemeint, Wyatt!”, sagte Mariam, da dieser etwas unschlüssig herumstand. Seine Augen wanderten zu Kai, der versucht war, eine irgendwie geartete Warnung auszusprechen. Denn jetzt würden sie zum hässlichen Teil der Nacht kommen. Er rückte etwas näher zu dem Jüngeren als sie Mariam zum hinteren Ausgang des Saales folgten, wo es zu den Hotelzimmern ging. Die meisten anderen Gäste machten sich in die entgegengesetzte Richtung auf, um die Veranstaltung zu verlassen, oder tanzten noch immer. „Wyatt, dir ist hoffentlich klar, dass alles, was in dieser Suite passiert, auch dort bleibt?!”, sagte Kai. „Das habe ich geahnt.” Er warf ihm einen ungewöhnlich selbstsicheren Blick zu. „Ich kenne Flatrate Partys, Kai.” Nun musste Kai doch schmunzeln. „Schön. Trotzdem noch eins - alles, was dort drin passiert, ist auch freiwillig. Du kannst jederzeit nein sagen oder einfach gehen. Das hat keine Konsequenzen.” „Ich verstehe. Danke.” Am Fahrstuhl trafen sie auf Garland, Johnny und zwei Frauen, die Kai nicht kannte. Sie zwängten sich allesamt in die Kabine und es wurde ziemlich laut, da niemand mehr nüchtern war. Garland fing Kais Blick auf und verdrehte grinsend die Augen. Dann erreichten sie das richtige Stockwerk, purzelten durch die Tür und taumelten zum Ende des Ganges. Ralf öffnete ihnen selbst und winkte sie mit großen Gesten hinein. Seit Kai ihn zum letzten Mal gesehen hatte, hatte er sich ziemlich abgeschossen. Die Suite hatte ein geräumiges Wohnzimmer mit einem Sofa und ein paar Sesseln, die allesamt belegt waren. Ein paar Leute saßen sogar schon auf dem weichen Teppich. Kai war etwas überrascht, Miguel unter ihnen zu sehen. Das Licht war gedimmt, hinter den großen Fenstern war es dunkel. Irgendwer, vielleicht sogar Miguel, hatte sein Handy mit der Anlage verbunden und eine Trance-Playlist gestartet. Auf der Küchenzeile reihten sich Wodkaflaschen. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, doch von Ralfs persönlichen Sachen war nichts zu sehen. Dafür sah Kai als er näher kam die unverkennbaren Überreste von Koks auf der Glasplatte des Beistelltisches. „Kommt her, wollt ihr auch was?”, fragte ein Typ in einem schreiend gemusterten Anzug (bei dessen Anblick Kai sich fragte warum er ihm den ganzen Abend über nicht aufgefallen war). Er lehnte mit einer Handbewegung ab, doch Johnny und seine Begleitung zwängten sich zwischen die Sitzenden. Irgendjemand schmiss eine neue Tüte mit weißem Pulver auf den Tisch. Die Partygesellschaft sog ihn ein. Jemand versorgte ihn mit Wodkashots, gegen die Kai sich irgendwann nicht mehr wehrte. Er landete schließlich doch auf dem Teppich, den Rücken ans Sofa gelehnt. Schräg hinter ihm saß Ralf. Wyatt und ein paar andere hatten begonnen zu tanzen, was aber nicht störte, da sie die großzügige Fläche zwischen Küche und der Sitzecke nutzten. Miguel und Garland hockten links von ihm und unterhielten sich. Kai wusste nicht, ob sie sich schon vorher persönlich kennengelernt hatten. Sie schienen sich zumindest heute gut zu verstehen. Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, warf Kai noch einen Blick auf sein Handy. Doch natürlich hatte sich nichts getan. Er spürte eine Bewegung hinter sich, dann bemerkte er, wie Ralf sich vom Sofa herunterrutschen ließ, sodass er neben ihm saß. Johnny, der den Platz neben Ralf belegt hatte, ließ sich mit einem theatralischen Seufzen zur Seite fallen und lag nun quer auf den Polstern. „Jetzt erzähl mal, Hiwatari”, sagte Ralf, der schon etwas lallte. Er sprach Deutsch, vielleicht, um vertraulicher zu wirken. Vielleicht merkte er es auch einfach nicht. „Was denn?” „Na du weißt schon. Was’n da los in deinem Liebesleben?” „Tja.” Der Alkohol machte seine Gedanken etwas schwer und seine Körpersprache verräterischer. Er konnte sein Grinsen nicht verhindern. „Ich habe endlich ein Liebesleben.” „Lass dir doch nicht alles… Wer ist dein Freund?” Sie sahen sich an. Es war lustig, Ralf so zu sehen. Der nüchterne Ralf war stoisch und korrekt. Betrunken war er einfach nur neugierig. „Du bist ihm schon begegnet”, fiel Kai ein. „Oder noch besser, du warst sogar dabei, als wir uns kennengelernt haben.” „Echt?!” „Ja. Weißt du noch, als Gianni uns Oli zum ersten Mal vorgestellt hat?” „Ach ja, das war doch in dem Club, wo er - nein warte. Sie?” Ralf runzelte die Stirn. „Oli? Auf Englisch they, auf Deutsch am besten gar nichts, einfach Oli”, half Kai. „Nicht Olivia?” „Einfach Oli.” „Oh. Okay.” Ralf hob die Schultern. „Also ich erinnere mich, dass Oli in diesem Club gearbeitet hat, und wir mit Gianni dorthin sind.” Kai brummte bestätigend. Ralf sah ihn fragend an, offenbar ließ sein Gedächtnis ihn im Stich. „Wir sind dort den DJs über den Weg gelaufen”, fuhr Kai fort. Ralfs Mund klappte auf. Seine Hand klopfte aufgeregt auf Kais Unterarm. „Ich erinnere mich! Da war dieser Typ, dem du so tief in die Augen geschaut hast! Gianni hat dann noch die ganze Zeit Witze darüber gemacht!” Er verzog den Mund, vielleicht anerkennend, vielleicht amüsiert. Dann schien ihm etwas einzufallen, denn er runzelte die Stirn. „Aber sag mal… das ist doch Jahre her!” „Ja, nun… das ist eine längere Geschichte.” „Offensichtlich.” Ralfs Blick wanderte nach unten zu Kais Hand, die immer noch sein Handy hielt. Er deutete auf das Gerät. „Ist er das?” Kai spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Hatte Ralf von der Couch aus etwa auf das Display sehen können, auf dem er, in einem Anflug von Sentimentalität, ein Foto von sich und Yuriy als Hintergrund eingestellt hatte? Er wusste, dass das unprofessionell war, doch normalerweise ließ er sich auch von niemandem aufs Handy blicken. Langsam hob er die Hand, entsperrte das Gerät, räusperte sich, und hielt es Ralf hin. „Ah”, sagte der nur, doch seine Augen blitzten, „Ich erinnere mich.” „Eyyy!” Das war Johnny, der den Kopf so auf die Couch gelegt hatte, dass er über Ralfs Schulter hinwegsehen konnte. „Das ist Kais Neuer?”, fragte er laut. „Heh. ‘n Rothaariger. Die sind gut, was?!” Ralf und Kai stöhnten gleichzeitig auf und Johnny drehte sich lachend auf die andere Seite. In diesem Moment fiel Kais Blick auf Garland und Miguel, die noch immer in der Nähe saßen und wohl von Johnnys Aussage aufgeschreckt worden waren. Garland grinste amüsiert über Kais pikierte Miene, doch Miguel senkte den Kopf und stand auf, um auf den Balkon zu gehen. Dort wurde er von ein paar anderen Leuten in ein Gespräch verwickelt. „Was ist mit ihm?”, fragte Ralf, der die ganze Szene wohl beobachtet hatte. „Oh, bitte frag mich nicht. Das ist ein ganz großes Fass.” Ralf breitete die Arme aus, wie um zu sagen „Wann, wenn nicht jetzt?”. Garland kam jetzt auch näher und angelte nach neuen Shots, die gerade jemand aufgefüllt hatte. Er drückte jedem von ihnen ein Glas in die Hand. Und so sah Kai sich gezwungen, die ganze Misere zwischen ihm und Miguel noch einmal zu erzählen. Garland zeigte dabei ähnliche Reaktionen wie Ralf, was wohl bedeutete, dass auch er noch nicht alle Details kannte. Aber die kannte sowieso kaum jemand. „Tja, und jetzt hasst Miguel mich. Und Yuriy hasst er sowieso”, sagte er abschließend. „Hmm.” Garland hatte die Stirn gerunzelt. Er lehnte sich zurück und stützte sich mit beiden Händen nach hinten ab. „Ich kann mich erinnern, dass Yuriy das mit dir und Miguel sauer aufgestoßen ist”, berichtete er. „Die beiden waren sowieso nie gute Freunde. Sie haben, glaube ich, immer so ein bisschen in Konkurrenz gestanden, weil ihre Musik in eine ähnliche Richtung geht. Da ging es wohl auch darum, wer von welchen Veranstaltern gebucht wird. Yuriy hat da manchmal so ein paar Sachen erzählt. Aber er schien sich darüber nie so viele Gedanken gemacht zu haben - bis zu dem Zeitpunkt, als Miguel überall rumerzählt hat, dass er was mit dir hat, Kai”, fügte er hinzu. „Das fand Yuriy nicht witzig. Gar nicht.” Dieser letzte Teil war auch neu für Kai. Ihm war nie bewusst gewesen, dass Miguel mit ihm vor anderen geprahlt hatte. Irgendwie war das unangenehm. Garland hob nur vielsagend die Augenbrauen. „Bei dir hat er sich sicher zurückgehalten. Das war jedenfalls auch der Moment, in dem mir klar wurde, von welcher Art Yuriys Gefühle für dich sind.” Er sah Ralf an und machte eine Geste, als würde er ihm ein kompliziertes Gerät erklären wollen. „Yuriy war einfach hart verschossen in Kai, und er hat’s wahrscheinlich nicht mal selber gemerkt.” Ralf nickte. „Respekt.” „Vielleicht hat er es auch nicht gemerkt, weil er zu sehr damit beschäftigt war, dich zu vögeln”, giftete Kai und bereute seine Worte augenblicklich. Ralf stieß ein Geräusch aus, als wäre er ein Zuschauer in einer Talkshow, doch Garland zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Möglich”, sagte er. „Was ist da los bei euch in Berlin?”, fragte Ralf belustigt. „So viel Klatsch hab ich seit der Schule nicht mehr gehört.” „Diese Stadt ist ein Sumpf”, stieß Kai genervt aus. Ihm war in den letzten Minuten klar geworden, mit wie viel lächerlichem Drama er sich neuerdings auseinandersetzten musste. Das konnte doch nicht sein. Ralf legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. Sein Griff war fest und Kai spürte die warmen Finger durch sein Hemd hindurch. „Komm halt nach London”, sagte er. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)