Blood Game von stone0902 (Cato x Clove) ================================================================================ Kapitel 3: Nächte ----------------- [Vor den Spielen] Morgen war es endlich soweit. In der letzten Nacht im Kapitol konnte Clove keinen Schlaf finden. Statt die letzten Stunden in ruhiger und geschützter Atmosphäre zu verbringen war sie viel zu aufgeregt und viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt. Wer wusste schon, wie viele Nächte sie in der Arena verbringen würde und wie die Arena überhaupt sein würde: eine ebene Fläche ohne Versteckmöglichkeiten, eine eiskalte Eislandschaft, eine Sumpflandschaft voller wilder Tiere?   Immer wieder sah sie die Gesichter der anderen Tribute vor sich, allen voran das eingebildete Gesicht mit den grauen Augen und den eingefallenen Wangen, die von jahrelangem Hunger zeugten: das Mädchen, das in Flammen stand. Clove würde sie am liebsten brennen sehen und mit ihren Todesschreien ganz Panem in Schrecken versetzen.   Sobald sie in der Arena ihre Messer in den Fingern hatte würde sie sich direkt auf Distrikt 12 stürzen. Und dann würde sie Panem zeigen, was Distrikt 2 seine beste Schülerin gelehrt hatte.   Nun war überhaupt nicht mehr an Schlaf zu denken. Ihr ganzer Körper kribbelte vor Aufregung und sie hielt es keine Minute mehr länger in ihrem ruhigen Schlafzimmer aus, sodass sie kurzerhand aufstand und durch das Stockwerk wanderte. Obwohl die Klimaanlagen für angenehme Temperaturen im Gebäude sorgten war es warm, sodass sie beschloss sich nichts überzuziehen und nur in Top und kurzer Shorts in den Aufenthaltsraum zu gehen. Wer würde ihr denn auch bitte schön mitten in der Nacht über den Weg laufen? Die anderen aus ihrem Team schliefen sicher schon. Und wenn nicht, dann war es ihr auch egal. In nicht weniger als zehn Stunden würden sie sie in allen Lebenslagen rund um die Uhr live im Fernsehen sehen. Was gab es Intimeres als das?   Im Aufenthaltsraum brannte kein Licht, nur das Leuchten des großen Bildschirms an der Wand warf dunkle tanzende Schatten in den großen Raum. Zuerst dachte sie, als sie die männliche große Gestalt auf dem Sofa sitzen sah, dass es sich dabei um Brutus handelte, doch als sie sich ihm näherte, erkannte sie ihren Distriktpartner.   Er sah kurz auf, als sie sich setzte, ans andere Ende des Sofas, sagte jedoch nichts und wandte sein Gesicht wieder dem Fernseher zu. Auch er schien nicht schlafen zu können. Nicht verwunderlich. Er trug nur eine lockere Jogginghose und ein enges T-Shirt, unter dem sich seine Muskeln spannten. Im Augenblick liefen die Wiederholungen der Punktevergabe und Clove fragte sich, wieso er sich das immer noch anschaute. Schließlich war er deswegen vor nur wenigen Stunden völlig ausgetickt und hätte beinahe einen Avox umgebracht.   Vielleicht war er ja ein Masochist und quälte sich gern selbst?   Als das Gesicht von Distrikt 12 und ihrer Punktzahl auf dem Bildschirm erschien spürte auch sie, wie die Wut in ihr anfing zu brodeln. Nach wie vor konnte sie nicht verstehen, wie dies möglich war. Sie hasste diese Elf. Sie hasste Distrikt 12 und sie hasste dieses Gesicht.   Wenn jemand nicht nachvollziehen konnte, wie man in den Hungerspielen töten konnte, so hatte er noch nie das empfunden, was Clove gerade fühlte.   „Ich will sie tot sehen“, sagte Cato leise neben ihr. Seine Stimme war beherrscht, aber drohend und gefährlich. Er musste ebenso empfinden wie sie. Clove musterte ihn, wie er wie gebannt auf den Fernseher starrte, wo sie gerade Rückblenden von ihr zeigten, wie sie sich auf der Bühne in ihrem roten Kleid drehte. Das Flimmern des Bildschirms ließ ihn ungeheuerlich furchterregend aussehen, wie ein Raubtier, kurz vor dem Angriff. Dann erschien eine Großaufnahme von ihrem Distriktpartner, in dem Moment, in dem er Caeser Flickerman und ganz Panem sein größtes Geheimnis anvertraute. Und gerade, als man denken konnte, dass Cato nicht noch wütender werden konnte, hauchte er fast atemlos zwischen seinen aufeinander gepressten Zähnen: „Sie beide.“   Sein Gesicht wandte sich zu ihr und seine Augen sahen sie direkt an, die sonst so hellen Iriden beinahe schwarz in der Dunkelheit. Sein Blick war so intensiv, dass er sie für einen Moment in seinem Bann hielt. Die Härte in seinem Gesicht, der unverhohlene Hass, faszinierten sie.   Clove reckte das Kinn und sah ihn abschätzig an. „Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dir den Spaß allein überlasse.“   Er wandte den Kopf von der einen zur anderen Seite, als würde er etwas überdenken. „Allein?“ Dann schmunzelte er. „Vielleicht lasse ich dich mitmachen.“   Seine Augen betrachteten wieder den Bildschirm, als sie belustigt schnaubte. Als ob sie seine Erlaubnis brauchte. Er mochte sich für den Anführer ihrer Gruppe halten, na schön, er möchte vielleicht tatsächlich der Anführer ihrer Gruppe sein, aber Clove konnte immer noch tun und machen, was sie wollte. Und sie wollte dieses Mädchen töten. Mehr als jeden anderen von den Tributen.   „Arroganter Idiot“, murmelte sie nur.   Seine Antwort kam sofort. „Verwöhnte Göre.“   Clove musterte kurz den muskelbepackten, vor Kraft nur so strotzenden und beeindruckenden Körper ihres Distriktpartners. Sie war alles andere als schwach, aber im Gegensatz zu ihm eher schlank und bei weitem nicht so groß wie er. Wie würde er das Mädchen wohl töten? Vielleicht in einem Wutanfall, so wie bei dem Avox heute, unkontrolliert und in Raserei? Es wäre ein brutales Gemetzel.   Sie hingegen würde ihr Opfer leiden lassen, sich Zeit nehmen und es genießen, ihr das Herz aus der Brust zu schneiden und es Loverboy direkt vor die Füße werfen. Ihr Körper würde in einer Blutlache liegen, ebenso rot wie das Kleid, das sie während des Interviews getragen hatte.   Ihr Hauchen war voller freudiger Erwartung. „Ihr Tod wird wundervoll.“   Ihre Blicke trafen sich noch einmal und es schien, als würden sie eine stille Übereinkunft treffen. „Das wird er“, versprach er.   Nach der Wiederholung der Interviews wurden Aufnahmen der Parade und der Trainingseinheiten gezeigt und langsam aber sicher wurden ihre Augen schwerer. Die Stimmen der Erzähler vermischten sich immer mehr zu einem monotonen Gemurmel und sie schloss ihre Augen.   Als sie ihre Augen wieder öffnete wurde es bereits hell im Aufenthaltsraum. Verschlafen zwinkerte sie mehrmals, ganz überrascht davon, offenbar doch noch eingeschlafen zu sein. Durch die großen Fensterscheiben konnte man den Tag heranbrechen sehen. Der Fernseher lief immer noch. Clove bemerkte irgendeine uninteressante Werbung aus dem Kapitol. Sie war im Sitzen eingeschlafen, mit dem Kopf auf ihrer Schulter. Der Nacken tat davon schmerzhaft weh und als sie ihn vorsichtig bewegte, um die verspannten Muskeln zu lockern, fiel ihr Blick auf die schlafende Person neben ihr, am anderen Ende des Sofas.   Es war das erste Mal, dass sie ihn schlafen sah, dass sie ihn so friedlich sah. Das erste Mal, ohne wachsame Augen, ohne angespannte Muskeln, stets zum Angriff bereit. Ein Arm lag unter seinem Kopf, der andere auf seinem Bauch, die Fernbedienung in der Hand. Von den blutigen Kratzern des Avox war dank eines Wundermittels des Kapitols nichts mehr zu sehen. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet, das Gesicht wunderschön.   Wenn sie es nicht besser wüsste hätte man meinen können, ein sanfter, anmutiger Engel schliefe dort, rein und unschuldig, nicht in der Lage, auch nur einer Seele ein Leid zuzufügen.   Aber sie wusste es besser.   Er war eine skrupellose Killermaschine. Sein komplettes Wesen strahlte nur eins aus: Zerstörung.   Und dennoch fühlte sie sich in seiner Nähe alles andere, als unwohl.   * * *   [Tag 7] Es war die siebte Nacht in der Arena. Cato lag auf dem Rücken, in seinen warmen Schlafsack gehüllt, direkt neben Marvel und dem Nichtsnutz aus Distrikt 3, dessen Namen er sich niemals merken würde. Sie beide schienen tief und fest zu schlafen. Die hinter dem Kopf verschränkten Arme dienten Cato als Kissen und seine blauen Augen starrten in die schwarze Nacht, die die Arena in völlige Dunkelheit tauchte.   Er musste schlafen, er musste unbedingt schlafen, denn in einer Stunde würde er bereits Clove ablösen und ihre Wache übernehmen. Und wenn er dann einschliefe und sie angegriffen wurden, würde seine Unvorsichtigkeit nicht nur sein Leben kosten.   Er musste schlafen, aber er konnte nicht.   „Clove“, flüsterte er, erhielt aber auch nach längerem Warten keine Antwort. Vielleicht hatte sie ihn nicht gehört? „Clove!“   „Halt die Klappe“, kam das leise, aber strenge Zischen zurück. Natürlich hatte sie ihn gehört.   Er richtete sich auf. Der Schlafsack rutschte ihm bis zur Hüfte hinab. Dass es in der Arena überhaupt einen Schlafsack gab, der lang genug für ihn war, überraschte ihn, denn mit seiner Größe passte er normalerweise selten in einen von ihnen rein. Die Dinger aus dem Kapitol waren verflucht warm. Er schwitzte schon fast. Als die kühle Nachtluft ihm entgegenschlug genoss er es beinahe.   Der Mond wurde von Wolken bedeckt; nur ein leichter Schein sorgte dafür, dass man schemenhafte Umrisse zumindest erahnen konnte. Ganz schwach konnte er ihre zierliche Gestalt erkennen. Sie saß mit dem Rücken zu ihm, den Blick in Richtung Wald. Vermutlich trug sie die Nachtsichtbrille. Leise schlüpfte er aus seinem Schlafsack und zog sich seine Schuhe an. Langsam näherte er sich ihr. Doch als er sich neben sie kniete und sie vorsichtig an der Schulter berührte, drehte sie sich blitzschnell um, und hielt ihm eins ihrer Messer an die Kehle.   Ihr Flüstern war leise und gefährlich. „Berühr mich noch einmal und ich schneid dir deine Finger ab.“   Halb belustigt, halb verärgert schnaubte er. Mit einer groben Bewegung wischte er ihre Hand samt der Waffe beiseite. Was wollte sie tun? Ihn einschüchtern? Ha! In diesem Moment verspürte er keinen Grund zur Besorgnis. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie ihm nichts tun würde. Schließlich waren sie Verbündete. Hätte sie ihn töten wollen wäre er schon längst tot.   In der Dunkelheit konnte er ihre Augen nicht ausmachen und deshalb sah er einfach dorthin, wo er sie vermutete. Was er auch nicht sehen, sondern beinahe schon hören konnte war, wie sehr sie zitterte. Das Rascheln der Jacke, das Klackern der Zähne. Und als er kurz ihre Hand berührt hatte, hatte er gespürt, wie eiskalt sie war.   „Ich löse dich ab“, befahl er flüsternd, da er Marvel nicht wecken wollte. Er wäre nach Cato an der Reihe und würde die Wache bis zum Morgengrauen übernehmen. Distrikt 3 war in ihren Augen nicht tauglich, um in der Nacht Wache zu halten.   „Du bist noch nicht dran“, stellte sie schroff fest und ignorierte somit den Befehl ihres Anführers. Clove wandte ihm wieder den Rücken zu und anhand des Raschelns ihrer Jacke vermutete er, dass sie ihre Hände – vermutlich immer noch mit dem Messer in ihren Fingern umklammert – in die Jackentaschen steckte, um sie vor der Kälte zu schützen. Kein Wunder, dass die Kleine fror. An ihr war ja auch kaum etwas dran. Cato hatte seine Muskeln, die ihn vor der Kälte schützten. Ihm war eigentlich nie kalt. Nicht einmal im Winter.   „Egal“, murmelte er leise und unnachgiebig. „Ich kann eh nicht schlafen.“   Eine Weile sagte niemand etwas. Er lauschte in die Stille, versuchte, irgendwelche Geräusche auszumachen. Abgesehen von dem Rascheln der Blätter im Wind war es mucksmäuschenstill. Schon beinahe friedlich. Cato starrte wieder in den Himmel und versuchte einige Sterne auszumachen, fand aber keine. Unwillkürlich fragte er sich, ob sie wohl gerade gefilmt wurden, und falls ja, ob überhaupt noch jemand wach war und den Spielen um diese Uhrzeit zusah.   Neben ihm bewegte Clove sich wieder. Als sie ihm ihre Nachtsichtbrille in die Hand drückte sagte sie müde: „Wehe, du pennst ein, Cato. Wenn wir deinetwegen draufgehen, bring ich dich um.“   Schmunzelnd setzte er die Nachtsichtbrille auf, die der Welt um ihn herum wieder Formen gab. Hinter sich konnte er das Rascheln eines Schlafsacks hören und als er einen Blick über die Schulter warf, sah er, dass sie sich in seinen Schlafsack gelegt hatte, der vermutlich noch ganz warm von seiner Körperhitze war. Das leise Zzzzzzipp des Reißverschlusses ertönte und es wurde wieder still.   Cato überprüfte die Umgebung. Der Wald und die Rasenfläche zwischen den Bäumen und dem Füllhorn schimmerten durch die Brillengläser hellgrün. Seine Augen und Ohren achteten auf alles: jedes kleine Knacksen eines Astes, jedes Flügelschlagen eines Vogels, das leise Pfeifen des Windes und das sanfte und gleichmäßige Atmen seiner Verbündeten.   Nun waren sie nur noch zu viert. Ihre Gruppe hatte sich sehr schnell verkleinert. Jetzt, in diesem Moment, wäre es ein Kinderspiel, sie alle drei umzubringen. So schnell der Gedanke gekommen war, so schnell verflog er aber auch wieder. Was wäre das für ein Sieg? Erdolchen im Schlaf? Brutus wäre enttäuscht von ihm! Cato hatte zu lange trainiert, um seine Gegner auf diese Weise zu beseitigen. Er konnte jemandem mit bloßen Händen töten, jemandem mit dem Schwert mit einem Hieb den Kopf abtrennen. Er hatte sich freiwillig gemeldet, um mit Stolz und Ehre in seine Heimat zurückzukehren, nicht, um feige in der Dunkelheit Kehlen aufzuschlitzen. Außerdem würde das keinen Spaß machen. Der Moment wäre viel zu schnell vorbei. Er wollte, dass seine Gegner sich wehrten, dass sie es ihm nicht leicht machten. So, wie Clove und Marvel es ihm nicht leicht machen würden.   Wie schön wäre es, wenn jetzt ein Tribut zwischen den Bäumen hervorgekrochen kommen würde. Seine Mordlust sammelte sich seit Tagen – ach was, seit Jahren! – in seinem Körper, staute sich auf und drohte bald zu explodieren. Aber solange sie auch warteten, niemand von den verbliebenen Tributen wagten es sich den gefährlichsten Mitspielern in dieser Arena zu nähern. Stattdessen versteckten sie sich alle in den Wäldern. Jeden Tag zogen die Karrieretribute los, um ihre Beute zu suchen, doch sie kehrten stets mit leeren Händen zum Füllhorn zurück. Cato wusste, wenn nicht bald etwas Aufregendes geschah, würden die Spielemacher sich einmischen und dann würde vielleicht etwas geschehen, das sich außerhalb seiner Kontrolle befand.   Die Zeit verstrich, während er wachsam die Augen aufhielt und hin und wieder eine Runde ums Füllhorn drehte, falls sich jemand von hinten anschleichen wollte. Seine Befürchtung, oder vielmehr sein Hoffen, dass noch jemand auftauchte, bewahrheitete sich jedoch nicht.   Als Cato auf die Uhr schaute blieb nur noch eine Stunde bis zur Wachablösung. Langsam wurden auch seine Augenlider schwer. In dieser Arena fiel es ihm nicht leicht, zu schlafen. Am Anfang war es noch die Aufregung gewesen, die ihn wachgehalten hatte. Später dann die Vorsicht. Viel zu oft hatte er auf den Bildschirmen mitansehen müssen, wie sich die Kämpfe in der Nacht abspielten. Er wollte weder zum leichten Opfer werden, noch den ganzen Spaß verpassen. Nach den zahlreichen unbefriedigenden Nächten fing sein Körper bereits an zu rebellieren. Er bemerkte, dass er langsamer wurde, unkonzentrierter …   Hinter ihm ertönte ein leises Geräusch, das einem Seufzen glich. Viel zu hell und zu lieblich, um zu einem Jungen zu gehören, weshalb es wohl Clove gewesen sein musste. Ein Laut, unwillkürlich im Schlaf. Langsam sah er wieder über seine Schulter und versuchte einen Blick auf sie zu erhaschen, doch er sah nur den Schlafsack, in dem sie verborgen lag.   In seinen Gedanken tauchten die Erinnerungen des Angriffes der Jägerwespen auf, und wie leicht es ihm gefallen war, Glimmer und Coral zurück- und ihrem Schicksal zu überlassen, um sein eigenes Leben zu retten. Der Tod der beiden Mädchen war bedauerlich, schließlich gehörten sie zu den Karrieros und er hatte erwartet, dass sie länger durchhalten würden. Auch wenn sie Mittel zum Zweck waren, so waren sie doch beide seine Verbündeten gewesen … Trotzdem hatte er bei dem Anblick ihrer Gesichter am Himmel keine Miene verzogen.   Er wusste nicht, ob es daran lag, dass er mit Clove schon mehr Zeit verbracht hatte, oder weil sie seine Distriktpartnerin war. Jedoch wusste er nicht, ob ihr Tod ihm auch egal sein würde. Bei Marvel machte er sich weniger Sorgen. Sie kamen zwar gut miteinander zurecht – vor allem seitdem Glimmer nicht mehr dabei war wirkte er viel entspannter –, aber sie beide wussten, dass es am Ende nur einen Überlebenden geben konnte, weshalb sie oft nicht mehr Worte miteinander sprachen, als nötig. Und Distrikt 3 brauchte nur eine falsche Bewegung machen, ein falsches Wort sagen, und Cato würde ihm mit Freuden das Genick brechen.   Clove hingegen …   Auch wenn sie ihn manchmal in den Wahnsinn trieb war sie diejenige, mit der er sich am besten in dieser Arena verstand. Sie waren sich ähnlich. Vermutlich, weil sie beide aus dem gleichen Distrikt kamen.   Ja, so musste es sein.   Seine Gedanken wanderten weiter. Obwohl sie beide aus demselben Distrikt kamen kannten sie sich kaum. Hin und wieder hatte er mal ihren Namen oder Geschichten über sie gehört. Letztendlich hatte man ihn mit dem talentiertesten Mädchen in die Arena geschickt, das sein Distrikt zu bieten hatte. Und er wurde nicht enttäuscht: sie war talentiert, gerissen, skrupellos, schnell und tödlich. Schade, dass er sie jetzt erst richtig kennenlernte.   Noch vor ein paar Tagen wären ihm solche Gedanken nie gekommen.   Sie waren ein gutes Team. Wenn sie gemeinsam auf die Jagd nach den anderen Tributen gingen wirkte es manchmal, als würden sie sich schon ewig kennen und als wären sie aufeinander eingespielt. Sie besaßen beide den gleichen schwarzen Humor. Ihre Schnelligkeit und ihre Zielsicherheit machten ihre fehlende Körperkraft wieder wett. Nach allem, was er bisher über sie wusste, musste er sich eingestehen, dass Clove eindeutig eine Bedrohung bei seiner Aussicht auf den Sieg war.   Für ihn stand allerdings außer Frage wer am Ende diese Arena lebend verlassen würde.   Und doch hatte dieses Wissen einen bitteren Beigeschmack.   Cato unterdrückte ein Gähnen und schüttelte den Kopf, um diese lästigen Gedanken die ihn quälten wieder zu vertreiben. Gedanken, die er sich in dieser Arena nicht erlauben durfte. Ach, scheiß drauf! Darüber würde er sich den Kopf zerbrechen, wenn es so weit war. Wieso jetzt schon darüber nachdenken? Und überhaupt! Es gab nichts darüber nachzudenken, denn der Entschluss stand fest, hatte bereits immer festgestanden.   Früher oder später würde er auch sie töten müssen. Denn so waren die Regeln dieser blutigen Spiele.   Wenn er Glück hatte, kam ihm jemand zuvor und er würde es nicht selbst tun müssen. Und wenn er doch derjenige sein sollte, der ihren Tod herbeiführen durfte, dann würde er ihr ein Ende bereiten, das einem Karrieretributen gebührte.   * * *   [Tag 12] Clove wachte mitten in der Nacht auf und spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr Messer! Es lag nicht mehr in ihrer Hand! Es musste ihr im Schlaf entglitten sein. Panisch suchte sie danach, noch bevor sie überhaupt die Augen geöffnet hatte. Es war ein Überlebensreflex – ohne ihre Waffe war sie schutzlos! Was, wenn jemand sie angriff?   In der Dunkelheit der Nacht konnte sie nichts sehen und so tasteten ihre Finger über den Boden neben sich, strichen über kaltes, weiches Gras, bis sie endlich auf hartes, glattes Metall stießen. Als sie das Messer umklammerte und es behutsam an ihre Brust zog, atmete sie erleichtert aus. Jetzt spürte sie auch ihr Herz wild gegen ihren Brustkorb hämmern. Die Panik hatte ihren Körper in Sekundenschnelle mit Adrenalin vollgepumpt.   Die Hand, die zuerst auf ihrem Bauch gelegen hatte, bewegte sich langsam nach oben, wo sie sich sanft auf ihre eigene legte.   „Entspann dich“, murmelte er leise an ihrem Ohr. Die Wärme und Nähe seines Körpers, dicht an ihren gepresst schien sie allmählich zu beruhigen. Irgendwie hatte es etwas Tröstliches. Sein Daumen strich beruhigend über ihren Handrücken und ihr fester Griff um das Messer schien sich allmählich zu lockern. „Es ist alles in Ordnung. Niemand ist hier. Schlaf weiter.“ Seine Stimme klang verschlafen und müde, nicht so herrisch und wütend wie sonst und sie spürte, wie die Müdigkeit auch nach ihr griff und an ihrem Bewusstsein zerrte, sie drohte, zurück in den erholsamen Schlaf zu ziehen.   Kurz vor dem Einschlafen dachte sie noch, wie schön es sich mit ihm anfühlte.   Es war nicht die Kälte gewesen, die sie zu ihm geführt hatte, sondern die Einsamkeit. Inzwischen waren sie nur noch zu zweit. Inzwischen hatte sich alles verändert. Ihre Laune, ihr körperliches Befinden, ihre Beziehung zueinander. Die letzten beiden Nächte waren sie durch die Arena geschlichen, mit ihren Nachtsichtbrillen und ihren Waffen, doch sie hatten niemanden gefunden. Seit dem Tod von Marvel und dem Mädchen aus Distrikt 11 gab es keine weiteren gefallenen Tribute. Ihre Vorräte wurden langsam knapp. Das ein oder andere Mal erhielten sie bereits das Geschenk eines gütigen Sponsors. Sie waren beide müde und erschöpft. Nur noch sechs Tribute waren übrig und während die anderen es weiterhin schafften sich zu verstecken und irgendwie zu überleben, verließ sie langsam aber sicher die Kraft. Mit jedem Tag, den sie in der Arena überlebten, stiegen ihre Chance auf den Sieg, doch mit jedem Tag, an dem ihre Gegner ebenfalls überlebten, stiegen ihre Chancen zu scheitern. Sie waren so weit gekommen. Und sie hatten noch so vieles zu erreichen. Es war inzwischen egal, auf wen sie Jagd machten, Hauptsache, sie fanden irgendwen. Dass Loverboy überhaupt noch lebte war unbegreiflich. Schließlich hatte Cato ihn erwischt. Lebensbedrohlich. Wieso lebte er also überhaupt noch? Gab es vielleicht einen gütigen Sponsor, der ihm etwas zur Hilfe geschickt hatte? Einen Verband oder eine Salbe? Entzündungshemmende und schmerzstillende Tabletten?   Was zumindest feststand war, dass sie sich nicht aufteilen, sondern zusammen bleiben würden. Zu zweit standen ihre Chancen besser. Zumindest Distrikt 11 und 5 hielten sich allein in der Arena auf, da waren sie sich sicher.   Beinahe schon resignierend waren sie irgendwann beim Pläneschmieden eingeschlafen, ohne auch nur den Gedanken daran zu verschwenden, dass jemand Wache halten sollte. Dies war nun schon ihre dritte Nacht allein. Marvel war tot, vermutlich getötet von Thresh oder Katniss. Je nachdem, wer gerade bei der Kleinen aus Distrikt 11 gewesen war. Rue. Das zarte kleine Vögelchen. Clove würde gerne wissen, wie sie gestorben war. Vielleicht würde sie es ja irgendwann einmal in den Rückblenden sehen.   Sie kuschelte sich weiter an Cato, versuchte ihm noch näher zu kommen, was schon gar nicht mehr möglich war. Ein Schlafsack lag ausgebreitet unter ihnen, ein weiterer über ihnen, der als Decke diente. An seiner Atmung konnte sie erkennen, dass er wieder eingeschlafen war. Sie lag mit ihrem Rücken gegen seine Brust, sein Arm um ihre Hüfte, die Hand auf ihrer, die Finger miteinander verknotet, die Beine ineinander verschlungen. Im Moment gab sie einen Scheiß darauf, ob die Kameras sie gerade filmten und was die Leute dachten – ihre Mentoren, die Kapitolbewohner, die Sponsoren, ihre Eltern … Sie genoss seine Nähe und Wärme, und das Gefühl von Sicherheit, das er ihr gab. Denn so war es schon die ganze Zeit über gewesen, nicht wahr? Sie fühlte sich bei ihm sicher. Auch wenn sie keinen Schutz brauchte. Sie konnte gut für sich selbst sorgen.   Schwer zu glauben, wie viel in so kurzer Zeit passieren konnte. Clove konnte sich schon gar nicht mehr vorstellen, wie es ohne ihn wäre. Die Realität hatte schließlich auch sie eingeholt. Wie naiv waren sie in diese Spiele gegangen? Jahrelang hatten sie gedacht, sie würden wissen, was sie erwartet. Dabei lief alles anders, als geplant.   Ob Loverboy und Lovergirl jetzt gerade wohl auch irgendwo so eng umschlungen lagen und sich gegenseitig Trost spendeten, so wie sie und Cato gerade?   Im Kapitol nach den Interviews und in den ersten Tagen in der Arena, als Distrikt 12 noch Teil ihrer Allianz gewesen war, hatte Clove ihn und seine Gefühlsduseleien verspottet, Witze darüber gerissen und sich einen Spaß daraus gemacht, das Liebespaar quälen zu wollen. Wie schrecklich es sein musste, mit der Person, die man liebte, in der Arena eingesperrt zu sein, mit dem Wissen, dass nur einer von ihnen sie wieder lebendig verlassen würde.   Und dann schlief sie ein, erschöpft und müde, mit dem Gedanken an den hoffnungslosen Verliebten aus Distrikt 12, von dem sie nun glaubte, ihn und seine Lage ein wenig mehr verstehen zu können, mit ihrem Messer in der Hand, und ihrem Distriktpartner an ihrer Seite, den beiden einzigen Dingen, die ihr in dieser Arena Sicherheit gaben.   Den beiden einzigen Dingen, die sie zum Überleben brauchte.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)