Blood Game von stone0902 (Cato x Clove) ================================================================================ Prolog: Bedürfnisse ------------------- [Tag 11] Er tötete ohne mit der Wimper zu zucken. Er tötete entschlossen und er tötete effektiv, als wäre es das einzige, wozu er fähig war. Manch einer würde glauben, er wäre eine Maschine, so gefühllos wie er war, rücksichtslos und blutrünstig, stets das Ziel vor Augen. Aber er war immer noch menschlich, woran ihn nicht letztendlich seine menschlichen Bedürfnisse erinnerten.   Gäbe es diese nicht zu befriedigen wäre alles viel einfacher.   Er kam aus einem wohlhabenden Distrikt. Er war es gewohnt die nötige Versorgung zu haben, die er brauchte, hatte nie so etwas wie Verhungern oder Erfrieren mitansehen oder gar selbst erleiden müssen, wie die Tribute aus den ärmeren Distrikten – und er wollte es auch nie kennenlernen. Und genau aus diesem Grund waren das nächste, was er sich gleich nach den Waffen im Füllhorn gesichert hatte, die Rücksäcke voller Nahrung und Wasser. Aber jetzt, ohne die Vorräte, ohne die überlebenswichtigen Nahrungs- und Wasserquellen, die irgend so ein verdammter Bastard gewagt hatte in die Luft zu jagen, waren seine Chancen auf den Sieg ein paar gewaltige Plätze nach unten gerutscht.   Oh ja, Cato würde noch herausfinden, wer dafür verantwortlich war und er würde denjenigen in Stücke reißen!   Die Bedürfnisse würden bald unerträglich werden, sobald die letzten Vorräte, die sich in den übrig gebliebenen Rucksäcken befanden, aufgebraucht waren. Wer wusste schon wie lange man sich auf die Bäche und Teiche verlassen konnte – vielleicht entschloss sich ein Spielemacher dazu die Wasserquellen austrocknen zu lassen, um den Zuschauern vor den Fernsehern und Leinwänden daheim spannendere Szenen aus der Arena zu bieten.   Letztendlich gäbe es sicher noch den ein oder anderen Sponsor, der ihm behilflich sein würde. Wer würde auch schon den stärksten Tribut verhungern oder an Dehydration sterben lassen? Nein, sie wollten ihn lebend sehen, damit er weiter kämpfte, damit er ihnen eine gute Show lieferte.   Das Bedürfnis nach Schlaf konnte er jede Nacht für einige Stunden stillen. Die Karrieros, die ein Bündnis geschlossen hatten, und sich, solange dieses Abkommen galt, vertrauten, hatten abwechselnd Nachtwache gehalten, sodass jeder zum Schlafen kam. Ein ausgeruhter Geist sowie Körper waren überlebenswichtig in der Arena. Was half es einem beim Kampf, wenn die Sinne, schlaftrunken und entkräftet, nicht mehr vernünftig funktionierten und man deswegen womöglich noch den Kopf verlor?   In der Nacht zündeten sie ein Feuer, damit sie sich nicht unterkühlten. Bisher hatten sie mit der Art und Beschaffenheit dieser Arena noch Glück gehabt; es war nicht zu kalt und auch nicht zu warm, sodass sie ein Feuer lediglich nachts benötigten, wenn selbst die Körperhitze reflektierenden Jacken nichts mehr brachten und das Bedürfnis nach Wärme aufkam – so wie auch in dieser Nacht. Es hätte auch schlimmer kommen können, wenn sie in einer Schneelandschaft oder in einer Wüste gelandet wären, so wie es schon bei früheren Hungerspielen vorgekommen war. Im Gegensatz zu den anderen übrig gebliebenen Tributen brauchten sie sich über das Feuer, das man auch noch aus weiter Entfernung würde sehen können, keine Gedanken machen. Jeder wusste, dass sie sich am Füllhorn aufhielten. Keiner von ihnen würde es auch nur wagen freiwillig in ihre Nähe zu kommen. Und wenn doch: Cato würde sie mit offenen Armen empfangen. Sollten sie ruhig herkommen. Es wäre eine dumme Idee … und ihre letzte.   Das Bedürfnis nach Schutz gab es im Augenblick nicht. Cato fühlte sich ziemlich sicher in seiner Haut. Was hatte er denn auch zu befürchten? Er vertraute seinen Verbündeten, soweit man jemandem vertrauen könnte, der sein eigener potentieller Mörder werden konnte. Aber seine Stärke und seine Fähigkeiten gaben ihm die Sicherheit. An ihn kam so schnell keiner ran und er war ein ernstzunehmender und furchterregender Gegner. Er war einer der Stärksten hier in der Arena. Wenn nicht sogar der Stärkste.   Momentan konnte er seine menschlichen Bedürfnisse noch besänftigen, fragte sich nur noch wie lange. Umso eher er diese Arena verließ, desto besser. Und seine Chancen standen gut: Nicht mehr viele Tribute waren übrig.   Insgesamt gab es nur noch sechs von den ehemals vierundzwanzig Auserwählten: der männliche Tribut aus 11, das Mädchen aus 5, die beiden aus 12 und dann noch sie, sie beide aus 2. Cato sah zu seiner Partnerin, Clove, dem Tribut aus seinem eigenen Distrikt, einer der drei letzten weiblichen Tribute in dieser Arena. Sie saß neben ihm am Feuer, Beine an den Körper gezogen, das Messer gedankenverloren in den Händen drehend, und starrte unentwegt in die Flammen, die auf ihrem Gesicht dunkle Schatten zum Tanzen brachten, als sähe sie dort etwas, was vor seinem Blick verborgen lag.   Sie konnten es hier gemeinsam raus schaffen.   Was für eine überaus unerwartete Wendung des Schicksals.   Catos Blick lag weiterhin auf ihr. Falls sie es bemerkt haben sollte ließ sie es sich nicht anmerken. Seine Augen studierten ihr Gesicht, angefangen bei den grünbraunen Augen und den von Sommersprossen besetzten Wangen und der Nase, bis hin zu den schmalen Lippen und dem Kinn, bis sein Blick ungeniert über ihren Körper wanderte, der durch die einheitliche Uniform, die jedem Tribut zugeteilt worden war, weitestgehend verborgen blieb.   Ein weiteres menschliches Bedürfnis vernebelte ihm schon seit einigen Tagen die Sinne, ein Bedürfnis, welches er nicht erwartet hatte in dieser Arena bekämpfen zu müssen. Darauf hatte ihn sein Mentor nicht vorbereitet. Es handelte sich um ein Bedürfnis, welches er unmöglich stillen konnte, aber in mancher Nacht mit jeder Faser seines Körpers befriedigen wollte:   Lust. Kapitel 1: Verbündete --------------------- [Tag 10] Cato zog sein Shirt aus.   „Was machst du da?“, fragte Clove verdutzt und bemerkte erst zu spät, dass ihr Mund dämlich offen stand.   „Ich werde mich waschen. Wir sind schon ein paar Tage hier, falls es dir nicht aufgefallen ist.“ Er sah sie abschätzend an und rümpfte die Nase. „Du solltest es vielleicht auch einmal in Erwägung ziehen.“   „Tze, nicht wenn du dabei bist, Idiot!“   Er zuckte mit den Achseln.   „Hier.“ Sie drückte ihm die drei leeren Flaschen in die Hand und wandte sich ab. „Füll die auf, bevor du den See mit deinem ekligen Schweiß verschmutzt.“   Clove beobachtete wie er sich an den Rand des Sees hockte, die drei Flaschen nacheinander mit Wasser füllte und verschloss, sie ihr eins nach dem anderen zuwarf, woraufhin sie sie gezielt auffing und in ihrem Rucksack verstaute. Sie wusste, dass es teilweise auch Show war, die er da gerade ablieferte. Warum nicht seinen makellosen, muskulösen Körper zeigen, wenn es in Panem ein paar reiche Frauen gab, die ihm Sponsorengeschenke machen konnten?   Denn das, was sie sah, war mehr als ansprechend. Das musste sie zugeben.   Im Augenblick waren sie nur zu zweit. Marvel wollte alleine nach den anderen Tributen suchen gehen. Es war offensichtlich, dass er nur von Cato wegkommen wollte. Nachdem er mit ansehen musste wie Cato in einem Wutausbruch den Jungen aus Distrikt 3 getötet hatte konnte man es ihm nicht verübeln.   Wie viele waren jetzt schon tot? Sechzehn? Das bedeutete, es waren nur noch acht übrig. Sieben weitere zum Töten. Zwei Drittel waren geschafft.   Und es gab einige Gesichter unter ihnen, die sie schon längst als Projektion am Himmel erwartet hätte.   Nur noch drei Karrieros waren letztendlich übrig. Glimmer und 4 hatte es sehr schnell dahingerafft. 12 hatte sie hintergangen und war, nachdem was Cato ihm zum Dank dafür verabreicht hatte, wahrscheinlich schon so gut wie tot.   Glimmers Tod. Was Clove spürte war Erleichterung. Nicht die Erleichterung, dass es ein Tribut weniger auf dem langen, blutigen Wege zum Sieg gab, sondern wegen etwas anderem. Sie hatte Glimmer nicht gemocht – ihre Art, ihr Benehmen und ihr Verhalten, vor allem in Gegenwart ihres Distriktpartners.   Arme, hübsche Glimmer. Selbst Schuld, wenn sie nicht schnell genug war, den Jägerwespen zu entkommen. Ihr hübsches Gesicht war letztendlich wohl kaum noch zu identifizieren gewesen.   Früher oder später hätte es sie eh treffen müssen.   So wie alle anderen auch.   Und der Blick wanderte wieder zu Cato. Letztendlich würde auch er sterben müssen, damit sie lebend die Arena verlassen konnte. Also warum zögern? Sie könnte es jetzt und hier tun.   Sofort.   Clove liebte und sie hasste es gleichermaßen. Jeden Tag, den sie ihn länger kannte, wurde es schwieriger, ihn nicht als Feind zu betrachten. Eine Bindung baute sich auf und sie musste aufpassen, dass das Band zwischen ihnen nicht zu stark wurde. Womit konnte man ein Band also besser durchschneiden, als mit einem Messer?   Er stand am Fluss, nutzte die Gelegenheit und wusch sich, oberkörperfrei. Die Muskeln seines Rückens bewegten sich bei jeder Bewegung, einzelne Wassertropfen glänzten im Sonnenlicht, sowie sein nasses Haar, dass die blonden Strähnen dunkler erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit waren.   Cato stand mit dem Rücken zu ihr, ungeschützt, keine Waffe in Reichweite, aber Clove wusste, dass er keine Waffe brauchte, um sie zu töten. Dafür reichten seine bloßen Hände. Und er würde nicht zögern, sie zu töten, um selbst als Sieger aus diesen Spielen hervorzugehen, genauso wenig, wie sie zögern würde.   Früher oder später musste einer von ihnen sterben.   Cloves Hand wanderte nach hinten zu ihrem Hosenbund. Sie zog das Messer, das an ihrem Gürtel steckte, langsam hervor. Sie musste schnell sein.   Es war nicht ihr erster Mord und würde auch nicht ihr letzter sein.   Clove traf jedes Ziel.   Aber das Glück war nicht mit ihr.   Genau in dem Moment, in dem sie das Messer warf, drehte Cato sich um, wich dem Messer reflexartig aus, indem er sich zur Seite beugte. Er reagierte sofort, griff sie an, mit seiner einzigen Waffe zum Angriff bereit. Clove zog bereits das zweite Messer, als Cato ihren rechten Arm packte, sie zu Boden warf, wobei sie schmerzhaft aufkeuchte und alle Luft aus ihren Lungen gepresst wurde, und mit der freien Hand, zur Faust geballt bereits zum tödlichen Schlag ausholte.   Die Messerspitze befand sich an seinem Hals und nur mit aller Mühe konnte er sie daran hindern ihm die Kehle aufzuschlitzen wie ein Schwein, das man zum Schlachten brachte und ausbluten ließ. Sie war offenbar stärker, als er dachte, auch wenn sie beide Hände brauchte. Nur mit Mühe konnte er die tödliche Waffe davon abhalten ihn zu töten.   Mit all seinem Gewicht lag er auf ihr, sorgte somit dafür, dass sie sich nicht rühren konnte. Sie war so zart und zerbrechlich unter ihm. Clove versuchte sich freizustrampeln, aber gegen sein Gewicht war es hoffnungslos. Sie schnappte bereits nach Luft, da sein Gewicht dafür sorgte, dass ihre Lungen sich nicht ausdehnen konnten, um den benötigten Sauerstoff aufzunehmen. Aus seinem nassen Haar tropften kalte Wasserperlen auf ihr Gesicht herab.   Wenn er zuschlug würde er sicher ihren Schädel zertrümmern. Cato war ungeheuer kräftig. Aber er tat nichts, starrte sie nur an, Zähne zusammengebissen, Körper angespannt. Bereit zum Töten, aber er tat es nicht.    Lange würde sie ihm nicht mehr standhalten können.   Es war von Anfang an klar gewesen, dass zumindest einer von ihnen sterben würde.   „Was soll das, verdammt?“, knurrte er.   „War das nicht eindeutig? Ich habe versucht dich zu töten, Idiot! Geh runter von mir!“   Der Schmerz in seinen Augen – er war nur kurz aufgeflackert, aber er war da gewesen – hatte in Clove etwas gerührt. War es Reue? Nein, Clove empfand nie Reue.   Purer Zorn stand in seinem Gesicht geschrieben. „Wir sind Verbündete, Clove!“   Ein trockenes Lachen entwich ihrer Kehle. „Dieses Bündnis ist nicht von langer Dauer. Deine Worte.“   Oh ja, sie erinnerte sich noch genau an seine Worte, an die ersten, die sie jemals miteinander gewechselt hatten.   Es war während der Ernte gewesen. Sie beide hatten sich freiwillig gemeldet, bestiegen die Bühne und ernteten von den Personen ihres Distrikts anerkennenden und erwartungsvollen Applaus. Sie beide gaben sich die Hand. Die erste Berührung, die sie miteinander ausgetauscht hatten. Beide hatten sich fest in die Augen gesehen. In keinen von beiden zeigten sich Furcht oder gar Besorgnis. Sie respektierten aneinander, denn beim Training im Distrikt hatten sie sich bereits flüchtig kennengelernt. Sie erkannten die Stärken des anderen an, aber sie wussten genauso gut über ihre eigenen Stärken Bescheid, sodass der Gedanke am eigenen Scheitern niemals in den Sinn kam.   „Ich werde dich töten“, hatte Cato damals gesagt ohne mit der Wimper zu zucken. Und Clove wusste, dass er es ernst meinte.   Mit gespielter unschuldiger Miene und einem unterdrückten gefährlichen Lächeln sah sie ihn an. „Aber wir sind doch Verbündete.“   „Dieses Bündnis ist nicht von langer Dauer.“   Früher oder später hätten sie sich ohnehin gegenseitig umbringen müssen, ob sie wollten oder nicht. Nur hatte sie sich selbst immer als Sieger aus diesen Spielen hervorgehen sehen. Aber dieser Position nach zu urteilen war er nun im Vorteil.   „Worauf wartest du noch?“, fauchte Clove ungeduldig. „Tu es endlich!“   Als Cato die Hand, die das Messer hielt, einfach beiseiteschob, ließ sie es geschehen; ob er mehr Kraft aufwand oder sie einfach nachgab, wusste sie nicht. Er griff ihre Handgelenke und pinnte sie über ihrem Kopf ins Gras. Sein Griff war so fest, dass sie vor Schmerzen aufkeuchte und ihr Tränen in die Augen schossen. Die Hand, die ihre Handgelenke umklammert hielt, schaffte es irgendwie an das Messer zu kommen und es aus ihrer Hand zu lösen. Er warf es außer Reichweite.   Cato beugte sich zu ihr hinab, streifte mit seinen Lippen zuerst ihren Hals, dann ihr Ohr und flüsterte: „Ohne deine Messer bist du nichts.“   Er überwand den restlichen Abstand zwischen ihnen beiden und küsste sie. Seine Lippen pressten sich hart gegen ihre, nahmen sie besitzergreifend ein. Gierig und ungestüm trafen ihre Lippen aufeinander.   Während seine linke Hand ihre beiden Handgelenke festhielt fuhr seine rechte an ihrer Seite hinab und schlüpfte schließlich unter ihr Shirt. Ein gedämpftes Keuchen entfuhr Clove, als sie seine Finger auf ihrer nackten Haut spürte, die über Bauch und Brüste strichen. Sie wollte protestieren, schreien, ihn verfluchen, aber er drückte seine Lippen so hart gegen ihre, dass es unmöglich war ein Wort herauszubringen. Er hielt ihren Mund so fest verschlossen, dass sie erstickt wäre, hätte sie nicht durch die Nase atmen können.   Er wagte es sie anzufassen! Sie würde ihn umbringen! Ja, sie wollte ihn umbringen, für das, was er sich erlaubte.   Seine Hände gingen auf Wanderschaft, erkundeten ihren Oberkörper, bis sie fanden, was sie suchten: Als Cato seine Hand zurückzog hielt er ein kleines Messer in der Hand, welches im BH zwischen ihren Brüsten versteckt gewesen war. Er warf es außer Reichweite.   Seine Lippen lösten sich von ihren. Er atmete schwer. Ihre Augen hingen an seinen Lippen, unerwartet sanfte Lippen vom Küssen leicht geschwollen. Ihre Münder nur durch wenige Zentimeter getrennt, spürte sie seinen heißen Atem ihre Haut streifen.   „Nummer drei.“   Clove sah ihn argwöhnisch an, ob dieser seltsamen Aussage. Sie hatte eine ungute Befürchtung.   „Wo ist das Letzte?“, fragte er. Als Clove nicht antwortete, fragte er, diesmal drängender, ungeduldiger: „Du trägst immer vier Messer bei dir. Wo. Ist. Das. Letzte?“   Cloves Augen weiteten sich leicht vor Unglauben. Woher verdammt noch mal wusste er das? Insgesamt vier Messer befanden sich immer an ihrem Körper. Ihre Messer waren ihre Absicherung, ihr Rückhalt. Sie hatte nie jemandem gezeigt, wie viele Messer sie zur Verteidigung versteckt hatte, nicht einmal Enobaria wusste das. Das erste, das an ihrem Hosenbund befestigt war, hatte sie nach ihm geworfen, zwei weitere hatte er ihr jetzt schon abgenommen und das letzte steckte in ihrem rechten Stiefel. Allerdings hatte sie keine Hand mehr frei, um danach greifen zu können, selbst wenn sie gewollt hätte. Die anderen Messer befanden sich alle in ihrer Jacke und die lag gut drei Meter entfernt neben ihren beiden Rücksäcken.   „Sagst du es mir freiwillig oder muss ich selbst auf die Suche gehen?“, fragte er mit einem anzüglichen Grinsen, aber Clove antwortete nicht. Sie würde ihm sicher nicht verraten, wo ihre letzte Möglichkeit verborgen lag, mit der sie sich gegen ihn wehren konnte.   Clove reckte ihren Kopf, sah ihn herausfordernd an, biss sich leicht auf die Unterlippe. „Wag es nicht noch einmal mich anzufassen, du Bastard!“   „Ich will dich nicht töten, Clove. Wirklich nicht.“ Sein Grinsen war verschwunden, er meinte es ernst und ein Teil von ihr glaubte ihm sogar. „Aber du machst es mir nicht gerade einfach“, fügte er verärgert hinzu, verstärkte erneut den Druck um ihre Handgelenke. „Wir sind doch Verbündete. Du brauchst mich.“   Clove schnaubte. Aber Cato legte den Kopf schief, sah sie fragend an und stellte dann die Frage, mit der er einen wunden Punkt traf. „Wie glaubst du, willst du 11 besiegen, wenn ich nicht mehr bin, hm? Mit deinen kleinen Messern? Ich bin sicher, die würden ihn bloß kitzeln.“   „Ich schlitze ihm damit den Hals auf! Ich brauch dich dafür nicht“, konterte Clove, aber er hatte Recht. Der männliche Tribut aus 11 war abgesehen von Cato ihr stärkster Feind. Von Anfang an hatten die Karrieros ihn als Bedrohung erkannt, hatten deshalb auch versucht ihn für die Allianz anzuwerben, doch er hatte abgelehnt. Mit ihm zu kämpfen würde sicher nicht so einfach werden, wie mit den Kindern, mit denen sie es bisher zu tun hatten.   Aber sie konnte es schaffen!   Cato sah sie an, beinahe mitleidsvoll, als erkannte er die Lüge, in die sie ihn und sich selbst einzuwickeln versuchte.   „Und was hast du von unserem Bündnis? Warum es auf später verschieben, wenn einer von uns eh sterben muss? Was willst du von mir?“   Sie versuchte seine Absichten in seinen Augen zu lesen, irgendwelche versteckten Hintergedanken, aber sie sah nur aufrichtige Gefühle in ihnen. Stimmte es wirklich? Kümmerte er sich einfach um sie, um die Allianz? War ihm Glimmers Tod deshalb nicht egal gewesen? Waren sie ihm nicht egal? Glimmer, Marvel? Sie? War der blutrünstige Karrieretribut, der jeden niedermetzelte, der ihm im Weg stand, tatsächlich loyal gegenüber seinen Verbündeten, obwohl er wusste, dass es letztendlich doch nur einen Überlebenden geben würde?   Einige Sekunden lang sah Cato sie nur an, ohne eine Antwort. Seine Augen waren leicht verengt und er sah aus, als würde er etwas entscheiden wollen, bis seine Augen zu ihren Lippen wanderten. Seine Hand legte er an ihre Wange, streifte mit dem Daumen über die zarte Haut.   Er beugte sich zu ihr hinunter.   „Wenn du noch einmal versuchst mich umzubringen werde ich dich töten“, wisperte er.   Als Cato sie erneut küsste, was es viel sanfter, liebevoller, als hätten sie nun alle Zeit der Welt, als wollten sie jede Sekunde des süßen Glücks auskosten.   Seine Sanftheit kam so unerwartet … sodass sie sich nach und nach unter ihm entspannte und schließlich seine Küsse erwiderte.   Er ließ ihre Handgelenke frei.   Als Cloves Hände endlich frei waren, tat sie mit ihnen das erstbeste, was ihr einfiel: Sie legte sie um seinen Nacken, fuhr mit den Fingern durch das blonde Haar und zog ihn zu einem weiteren Kuss an sich heran, hungrig nach mehr.   Er lag zwischen ihren Beinen, umfasste ihr angewinkeltes Bein und drängte sich ihr deutlich entgegen. Sie keuchte auf.   Seine Hand wanderte ihr Bein hinab, zu ihrem Stiefel. Mit zwei Fingern griff er in ihn hinein und zog ein kleines Messer heraus.   Sie spürte ihn gegen ihre Lippen grinsen, bevor er sagte: „Nummer vier.“   Auch dieses Messer warf er beiseite.   Was tat er denn da? Nun war sie völlig schutzlos. Was, wenn sie jemand angriff? Wenn jetzt ein anderer Tribut auftauchte hätte er wohl das Überraschungsmoment auf seiner Seite.   Aber so schnell dieser Gedanke gekommen war, so schnell war er auch schon wieder verschwunden.   Seine Lippen wanderten ihren Hals entlang, benetzten die Haut mit Küssen, während seine Hand erneut unter ihr Shirt wanderte. Clove ließ all dies geschehen und genoss die Zärtlichkeiten, etwas, was sie Cato nie zugetraut hätte. Sie hatte sich einiges ausgemalt – wie sich seine Hände um ihre schlanke Kehle legten und ihr die Luftzufuhr abschnürten oder wie seine Hände ihren Kopf umfassten und er ihr das Genick brach, so wie bei dem Jungen aus Distrikt 3. So einiges hätte sie ihm zugetraut, aber nicht, dass seine Hände, seine Berührungen, sie liebkosen würden, sie erregen würden und die Haut, dort, wo er sie berührte, zum Brennen brachten. Ihre Atmung glich bald schon einem Keuchen, welches er mit seinen Lippen zum Schweigen brachte.   Ihre Hände wanderten hinab, über seinen Hals zum Brustkorb, fuhren über die erhitzte Haut, über die angespannten Muskeln. Seine Haut war sanft und blank, dafür hatten die Stylisten im Kapitol gesorgt, doch darunter spannten sich die stählernen Muskeln. Endlich konnte sie ihn berühren. Wie lange schon, hatte sie diesen Mann gesehen und sich gewünscht diesen umwerfenden, durchtrainierten Körper berühren zu dürfen? Die Realität übertraf all ihre Erwartungen.   Seine Hände machten Anstalten ihr Shirt hochzuschieben, entblößten ihren Bauch und nackte Haut traf aufeinander. Diese Berührung war nicht gerade sanft und doch war das Gefühl alles andere als unangenehm. Nur ganz schwach im Hinterkopf verbarg sich die Gewissheit, dass nichts in der Arena den Kameras verborgen blieb und womöglich gerade ganz Panem Zeuge wurde, von dem, was sie selbst nicht einmal benennen konnte.   Die Küsse wurden inniger, gieriger und ungehaltener. Wenn sie gekonnt hätten, hätten sie wohl niemals aufgehört sich einander hinzugeben. In diesem Augenblick waren sie keine emotionslosen Killermaschinen, denn diese konnten wohl kaum solche intensiven Emotionen empfinden. Zwei Jugendliche, die sich eigentlich bis zum Tod bekämpfen sollten und sich stattdessen voneinander angezogen fühlten. Für diesen Moment war alles andere vergessen, es gab nur noch den anderen, keine tödlichen Spiele, keine Tribute, keine Spielemacher, kein Kämpfen und Überleben. Nur noch das Fühlen, das sie immer noch menschlich, dass sie immer noch lebendig waren.   Erst das Geräusch der Kanone brachte sie dazu voneinander abzulassen. Kapitel 2: Wünsche ------------------ [Tag 3] „Ich stinke!“ Cato hob seinen Arm, schnüffelte geräuschvoll unter seinen Achseln und verzog das Gesicht. Auf seinem T-Shirt hatten sich bereits dunkle Schweißflecken gebildet.   Clove warf ihm einen angewiderten Blick zu. Naserümpfend sagte sie: „Danke, für diese überaus nützliche Information.“   Ihr Distriktpartner warf ihr einen genervten Blick zu. „Darauf bereitet einen niemand vor: der Geruch. Das übertragen die Fernseher nicht!“, schimpfte er, während er sich einen der Rucksäcke voller Vorräte schnappte und schlecht gelaunt darin wühlte.   Es war erst der dritte Tag und die Laune der Karrieros glich der einer Schulklasse, der man soeben verkündet hatte, dass sie einen unangekündigten Test schreiben würden. Das anfängliche Gemetzel nach Betreten der Arena war der bisherige Höhepunkt und seitdem hatten sie nur einen weiteren Tribut ausfindig machen können. Sie suchten nach den Übriggebliebenen – es gab noch genug, denn schließlich war erst die Hälfte der Tribute tot –, doch ihre Bemühungen blieben erfolglos.   Langsam wurde es langweilig.   Cato setzte sich ins Gras neben Clove, die ihre Messer polierte. Ihnen gegenüber saßen Marvel und Glimmer im Schatten des Füllhorns, während Loverboy, das Mädchen aus Distrikt 4 und der Junge aus Distrikt 3 einige Meter entfernt standen. Die beiden Jungs, die jeweils nur durch einen glücklichen Zufall zu ihrer Allianz gestoßen waren, blieben stets in sicherer Entfernung, doch immer nah genug, dass die Karrieros sie im Auge behalten konnten. Von ihrer Pause, die sie am Füllhorn verbrachten, um etwas zu essen und sich ein wenig zu stärken, war bereits die Hälfte vorüber. Glimmer knabberte genüsslich an einem Cracker und Marvel packte gerade ein Sandwich aus. Wasser trugen sie immer mehr als genug bei sich, sicher in ihren Rucksäcken verstaut, doch das Essen ließen sie am Füllhorn zurück.   Die Sonne schien hell am wolkenlosen Himmel. In der Arena war es angenehm warm – zu warm, um die Jacken zu tragen. Ihre letzte Dusche lag nun Tage zurück und auch wenn es Bäche und Seen gab, an denen man sich waschen konnte, war das nichts im Vergleich zu den luxuriösen Bädern, die sie im Kapitol nutzen durften, voll ausgerüstet mit duftenden Seifen, flauschigen Handtüchern und warmem Wasser.   Clove musterte ihren Distriktpartner, der nun so nahe neben ihr saß, dass sich ihre Ellenbogen beinahe berührten. „Du stinkst tatsächlich.“   Als Antwort schnitt er ihr eine Grimasse, ging aber nicht weiter darauf ein. Aus dem Rucksack zog er eine Konservendose mit Fertigfraß. Mit verengten Augen las er das Etikett. „Igitt!“, rief er und warf die Dose so weit er konnte davon. „Kein Wunder, dass sie es Hungerspiele nennen. Was gäbe ich jetzt nicht für ein schönes Stück Steak“, seufzte er und Clove rollte mit den Augen.   Ihr Blick lag weiterhin auf ihren Messern, als sie voller Ironie sprach. „Vielleicht hast du ja Glück und ein Sponsor schickt dir ein Steak.“   Cato lief schon allein bei dem Gedanken daran das Wasser im Munde zusammen. Hier am Füllhorn hatten die Karrieros rechtzeitig dafür gesorgt sich die Vorräte zu sichern, sodass sie weder Hunger noch Durst würden leiden müssen. Doch der Fraß aus dem Kapitol gefiel ihm überhaupt nicht. Es schmeckte alles so künstlich. Es stillte zwar den Hunger, aber es war kein Genuss, es zu verspeisen. Nichts im Vergleich zu dem Essen, das er aus seiner Heimat kannte.   „Oh ja“, grinste Cato. „Dann sollen sie aber auch gleich Deospray mitschicken.“   Die beiden Tribute aus Distrikt 2 sahen sich eine Sekunde lang an, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. Marvel und Glimmer tauschten einen Blick und sie schienen beide das gleiche zu denken:   Diese beiden sind nicht ganz dicht.   „Dann möchte ich Shampoo“, schmunzelte Clove, als sie das Messer in die Luft hielt und den Schein der Sonne darin beobachtete, dessen Reflexion ein helles Muster auf ihr Gesicht warf.   Cato wandte sein Gesicht gen Himmel. „Habt ihr gehört, Sponsoren? Wir brauchen Deo und Shampoo!“   „Und ein Steak“, erinnerte ihn Clove.   „Ach ja, und ein Steak! Englisch, wenn’s geht!“   Die zwei fingen wieder an boshaft zu lachen. Marvel schüttelte nur den Kopf und Glimmer schaute sie an, als befände sie sich in Angesicht einer schwierigen Mathematikaufgabe, die sie nicht verstand. Diese beiden Hohlköpfe aus Distrikt 2 besaßen wirklich einen ziemlich schwarzen Humor. Sie machten sich lustig über die Sponsorengeschenke, die eigentlich dazu dienten, verhungernden oder verletzten Tributen mit einem Geschenk eventuell das Überleben zu sichern. Während in diesem Moment vielleicht ein Junge oder ein Mädchen dringend auf einen mitfühlenden Sponsor angewiesen war und mit dem Tod rang, verlangten diese zwei nach Hygieneartikeln.   Cato war ihr kritisierender Blick nicht entgangen. „Was würdest du dir wünschen, Glimmer?“ Er legte den Kopf leicht schief und sah sie fragend an. Dabei lehnte er sich nach hinten und stützte sich mit den Ellenbogen im Gras ab, den Rucksack zwischen seinen Beinen. Clove steckte ihr Messer in ihren Gürtel und Marvel gab weiterhin vor die Umgebung zu beobachten, während er sein Sandwich aß. Dieses Gespräch war offenbar unter seiner Würde. „Du kommst aus dem Distrikt der Luxusgüter. Diese Arena hier“, sagte Cato, der mit einer Armbewegung ausholte, um auf die Umgebung zu deuten, „muss dir vorkommen wie das letzte Drecksloch.“   Distrikt 2 stand zwar nicht für Luxus, sondern nur für die Maurer und Steinmetze, aber ihr Distrikt war alles andere als arm. Er kam direkt nach Distrikt 1, war nahe am Kapitol dran und so gut aufgestellt, dass es den Bewohnern nie an etwas mangelte. Weshalb die Tribute, die aus ihm zu den Spielen geschickt wurden, immer groß, wohl genährt und gut trainiert waren. Sie lebten zwar nicht im Überfluss, aber sie kannten auch keinen Hunger oder Geldnot.   Für einen Moment wirkte es, als würde Glimmer nicht darauf antworten wollen. Doch dann fuhr sie sich mit der Zunge über ihre Zähne, die sich anfühlten, als wäre ihre Oberfläche aus sanftem Schmirgelpapier. „Eine Zahnbürste“, erklärte sie trocken. Neben ihr nickte Marvel mitfühlend. Hätte sie gewusst, was sie erwartete, hätte sie statt des Rings vielleicht eine Zahnbürste als Andenken mitnehmen sollen. Die wäre wenigstens nützlich gewesen. Dann hätte sie jetzt einen frischen nach Minze duftenden Atem und keinen Ring, der irgendwo im Kapitol lag, da man ihn ihr ungerechterweise abgenommen hatte. Nach einem Moment verzogen sich ihre Lippen zu einem sehnsüchtigen Lächeln und sie hauchte nostalgisch: „Und meinen roten Lippenstift.“   Cato zog eine Augenbraue hoch und er wechselte einen Blick mit Marvel. Sie beide dachten das gleiche:   Weiber.   „Was willst du in der Arena mit einem roten Lippenstift?“, fragte Clove, die Augen abschätzig verengt.   Glimmer reckte das Kinn, warf sich die blonden Locken über die Schulter und strahlte ihr schönstes Lächeln. „Gut aussehen, natürlich. Für unsere Zuschauer.“   Vor ihrem inneren Auge sah sie ihr eigenes Spiegelbild, wie sie sich darin betrachtete, mit schwungvollen dichten Wimpern, einem Hauch Rouge auf den Wangen und blutroten Lippen, mit denen sie einen Kussmund formte. Kein Junge, kein Mann, konnte in ihrem Distrikt diesen verführerischen Lippen widerstehen. Als sie in die Realität zurückkehrte und ihren Blick über die anwesenden männlichen Tribute prüfend schweifen ließ, überwog sie kurz, wen von ihnen sie wohl am liebsten küssen würde: Marvel, ihr arroganter aber disziplinierter Distriktpartner; Cato, der charmante aber brutale Killer, Loverboy, der uninteressante, aber entschlossene Romantiker; oder Distrikt 3, der weinerliche aber geschickte Niemand?   Gedankenverloren fuhr sie sich mit der Zunge über ihre oberen Vorderzähne und wurde dadurch wieder daran erinnert, dass sie seit drei Tagen keine Zähne geputzt hatte. Und das betraf schließlich nicht nur sie, sondern auch die anderen Tribute. Sie schnaubte. Unter diesen Umständen würde sie ganz sicher niemanden küssen!   Cato richtete sich wieder auf wühlte erneut in dem Rucksack. Diesmal holte er einen grün-glänzenden Apfel hervor. Innerlich stöhnte er. Was sollte er denn damit? Er war ein Mann, verdammt, er wollte etwas Vernünftiges essen! Keinen beschissenen Apfel!   „Hier, für dich“, sagte er und warf das Obst Glimmer zu, die es gekonnt mit einer Hand auffing. Sie zwinkerte und biss lächelnd in den Apfel hinein. Von ihrem Flirten ganz abgelenkt vergaß Cato, weiter nach etwas Essbaren zu suchen. Er grinste dämlich zurück, bis er den Blick seiner Distriktpartnerin auf sich ruhen spürte. Als er sich zu ihr umdrehte, starrte sie ihn finster an.   „Was denn?“, fragte er, sich keiner Schuld bewusst.   Sie antwortete nicht. Ihr Blick wurde noch finsterer, als würde sie ihm telepathisch versuchen etwas mitzuteilen. Aber konnte Cato keine Gedanken lesen.   Offensichtlich ging es hier um den Apfel. „Wolltest du ihn haben?“, fragte er verwirrt.   Clove schnaubte, wandte sich von ihm ab und zeigte ihm nun die kalte Schulter.   Marvel aß das letzte Stück von seinem Sandwich und wischte sich dann die Hände an seiner Hose ab. Dieses bescheidene Mahl war … okay gewesen. Auch er war Besseres gewohnt. Insgeheim stimmte er seinem Verbündeten zu, was er jedoch niemals laut zugeben würde. Er gab sich zwar mit den beiden aus Distrikt 2 ab, aber sie würden nie auf Augenhöhe sein. Zwischen ihnen gab es so viele Unterschiede. Er und Glimmer kamen aus Distrikt 1, dem besten Distrikt von allen. Es gehörte schon beinahe zum Kapitol. Sein Ego litt bereits darunter, dass man ihn mit den Fischern, den Landwirten und den Kohlearbeitern auf eine Stufe stellte. Das waren Hinterwäldler! Das Kapitol war für sie eine andere Welt. Vermutlich benutzten einige von ihnen das erste Mal Messer und Gabel beim Essen. Diese armen Kinder umzubringen wäre ein Akt der Gnade. Keiner von ihnen sollte zurück in den Distrikt, in dem das Überleben so ungeheuer schwerfiel.   Das Leben in dieser Arena war grenzwertig. Zum Glück hatte Marvel sich bereits jahrelang darauf vorbereitet: im Freien schlafen, bei Hitze und Kälte trainieren und viele andere wichtige Situationen üben und in ihnen ausharren, um das Überleben zu sichern. Mit den Waffen konnte er mehr als gut umgehen, jedoch wusste er aus den bisherigen Spielen, dass es nicht nur darauf ankam, wie gut man töten konnte. Die Spielemacher waren unberechenbar.   Umso eher er aus dieser unzivilisierten Arena herauskam, desto besser. Er sehnte sich bereits nach seinem Bett, seinen stylischen Klamotten und das Feiern mit seinen Jungs.   Und die Mädchen …   Oh man, all die hübschen Mädchen …   Wenn er als Sieger in seinen Distrikt zurückkehrte würden sie ihm alle zu Füßen liegen.   Marvels Augen blickten kurz zu der blonden Schönheit neben ihm, wie sie genüsslich in ihren Apfel biss, wobei ihr der Saft über die Lippen lief. Langsam leckte sie mit der Zunge darüber, und sah die ganze Zeit über Cato an, der wie gebannt zurück starrte.   Sie wäre die erste, auf die er sich stürzen würde, sobald der letzte Tribut tot war und ihr Bündnis zerbrach. Die Abfuhr, die sie ihm vor ein paar Tagen im Kapitol erteilt hatte, nagte immer noch an seinem Ego. Niemand lehnte ihn ab! Und wenn sie dachte, er würde sie verschonen, nur weil sie hübsch war, dann hatte sie sich aber getäuscht! Marvels Blick wanderte von ihrem Gesicht weiter hinab, zu ihren Brüsten. Er biss sich auf die Unterlippe, bei dem Gedanken daran, wie er ihr seinen Speer durch den Brustkorb stieß.   Oh ja, rot würde ihr wirklich ausgesprochen gut stehen …   Die Pause war allmählich vorüber und Peeta stieß zu den vier Karrieros, die momentan seine Verbündeten waren. Mit einem kurzen Blick hatte er die Situation analysiert: Cato und Marvel stierten Glimmer an, die die Aufmerksamkeit offensichtlich zu genießen schien, während Clove vor Eifersucht beinahe platzte. Gut, sollten die vier sich doch gegenseitig zerfleischen. Sie waren zwar Verbündete, doch gab es kein wirkliches Band zwischen diesen Personen. Ihre Allianz war nur Mittel zum Zweck und früher oder später würden sie nicht zögern sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Und seiner Meinung nach konnte dieser Zeitpunkt nicht früh genug kommen. Denn jeder tote Karriero bedeutete eine Gefahr weniger für Katniss.   Plötzlich sahen alle Köpfe nach oben. Vom blauen Himmel segelte langsam und lautlos ein silberner Fallschirm. Nun kam auch Distrikt 4 dazu. Distrikt 3 hielt sich weiterhin zurück, offenbar davon überzeugt, dass dieses Geschenk nicht für ihn bestimmt sein konnte. Für wen es wohl sein mochte? Es war noch früh, erst der dritte Tag und niemand benötigte etwas. Sie hatten alles was sie brauchten: Essen, Trinken, Waffen. Und keiner war verletzt. Was war also in dem Fallschirm?   Und Peeta begann zu träumen, sich auszumalen, was da drin sein könnte, wenn dieses Geschenk für ihn bestimmt wäre.   Er lächelte traurig.   Was er wollte, passte in keinen Fallschirm. Was er wollte, war nichts Materielles.   Alles, was er wollte, war Katniss das Leben zu retten.   Er sah dem Fallschirm weiter zu, wie er gen Boden segelte und sie bereits ihre Hände nach ihm ausstreckten.   Für Katniss würde er alles tun. Sogar sich mit dem Feind verbünden, um sie ihr vom Leib zu halten, und sie, wenn nötig, einen nach dem anderen, langsam auszuschalten.   Auch wenn das bedeutete, dass selbst er dafür sterben musste, damit sie leben konnte … Kapitel 3: Nächte ----------------- [Vor den Spielen] Morgen war es endlich soweit. In der letzten Nacht im Kapitol konnte Clove keinen Schlaf finden. Statt die letzten Stunden in ruhiger und geschützter Atmosphäre zu verbringen war sie viel zu aufgeregt und viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt. Wer wusste schon, wie viele Nächte sie in der Arena verbringen würde und wie die Arena überhaupt sein würde: eine ebene Fläche ohne Versteckmöglichkeiten, eine eiskalte Eislandschaft, eine Sumpflandschaft voller wilder Tiere?   Immer wieder sah sie die Gesichter der anderen Tribute vor sich, allen voran das eingebildete Gesicht mit den grauen Augen und den eingefallenen Wangen, die von jahrelangem Hunger zeugten: das Mädchen, das in Flammen stand. Clove würde sie am liebsten brennen sehen und mit ihren Todesschreien ganz Panem in Schrecken versetzen.   Sobald sie in der Arena ihre Messer in den Fingern hatte würde sie sich direkt auf Distrikt 12 stürzen. Und dann würde sie Panem zeigen, was Distrikt 2 seine beste Schülerin gelehrt hatte.   Nun war überhaupt nicht mehr an Schlaf zu denken. Ihr ganzer Körper kribbelte vor Aufregung und sie hielt es keine Minute mehr länger in ihrem ruhigen Schlafzimmer aus, sodass sie kurzerhand aufstand und durch das Stockwerk wanderte. Obwohl die Klimaanlagen für angenehme Temperaturen im Gebäude sorgten war es warm, sodass sie beschloss sich nichts überzuziehen und nur in Top und kurzer Shorts in den Aufenthaltsraum zu gehen. Wer würde ihr denn auch bitte schön mitten in der Nacht über den Weg laufen? Die anderen aus ihrem Team schliefen sicher schon. Und wenn nicht, dann war es ihr auch egal. In nicht weniger als zehn Stunden würden sie sie in allen Lebenslagen rund um die Uhr live im Fernsehen sehen. Was gab es Intimeres als das?   Im Aufenthaltsraum brannte kein Licht, nur das Leuchten des großen Bildschirms an der Wand warf dunkle tanzende Schatten in den großen Raum. Zuerst dachte sie, als sie die männliche große Gestalt auf dem Sofa sitzen sah, dass es sich dabei um Brutus handelte, doch als sie sich ihm näherte, erkannte sie ihren Distriktpartner.   Er sah kurz auf, als sie sich setzte, ans andere Ende des Sofas, sagte jedoch nichts und wandte sein Gesicht wieder dem Fernseher zu. Auch er schien nicht schlafen zu können. Nicht verwunderlich. Er trug nur eine lockere Jogginghose und ein enges T-Shirt, unter dem sich seine Muskeln spannten. Im Augenblick liefen die Wiederholungen der Punktevergabe und Clove fragte sich, wieso er sich das immer noch anschaute. Schließlich war er deswegen vor nur wenigen Stunden völlig ausgetickt und hätte beinahe einen Avox umgebracht.   Vielleicht war er ja ein Masochist und quälte sich gern selbst?   Als das Gesicht von Distrikt 12 und ihrer Punktzahl auf dem Bildschirm erschien spürte auch sie, wie die Wut in ihr anfing zu brodeln. Nach wie vor konnte sie nicht verstehen, wie dies möglich war. Sie hasste diese Elf. Sie hasste Distrikt 12 und sie hasste dieses Gesicht.   Wenn jemand nicht nachvollziehen konnte, wie man in den Hungerspielen töten konnte, so hatte er noch nie das empfunden, was Clove gerade fühlte.   „Ich will sie tot sehen“, sagte Cato leise neben ihr. Seine Stimme war beherrscht, aber drohend und gefährlich. Er musste ebenso empfinden wie sie. Clove musterte ihn, wie er wie gebannt auf den Fernseher starrte, wo sie gerade Rückblenden von ihr zeigten, wie sie sich auf der Bühne in ihrem roten Kleid drehte. Das Flimmern des Bildschirms ließ ihn ungeheuerlich furchterregend aussehen, wie ein Raubtier, kurz vor dem Angriff. Dann erschien eine Großaufnahme von ihrem Distriktpartner, in dem Moment, in dem er Caeser Flickerman und ganz Panem sein größtes Geheimnis anvertraute. Und gerade, als man denken konnte, dass Cato nicht noch wütender werden konnte, hauchte er fast atemlos zwischen seinen aufeinander gepressten Zähnen: „Sie beide.“   Sein Gesicht wandte sich zu ihr und seine Augen sahen sie direkt an, die sonst so hellen Iriden beinahe schwarz in der Dunkelheit. Sein Blick war so intensiv, dass er sie für einen Moment in seinem Bann hielt. Die Härte in seinem Gesicht, der unverhohlene Hass, faszinierten sie.   Clove reckte das Kinn und sah ihn abschätzig an. „Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dir den Spaß allein überlasse.“   Er wandte den Kopf von der einen zur anderen Seite, als würde er etwas überdenken. „Allein?“ Dann schmunzelte er. „Vielleicht lasse ich dich mitmachen.“   Seine Augen betrachteten wieder den Bildschirm, als sie belustigt schnaubte. Als ob sie seine Erlaubnis brauchte. Er mochte sich für den Anführer ihrer Gruppe halten, na schön, er möchte vielleicht tatsächlich der Anführer ihrer Gruppe sein, aber Clove konnte immer noch tun und machen, was sie wollte. Und sie wollte dieses Mädchen töten. Mehr als jeden anderen von den Tributen.   „Arroganter Idiot“, murmelte sie nur.   Seine Antwort kam sofort. „Verwöhnte Göre.“   Clove musterte kurz den muskelbepackten, vor Kraft nur so strotzenden und beeindruckenden Körper ihres Distriktpartners. Sie war alles andere als schwach, aber im Gegensatz zu ihm eher schlank und bei weitem nicht so groß wie er. Wie würde er das Mädchen wohl töten? Vielleicht in einem Wutanfall, so wie bei dem Avox heute, unkontrolliert und in Raserei? Es wäre ein brutales Gemetzel.   Sie hingegen würde ihr Opfer leiden lassen, sich Zeit nehmen und es genießen, ihr das Herz aus der Brust zu schneiden und es Loverboy direkt vor die Füße werfen. Ihr Körper würde in einer Blutlache liegen, ebenso rot wie das Kleid, das sie während des Interviews getragen hatte.   Ihr Hauchen war voller freudiger Erwartung. „Ihr Tod wird wundervoll.“   Ihre Blicke trafen sich noch einmal und es schien, als würden sie eine stille Übereinkunft treffen. „Das wird er“, versprach er.   Nach der Wiederholung der Interviews wurden Aufnahmen der Parade und der Trainingseinheiten gezeigt und langsam aber sicher wurden ihre Augen schwerer. Die Stimmen der Erzähler vermischten sich immer mehr zu einem monotonen Gemurmel und sie schloss ihre Augen.   Als sie ihre Augen wieder öffnete wurde es bereits hell im Aufenthaltsraum. Verschlafen zwinkerte sie mehrmals, ganz überrascht davon, offenbar doch noch eingeschlafen zu sein. Durch die großen Fensterscheiben konnte man den Tag heranbrechen sehen. Der Fernseher lief immer noch. Clove bemerkte irgendeine uninteressante Werbung aus dem Kapitol. Sie war im Sitzen eingeschlafen, mit dem Kopf auf ihrer Schulter. Der Nacken tat davon schmerzhaft weh und als sie ihn vorsichtig bewegte, um die verspannten Muskeln zu lockern, fiel ihr Blick auf die schlafende Person neben ihr, am anderen Ende des Sofas.   Es war das erste Mal, dass sie ihn schlafen sah, dass sie ihn so friedlich sah. Das erste Mal, ohne wachsame Augen, ohne angespannte Muskeln, stets zum Angriff bereit. Ein Arm lag unter seinem Kopf, der andere auf seinem Bauch, die Fernbedienung in der Hand. Von den blutigen Kratzern des Avox war dank eines Wundermittels des Kapitols nichts mehr zu sehen. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet, das Gesicht wunderschön.   Wenn sie es nicht besser wüsste hätte man meinen können, ein sanfter, anmutiger Engel schliefe dort, rein und unschuldig, nicht in der Lage, auch nur einer Seele ein Leid zuzufügen.   Aber sie wusste es besser.   Er war eine skrupellose Killermaschine. Sein komplettes Wesen strahlte nur eins aus: Zerstörung.   Und dennoch fühlte sie sich in seiner Nähe alles andere, als unwohl.   * * *   [Tag 7] Es war die siebte Nacht in der Arena. Cato lag auf dem Rücken, in seinen warmen Schlafsack gehüllt, direkt neben Marvel und dem Nichtsnutz aus Distrikt 3, dessen Namen er sich niemals merken würde. Sie beide schienen tief und fest zu schlafen. Die hinter dem Kopf verschränkten Arme dienten Cato als Kissen und seine blauen Augen starrten in die schwarze Nacht, die die Arena in völlige Dunkelheit tauchte.   Er musste schlafen, er musste unbedingt schlafen, denn in einer Stunde würde er bereits Clove ablösen und ihre Wache übernehmen. Und wenn er dann einschliefe und sie angegriffen wurden, würde seine Unvorsichtigkeit nicht nur sein Leben kosten.   Er musste schlafen, aber er konnte nicht.   „Clove“, flüsterte er, erhielt aber auch nach längerem Warten keine Antwort. Vielleicht hatte sie ihn nicht gehört? „Clove!“   „Halt die Klappe“, kam das leise, aber strenge Zischen zurück. Natürlich hatte sie ihn gehört.   Er richtete sich auf. Der Schlafsack rutschte ihm bis zur Hüfte hinab. Dass es in der Arena überhaupt einen Schlafsack gab, der lang genug für ihn war, überraschte ihn, denn mit seiner Größe passte er normalerweise selten in einen von ihnen rein. Die Dinger aus dem Kapitol waren verflucht warm. Er schwitzte schon fast. Als die kühle Nachtluft ihm entgegenschlug genoss er es beinahe.   Der Mond wurde von Wolken bedeckt; nur ein leichter Schein sorgte dafür, dass man schemenhafte Umrisse zumindest erahnen konnte. Ganz schwach konnte er ihre zierliche Gestalt erkennen. Sie saß mit dem Rücken zu ihm, den Blick in Richtung Wald. Vermutlich trug sie die Nachtsichtbrille. Leise schlüpfte er aus seinem Schlafsack und zog sich seine Schuhe an. Langsam näherte er sich ihr. Doch als er sich neben sie kniete und sie vorsichtig an der Schulter berührte, drehte sie sich blitzschnell um, und hielt ihm eins ihrer Messer an die Kehle.   Ihr Flüstern war leise und gefährlich. „Berühr mich noch einmal und ich schneid dir deine Finger ab.“   Halb belustigt, halb verärgert schnaubte er. Mit einer groben Bewegung wischte er ihre Hand samt der Waffe beiseite. Was wollte sie tun? Ihn einschüchtern? Ha! In diesem Moment verspürte er keinen Grund zur Besorgnis. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie ihm nichts tun würde. Schließlich waren sie Verbündete. Hätte sie ihn töten wollen wäre er schon längst tot.   In der Dunkelheit konnte er ihre Augen nicht ausmachen und deshalb sah er einfach dorthin, wo er sie vermutete. Was er auch nicht sehen, sondern beinahe schon hören konnte war, wie sehr sie zitterte. Das Rascheln der Jacke, das Klackern der Zähne. Und als er kurz ihre Hand berührt hatte, hatte er gespürt, wie eiskalt sie war.   „Ich löse dich ab“, befahl er flüsternd, da er Marvel nicht wecken wollte. Er wäre nach Cato an der Reihe und würde die Wache bis zum Morgengrauen übernehmen. Distrikt 3 war in ihren Augen nicht tauglich, um in der Nacht Wache zu halten.   „Du bist noch nicht dran“, stellte sie schroff fest und ignorierte somit den Befehl ihres Anführers. Clove wandte ihm wieder den Rücken zu und anhand des Raschelns ihrer Jacke vermutete er, dass sie ihre Hände – vermutlich immer noch mit dem Messer in ihren Fingern umklammert – in die Jackentaschen steckte, um sie vor der Kälte zu schützen. Kein Wunder, dass die Kleine fror. An ihr war ja auch kaum etwas dran. Cato hatte seine Muskeln, die ihn vor der Kälte schützten. Ihm war eigentlich nie kalt. Nicht einmal im Winter.   „Egal“, murmelte er leise und unnachgiebig. „Ich kann eh nicht schlafen.“   Eine Weile sagte niemand etwas. Er lauschte in die Stille, versuchte, irgendwelche Geräusche auszumachen. Abgesehen von dem Rascheln der Blätter im Wind war es mucksmäuschenstill. Schon beinahe friedlich. Cato starrte wieder in den Himmel und versuchte einige Sterne auszumachen, fand aber keine. Unwillkürlich fragte er sich, ob sie wohl gerade gefilmt wurden, und falls ja, ob überhaupt noch jemand wach war und den Spielen um diese Uhrzeit zusah.   Neben ihm bewegte Clove sich wieder. Als sie ihm ihre Nachtsichtbrille in die Hand drückte sagte sie müde: „Wehe, du pennst ein, Cato. Wenn wir deinetwegen draufgehen, bring ich dich um.“   Schmunzelnd setzte er die Nachtsichtbrille auf, die der Welt um ihn herum wieder Formen gab. Hinter sich konnte er das Rascheln eines Schlafsacks hören und als er einen Blick über die Schulter warf, sah er, dass sie sich in seinen Schlafsack gelegt hatte, der vermutlich noch ganz warm von seiner Körperhitze war. Das leise Zzzzzzipp des Reißverschlusses ertönte und es wurde wieder still.   Cato überprüfte die Umgebung. Der Wald und die Rasenfläche zwischen den Bäumen und dem Füllhorn schimmerten durch die Brillengläser hellgrün. Seine Augen und Ohren achteten auf alles: jedes kleine Knacksen eines Astes, jedes Flügelschlagen eines Vogels, das leise Pfeifen des Windes und das sanfte und gleichmäßige Atmen seiner Verbündeten.   Nun waren sie nur noch zu viert. Ihre Gruppe hatte sich sehr schnell verkleinert. Jetzt, in diesem Moment, wäre es ein Kinderspiel, sie alle drei umzubringen. So schnell der Gedanke gekommen war, so schnell verflog er aber auch wieder. Was wäre das für ein Sieg? Erdolchen im Schlaf? Brutus wäre enttäuscht von ihm! Cato hatte zu lange trainiert, um seine Gegner auf diese Weise zu beseitigen. Er konnte jemandem mit bloßen Händen töten, jemandem mit dem Schwert mit einem Hieb den Kopf abtrennen. Er hatte sich freiwillig gemeldet, um mit Stolz und Ehre in seine Heimat zurückzukehren, nicht, um feige in der Dunkelheit Kehlen aufzuschlitzen. Außerdem würde das keinen Spaß machen. Der Moment wäre viel zu schnell vorbei. Er wollte, dass seine Gegner sich wehrten, dass sie es ihm nicht leicht machten. So, wie Clove und Marvel es ihm nicht leicht machen würden.   Wie schön wäre es, wenn jetzt ein Tribut zwischen den Bäumen hervorgekrochen kommen würde. Seine Mordlust sammelte sich seit Tagen – ach was, seit Jahren! – in seinem Körper, staute sich auf und drohte bald zu explodieren. Aber solange sie auch warteten, niemand von den verbliebenen Tributen wagten es sich den gefährlichsten Mitspielern in dieser Arena zu nähern. Stattdessen versteckten sie sich alle in den Wäldern. Jeden Tag zogen die Karrieretribute los, um ihre Beute zu suchen, doch sie kehrten stets mit leeren Händen zum Füllhorn zurück. Cato wusste, wenn nicht bald etwas Aufregendes geschah, würden die Spielemacher sich einmischen und dann würde vielleicht etwas geschehen, das sich außerhalb seiner Kontrolle befand.   Die Zeit verstrich, während er wachsam die Augen aufhielt und hin und wieder eine Runde ums Füllhorn drehte, falls sich jemand von hinten anschleichen wollte. Seine Befürchtung, oder vielmehr sein Hoffen, dass noch jemand auftauchte, bewahrheitete sich jedoch nicht.   Als Cato auf die Uhr schaute blieb nur noch eine Stunde bis zur Wachablösung. Langsam wurden auch seine Augenlider schwer. In dieser Arena fiel es ihm nicht leicht, zu schlafen. Am Anfang war es noch die Aufregung gewesen, die ihn wachgehalten hatte. Später dann die Vorsicht. Viel zu oft hatte er auf den Bildschirmen mitansehen müssen, wie sich die Kämpfe in der Nacht abspielten. Er wollte weder zum leichten Opfer werden, noch den ganzen Spaß verpassen. Nach den zahlreichen unbefriedigenden Nächten fing sein Körper bereits an zu rebellieren. Er bemerkte, dass er langsamer wurde, unkonzentrierter …   Hinter ihm ertönte ein leises Geräusch, das einem Seufzen glich. Viel zu hell und zu lieblich, um zu einem Jungen zu gehören, weshalb es wohl Clove gewesen sein musste. Ein Laut, unwillkürlich im Schlaf. Langsam sah er wieder über seine Schulter und versuchte einen Blick auf sie zu erhaschen, doch er sah nur den Schlafsack, in dem sie verborgen lag.   In seinen Gedanken tauchten die Erinnerungen des Angriffes der Jägerwespen auf, und wie leicht es ihm gefallen war, Glimmer und Coral zurück- und ihrem Schicksal zu überlassen, um sein eigenes Leben zu retten. Der Tod der beiden Mädchen war bedauerlich, schließlich gehörten sie zu den Karrieros und er hatte erwartet, dass sie länger durchhalten würden. Auch wenn sie Mittel zum Zweck waren, so waren sie doch beide seine Verbündeten gewesen … Trotzdem hatte er bei dem Anblick ihrer Gesichter am Himmel keine Miene verzogen.   Er wusste nicht, ob es daran lag, dass er mit Clove schon mehr Zeit verbracht hatte, oder weil sie seine Distriktpartnerin war. Jedoch wusste er nicht, ob ihr Tod ihm auch egal sein würde. Bei Marvel machte er sich weniger Sorgen. Sie kamen zwar gut miteinander zurecht – vor allem seitdem Glimmer nicht mehr dabei war wirkte er viel entspannter –, aber sie beide wussten, dass es am Ende nur einen Überlebenden geben konnte, weshalb sie oft nicht mehr Worte miteinander sprachen, als nötig. Und Distrikt 3 brauchte nur eine falsche Bewegung machen, ein falsches Wort sagen, und Cato würde ihm mit Freuden das Genick brechen.   Clove hingegen …   Auch wenn sie ihn manchmal in den Wahnsinn trieb war sie diejenige, mit der er sich am besten in dieser Arena verstand. Sie waren sich ähnlich. Vermutlich, weil sie beide aus dem gleichen Distrikt kamen.   Ja, so musste es sein.   Seine Gedanken wanderten weiter. Obwohl sie beide aus demselben Distrikt kamen kannten sie sich kaum. Hin und wieder hatte er mal ihren Namen oder Geschichten über sie gehört. Letztendlich hatte man ihn mit dem talentiertesten Mädchen in die Arena geschickt, das sein Distrikt zu bieten hatte. Und er wurde nicht enttäuscht: sie war talentiert, gerissen, skrupellos, schnell und tödlich. Schade, dass er sie jetzt erst richtig kennenlernte.   Noch vor ein paar Tagen wären ihm solche Gedanken nie gekommen.   Sie waren ein gutes Team. Wenn sie gemeinsam auf die Jagd nach den anderen Tributen gingen wirkte es manchmal, als würden sie sich schon ewig kennen und als wären sie aufeinander eingespielt. Sie besaßen beide den gleichen schwarzen Humor. Ihre Schnelligkeit und ihre Zielsicherheit machten ihre fehlende Körperkraft wieder wett. Nach allem, was er bisher über sie wusste, musste er sich eingestehen, dass Clove eindeutig eine Bedrohung bei seiner Aussicht auf den Sieg war.   Für ihn stand allerdings außer Frage wer am Ende diese Arena lebend verlassen würde.   Und doch hatte dieses Wissen einen bitteren Beigeschmack.   Cato unterdrückte ein Gähnen und schüttelte den Kopf, um diese lästigen Gedanken die ihn quälten wieder zu vertreiben. Gedanken, die er sich in dieser Arena nicht erlauben durfte. Ach, scheiß drauf! Darüber würde er sich den Kopf zerbrechen, wenn es so weit war. Wieso jetzt schon darüber nachdenken? Und überhaupt! Es gab nichts darüber nachzudenken, denn der Entschluss stand fest, hatte bereits immer festgestanden.   Früher oder später würde er auch sie töten müssen. Denn so waren die Regeln dieser blutigen Spiele.   Wenn er Glück hatte, kam ihm jemand zuvor und er würde es nicht selbst tun müssen. Und wenn er doch derjenige sein sollte, der ihren Tod herbeiführen durfte, dann würde er ihr ein Ende bereiten, das einem Karrieretributen gebührte.   * * *   [Tag 12] Clove wachte mitten in der Nacht auf und spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr Messer! Es lag nicht mehr in ihrer Hand! Es musste ihr im Schlaf entglitten sein. Panisch suchte sie danach, noch bevor sie überhaupt die Augen geöffnet hatte. Es war ein Überlebensreflex – ohne ihre Waffe war sie schutzlos! Was, wenn jemand sie angriff?   In der Dunkelheit der Nacht konnte sie nichts sehen und so tasteten ihre Finger über den Boden neben sich, strichen über kaltes, weiches Gras, bis sie endlich auf hartes, glattes Metall stießen. Als sie das Messer umklammerte und es behutsam an ihre Brust zog, atmete sie erleichtert aus. Jetzt spürte sie auch ihr Herz wild gegen ihren Brustkorb hämmern. Die Panik hatte ihren Körper in Sekundenschnelle mit Adrenalin vollgepumpt.   Die Hand, die zuerst auf ihrem Bauch gelegen hatte, bewegte sich langsam nach oben, wo sie sich sanft auf ihre eigene legte.   „Entspann dich“, murmelte er leise an ihrem Ohr. Die Wärme und Nähe seines Körpers, dicht an ihren gepresst schien sie allmählich zu beruhigen. Irgendwie hatte es etwas Tröstliches. Sein Daumen strich beruhigend über ihren Handrücken und ihr fester Griff um das Messer schien sich allmählich zu lockern. „Es ist alles in Ordnung. Niemand ist hier. Schlaf weiter.“ Seine Stimme klang verschlafen und müde, nicht so herrisch und wütend wie sonst und sie spürte, wie die Müdigkeit auch nach ihr griff und an ihrem Bewusstsein zerrte, sie drohte, zurück in den erholsamen Schlaf zu ziehen.   Kurz vor dem Einschlafen dachte sie noch, wie schön es sich mit ihm anfühlte.   Es war nicht die Kälte gewesen, die sie zu ihm geführt hatte, sondern die Einsamkeit. Inzwischen waren sie nur noch zu zweit. Inzwischen hatte sich alles verändert. Ihre Laune, ihr körperliches Befinden, ihre Beziehung zueinander. Die letzten beiden Nächte waren sie durch die Arena geschlichen, mit ihren Nachtsichtbrillen und ihren Waffen, doch sie hatten niemanden gefunden. Seit dem Tod von Marvel und dem Mädchen aus Distrikt 11 gab es keine weiteren gefallenen Tribute. Ihre Vorräte wurden langsam knapp. Das ein oder andere Mal erhielten sie bereits das Geschenk eines gütigen Sponsors. Sie waren beide müde und erschöpft. Nur noch sechs Tribute waren übrig und während die anderen es weiterhin schafften sich zu verstecken und irgendwie zu überleben, verließ sie langsam aber sicher die Kraft. Mit jedem Tag, den sie in der Arena überlebten, stiegen ihre Chance auf den Sieg, doch mit jedem Tag, an dem ihre Gegner ebenfalls überlebten, stiegen ihre Chancen zu scheitern. Sie waren so weit gekommen. Und sie hatten noch so vieles zu erreichen. Es war inzwischen egal, auf wen sie Jagd machten, Hauptsache, sie fanden irgendwen. Dass Loverboy überhaupt noch lebte war unbegreiflich. Schließlich hatte Cato ihn erwischt. Lebensbedrohlich. Wieso lebte er also überhaupt noch? Gab es vielleicht einen gütigen Sponsor, der ihm etwas zur Hilfe geschickt hatte? Einen Verband oder eine Salbe? Entzündungshemmende und schmerzstillende Tabletten?   Was zumindest feststand war, dass sie sich nicht aufteilen, sondern zusammen bleiben würden. Zu zweit standen ihre Chancen besser. Zumindest Distrikt 11 und 5 hielten sich allein in der Arena auf, da waren sie sich sicher.   Beinahe schon resignierend waren sie irgendwann beim Pläneschmieden eingeschlafen, ohne auch nur den Gedanken daran zu verschwenden, dass jemand Wache halten sollte. Dies war nun schon ihre dritte Nacht allein. Marvel war tot, vermutlich getötet von Thresh oder Katniss. Je nachdem, wer gerade bei der Kleinen aus Distrikt 11 gewesen war. Rue. Das zarte kleine Vögelchen. Clove würde gerne wissen, wie sie gestorben war. Vielleicht würde sie es ja irgendwann einmal in den Rückblenden sehen.   Sie kuschelte sich weiter an Cato, versuchte ihm noch näher zu kommen, was schon gar nicht mehr möglich war. Ein Schlafsack lag ausgebreitet unter ihnen, ein weiterer über ihnen, der als Decke diente. An seiner Atmung konnte sie erkennen, dass er wieder eingeschlafen war. Sie lag mit ihrem Rücken gegen seine Brust, sein Arm um ihre Hüfte, die Hand auf ihrer, die Finger miteinander verknotet, die Beine ineinander verschlungen. Im Moment gab sie einen Scheiß darauf, ob die Kameras sie gerade filmten und was die Leute dachten – ihre Mentoren, die Kapitolbewohner, die Sponsoren, ihre Eltern … Sie genoss seine Nähe und Wärme, und das Gefühl von Sicherheit, das er ihr gab. Denn so war es schon die ganze Zeit über gewesen, nicht wahr? Sie fühlte sich bei ihm sicher. Auch wenn sie keinen Schutz brauchte. Sie konnte gut für sich selbst sorgen.   Schwer zu glauben, wie viel in so kurzer Zeit passieren konnte. Clove konnte sich schon gar nicht mehr vorstellen, wie es ohne ihn wäre. Die Realität hatte schließlich auch sie eingeholt. Wie naiv waren sie in diese Spiele gegangen? Jahrelang hatten sie gedacht, sie würden wissen, was sie erwartet. Dabei lief alles anders, als geplant.   Ob Loverboy und Lovergirl jetzt gerade wohl auch irgendwo so eng umschlungen lagen und sich gegenseitig Trost spendeten, so wie sie und Cato gerade?   Im Kapitol nach den Interviews und in den ersten Tagen in der Arena, als Distrikt 12 noch Teil ihrer Allianz gewesen war, hatte Clove ihn und seine Gefühlsduseleien verspottet, Witze darüber gerissen und sich einen Spaß daraus gemacht, das Liebespaar quälen zu wollen. Wie schrecklich es sein musste, mit der Person, die man liebte, in der Arena eingesperrt zu sein, mit dem Wissen, dass nur einer von ihnen sie wieder lebendig verlassen würde.   Und dann schlief sie ein, erschöpft und müde, mit dem Gedanken an den hoffnungslosen Verliebten aus Distrikt 12, von dem sie nun glaubte, ihn und seine Lage ein wenig mehr verstehen zu können, mit ihrem Messer in der Hand, und ihrem Distriktpartner an ihrer Seite, den beiden einzigen Dingen, die ihr in dieser Arena Sicherheit gaben.   Den beiden einzigen Dingen, die sie zum Überleben brauchte.   Kapitel 4: Elf -------------- [Vor den Spielen] Brutus und Lyme sprachen von ihnen in den höchsten Tönen. Das Kapitol TV zeigte gerade einige Highlights aus den vergangenen Trainingsstunden der Tribute und Clove und Cato gehörten nicht nur zu denjenigen, die am öftesten gezeigt wurden, sondern auch zu denen, mit den beeindruckendsten Aufnahmen. Das würde ihnen sicher einige Sponsoren einbringen, die sie in der Arena gut gebrauchen konnten. Den Gesichtern ihrer beiden Mentoren nach zu urteilen, waren sie mehr als nur zufrieden.   Stolz.   „Ihr zwei seid die besten Tribute, die wir je hatten“, sagte Lyme. Die große durchtrainierte blonde Frau, die selbst vor vielen Jahren einmal die Spiele gewonnen hatte, musste in ihrer Zeit als Mentorin schon viele Tribute erlebt haben. Da sie aber alle aus Distrikt 2 kamen gehörten sie wohl zu den erfahrensten und talentiertesten Tributen der Spiele. Ein Schwächling war wohl kaum dabei gewesen.   „Das sagt ihr doch sicher jedes Jahr“, entgegnete Cato mit einem charmanten Schmunzeln, das Lyme sofort einzuwickeln schien.   Brutus klopfte seinem Schützling auf die Schulter. „Es ist wie sie sagt, Junge. Ihr beide“, und sein Blick glitt kurz zu Clove, die ihnen gegenüber saß, „stellt alle anderen Tribute in den Schatten. Sogar die beiden aus Eins.“   „Das sind ja auch Flachpfeifen“, meinte Clove trocken, woraufhin Cato mit einem schiefen Lächeln zustimmend nickte.   „Einer von euch wird die Spiele gewinnen“, prophezeite Brutus. Er lehnte sich mit einem Glas Whiskey in der Hand auf dem Sofa zurück und sah von Cato zu Clove. „Darauf würde ich mein ganzes Geld verwetten.“   Die zwei Tribute, die sich bei der Ernte freiwillig gemeldet hatten, sahen sich an, beide stolz, enthusiastisch und sich des Sieges und der Unverwundbarkeit sicher.   „Ihr zwei seid ein gutes Team“, ergänzte Lyme. „Die anderen haben keine Chance gegen euch. Und sobald ihr die Tribute aus den anderen Distrikten ausgeschaltet habt, könnt ihr euch auch gegen eure Verbündeten richten. Ihr braucht sie dann nicht mehr.“   „So läuft es immer.“ Brutus prostete Lyme mit seinem Whiskeyglas in der Hand zu und leerte es anschließend in einem Zug. Augenblicklich erschien ein Avox hinter ihm und schenkte nach. Brutus bedachte das stumme Mädchen keines Blickes.   Das Lächeln der beiden Tribute verblasste langsam. „Und was kommt danach?“, sprach Cato ihre Gedanken laut aus, obwohl sie beide die Antwort darauf genau kannten. Nur einer von ihnen würde lebend aus der Arena herauskommen.   Cloves Blick lag auf ihrem Distriktpartner, der lässig auf dem Sofa saß, einen Arm über die Sofalehne drapiert, das eine Bein über das andere geschlagen, sein Kopf lag leicht schief und ein herausfordernder Ausdruck zierte sein Gesicht.   Beide kamen gemeinsam hierher, trainierten zusammen, aßen zusammen, agierten zusammen, als ein Team. Was für eine Ironie, denn überleben würde nur einer. Sie waren die Tribute aus Distrikt 2. Sie lernten einander kennen, die Stärken und die Schwächen des anderen. Manch einer war töricht genug Freundschaften zu schließen, Bindungen aufzubauen, nur um mitanzusehen, wie der Partner, der Verbündete starb oder man gar in die Lage kam dies selbst in die Hand zu nehmen. Töten oder getötet werden. Es war besser, man betrachtete jeden als Feind. Als Opfer. Gefühle galten in der Arena als eins der stärksten Hindernisse.   „Nun“, es war Brutus, der die Stille durchbrach. Seine Stimme war fast neutral, lediglich ein Hauch Erwartung schwang darin mit. Er wusste wie es lief, er sah es Jahr für Jahr bei seinen Tributen und er hatte es einmal sogar selbst miterlebt. Er empfand kein Mitleid darüber, dass, wenn es darauf ankam, sie sich gegenseitig abschlachten mussten. Vermutlich würde er diesen Kampf wie die Kapitolbewohner erwartungsvoll vor dem Bildschirm verfolgen. „Das macht ihr am besten unter euch aus.“   Catos Blick war eindeutig. Er würde nicht zögern sie zu töten.   Genauso wenig wie sie.   Brutus und Lyme erhoben sich und ließen die beiden Tribute allein auf dem Sofa zurück. Sie sahen sich immer noch an, die Augen starr miteinander verkettet, als würden sie sich ein Blickduell liefern, das keiner von ihnen verlieren wollte.   Allmählich veränderten sich seine Gesichtszüge, sie wurden selbstsicherer, anzüglicher, als wolle er sie allein mit seinem Blick verführen wollen. Dann hob er eine Augenbraue und biss sich auf die Unterlippe.   „Sieh mich nicht so an“, sagte Clove unbeeindruckt, ohne den Blickkontakt zu brechen. Wenn er dachte sie würde jetzt einknicken hatte er sich geschnitten. „Das mag vielleicht bei den Idioten aus dem Kapitol funktionieren, aber nicht bei mir.“ Oder bei Glimmer, fügte sie in Gedanken hinzu. Der weibliche Tribut aus Distrikt 1 versuchte die gleiche Taktik: Jemanden einlullen und denjenigen denken lassen, man wäre zu begehrenswert, um getötet zu werden, nur um dann im richtigen Moment die Klinge in den Rücken zu rammen. Er mochte es gewohnt sein, dass die anderen ihm zu Füßen lagen, sie aber ganz sicher nicht …   Cato lehnte sich nach vorne und stützte die Unterarme auf seinen Oberschenkeln ab, immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen, das jedes Frauenherz zum Schmelzen brachte. „Ach nein?“, hauchte er leise und lasziv. „Das werden wir ja noch sehen.“   Clove schnaubte, halb genervt, halb belustigt. Dann schaute sie zur Seite und sie wusste, wie er arrogant und dämlich neben ihr grinsen musste, da er ihr Blickduell gewonnen hatte. Ihr Herz schlug schneller, als es ihr lieb war. „Idiot“, murmelte sie nur zwischen zusammengepressten Zähnen.   Wenig später, auf genau dem gleichen Sofa, beglückwünschten sie sich gegenseitig, was eher eine höfliche Floskel war, als tatsächliche Hochachtung, denn inzwischen kannten sie die Stärken des jeweils anderen und sie zollten einander Respekt. Ehrlich gesagt erfüllten sie nur die Erwartungen. Ihre Mentoren standen hinter dem Sofa, beide mit einem Drink in der Hand, und überschütteten sie mit Lob und Beglückwünschungen. Clove und Cato hatten beide jeweils eine Zehn für ihre Einzelstunde erhalten – die bisherige Bestleistung! Das würde ihnen sicher den ein oder anderen Sponsoren einbringen. Stolz und arrogant wie sie waren, beobachteten sie den Fernseher nicht weiter. Alles Interessante war vorbei, die Karrieretribute waren diejenigen mit den Höchstpunkten – wie erwartet. Die anderen waren alle Schwächlinge. So wurden die Punktvergaben für 9, 10 und 11 nur noch halbherzig wahrgenommen – lediglich die Zehn von dem männlichen Tribut aus 11 war es wert, diskutiert zu werden.   Eine Zahl erlangte jedoch das Gehör von allen:   Elf.   Postwendend erstarben die Stimmen im Raum. Alle Köpfe wandten sich dem Fernseher zu, wo ihnen das Gesicht vom weiblichen Tribut aus 12 mit entschlossenem Blick entgegenstarrte. Unter ihrem Bild stand die Zahl der Punkte, die sie von den Spielemachern erhalten hatte.   Tatsächlich. Sie hatten sich nicht verhört. Die Erkenntnis brauchte mehrere Sekunden, um bei allen durchzusickern.   Elf.   „Was?!“ Cato war plötzlich auf den Beinen. Wut berauschte ihn. „Was?!“ Er warf den Tisch um, der gegen die Wand flog. Das Geschirr und die Vasen zerbarsten in tausend Teile.   Auch Clove raste vor Wut. Sie starrte immer noch auf den Bildschirm, auf dem nun Caesar Flickerman zu sehen war, in seinem widerlich blauen Anzug, der über diese Höchstanzahl an Punkten plauderte, aber Clove sah ihn nicht, sie sah immer noch das Gesicht von 12. Ihre Hände zu Fäusten geballt, so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten und die Arme zitterten. Ihre Zähne hatte sie fest aufeinander gepresst und ein Knurren kroch ihre Kehle hoch.   Wie hatte diese Niete es geschafft so eine hohe Punktzahl zu erhalten? Wie hatte sie es geschafft, sie zu übertreffen? Wie konnte sie es wagen?   Purer Hass brodelte in ihr.   Bis zur Eröffnung der Spiele würde sie nicht warten können. Clove würde am liebsten jetzt sofort das Appartement verlassen, in den Fahrstuhl steigen und sich auf den Weg zu dem Aufenthaltsraum von Distrikt 12 machen, um ihr die Eingeweide herauszureißen! Wie beschämt sie sich in diesem Moment fühlte!   Cato wollte weiterhin auf die teure Einrichtung des Zimmers einschlagen, als ihm ein Avox in die Quere kam. Das dumme Mädchen handelte offensichtlich ohne nachzudenken. Sie wollte einfach nur pflichtbewusst die Scherben der Vase vom Boden aufsammeln, vielleicht, damit sich niemand verletzte, womöglich aber auch nur weil sie gelernt hatte Befehlen zu gehorchen. Jedoch begann sie damit einen Fehler.   Als sein Blick auf sie fiel packte Cato sie in Sekundenschnelle am Arm und zog sie an sich. Der Avox stand nun mit dem Rücken gegen seine Brust gepresst. Seine beiden starken Arme legten sich um ihren Hals und hielten sie im Schwitzkasten fest. Der Avox versuchte verzweifelt sich zu befreien. Mit ihren schlanken und zierlichen Fingern zog sie an seinen breiten muskulösen Armen, die ihr weiterhin die Luft abschnitten. Als sie begann mit den Füßen nach ihm zu treten, hob er seine Arme an und zog ihren zierlichen Körper in die Höhe, als würde sie nicht mehr wiegen als ein Kleinkind, mit dem man spielte. Ihre Füße baumelten nutzlos in der Luft. Ihre Augen waren vor Angst weit aufgerissen, genau wie ihr Mund, aus dem kein einziges Wort drang, bis auf ein paar erstickte Geräusche, die immer lauter wurden.   Clove sah ihren Distriktpartner an und beschloss, nicht einzuschreiten, denn sie wollte nicht den Platz mit dem törichten Avox tauschen. Cato sah im Moment rot. Er war ein Pulverfass. Und sie wäre nicht so dumm ein Streichholz in seiner Nähe anzuzünden.   Die anderen Avoxe im Raum blieben ebenfalls stumm. Nicht, als hätten sie eine Wahl gehabt. Sie rührten sich nicht einen Millimeter, nur ihre panischen Augen offenbarten, wie es in ihrem Inneren aussah.   Nun flogen die Hände des Avox nach oben in Richtung von Catos Gesicht, ein letzter verzweifelter Versuch sich aus seinen Klauen zu befreien. Er hob den Kopf, um ihren Nägeln auszuweichen. Sie begann zu röcheln, nach Luft zu ringen.   „Cato!“, durchbrach schließlich die ruhige aber autoritäre dunkle Stimme von Brutus den Raum. Neben ihm stand Lyme. Beide Mentoren wirkten angespannt, schienen aber ebenfalls nicht eingreifen zu wollen. Clove bezweifelte, dass es aus Angst vor Cato war. Viel eher glaubte sie, dass der Tod des Avox-Mädchens sie nicht groß interessierte. Natürlich würde es Ärger geben, wenn ein Tribut schon vor Eröffnung der Spiele anfing Leute umzubringen, aber es handelte sich schließlich nur um einen wertlosen Avox …   Cato achtete nicht auf seinen Mentor. Er konzentrierte sich lediglich auf den immer ruhiger werdenden Körper in seinen Armen, und wie er spürte, wie sie langsam dem Leben entglitt. Ihre Bemühungen wurden immer schwächer. Seine Arme waren inzwischen ganz zerkratzt. Es sah die roten Striemen auf den Unterarmen von ihren Fingernägeln, aber er spürte nichts. Was er spürte war nur Hass.   Und Macht.   Dann ließ er das Mädchen los und sie sackte zu Boden. Mit ihr fiel auch der komplette Zorn von ihm ab, als hätte er sich davon befreien können. Seine Finger zuckten noch, doch insgesamt hatte sein Körper sich beruhigt. Vor einer Minute wäre er beinahe noch geplatzt vor unterdrückter Wut.   Er bedachte das reglose Mädchen nicht eines Blickes, als er sich abwandte und sich wieder auf das Sofa setzte. Dabei warf er Brutus einen gleichgültigen Blick zu, der wiederum nur leicht den Kopf schüttelte. Das unterdrückte Schmunzeln seines Mentors war jedoch nicht übersehbar.   „Keine Angst noch vor den Spielen disqualifiziert zu werden, Junge?“, fragte Brutus mit verschränkten Armen vor der Brust. Er schien viel mehr aufrichtig interessiert zu sein, als seinen Schüler tadeln zu wollen. Clove blickte ihren Distriktpartner an. Wenn er disqualifiziert werden würde, dann wäre sie dem Sieg einen Schritt näher. Sie und Lyme wechselten einen Blick.   Cato schnaubte. „Sie ist nicht tot“, sagte er nur. Sein Gesicht war wieder arrogant und selbstsicher, wie sie ihn kannten, als hätte es diesen Gefühlsausbruch nie gegeben.   In dem Moment erklang ein kehliges Husten und Clove sah, wie das Avox-Mädchen sich zitternd wieder aufrichtete. Das Dienstmädchen vermied den Blick in die Richtung der anwesenden Personen im Raum, aber man konnte an ihrem Schluchzen hören, dass sie weinte. Langsam erhob sie sich und stellte sich wieder an ihren Platz, mit nassen Wangen und einem wundroten Hals. Brutus und Lyme begannen nun wieder über die Trainingsergebnisse zu diskutieren und einen Schlachtplan zu entwerfen, als hätte es diesen Vorfall nie gegeben.   Clove sah nun wieder zu Cato. Jeder normale Mensch müsste vor ihm Angst haben und sich von ihm fernhalten. Clove jedoch war kein normaler Mensch. Sie wollte sich nicht zurückziehen, im Gegenteil. Es war, als würde er sie anziehen.   Sie war beeindruckt. Er hatte dem Mädchen so lange die Luft abgeschnürt, bis sie ohnmächtig wurde, gerade so, dass sie nicht starb. Es faszinierte sie. Langsam rückte sie ihm auf dem Sofa näher, bis sie direkt neben ihm saß, ihm mit ihrem gesamten Körper zugewandt.   Als Cato sich zu ihr umdrehte und sie musterte, mit einer Augenbraue fragend hochgezogen, da sie ihm so ungewöhnlich nahe war, lehnte sie sich sogar noch ein Stückchen zu ihm vor, und hauchte:   „Zeig mir, wie das geht.“ Kapitel 5: Angst ---------------- [Tag 10] Die Karrierretribute trafen an ihrem ersten Tag in der Arena eine Abmachung: Sollten sie sich getrennt haben und der Knall einer Kanone ertönen, würden sie schnellstmöglich zum Füllhorn zurückkehren. Es war nur logisch, denn dort befand sich alles, was sie brauchten – zumindest bis ihre Vorräte in die Luft gesprengt wurden. Außerdem würden sie dann besser zuordnen können, wessen Kanone ertönt war.   Dieses Mal wurden sogar gleich zwei Kanonenschüsse abgefeuert, nur kurz hintereinander. Es konnte entweder bedeuten, dass Marvel Loverboy und Lovergirl erwischt hatte – zwei Fliegen mit einer Klappe – oder er war auf einen der anderen Tribute getroffen und irgendetwas war schiefgegangen.   Nachdem Cato und Clove eine Stunde am Füllhorn gewartet hatten und Marvel nicht aufgetaucht war mussten sie nicht mehr auf die Ankündigungen am Himmel warten, um die Gesichter der Toten zu sehen. Entweder wurde er getötet oder aber die Spielemacher hatten ihre Finger im Spiel – Mutationen, giftige Schlangen, ein abrutschender Hügel … Vielleicht hatte auch einer der anderen Tribute eine Falle gelegt … Wie das Mädchen aus Distrikt 5 … Ihr wäre es durchaus zuzutrauen. Oder Loverboy war endlich seinen Verletzungen erlegen und seine Distriktpartnerin hatte sich wegen gebrochenen Herzens gleich mit das Leben genommen.   Zu schön, um wahr zu sein …   Sobald die Stunde um war schnappten Clove und Cato ihre Waffen und machten sich auf den Weg. Vielleicht würden sie Marvel ja doch noch finden. Und wenn nicht, dann vielleicht einen anderen Tribut. Aufgeregt und mordlustig marschierten sie in den Wald. Cato ging – ganz der Anführer – mit dem Schwert in der Hand vorweg. Clove folgte dicht hinter ihm, ihre Messer sorgsam in ihrem Jackeninneren versteckt. Manchmal schaute er über die Schulter, um zu prüfen, ob sie noch da war, ansonsten starrte sie auf seinen Rücken und die Bewegungen der Muskeln seiner breiten Schultern. Sie versuchte sich auf die Umgebung zu konzentrieren und die Augen nach einem Schatten oder einer Bewegung offen zu halten, doch ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem Moment zurück, kurz bevor der Kanonenschuss sie unterbrochen hatte.   Ihre Finger wanderten zu ihren Lippen. Die Gedanken an den Kuss kamen ihr beinahe vor wie die Erinnerung an einen bereits verblassenden Traum. Aber es war tatsächlich geschehen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wie hatte es nur so weit kommen können? Sie waren hier in der Arena, um sich gegenseitig umzubringen und nicht, um miteinander rumzumachen, und dann auch noch am helllichten Tag, sodass ganz Panem dabei zusehen konnte. Was hatte sie sich dabei gedacht?   Gar nichts. Clove hatte gar nicht mehr denken können.   Und sie hatte es so sehr gewollt, dass ihr in diesem Moment alles andere egal gewesen war.   Nun konnte sie sich eingestehen, dass sie diesen Kuss schon lange gewollt hatte, dass sie ihn schon lange gewollt hatte. Vom ersten Augenblick an hatte Cato etwas Anziehendes an sich gehabt und sie in seinen Bann gezogen. Die Spannung zwischen ihnen war immer größer geworden. Sie war schon beinahe dankbar, dass er endlich den ersten Schritt gemacht hatte.   Cato blieb abrupt stehen, sodass sie beinahe in ihn hineingelaufen wäre. Er schaute nach links, als hätte er im Wald etwas gehört und hob eine Hand, um ihr zu bedeuten stehen zu bleiben. Leise spitzten sie beide die Ohren und ihre Augen suchten die Umgebung ab. Doch Clove konnte nichts Auffälliges entdecken.   Als sie so nah bei ihm stand und sein Gesicht ungeniert musterte, spürte sie wieder dieses Verlangen in sich. Ihre Augen wanderten zu seinen Lippen – sinnlich weiche Lippen, die sich so gut auf ihren eigenen anfühlten – und sie wünschte sich, sie wären nie unterbrochen worden.   Was auch immer Cato glaubte gehört zu haben, er schien es aufzugeben und wandte sein Gesicht nun zu ihr. Als er ihren intensiven Blick bemerkte, sah er sie fragend an. Keiner von beiden sagte ein Wort. Nur seine Augen studierten sie, als würde er ihre Gedanken lesen wollen.   Clove fragte sich, was wohl geschehen wäre, wenn die Kanone sie nicht unterbrochen hätte. Allein die Vorstellung weckte eine Welle ungeahnter Gefühle in ihr. Verlangen breitete sich in ihr aus und vernebelte ihr die Sinne. Sie biss sich auf die Unterlippe und sie konnte sehen, wie er diese kleine Bewegung mit seinen Augen genau beobachtete.   Scheiß auf die anderen Tribute! Sie wollte ihn!   Langsam ging sie einen Schritt auf ihn zu, sah von unten verführerisch zu ihm auf, doch gerade als sie mit ihren Fingern zärtlich über seine Brust streichen wollte, hielt er sie am Handgelenk fest. In seinen Augen erkannte sie eine Gier, die nicht ihr galt.   Mordlust.   Seine Stimme klang abwehrend und bestimmt. „Nicht jetzt, Clove. Ich bin nicht mehr in Stimmung.“ Dann wandte er sich einfach von ihr ab und ging den schmalen Pfad durch den Wald weiter.   Einen Moment lang starrte sie ihm mit offenem Mund hinterher. Ihr Blick verfinsterte sich. Er wies sie ab? Sie war sprachlos. Der Gedanke, dass er sie nicht mehr wollen würde, war ihr nie in den Sinn gekommen und irgendwie war es wie ein Schlag ins Gesicht. Was dachten jetzt die Leute vor den Fernsehern? Lachten sie sie gerade aus? Oder stöhnten sie enttäuscht, weil sie eine gute Show erwartet hatten? Noch nie hatte Clove bei den Spielen eine solche Szene gesehen, was aber nicht bedeuten musste, dass so etwas nicht vorkam. Eine Arena voll pubertierender und hormongesteuerter Teenager? Vielleicht hatte das Kapitol derartiges nur nie veröffentlicht. Sie waren sicher nicht die ersten …   Seine Dreistigkeit versetzte sie in Rage. Was erwartete er? Dass er sie erst heißmachen und dann ignorieren konnte? Die lange quälende Stunde am Füllhorn, während der sie nicht ein Wort miteinander gesprochen und den Blick zum jeweils anderen peinlich berührt vermieden hatten war schlimm genug gewesen. Sollte es sich bei dem Kuss um eine einmalige Sache handeln, etwas, das er bereits bereute? Dieser Gedanke beunruhigte sie. Sie lief ihm hinterher und holte schnell auf. „Cato!“, rief sie außer Atem. „Warte doch mal.“   Ohne sich umzudrehen antwortete er: „Ich sagte, nicht jetzt!“ Inzwischen klang er wütender und gerade in dem Moment, als sie ihm eine Beleidigung an den Kopf werfen wollte, weil er so respektlos mit ihr sprach, hörte sie etwas: das leise Knacken eines Astes.   Clove blieb abrupt stehen und drehte sich um. Ihre Augen erkundeten jeden Baumstamm, jedes Blatt und jeden Zweig.   Nichts.   Nur ihr Gefühl sagte ihr, dass sie nicht allein waren. Also wartete sie.   Und dann sah sie sie. Nur den Bruchteil einer Sekunde, aber sie hatte sie gesehen, als sie hinter einem Baumstamm vorsichtig hervorgelugt hatte.   Nicht vorsichtig genug …   „Cato!“   Er wandte sich genervt zu ihr, mit erhobenem Schwert in der Hand. „Ich hab doch gesagt–“   „Scht!“   Clove hielt sich ihren rechten Zeigefinger erst an die gespitzten Lippen, dann deutete sie mit ihm in die Richtung, in der sie das Mädchen gesehen hatte und er folgte ihrem ausgestreckten Finger. Er verengte die Augen, als würde er dadurch besser sehen können.   Zuerst sah er nichts anderes als Bäume, doch für einen Moment hätte er schwören können rotes Haar aufblitzen zu sehen.   * * *   Das Mädchen aus 5 stand dicht an den Baumstamm gepresst. Adrenalin explodierte in ihrem Leib und brachte ihn zum Zittern. Verängstigt schloss sie die Augen. Mit aller Willenskraft, die sie aufbringen konnte, versuchte sie ihren Körper zu beruhigen, ihre Atmung zu kontrollieren und bloß kein Geräusch von sich zu geben, das sie verraten würde.   Wenn sie sie jetzt sähen, wäre sie tot.   Sie hatte sie zu spät entdeckt, eine Flucht wäre jetzt unmöglich. Sie hatten sie nicht gesehen, nein, das hatten sie nicht! Sie schluckte. Doch, das gefährliche Mädchen hatte ihr für einen Moment genau in die Augen gesehen.   Angst. Sie hatte solche Angst. Was sollte sie nur tun? Was?   Blanke Panik ergriff sie. Sie hatte keine Chance gegen den Berserker und die Messerwerferin, sie hatte ja nicht einmal eine Waffe dabei, mit der sie sich hätte verteidigen können. Ihr blieb nur die Flucht, alles andere war aussichtslos. Nur wie lange würden ihre schwachen Beine sie tragen können? Seit Tagen hatte sie nicht genug getrunken und gegessen. Ihr Körper war ausgezehrt und schwach. Besaß sie überhaupt genug Kraft, um wegzulaufen? Jetzt bloß nicht durchdrehen, ermahnte sie sich. Es war das erste Mal seit langem, dass sie etwas anderes als quälenden Hunger verspürte. Sie war doch immer so vorsichtig gewesen. Niemand hatte sie je gesehen. Wieso also musste sie ausgerechnet jetzt jemandem auffallen?   Du musst unbedingt einen kühlen Kopf bewahren.   Ihre Hand fuhr in ihre Hosentasche und klammerte sich hilfesuchend um die Nüsse, die sie noch vor wenigen Minuten aufgesammelt hatte. Ihre heutige Beute und ihre einzige Nahrung seit Tagen.   Als der riesige Junge aus Distrikt 2 plötzlich vor ihr stand blieb ihr nur der Hauch einer Sekunde, um sich vor dem Schwert zu ducken, das er auf sie hinabsausen ließ. Es verfehlte sie um Haaresbreite und rammte geräuschvoll in den Stamm des Baumes. Sie sprintete davon, an ihm vorbei, der damit beschäftigt war, das Schwert aus dem Baum zu ziehen. Ihre Finger zitterten wie Espenlaub und doch schaffte sie es geistesgegenwärtig die Nüsse in ihrer Hosentasche zu umfassen, die Hand herauszuziehen und ihr einziges Nahrungsmittel, das sie derzeitig vor dem Hungertod bewahrte, auf den Boden fallen zu lassen.   Dann rannte sie um ihr Leben.   * * *   Clove stand nur zwei Meter von dem fliehenden Mädchen entfernt und sie wollte sich gerade auf sie stürzen, das Wurfmesser bereits in ihrer Hand, als sie plötzlich auf etwas ausrutschte. Der Fall kam so schnell und überraschend, dass sie gerade noch ihre Hände benutzen konnte, um sich abzufangen und nicht mit dem Gesicht frontal auf den Boden zu knallen. Sie knurrte verärgert. Dieses kleine Miststück!   Neben sich hörte sie plötzlich etwas Schwerfälliges zu Boden gehen und wusste, dass auch Cato auf den Nüssen ausgerutscht war. Ein Laut des Zorns entfuhr ihm. „Ich bring dich um!“, brüllte er außer sich.   Clove rappelte sich mühsam auf, was schwierig war, da diese Nüsse überall zu liegen schienen und es schwierig machten, das Gleichgewicht zu behalten. Noch dazu kam, dass sie vom Sturz leicht wackelig auf den Beinen war. Als sie endlich stand, erhaschte sie noch einen letzten Blick auf das Mädchen, welches schon viele schützende Meter zwischen sich und ihren Angreifern gebracht hatte. Clove griff nach ihrem Messer und holte mit dem Arm aus, um damit zu werfen, doch genau in dem Moment, in dem sie es losließ, rempelte Cato sie kräftig an. Das Messer zischte an der Rothaarigen einige Zentimeter vorbei und blieb letztendlich in einem Baumstamm stecken.   „Was zur Hölle soll das?“, fuhr sie Cato aufgebracht an.   „Sie gehört mir!“, zischte er und rannte los, seinem Ziel hinterher, das Schwert in seiner Faust umklammert.   Clove hätte ihr nächstes Messer beinahe nicht in Richtung des rothaarigen dürren Mädchens geworfen, sondern in den Rücken ihres arroganten Distriktpartners. Doch dann atmete sie einmal tief durch, um sich zu beruhigen, zog das Messer aus dem Baumstamm und folgte ihnen.   * * *   Das Mädchen war schnell. Aber nicht schnell genug.   Der Abstand zwischen ihr und Cato wurde immer geringer. Noch dazu schien sie auf einen Abgrund zuzulaufen. Sie würde also stehenbleiben müssen, wenn sie nicht in den Tod springen wollte. Cato kam ihr immer näher, seine Finger schlossen sich fester um den Griff seines Schwertes. Gleich würde er es in ihren Leib rammen und den Boden mit ihrem Blut tränken. Gleich war es so weit.   Aber sie verlangsamte ihr Tempo nicht. Wollte sie etwa in den Abgrund springen? Lieber den Freitod wählen, als sich von ihm umbringen zu lassen? Verübeln konnte er es ihr nicht. Wenn sie in den Abgrund sprang würde sie schnell sterben, schnell und schmerzlos. Wenn er sie erwischte – dann würde er sich genug Zeit für sie nehmen.   Nur noch wenige Meter lagen zwischen ihnen, er konnte sie bereits keuchen hören, sie war aus der Puste, hatte kaum noch Kraft, er konnte ihre Angst beinahe fühlen. Sie war nun kurz vor dem Abgrund und Cato hob sein Schwert. Wenn er jetzt nicht bald stehenblieb würde auch er in den Abgrund stürzen.   Er sah, wie sie etwas aus ihrer Hosentasche holte.   Er nahm noch drei weitere Schritte und holte mit dem Schwert aus. Er hatte es nun direkt auf ihren Kopf abgesehen.   Sie legte das Etwas über Mund und Nase, hielt es mit der Hand dagegen gepresst und Cato realisierte, was es war.   Sie sprang ohne zu zögern.   Sein Schwert zog einen großen Halbkreis und die Spitze seines Schwertes verfehlte ihren Nacken um Millimeter, schnitt stattdessen nur ein großes Büschel ihrer Haare ab. Als Cato schlitternd am Rand des Abhangs zum Stehen kam und ihr hinterher blickte, sah er noch, wie sie in dem großen See am Ende der Klippe eintauchte. Die abgeschnittenen roten Haare wurden vom Wind durch die Luft getragen. Er hatte sie nicht erwischt.   Das Schwert hielt er teilnahmslos in seiner Hand. Für einen Moment verspürte er vollkommene Leere.   Clove kam neben ihm zum Stehen und sah auf den See hinab. „Hast du sie erwischt?“   „Nein“, gab er ungern zu. Er starrte weiterhin auf die Oberfläche des Sees, die sich langsam zu beruhigen schien. Wie tief er war konnte man nur erahnen. Sie war bisher noch nicht aufgetaucht. Aber das hatte er auch nicht erwartet.   „Worauf wartest du noch?“, fragte Clove ungeduldig. „Lass uns runtergehen und es zu Ende bringen.“   Cato wandte sich vom Anblick des Sees ab und ließ ihn ohne noch einmal zurückzuschauen hinter sich.   „Ich glaube nicht, dass sie in den nächsten Stunden noch einmal auftauchen wird“, murmelte er wütend. „Sie hatte Dianthuskraut dabei.“   In der Akademie war Cato immer der Beste gewesen, nur der theoretische Teil hatte ihn stets gelangweilt. Verschwendete Zeit, seiner Meinung nach. Ein wenig war ihm dennoch in Erinnerung geblieben, wie das Dianthuskraut. Mit diesem Zeug konnte man beliebig unter Wasser bleiben, ohne Atmen zu müssen. Hinterher zu springen und im Wasser nach ihr zu suchen würde nichts bringen, denn er konnte zwar schwimmen, aber niemals so lange die Luft anhalten wie sie. Womöglich blieb sie stundenlang unter Wasser, bis sie sichergehen konnte, dass die Gefahr vorüber war. Er fragte sich, wo sie es her hatte. Wuchs dieses Zeug etwa hier im Wald? Oder kam es womöglich von einem Sponsoren? Wütend ballte er die Hände zu Fäusten und kickte einen großen Ast, der auf dem Boden lag, mehrere Meter in die Lüfte. Er hätte sie beinahe gehabt! Er war so nah dran gewesen! So! Nah!   Clove steckte ihr Messer weg. „Sie sah dünn aus“, stellte sie fest. „Scheint kurz vor dem Verhungern zu sein. Falls sie den Fall überlebt hat–“   „Natürlich hat sie ihn überlebt!“, blaffte er sie unbeherrscht an. Mit seinem erhobenen Schwert drehte er sich in ihre Richtung und ging mehrere Schritte auf sie zu, bis er ganz nah vor ihr stand. „Oder hast du etwa eine beschissene Kanone gehört, hm?“   Er platzte beinahe vor Wut. Seine Finger krampften sich so schmerzhaft um sein Schwert, dass sein ganzer rechter Arm zitterte. Wäre er nur schneller gewesen! Am liebsten hätte er seine Distriktpartnerin gepackt und sich an ihr abreagiert. Seine Sicht begann bereits zu verschwimmen.   Clove hielt seinem Blick stand, hob sogar noch arrogant das Kinn, zeigte keine Furcht. „Gib nicht mir die Schuld“, zischte sie gefährlich, „nur weil du zu langsam warst.“   Seine Augen weiteten sich leicht. Sein Blick wirkte schon beinahe abwesend, als würde er durch sie hindurch gucken. „Was hast du gesagt?“, fragte er leise, fast atemlos. Die Ader an seiner Stirn fing gefährlich an zu pochen. Sie reizte ihn, provozierte, obwohl seine Zündschnur gewaltig kurz war.   „Du hast mich schon richtig verstanden“, hauchte sie kalt. Plötzlich hielt sie ihm mit der rechten Hand ein Messer unters Kinn, direkt an den Hals. „Nur weil du mich angerempelt hast, hab ich sie verfehlt! Deinetwegen habe ich sie nicht getroffen.“ Er wollte mit seiner linken Hand nach ihrer greifen, doch sie hielt sie mit der Hand, in der sich keine Waffe befand, fest und er registrierte abwesend wie viel Kraft sie hatte. Ihre Augen waren kalt und gefährlich. „Wenn du dich nicht eingemischt hättest wäre sie jetzt tot!“   Dann ging alles ganz schnell. Cato holte mit seinem Schwert aus, woraufhin Clove mit ihrem Messer zudrücken wollte. Daraufhin lehnte er sich zurück, um der tödlichen Klinge auszuweichen. Ihre linke Hand entzog sich seinem festen Griff und sie zog blitzschnell ein zweites Messer. Mit beiden Klingen wehrte sie sein Schwert ab. Kurzerhand hob er sein rechtes Bein an und trat ihr mit voller Wucht in den Bauch, sodass sie zwei Meter nach hinten geschleudert wurde. Noch während sie fiel warf sie eins ihrer Messer nach ihm, dem er knapp auswich; es streifte ihn an der Schulter und hinterließ eine blutige Wunde. Den Schmerz spürte er nicht einmal, so sehr vernebelte ihm das Adrenalin die Sinne.   Clove schnappte nach Luft und stöhnte vor Schmerz, wollte sich gerade wieder vom Boden aufrichten, als er auch schon breitbeinig über ihr stand, beide Füße neben ihren Hüften positioniert. Erschrocken blickte sie zu ihm hoch und schloss panisch die Augen, als er mit seinem Schwert ausholte. Mit voller Wucht rammte er die tödliche Waffe direkt neben ihrem Kopf in die Erde. Nach einigen Sekunden öffnete sie vorsichtig die Augen. Cato genoss den Anblick, wie sie ängstlich und zitternd auf dem Boden lag – wehrlos. Ihr letztes Messer hielt sie immer noch umklammert, aber sie rührte sich nicht ein Stück, um sich zu verteidigen oder um erneut anzugreifen. Die Arroganz in ihrem Blick war endlich verschwunden und durch blanke Angst ersetzt.   Panem hatte ihn wenige Stunden zuvor in einem Moment der Schwäche gesehen, als er seiner körperlichen Begierde nachgegeben hatte. Nun erinnerte er die Zuschauer an seine wahre Natur.   Wie gern würde er sie jetzt töten, das Schwert tief in ihren Leib bohren und ihr ungeheure Schmerzen zufügen. Es wäre so leicht …   Aber etwas hielt ihn davon ab …   Er beugte sich kniend hinab, mit beiden Händen immer noch auf dem Griff des Schwerts. Aus der Wunde an seiner Schulter lief dunkelrotes Blut seinen Oberarm hinunter, das auf der Höhe seines Ellenbogens hinabtropfte, direkt auf ihre Wange.   „Verbündete hin oder her. Leg dich nicht mit mir an“, zischte er leise. „Ansonsten ertönt gleich doch noch der Schuss einer Kanone.“ Er lehnte sich noch weiter zu ihr hinunter. „Nur dass du ihn dann nicht mehr hören wirst.“   Mit einer schnellen Bewegung zog er das Schwert aus dem Boden und machte sich auf den Rückweg zum Füllhorn. Mit einer Hand wischte er sich das Blut vom Arm und als er seine Schnittwunde flüchtig berührte, zischte er vor Schmerz kurz auf. Dieses Biest! Am Füllhorn würde er erst einmal seine Wunde versorgen.   Wenn Clove schlau war, würde sie ihm in den nächsten Stunden nicht über den Weg laufen. Kapitel 6: Eifersucht --------------------- [Tag 4] Clove hackte immer und immer wieder auf den Baumstamm ein, auf dem sie saß, und stellte sich vor, es wäre nicht die brüchige, harte Rinde, in die ihr Messer stieß, sondern Glimmers aufgeblasenes Gesicht. Sie waren erst seit einigen Tagen in der Arena und bereits jetzt war Clove so kurz davor ihr Bündnis zu brechen. Die verkrampften Finger fest um den Griff des Messers verstärkt, die Augen hasserfüllt auf den Tribut aus Distrikt 1 gerichtet, bohrte sie ihr Messer immer weiter in den Stamm.   Glimmer stand bei Cato, so wie sie immer neben ihm zu stehen schien, seitdem sie einen Fuß in diese Arena gesetzt hatte. Sie redete mit ihm und flirtete, immer wieder berührten ihre Finger flüchtig seinen Arm, seine Schultern oder seinen Oberkörper. Die beiden standen im Augenblick zu weit von der Dunkelhaarigen entfernt, um ihre Worte hören zu können, aber Clove konnte sich ganz genau vorstellen, was die Blondine ihm für einen Honig ums Maul schmierte.   Im Kapitol waren die sechs Karrieretribute immer zusammen gewesen und auch wenn Glimmer bereits dort mit jedem männlichen Wesen in ihrem Bündnis zu flirten schien, hatte Clove den Eindruck, dass sie in der Arena ihre Hauptaufmerksamkeit Cato widmete. Der Tribut aus Distrikt 4 war nicht mehr unter ihnen, da er bereits im Blutbad sein Leben verloren hatte und ihren eigenen Distriktpartner schien Glimmer größtenteils zu ignorieren.   Clove jedenfalls machte es rasend.   Sie hasste es, wenn sie Glimmers Stimme hörte, wie sie Catos Namen säuselte. Sie hasste es, wenn sie plötzlich aus dem Nichts zu erscheinen schien, wenn Clove sich gerade mit ihm unterhielt, und Glimmer sich dann bei ihm anschmiegte. Und sie hasste es, wenn dieses Miststück ihr diesen überlegenen Blick zuwarf, der vor Arroganz und Selbstverliebtheit nur so strotzte.   Was bitte war an diesem muskelbepackten Macho nur so interessant, dass Glimmer ständig an ihm klebte, wie die Fruchtfliegen am verfaulenden Obst? Na schön, Cato sah gut aus und bekam aufgrund seiner Kraft vermutlich viele Sponsoren, noch dazu war er nicht ohne Grund der Anführer ihrer Allianz. Doch Clove bezweifelte, dass es tatsächliche Zuneigung sein sollte, die sie da so offen zur Schau gestellt beobachten konnte. Nein, sie wollte es nicht glauben. Glimmer musste irgendetwas vorhaben. Irgendeinen teuflischen Plan und sei es nur ihre Sammlung an Eroberungen zu erweitern. Vielleicht reizte sie das in den Hungerspielen nur umso mehr? Vor den Augen ganz Panems den mordlustigen Karriero zu verführen?   Clove beschloss deshalb Glimmer ganz genau im Auge zu behalten, auch wenn ihr jedes mal kotzübel wurde, wenn sie die Blondine und Cato zusammen sah. Was sie außerdem nur noch mehr aufzuregen schien, war, dass es ihren arroganten Distriktpartner natürlich in keinster Weise zu stören schien, dass Glimmer ihm ständig schöne Augen machte. Im Gegenteil: Cato genoss es in allen Zügen. Das sorgte dafür, dass Clove ihn beinahe genauso sehr hasste, wie Glimmer. Vielleicht lag es ja an dem tragischen Liebespaar aus Distrikt 12, das ihnen allen die Show gestohlen hatte? Wobei, nach Liebe sah es bei den beiden keineswegs aus, eher nach lüsternen Teenagern, die es kaum erwarten konnten allein in den Büschen zu verschwinden.   Clove hackte wieder auf den Baumstamm ein. Das würde sie mit allen Mitteln zu verhindern wissen.   „Eifersüchtig?“   Seine Stimme riss sie aus ihrem Gedankenchaos. Als sie aufsah blickte sie in zwei graue Augen. Marvel saß ebenso wie sie breitbeinig auf dem dicken umgefallenen Baumstamm, nur dass er statt einem Messer seinen Speer in seinen Händen hielt, der zwischen seinen Beinen im Boden steckte. Sein sonst so gleichgültiger Ausdruck zeigte nun ein amüsiertes Lächeln, gepaart mit einem wissenden Blick. Wie ungewöhnlich für sie – sie hatte seine Anwesenheit gar nicht bemerkt. Als sie nicht antwortete und ihn nur verwirrt ansah, nickte er demonstrativ in Richtung ihrer beiden Distriktpartner.   Clove schnaubte verärgert. „Wohl kaum!“ Sie zog ihr Messer aus der Rinde heraus, nur um es dann wieder mit aller Kraft hineinzurammen. „Ich über nur“, erklärte sie, woraufhin er gluckste.   „Ach, und wofür?“   Für Glimmer, dachte sie verbissen, konnte sich die Antwort aber gerade noch so verkneifen, um ihn in seiner Theorie nicht zu bestärken. „Für die anderen Tribute.“   In dem Moment ertönte ein lautes Lachen. Clove und Marvel schauten beide auf, um zu sehen, wie Cato gerade den Kopf in den Nacken legte und herzlich lachte, während Glimmer sich an seine Brust schmiegte und kichernd zu ihm aufsah. Cloves Zähne pressten sich aufeinander und eine Welle des Zorns rauschte durch ihren Körper. So herzhaft hatte sie Cato noch nie lachen gehört. Höhnisches Lachen? Ja. Verächtliches Lachen? Auch. Triumphierendes Lachen? Sehr oft sogar. Aber so wirkte es, als wären die zwei sehr miteinander vertraut.   Clove konnte den Anblick nicht länger ertragen und starrte auf die zerfetzte Rinde zwischen ihren Beinen. „Ich hasse sie“, presste sie hervor. Ein kleiner Teil von ihr wünschte sich, Cato würde sie jetzt mit Marvel sehen, und das gleiche empfinden, was sie fühlte, wenn sie ihn mit Glimmer sah.   „Das ist ihre Masche“, erklärte Marvel, der Clove betrachtete, wie einen semi-interessanten Diamanten – ganz nett, aber viel zu klein. „Sie spielt gerne mit den Leuten. Und mit dem, was sie gerade abzieht, fängt sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe.“   Clove warf ihm einen zornigen Blick zu. Hatte er sie gerade als Fliege bezeichnet? „Falls du damit andeuten willst–“   „Oh, und ob ich das will!“, unterbrach er sie. Mit einem süffisanten Lächeln legte er den Kopf von der einen auf die andere Seite. „Sie hat erreicht, dass du wütend bist. Und wenn du wütend bist, bist du unkonzentriert.“ Dann nahm er den Speer und deutete mit der Spitze auf sie. „Und du bist eifersüchtig. Ob du es zugeben willst, oder nicht.“   Clove wurde bewusst, dass sie immer noch das Messer in ihrer rechten Hand hielt und für einen Moment ging ihr der Gedanke durch den Kopf, Marvel mit einer schnellen Bewegung die Kehle aufzuschlitzen, wodurch er aufhören würde so dümmlich zu grinsen. Ihre ohnehin schon bis aufs Äußerste angespannte Wut schien sich nur noch zu verstärken, in dem er sie vor den Augen und Ohren von ganz Panem demütigte.   Sie und eifersüchtig?   Worauf denn?   Würde sie jetzt gerne an Glimmers Stelle sein und kichernd an Catos Arm hängen?   Mit Sicherheit nicht!   Sie waren in den Hungerspielen und nicht in den verdammten Sexspielen, in die Glimmer sie jeden Moment verwandeln würde.   Clove war nicht eifersüchtig, höchstens enttäuscht. Niemals hätte sie gedacht, dass Cato auf so ein billiges Flittchen stehen könnte. Eigentlich hatte sie angenommen, dass sein Anspruch größer wäre und dass er sich eher für jemanden interessieren würde, der so war, wie er. Und nicht das völlige Gegenteil.   „Ein Tipp von mir“, begann Marvel gönnerhaft. Er beugte sich in einer vertrauten Geste näher zu ihr, als wären sie zwei alte Freunde, die etwas Vertrauliches miteinander besprachen. „Ignorier es einfach.“ Dabei zuckte er gelassen mit den Schultern, als wäre das, was er vorschlug, das einfachste der Welt. „Und lass dir von diesen beiden selbstverliebten Idioten nicht die Chance auf den Sieg nehmen. Früher oder später sind sie tot. Und dann ist es egal, wie hübsch sie waren. Tot ist tot. Sie sind dann höchstens nur noch hübsche Leichen.“   Mit diesen Worten erhob er sich und ging samt Speer in der Hand davon. Clove schaute ihm nicht nach. Sie hackte erneut mit dem Messer auf den wehrlosen Baumstamm ein. Diesmal stellte sie sich vor, es wäre nicht Glimmers Gesicht, sondern das von Marvel. Dieser blöde, wichtigtuerische, arrogante Idiot dachte er würde alles wissen und sie durchschauen? Ha! Wenn er annahm, dass Clove eifersüchtig war, dann hatte er sich aber geschnitten! So war es nicht! Cato war ihr Distriktpartner. Nichts mehr und nichts weniger. Abgesehen davon war er ihr Verbündeter und vermutlich derjenige, der ihr beim Beseitigen der anderen Tribute die größte Hilfe sein würde. Deswegen wollte sie nicht, dass die Blondine ihn mit irgendwelchen aufreizenden Körperteilen ablenkte.   Als Clove gedämpfte Stimmen hörte und aufsah erkannte sie, dass die übrigen Karrieros sich inzwischen versammelt hatten. Alle bis auf sie. Anscheinend waren sie bereit, wieder auf die Jagd zu gehen. Von daher steckte sie ihr Messer zurück in die Innenseite ihrer Jacke und stand auf.   Erst einmal würde sie Marvels Ratschlag annehmen und die beiden einfach ignorieren.   Vielleicht würde das ja helfen gegen das nagende und schmerzende Gefühl in ihrer Brust.   * * *   Das Ignorieren fiel ihr schwer, wenn der Grund für ihre schlechte Laune nur zwei Meter von ihr entfernt lag. Im leichten Schein der Fackeln konnte Clove nur ihren Arm und ihre blonden Locken sehen, doch das allein reichte schon aus, um Glimmer den zarten Hals umdrehen zu wollen.   Um ein Haar hätten sie Distrikt 12 erwischt, doch das verfluchte Mädchen hatte es irgendwie geschafft wie ein kleines Eichhörnchen auf einen der Bäume zu klettern. Und Clove wünschte sich, sie könnte ebenso klettern und dem Mädchen, das in Flammen stand, hinterherjagen. Wie gern wäre sie diejenige, die dieses Mädchen tötete … Gerade sie hatte einen besonderen Tod verdient, vor allem, nachdem sie dafür gesorgt hatte, dass Clove und ihre Verbündeten vor den Augen von ganz Panem wie Idioten dastanden.   Niemand von ihnen schaffte es dort hinauf und 12 würde vermutlich auch nicht freiwillig hinunterkommen. Von daher warteten sie bis zum nächsten Morgen. Bis dahin hatte einer von ihnen hoffentlich einen guten Plan.   Das Leuchten ihrer Fackeln, die sie um sich herum in den Boden gesteckt hatten, bot ein wenig Licht, sodass Clove in der Nacht auch ohne Nachtsichtbrille etwas sehen konnte. Hin und wieder warf sie einen Blick in die Baumkronen, um sich zu vergewissern, dass 12 noch da war.   Jetzt waren sie so nah dran! Sie durfte ihnen nicht entwischen. Clove wollte sie umbringen und sie leiden sehen. Immer wieder spielte sie die imaginären Bilder in ihrem Kopf ab.   Die Gedanken an das Mädchen hielten sie wach. Während Marvel an einen Baumstamm gelehnt saß, von dem man die Lichtung gut überblicken konnte, und Wache hielt, lagen die anderen Karrieros auf dem Boden und versuchten zu schlafen. Clove lag auf der harten mit ein wenig Gras bewachsenen Erde und nutzte den kleinen Rucksack als Kopfkissen.   Aber sie konnte nicht schlafen.   Ihr gegenüber lag ihr Distriktpartner, mit dem Gesicht ihr zugewandt. Sie beide hatten in ihrem Heimatdistrikt oft im Freien übernachtet, um sich auf die Arena vorzubereiten, weshalb die zwei relativ abgehärtet waren, im Gegensatz zu den beiden Tributen aus dem Luxusdistrikt. Vielleicht war das der Grund, weshalb sich Glimmer wieder einmal an Cato schmiegte. Der große muskelbepackte Tribut strömte in dieser kühlen Nacht mit Sicherheit eine enorme Körperwärme aus. Im Schein der Fackeln sah Clove nur Glimmers Arm, den sie von hinten um seine Hüfte gelegt hatte, sowie ihre blonden Locken, die hinter seinem Kopf hervorlugten.   Clove starrte unentwegt zu ihrem Gegenüber, der seelenruhig zu schlafen schien. Natürlich würden alle Kameras jetzt sie zeigen. Das Zusammentreffen der Karrieros mit einem weiteren Tribut war das Spannendste, was die Bildschirme seit Tagen lieferten. Jeden Moment konnte es wieder losgehen. Für den Fall, das Distrikt 12 in der Dunkelheit der Nacht heimlich etwas plante, hielt Marvel mit der Nachtsichtbrille Wache, um sie im Notfall aufwecken zu können. Wie peinlich wäre das denn, wenn sie alle am nächsten Morgen aufwachten und der Baum wäre leer und verlassen?   Nein, morgen würde es ein aufregendes Spektakel geben und nicht nur die Zuschauer freuten sich darauf. Clove konnte es kaum erwarten, bis 12 endlich in die Reichweite ihrer Messer kam.   Alles woran Glimmer denken konnte war natürlich mal wieder nur das eine. In dem Moment, als Cato seinen Schlafplatz ausgewählt hatte, lag sie auch schon neben ihm. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis sie endlich aufgehört hatte zu plappern und zu kichern und eingeschlafen war. Es war immer stiller geworden, bis nur noch das Atmen der anderen Tribute und der Wind in den Blättern zu hören war. Nur Clove konnte nicht schlafen.   Wieder betrachtete sie Glimmers Hand und ihre Finger mit den langen, perfekt gefeilten Nägeln, wie sie auf Catos Bauch lagen, der sich bei jedem seiner Atemzüge hob und wieder senkte. Wie gern würde sie dort hinüber marschieren, die blonden Locken packen und sie gewaltsam von ihm wegzerren? Wieso störte es sie überhaupt? Dieses Verhalten passte gar nicht zu ihr. Clove mochte die meisten Menschen nicht. Viele waren ihr auch einfach nur egal. Glimmer schien sie jedoch regelrecht zu hassen. Sie machte sie beinahe so wahnsinnig, wie diese Katniss, als sie eine höhere Bewertung beim Einzeltraining erreichen konnte, als sie. Das konnte sie ja noch nachvollziehen. Aber welchen Grund gab ihr Glimmer?   Eifersüchtig …   Marvels arrogante Stimme tauchte plötzlich in ihrem Kopf auf und Clove stöhnte innerlich auf. Auf so einen Mist durfte sie sich in der Arena auf keinen Fall einlassen. Sie musste sich um andere Dinge Gedanken machen: Wo waren die anderen Tribute? Wie gehen wir am besten jagen? Wie kriege ich weiterhin Sponsoren? Welche Gefahren könnten sich die Spielemacher ausdenken? Und, und, und …   Cato würde, ebenso wie Glimmer, früher oder später in dieser Arena sterben müssen, damit sie hier lebend herauskam. Das war ihr von Anfang an klar gewesen und Clove wäre eine Idiotin, wenn sie anfing für auch nur irgendjemanden hier drin Gefühle zu entwickeln, was sie nicht nur ihren Sieg, sondern auch ihr Leben kosten könnte. Für Mitgefühl hatte Clove nie wirklich viel übrig gehabt.   Clove drehte sich auf den Rücken und warf noch einmal einen prüfenden Blick in die Baumkronen, aber 12 saß unverändert auf dem Ast, an dem sie sich festgeschnallt hatte. Vermutlich schlief sie, so wie die anderen. Als Clove sich wieder lautlos auf die Seite rollte und zu Cato hinüberschaute, stellte sie überrascht fest, dass seine Augen offen waren. Sie sahen sie direkt an und wirkten hellwach, als hätte er die ganze Zeit über gar nicht geschlafen, so wie sie es angenommen hatte. Im Fackelschein konnte sie seine Mimik nicht richtig deuten. Oft war er wie ein offenes Buch. Doch manchmal schien sein Blick unergründlich. Und sie fragte sich, was er in diesem Moment wohl denken mochte.   Mehrere Minuten lagen sie einfach nur gegenüber und betrachteten einander. Cato hätte tatsächlich so etwas wie ein Freund werden können, dachte Clove. Von allen war er derjenige, mit dem sie sich am besten verstand. Sie hatten die gleichen Prinzipien, denselben Humor, den gleichen Ehrgeiz. Vermutlich waren sie sich so ähnlich, weil sie aus demselben Distrikt kamen. Von klein auf spielten sie nach denselben Regeln. Und Clove mochte es, wenn sie nachts zusammen die anderen Tribute jagen gingen, nur sie beide allein.   Aber Clove wollte in dieser Arena keine Freunde finden. Sie wollte niemanden an sich ran lassen. Im Gegenteil. Alle anderen mussten sterben, damit sie leben konnte. Und Clove hatte jahrelang trainiert, um diese Aufgabe mit Vergnügen selbst in die Hand nehmen zu können.   Nach einer Weile verlor sie sich so sehr in seinen Augen, dass sie Glimmer völlig vergaß. Doch dann seufzte sie im Schlaf und der Arm der Blondine wanderte ein Stückchen höher. All die negativen Gefühle stürzten wie eine tosende Welle auf sie hinein, überschwemmten sie und ließen, als sie sich zurückzog, nichts als Chaos zurück.   Clove zeigte ihm den Mittelfinger.   Cato verzog verärgert das Gesicht und wandte ihr den Rücken zu, indem er sich ruckartig zu Glimmer umdrehte. Ihre Hand legte sich – bewusst oder unbewusst – auf seinen Rücken. Das machte Clove nur noch wütender. Geräuschvoll drehte sie sich ebenfalls auf dem harten Erdboden um, um ihm die kalte Schulter zu zeigen. Sollte er doch mit der Schlampe kuscheln! Das machte ihr überhaupt nichts aus!   Clove atmete noch einmal tief aus, um sich etwas zu beruhigen, bevor sie die Augen schloss, in der Hoffnung, endlich einzuschlafen. Es sollte allerdings noch einige Zeit vergehen, bis Marvel Glimmer weckte und sie aufstand, um seine Wache zu übernehmen. Erst dann konnte Clove endlich einschlafen.   * * *   [Tag 5] Mit einem Mal war Clove hellwach, dabei hatte sie gerade erst das Gefühl gehabt, eingeschlafen zu sein. Instinkt sowie jahrelanges Training sorgten dafür, dass sie sofort auf den Beinen war. Um sie herum brach das Chaos aus. Die Luft war voll mit summenden Jägerwespen, die sie angriffen. Da schon spürte sie den ersten Stich. Hysterische Schreie und unverständliche Rufe drangen an ihr Ohr und Clove hätte am liebsten mitgeschrien, als der Schmerz sich durch ihren Körper bahnte. Egal wie viele sie versuchte zu vertreiben, sie ließen sich nicht abwimmeln. Im Gegenteil, es schien, als würden es immer mehr werden.   Der zweite Stich. Dass Cato sie grob am Arm packte und vom Nest wegzerrte bemerkte sie kaum, genauso wie er rief, dass sie zum See laufen sollte. Schon fast widerstrebend ließ sie ihre Waffen und ihren Rucksack zurück, als sie lossprintete. Der dritte Stich. Es tat unheimlich weh, doch das Adrenalin hielt sie weiterhin auf den Beinen. Was jetzt zählte, war die Flucht! Der vierte Stich. Ihre Augen hafteten sich an Catos Rücken und sie folgte ihm, so wie sie ihm immer folgen würde. Hinter ihr wieder ein Schrei. Der qualvolle Klang war kaum zu ertragen. Jemand rief um Hilfe. Für den Bruchteil einer Sekunde ging ihr der Gedanke durch den Kopf, ob sie stehenbleiben und helfen sollte. Clove warf einen Blick über ihre Schulter und sah Glimmer, die wie wild um sich schlug.   Nein, schoss es ihr durch den Kopf.   Und Clove rannte, rannte, wie sie noch nie in ihrem Leben gerannt war.   Noch ein Stich. Noch nie da gewesener Schmerz, der ihren gesamten Körper in Brand setzte.   So viele Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Was war geschehen? Was war mit Distrikt 12? War sie das gewesen? Oder war sie auch ein Opfer des Angriffes geworden? Wieso hatte sie niemand rechtzeitig geweckt? Glimmer hatte doch Wache gehalten. Hatten vielleicht die Spielemacher ihre Finger im Spiel?   Clove stolperte, doch es gelang ihr noch das Gleichgewicht zu finden, ehe sie zu Boden stürzte, was sie durchaus das Leben kosten könnte. Sie musste sich zunehmend konzentrieren weiter geradeaus zu laufen. Ihre Sinne versagten ihr langsam den Dienst. Die Jägerwespen kannte sie aus anderen Spielen. Eine tödliche Züchtung aus dem Kapitol. Die giftigen Stiche konnten nicht nur zu Halluzinationen führen, sondern auch zum Tod. Immer noch folgten ihnen diese widerspenstigen Viecher. Das hektische Summen um sie herum wurde immer lauter. Blanke Panik vernebelte ihre Gedanken. Sollte das ihr Ende sein? Clove wollte nicht wahrhaben, dass sie jahrelang trainiert hatte, um am Ende in der Arena von Mutationen getötet zu werden. Was würde ihre Familie von ihr denken? Oder ihr Distrikt? Oder Panem?   Nein, sie weigerte sich, so zu sterben. Sie rannte schneller. Immer weiter hinter Cato her. Er war so schnell und egal wie sehr sie sich bemühte, sie konnte ihn nicht einholen. Seine Gestalt schien sich langsam zu verändern, nahm unnatürliche Formen an. Clove wollte blinzeln, um dieses trügerische Bild zu vertreiben, denn das musste sie sich offensichtlich einbilden. Aber ihre Augen bewegten sich wie in Zeitlupe und die Augenlider wurden so unsagbar schwer. Das Gift zeigte bereits seine Wirkung.   Endlich sah sie den See, der die lästigen und hartnäckigen Jägerwespen davon abhalten würde sie weiter zu stechen. Clove begann zu schwanken. Ihr wurde schwindelig. Oder war es der Boden, der sich bewegte?   Weiter, gleich hatte sie es geschafft. Ihre Lungen brannten bei jedem Atemzug und das Summen – dieses verfluchte Summen! – verfolgte sie immer noch! Sie konnte noch sehen, wie Cato ohne zu zögern ins Wasser sprang und nur zwei Sekunden später erreichte sie ebenfalls das Ufer. Bevor sie sprang hörte sie noch den Knall einer Kanone. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, zu fliegen. Dann versank sie im kühlen Nass des rettenden Sees. Kapitel 7: Probleme ------------------- [Tag 3] Cato hatte wieder einmal beschissene Laune. Da sie die meiste Zeit der Nacht damit verbrachten auf die Jagd nach den anderen Tributen zu gehen versuchten sie den ausbleibenden Schlaf tagsüber nachzuholen. Nachdem er einige Male leicht weggenickt war, woraufhin er sich nur noch müder fühlte, als zuvor, lag er nun auf seinem ausgebreiteten Schlafsack im Schatten des Füllhorns und starrte in den blauen Himmel über ihm. An Schlaf war nicht zu denken, denn sein geschärftes Gehör achtete auf jedes auch noch so kleine Geräusch. Er traute den anderen aus seiner Allianz nicht zu, das sie die Lage im Griff hätten, sollte etwas Aufregendes passieren. Schließlich war er der Anführer. Er sollte immer die Kontrolle haben.   Aber der menschliche Körper benötigte auch Schlaf und er wusste, was ihm bei Schlafentzug blühen würde. Diesen Fall hatten sie in der Akademie einige Male geprobt, damit die Anwärter wussten, wie der Körper bei unzureichendem Schlaf reagierte.   Deshalb kniff Cato verärgert die Augen zu und versuchte auf Teufel komm raus endlich einzuschlafen. Mehrere quälende Sekunden vergingen, in denen er nur das Knirschen seiner Zähne hören konnte, wie sie wütend aufeinander malmten.   Noch etwas störte ihn. Störte ihn gewaltig. Das Gefühl war schon lange nicht mehr zu ignorieren und forderte beinahe seine komplette Aufmerksamkeit. Vielleicht konnte er deswegen nicht schlafen. Nicht vielleicht, ganz wahrscheinlich sogar. Zum Glück waren die Hosen der Arenakleidung weit geschnitten, sodass Panem nicht in den Genuss dieser mehr als peinlichen menschlichen Schwäche geriet. Das wäre ja noch schöner! Cato fragte sich auch, woher diese … Sache … plötzlich herkam. Hatte es einen Auslöser gegeben?  In den letzten zwei Tagen war nicht viel geschehen – das einzige Gemetzel hatte in seinem Kopf stattgefunden. Ob ihn der Gedanke ans Töten womöglich geil machte? Seine blauen Augen öffneten sich und starrten wieder in den Himmel. Wenn ja, dann hatte er hier in dieser Arena ein gewaltiges Problem.   Seufzend setzte er sich auf und fuhr sich frustriert durchs blonde Haar, das daraufhin in alle Richtungen ab stand. Seine langen Beine verschränkten sich zu einem Schneidersitz. Dann starrte er in die tiefen Abgründe des dicht bewachsenen Waldes. Für einen Moment überlegte er, ob er sich selbst um sein Problem kümmern sollte …   Cato schüttelte heftig den Kopf. Auf keinen Fall! Seine Mutter sah ihm vielleicht in genau diesem Moment zu! Außerdem brauchte er sich nicht selbst darum zu kümmern! Er kannte genug Weiber, die sich darum stritten, sich darum kümmern zu dürfen!   Nur leider waren sie nicht hier und die Auswahl in der Arena war sehr dürftig. In seiner Allianz befanden sich drei Mädchen. Sein Blick wanderte zu Coral, dem weiblichen Tribut aus Distrikt 4. Sie trank gerade aus einer Wasserflasche und wischte sich anschließend mit dem Handrücken über den Mund. Ihre Haut war von der Sonne schön gebräunt und sie hatte, wie es sich für einen Karrieretribut gebührte, einen großen, durchtrainierten Körper. Alles in allem war sie aber eher durchschnittlich. Cato verzog den Mund.   Seine Augen wanderten weiter zu Glimmer. Hübsche, hinreißende Glimmer. Er dachte an das fast durchsichtige Kleid, das sie während der Interviews getragen hatte. Ein Hauch von Nichts. Ihr Körper strahlte geradezu das Wort Sex aus. Die Blondine saß im Gras, mit den Armen nach hinten abgestützt, das Gesicht gen Himmel und die Augen geschlossen, als befände sie sich nicht in der Arena der Hungerspiele, sondern an einem Strand in Distrikt 4 und nahm ein Sonnenbad. Es fehlten nur noch die Sonnenbrille und ein schicker Hut auf ihrem blonden Lockenkopf. Trotz der einheitlichen und eher praktischen, als wirklich modischen Uniform, die sie alle trugen, wurden ihre weiblichen Rundungen trotzdem perfekt betont.   Langsam ließ er den Blick weiter wandern. Die drei Jungs ignorierte er gekonnt, denn ihre dümmlichen Gesichter wollte er jetzt nun wirklich nicht sehen. Er schaute zu seiner Distriktpartnerin. Clove kniete auf den Boden und steckte gerade ein Messer in einen ihrer Stiefel. Ihr langer dunkler Zopf hing ihr über die Schulter. Dann sah sie auf, schien seinen Blick bemerkt zu haben. Clove war immer wachsam und gerade was ihn betraf schien sie ein äußerst gutes Gespür zu haben.   Sie beide waren doch ein gutes Team, nicht wahr? Und sie kamen aus dem gleichen Distrikt, weshalb es nur logisch war, dass sie seine erste Wahl sein würde. Sie standen sich zwar nicht sehr nah, aber sie stand ihm näher, als jeder andere aus ihrem Bündnis.   Sein Entschluss stand fest.   Cato stand auf. In nur wenigen Schritten war er bei ihr. Umso näher er ihr kam, desto mehr Sommersprossen konnte er auf ihrer blassen Haut erkennen. Misstrauisch musterte sie ihn. Cato packte sie grob am Arm und zog sie hinter sich her. Leise zischte er ihr zu: „Komm mit!“   „Spinnst du?“ Wütend riss sich Clove von ihm los und rieb sich die Stelle, an der er vielleicht ein wenig zu fest zugedrückt hatte. „Was willst du?“   Er warf erst ihr, dann dem Wald einen bedeutungsvollen Blick zu. Er verlangsamte seinen Schritt nicht, spürte die verwirrten Blicke der anderen Karrieretribute in seinem Rücken. Clove schien verärgert, doch ihre Neugier schien zu siegen, denn sie folgte ihm, wenn auch murrend.   Gemeinsam schritten sie in den Wald und ließen einige Birken und Eichen hinter sich. Catos Augen prüften jeden Baumstamm, jeden Zweig und jedes Blatt, so gut er konnte, doch er konnte keine Kameras erkennen. Leider wusste er, dass dies nicht bedeutete, dass sie nicht da waren. Das Kapitol platzierte sie auffallend unauffällig, damit den Zuschauern und vor allem den Spielemachern nichts entging.   Er versuchte sich seine Worte zurechtzulegen, doch das Denken fiel ihm schwer, denn sein Blut befand sich schon lange nicht mehr in seinem Kopf. Schließlich blieb er stehen, drehte sich zu ihr um und ließ seinen Blick einmal an ihrem Körper runter und wieder rauf fahren.  Der Ausschnitt des Shirts ließ ihr zartes Schlüsselbein erkennen. Er sehnte sich danach, sie von dieser hässlichen Trainingskleidung zu befreien. Die Beule in seiner Hose wurde größer.   Clove verschränkte die Arme vor der Brust. „Hat die Sonne dir das Hirn verbrannt? Was zur Hölle ist los mit dir? Du führst dich schon wieder auf wie ein Psycho.“   Er ging einen Schritt auf sie zu und sagte, ihre Beleidigung ignorierend: „Lass es uns tun!“   Clove blinzelte einmal, zweimal, dreimal. Ihre feingeschwungenen Augenbrauen zogen sich zusammen und sie betrachtete ihn mit einem Blick, den er nicht richtig einschätzen konnte. Der wilden Messerwerferin war vieles zuzutrauen. Im schlimmsten Fall endete er mit einer Klinge im Rücken. Doch eventuell … Cato war alles andere als ein guter Menschenkenner. Er vertraute einfach immer blind auf sein Bauchgefühl – das ihm meistens sagte, dass jeder sein Feind war. Die Blicke hingegen, die ihm Clove manchmal zuwarf, deuteten vielleicht darauf hin, dass sie nicht ganz so abgeneigt war, wie sie vielleicht gerne vorgab.   „Was genau meinst du?“, fragte Clove argwöhnisch, mit gerecktem Kinn.   Cato trat noch einen Schritt auf sie zu. Sie wich nicht zurück, sah ihn nur aus leicht zusammen gekniffenen Augen an. „Du weißt, was ich meine.“   Die Sekunden, die verstrichen, kamen ihm quälend langsam vor. Endlich, endlich zeigte sie eine Reaktion. Ihre Augen weiteten sich und ihre Lippen trennten sich von einander. „Du meinst …?“ Sie schaute kurz über ihre Schulter, zurück zum Füllhorn, an dem sich die übrigen Mitglieder ihrer Allianz aufhielten, als würde sie sich vergewissern wollen, dass sie beide wirklich allein waren.   Er nickte einmal heftig.   Ihre Augen wurden noch größer und freudige Erwartung ließ ihr hübsches Gesicht erstrahlen. „Da fragst du noch? Ich bin sofort dabei!“   Catos Lippen formten sich zu einem Siegeslächeln. Hatte er es doch gewusst. Kein Mädchen lehnte ihn ab. Nicht einmal Clove. Kleine, süße, tödliche Clove.   Trotzdem überraschte ihn ihre doch etwas zu enthusiastische Reaktion ein wenig. Deshalb fragte er, nur um sicherzugehen: „Wirklich?“   „Na klar!“   Cato grinste lasziv und hob eine Augenbraue. Die Kleine konnte es anscheinend kaum noch erwarten. Er hatte sich definitiv für die Richtige entschieden. „Ich wusste ja nicht, dass du … so offen dafür bist. Dann hätte ich schon viel früher gefragt.“   Clove ging einen Schritt auf ihn zu, überbrückte die letzte Distanz, sodass sich ihre Körper beinahe berührten. Er legte seinen Kopf leicht schief, als er auf sie hinabblickte. Ihre Lippen zeigten ein gefährliches Lächeln. „Machst du Witze? Ich träume jede Nacht davon.“   Sein Kopf näherte sich ihrem wie von selbst. Seine Lider senkten sich halb über seine Augen. „Ach echt?“   Sie nickte ungeduldig. „Ich wollte es schon seit dem ersten Tag in der Arena. Ach was, schon davor, seitdem wir im Kapitol sind.“   Und ihm wurde klar, dass er es auch schon so lange gewollt hatte. Die kleine, geschickte Clove, talentiert und skrupellos. Sie war nicht nur hübsch, sondern wusste auch wie man Angst und Schrecken verbreitete. Aus ihrer Allianz war sie diejenige, der er am meisten zutraute und am meisten vertraute. Deshalb wählte er sie, wenn sie jagen gingen. Deshalb wählte er sie auch jetzt. Sie waren sich so ähnlich und ergänzten einander perfekt. Auch wenn sie nicht so groß und muskulös war wie Coral, oder so charmant und sexy wie Glimmer, so schien sie eine Anziehungskraft auf ihn auszustrahlen, die ihn in ihren Bann zog. Er wollte nicht lieb und sanft, er wollte hart und brutal. Und genau das würde sie ihm geben.   „Wann machen wir es?“ Cloves Stimme war vor Aufregung fast ein heiseres Flüstern.   „Wenn du willst jetzt sofort“, raunte er. Er sah das Aufblitzen in ihren grünbraunen Augen. Ein aufgeregtes Seufzen entfuhr ihren Lippen. Das war alles, was er hören musste.   Cato lehnte sich nach vorne, um sie endlich, endlich zu küssen, doch seine Lippen erreichten nie ihr Ziel. Aus halb geschlossenen Augen sah er, wie sie sich umdrehte und sich von ihm entfernte. Verwirrt riss er die Augen auf, starrte auf ihren Rücken und beobachtete sprachlos, wie sie, mit einem Messer in jeder Hand, wo auch immer sie die so plötzlich her hatte, wieder in Richtung Füllhorn marschierte.   Was war denn nun auf einmal los?   „Clove!“, rief er, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. „Wo willst du verdammt noch mal hin?“   Irritiert drehte sie sich zu ihm um und bedachte ihn mit einem fragendem Blick. „Die anderen töten!“ Cato schüttelte kurz den Kopf. „Was?“   Clove hielt eins ihrer Messer hoch und wedelte damit herum. „Darüber haben wir doch gerade eben gesprochen.“   Mehrere Sekunden verstrichen, die sein Gehirn benötigte, um diese ausgeuferte Situation zu analysieren. Offenbar handelte es sich um ein Missverständnis, und zwar ein gewaltiges! Keinesfalls hatte Cato vor, das Bündnis ihrer Allianz schon vorzeitig zu brechen. Beide hatten aneinander vorbeigeredet. Hatte er sich so schlecht ausgedrückt? Für ihn war doch alles so logisch erschienen. „Ähm, Clove“, begann er das Missverständnis aus der Welt zu räumen. „Davon habe ich ehrlich gesagt nicht gesprochen.“   Irritiert und sichtlich verwirrt – und ein wenig enttäuscht – ging sie nun wieder auf ihn zu, wobei sie ihre Messer wegsteckte. „Dann drück dich das nächste Mal gefälligst besser aus!“ Sie schnaubte beleidigt, stellte dann aber doch die bedeutende Frage. „Was meintest du dann?“   Cato erwiderte ihren Blick, sagte nichts und gab ihr die Zeit, selbst auf die Antwort zu kommen. Es dauerte nicht lang, bis er förmlich sehen konnte, wie die Erkenntnis sie traf. Langsam, ganz langsam, weiteten sich ihre Augen.   „Willst du mich verarschen?!“, brüllte sie schon fast. „Das kann nicht dein Ernst sein!“   Er zuckte mit den Achseln. „Wieso denn nicht?“, fragte er unschuldig. Diese kleine Furie wusste ja nicht, was ihr entging … Wütend ging sie einige Schritte auf ihn zu, die Hände zu Fäusten geballt. Er rechnete jeden Moment damit, dass sie wieder eins ihrer Messer zog, so wie sie ihn ansah. Innerlich machte er sich schon dafür bereit, dem Angriff auszuweichen. „Wieso?“ Sie schnaubte frustriert. „Ich fasse es nicht!“   Nun, das war immer noch kein Nein gewesen.   Cato hob fragend eine Augenbraue. Sie drehte sich daraufhin abrupt um und ging. „Warte!“ Sie würde ihn hier mit Sicherheit nicht einfach so stehen lassen. Mit schnellen Schritten holte er sie ein, wollte sie an der Schulter greifen, doch sie wich aus, noch bevor seine Finger sie berühren konnten. Das alles hatte er sich wesentlich leichter vorgestellt.   „Fass mich nicht an!“, fauchte sie. Plötzlich blieb sie stehen, musterte ihn einmal von Kopf bis Fuß und schnaubte verächtlich. „Wie kommst du Vollidiot überhaupt darauf, dass ich dabei mitmachen würde?“   Cato brachte das erste Argument vor, das ihm einfiel. „Du bist meine Distriktpartnerin.“   Sie lachte trocken auf und setzte ihren Weg fort, noch schneller als zuvor.   „Clove …“   „Geh doch und frag Glimmer!“, rief sie, ohne ihn anzusehen, geschweige denn langsamer zu werden. Wütend kämpfte sie sich durch Äste hindurch, die sie barsch zur Seite schlug. Cato rollte mit den Augen. Nicht schon wieder diese Eifersuchtsschiene. Vielleicht hätte er doch lieber Glimmer fragen sollen. Er konnte sich kaum vorstellen, dass diese Femme Fatale sein Angebot ausgeschlagen hätte.   Cloves Zorn ging langsam auf ihn über, wie ein Feuer, das sich auf seine Umgebung ausbreitete. Das Blut, das nun wieder an seine richtigen Stellen zurückkehrte, stieg ihm zu Kopf und färbte ihn knallrot. Die Abweisung kratzte enorm an seinem Ego.   „Ach, soll ich das, ja?“   „Ja!“   „Gut! Vielleicht mache ich das auch!“   „Schön!“   „Schön!“   Aber er fragte Glimmer nicht. Er fragte Glimmer nie …   Clove trat zuerst auf die Lichtung und stürmte Richtung Füllhorn, die fragenden Blicke der anderen Karrieretribute ignorierend. Cato folgte ihr mit mehreren Schritten Abstand und mit einigen wüsten Beschimpfungen vor sich hinmurmelnd. Die Lust war ihm nun wortwörtlich vergangen. Stattdessen würde er am liebsten etwas vor Wut zertrümmern!   Deshalb bellte er seinen Verbündeten zu, dass sie sich bereitmachen sollten. Es war nun wieder Zeit zum Jagen. Mit Sicherheit würde ihn das auf andere Gedanken bringen.   Aber wenigstens war sein Problem nun kein Problem mehr.   Auf Clove war eben immer Verlass. Kapitel 8: Zwei --------------- [Tag 10]   Cato war immer noch wütend. Der Vorfall mit Clove und Distrikt 5 lag bereits einige Stunden zurück, doch der Zorn blieb. Es schien sogar, als hätte er sich seitdem sogar noch verdoppelt. Nicht nur, dass ihnen der rothaarige Tribut entwischt war, sondern auch, dass die Sponsoren nicht den kleinsten Finger zu rühren schienen, um sie in diesen Spielen zu unterstützen.   Nachdem ihre Vorräte in die Luft gesprengt worden waren hatte Cato großmäulig herumgeprahlt, dass sie nur zu warten brauchten, bis ein Fallschirm am Himmel erschien und ihnen Nahrung und Wasser brachte. Je länger die Spiele dauerten, desto teurer wurden zwar die Sponsorengeschenke, aber andererseits waren wiederum weniger Tribute übrig, denen man etwas schicken konnte. Und überhaupt, an wen würden die Sponsoren schon ihr wertvolles Vermögen verschwenden, wenn nicht an ihn? Wenn jemand Chancen auf den Sieg hatte, dann ja wohl er.   Und doch war bisher noch kein Fallschirm am Himmel erschienen. Nicht einer. Die wenigen essbaren Sachen in ihren Rucksäcken waren bereits aufgebraucht. Cato war noch nie so hungrig gewesen. Vor sich hin fluchend fragte er sich, was sein verdammter Mentor eigentlich die ganze Zeit über tat. Offensichtlich war er nicht mit der Suche nach geeigneten Sponsoren beschäftigt. Wahrscheinlich soff Brutus sich irgendwo die Birne zu oder suchte sich ein williges Mädchen aus dem Kapitol. Cato schnaubte frustriert. Wozu hatte er dann diese ganzen Spielchen mitgemacht? Die Parade, die Trainingseinheiten – all dies diente dazu Sponsoren für sich zu gewinnen –, das ständige erzwungene Lächeln, alles umsonst! Cato hätte ihnen am liebsten allen gleichzeitig den Hals umgedreht.   Wütend stieß er den Speer in den Fluss, doch durch seine blinde Wut war er so unkonzentriert, dass er den Fisch um mehrere Zentimeter verfehlte. Blitzschnell schwamm er davon und Cato stieß einen Laut der Unzufriedenheit aus.   „Das bringt nichts!“, rief er frustriert und warf den Speer so weit er konnte davon. Er landete irgendwo in einem Busch. In einigen Metern Entfernung stand Clove. Ebenso wie er hatte sie die Hosenbeine hochgekrempelt und stand barfuß in dem Bach, den sie im Wald entdeckt hatten. Das fließende Wasser war angenehm kühl an ihren blanken Knöcheln. Die Tage in der Arena wurden mittlerweile immer wärmer, während die Nächte immer kälter wurden.   „Es war deine Idee“, meinte sie tonlos und warf geschickt eins ihrer Messer, als wäre es eine jahrelang einstudierte Übung. Sie bückte sich und zog ihr Messer aus dem Wasser heraus. An ihm hing ein zappelnder Fisch. Das machte Cato nur noch wütender.   Dieses Miststück traf einfach immer! Sogar die verdammten Fische in diesem verdammten Bach! Mit großen Schritten stampfte Cato aus dem Wasser, spritzte dabei alles in seiner unmittelbaren Umgebung nass, und suchte nach dem Speer, riss ihn aus den Sträuchern und sprang geradezu wieder in den Bach, auf der Suche nach einem Fisch, den er mit aller Gewalt aufspießen konnte. Was sie konnte, konnte er schon lange und sie würde ihn sicherlich nicht dumm dastehen lassen.   Eigentlich hätten sie die Zeit nutzen sollen, um ein wenig zu schlafen, denn wie jede Nacht würden sie auch in dieser wieder auf die Jagd gehen. Doch Cato konnte nicht schlafen. Immer wieder sah er das ängstliche Gesicht von dem Mädchen aus Distrikt 5, das ihm so haarscharf entwischt war. Sie waren nur noch zu sechst in dieser Arena. Hätte er sie erwischt wäre er dem langersehnten Sieg einen Schritt näher gekommen. Außerdem war schon seit so langer Zeit nichts mehr passiert. In ihm loderte eine zerstörerische Energie, die hinaus musste. Deshalb hatte er beschlossen, dass sie auf die Jagd gehen würden – diesmal nicht auf Menschen –, schließlich brauchten sie etwas zu essen. Und dann hatten sie diesen kleinen Bach im Wald entdeckt, in dem einige kleine Fische schwammen.   Aus dem Augenwinkel sah er, wie Clove dem zappelnden Fisch den finalen Schnitt versetzte und ihn dann ins Gras zu den anderen zwei Fischen warf, die sie bereits gefangen hatte. Cato biss die Zähne aufeinander. Glück, nichts weiter.   Dann fiel ihm ein, dass die anderen Tribute auch irgendwie überleben mussten. Das war bereits ihr zehnter Tag. Wie schafften die das, ohne zu verhungern? Was aßen die? Beeren? Kaninchen? Gab es hier überhaupt Kaninchen? Oder vielleicht Pilze? Waren die nicht giftig? In Gedanken raufte er sich die Haare. Das waren alles Fragen, mit denen sich Cato vorher nie beschäftigt hatte. Und gleichzeitig verfluchte er Brutus dafür. Es wäre seine Aufgabe gewesen, ihn auf so etwas vorzubereiten.   „Weißt du denn, wie man einen Fisch ausnimmt?“, riss Clove ihn aus seinen Gedanken.   Ohne sich umzudrehen antwortete er barsch: „So schwierig wird das ja wohl nicht sein!“   Er konnte die Leute aus ihrem Distrikt bereits lachen hören und wie sie ihn verspotteten. Armer Cato, verhungert in den Hungerspielen …   Noch etwas machte ihn wahnsinnig. Der Grund stand nur wenige Meter von ihm entfernt, fast in Reichweite seiner zerstörerischen Hände. Beinahe hätte er sie vorhin umgebracht. Es hatte nicht mehr viel gefehlt. Wieder einmal hatte sie ihn aufs Äußerste gereizt und ihre Grenzen überschritten. Es wäre so einfach gewesen, so einfach wie bei Distrikt 3, dem er ohne groß nachzudenken das Genick gebrochen hatte. Kurz und schmerzlos – das war gar nicht seine Art. Doch Cato hatte in diesem Moment nur noch Rot gesehen.   Bei Clove war es ähnlich, denn da dachte er auch oft nicht nach und handelte einfach nur, ließ sich von seinen Instinkten leiten. Dennoch hatte das Schwert nicht sie getroffen, sondern nur den Boden neben ihr, nur wenige Zentimeter von ihrem hübschen Gesicht entfernt. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass ihn etwas daran gehindert hatte, bei ihr den tödlichen Treffer zu landen. Ihm war bewusst, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ihr Bündnis brach. Seitdem sie sich beide während der Ernte freiwillig gemeldet hatten malte er sich bereits ihren Tod aus, in den verschiedensten und kreativsten Versionen. Doch immer, wenn er sich einer dieser Version in der Realität näherte, hinderte ihn etwas an der Umsetzung.   Und Cato wollte nicht darüber nachdenken, was dieses Etwas bedeuten könnte. Manchmal glaubte er es zu wissen, dann wiederum verdrängte er diese Gedanken, schimpfte sich selbst einen Idioten, der das Wesentliche aus den Augen verlor. Es würde nur einen Sieger geben. Das war ihm von Anfang an bewusst gewesen.   Seitdem er diese Arena betreten hatte, hatte sich etwas verändert. Mit jedem Tag wurde es schlimmer und selbst das Verdrängen machte an einem bestimmten Punkt keinen Sinn mehr. Das Wort Verbündete war für ihn ein dehnbarer Begriff. Er konnte nicht leugnen, dass ihn und Clove etwas anderes verband, als mit den Tributen aus Distrikt 1 oder 4. Und er bezweifelte, dass es daran lag, dass sie aus demselben Distrikt kamen. Und er bezweifelte ebenso, dass es ihr nicht auch auffiel. Dass er sie anziehend fand konnte er nun nicht mehr abstreiten, vor allem nicht, da es seit neuestem bewegliches Bildmaterial darüber gab. Clove hatte ebenfalls Interesse an ihm. Wie schade nur, dass sie hier in der Arena waren, um sich gegenseitig umzubringen. Er wusste nicht, ob er Clove tatsächlich töten könnte, sollte es am Ende darauf hinauslaufen. Beinahe hoffte er schon, dass ihm ein anderer Tribut diese undankbare Aufgabe abnahm. Inzwischen hatte sich so vieles ereignet. Und Cato hasste sich für diese Schwäche.   Der Speer zitterte in seinen Händen, so fest umklammerte er ihn. Er schritt zornig durch das Wasser, auf der Suche nach seinem potenziellen Abendessen. Die Sonne versank bereits zur Hälfte am Horizont und sobald die Nacht hereinbrach würde das Jagen im Dunkeln – zumindest nach Tieren – unmöglich werden. Cato ging zurück, drehte sich ungeduldig immer wieder um die eigene Achse, wodurch das Wasser ihm manchmal bis zum Knie hochspritzte.   „So fängst du nie etwas“, meinte Clove überheblich, den Blick weiterhin auf ihre Füße im Wasser gerichtet. Ihr langer, dunkler Zopf hing ihr dabei über die linke Schulter. „Du dämlicher Trampel verschreckst die Fische nur.“   „Clove, ich schwöre dir“, presste Cato zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mit dem Speer in der Hand drehte er sich angriffsbereit zu ihr um. Vielleicht würde er es doch können. „Wenn du nicht gleich die Klappe häl–“   Augenblicklich verstummte er. Clove hockte nun im Bach, das ihr bis oberhalb der Knöchel reichte, und starrte konzentriert ins Wasser, die Finger um den Griff ihres glänzenden Messers gelegt. Die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Bäume auf sie hinab schienen, spiegelten sich in der Wasseroberfläche und warfen helle, schimmernde Flecken auf ihre blasse Haut. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Ihre grünbraunen Augen strahlten geradezu.   „Was?“, fragte sie ahnungslos.   Einen Moment starrte Cato sie an, vergaß, was er mit dem Speer vorhatte. In diesem Moment war sie einfach wunderschön und wirkte so zart und zerbrechlich, mehr wie das Kind, das sie eigentlich noch war, als das Monster, das Panem in ihr sah. Sie sah ihn einfach nur an, ohne dieses sarkastische Grinsen oder den genervten Blick in den Augen. Sie blinzelte zweimal, dann verschob sich ihr Fokus wieder auf das Wasser. Gezielt stach sie mit dem Messer zu, wobei ihr Wasser ins Gesicht spritzte und ihre blassen Wangen herablief. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, als sie den nächsten Fisch hervorholte.   Stolz verkündete sie: „Ich schätze, das reicht fürs Erste.“   Sie tötete den Fisch kurz und schmerzlos und warf dann auch ihn ans Ufer. Mit dem rechten Unterarm wischte sie sich das Wasser aus dem Gesicht. Diese Tropfen in ihrem Gesicht erinnerten Cato an das Bild, das er schon einmal an diesem Tag gesehen hatte – als er im Gras über ihr gelegen und sein nasses Haar ihr ins Gesicht getropft hatte …   Diese Szene erschien ihm weit, weit entfernt. In diesem Moment hatte er sie einfach nur haben wollen, doch nur wenig später dominierte ihn wieder die altbekannte Wut, die ihn nur zerstören lassen wollte. Und er war so kurz davor gewesen, sie zu zerstören … Dieses ständige Hin und Her würde ihn bald wahnsinnig machen.   Während er nachdachte sah er sie ununterbrochen an. Sie erwiderte seinen Blick. Ihr Lächeln verblasste ein wenig, aber verschwand nicht ganz.   Bindungen waren hier äußerst unangebracht. Aber vielleicht war Bindung einfach das falsche Wort. Clove war … eine willkommene Ablenkung … Das machte mehr Sinn. Und was wäre in seiner Raserei besser, als etwas, das ihn von seinem Zorn ablenkte und ihn wieder klar denken ließ, um sich erneut aufs Wesentliche zu konzentrieren?   In dem Moment, indem Cato den ersten Schritt auf sie zu machte, erklangen die Fanfaren und ließen ihn innehalten. Während die Stimme von Claudius Templesmith laut im Wald ertönte wandten sie den Blick nicht voneinander ab. Auf Cloves Gesicht erkannte er die gleiche Verwirrung, die auch er in sich verspürte. Die Stimme erzählte irgendetwas von einer Regeländerung. Es schien, als spräche sie in einer fremden Sprache, die er erst einmal entziffern musste. Wort für Wort nahm er sie auseinander, versuchte, den Inhalt dieser Verkündung zu erfassen.   Das hatte es noch nie gegeben: Das erste Mal in den vierundsiebzig Jahren, in denen es die Hungerspiele bereits gab, konnte es zwei Sieger geben, zumindest, wenn die letzten zwei übrigen Tribute aus demselben Distrikt stammten.   Und sie beide kamen aus demselben Distrikt …   „Zwei“, hauchte Clove. Das Rauschen des Baches war beinahe lauter als ihre Stimme.   Zwei Sieger …   Sie konnten hier beide gemeinsam herauskommen.   Claudius Templesmith wiederholte seine Verkündung noch einmal, dann verstummte er und ließ eine seltsame Stille zurück. Nur das plätschernde Wasser und das Zwitschern einiger Vögel aus den Baumkronen waren zu vernehmen. Noch immer sahen die beiden Tribute sich an.   Für jeden anderen Distrikt wäre diese Regeländerung der Himmel auf Erden gewesen, doch was würde ein Karrieretribut davon halten, jemand, der nur mit einem Ziel in diese Arena gekommen war? Trainiert um zu töten, um keine Gnade walten zu lassen, um niemanden zu verschonen und selbst seine eigenen Verbündeten eines Tages zu bekämpfen.   Bei jedem anderen Karrieretribut hätte er sich vermutlich geweigert, diese Regeländerung in Anspruch zu nehmen. Doch nicht bei Clove. Cato verspürte eine enorme Erleichterung, ein schweres Gewicht fiel von ihm. Der Gedanke, wie sie beide diese Arena verließen, sie beide die Siegeskrone auf ihren Häuptern trugen, und sie gemeinsam nach Distrikt 2 zurückkehrten, fühlte sich gar nicht so unangenehm an.   Zwei Sieger …   Ja, wenn es jemand verdient hatte, hier mit ihm gemeinsam den Titel des Siegers zu beanspruchen, dann wäre es ohne Zweifel Clove. Niemand anderes hatte es verdient. Nicht der riesige Junge aus 11, der sich trotz seiner enormen Stärke hier irgendwo in dieser Arena feige versteckte, auch nicht das dürre Mädchen aus 5, dessen Intelligenz sie nicht davor bewahren konnte elendig in diesem Wald zu verhungern, und erst recht nicht die beiden Tribute aus 12, die es gewagt hatten sich mit ihm anzulegen, einige aus seiner Allianz zu töten und sie vor ganz Panem lächerlich zu machen. Sie alle vier waren feige und versteckten sich, statt sich dem Kampf zu stellen. Niemand sonst hätte den Sieg verdient, als er und Clove.   Später wusste er nicht mehr, wer den ersten Schritt gemacht hatte. Vielleicht waren sie auch gleichzeitig aufeinander zugegangen. Sie beide ließen ihre Waffen fallen. In diesem Moment würden sie sie nicht brauchen. In nur wenigen Schritten überbrückten sie die Distanz und küssten sich wie ein Paar, das sich nach endlos langen Jahren endlich wiederfand. Diese Bekanntmachung schien eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen zum Einsturz gebracht zu haben, als wären unsichtbare Fesseln an ihnen gelöst worden, als würden sie sich endlich aufeinander einlassen können.   Cato wollte nicht darüber nachdenken, er wollte nur noch fühlen. Deshalb schlang er seine Arme um ihre Hüften und presste ihren schlanken Körper gegen seinen eigenen. Ungeduldig drängte sie sich ihm entgegen, während ihre Hände unter sein Shirt schlüpften. Ihre warmen Fingerspitzen hinterließen einen wohligen Schauer auf seiner Haut. Seine eigenen Hände fuhren über ihre Seiten, ihren Rücken, hoch und runter, und fanden dann ebenfalls den Weg unter ihr Oberteil. Ihre Haut war so unglaublich weich und er konnte einfach nicht genug davon bekommen.   Irgendwo im Hinterkopf erinnerte ihn eine leise Stimme an die Kameras, die sich in diesem Moment auf sie richteten, doch es könnte ihn nicht weniger interessieren. Er wollte das, er wollte sie und er würde sich von nichts abhalten lassen, nicht einmal von dem Klang einer beschissenen Kanone.   Er küsste sie, als hinge sein Leben davon ab, als wäre sie der Sauerstoff, den er zum Atmen brauchte, er inhalierte sie, sog ihren Duft ein, schmeckte ihren Geschmack. Mit allen Sinnen nahm er sie wahr, lauschte ihrem Keuchen und hin und wieder öffnete er die Augen, um sie anzusehen, ihr sanftes Lächeln, ihre wunderschönen grünbraunen Augen.   Zusammen waren sie beide unbesiegbar. Die anderen Tribute hatten nicht die geringste Chance gegen sie.   Gemeinsam würden sie siegen.   Gemeinsam würden sie in ihren Distrikt zurückkehren.   Alles was zählte, waren nur noch sie zwei. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)