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Aus der Dunkelheit

von

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Einer dieser Tage

Es gab Tage, da war es einfach, nach vorne zu sehen. Die meisten Tage, fand Mirio, waren gute Tage, und über die meisten anderen kam er mit etwas Anstrengung auch noch hinweg. Heute allerdings… heute war etwas kaputt.

Es gab nicht mal einen bestimmten Grund. Kein Ereignis, keine unbedachten Worte. Vielleicht lag es am Wetter; es war warm und wolkenlos draußen, aber vermutlich würde abends ein Gewitter aufziehen. Vielleicht war es dieser drohende Wolkenbruch, der so schwer auf Mirios Stimmung schlug, aber auch das war keine Ausrede, die er akzeptieren konnte. Er hatte Sir Nighteye versprochen, dass er stark bleiben und lachend in die Zukunft sehen würde. Aber heute reichte allein der Gedanke an den kürzlich verstorbenen Helden, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Positiv denken… einfach an was Schönes denken. Es war alles gut. Der Himmel war blau, die Vögel sangen, auf dem Campus war alles friedlich. Es gab einfach keinen Grund traurig zu sein, den gab es nie. Warum nur war es dann so schwer, nicht zu weinen?

Mirio atmete tief durch und blickte hoch in den Himmel. Strahlend blau, immer noch. Tief durchatmen, positiv denken… und dann nach Ablenkung suchen. Inzwischen durften die Schüler, die nicht vom Unterricht befreit waren, auch zumindest Pause haben. Vielleicht konnte er Tamaki oder Nejire abpassen, die beiden würden ihn schon wieder aufheitern. Tatsächlich fand er Tamaki nach relativ kurzer Zeit in seinem üblichen Versteck; leider musste sein Glück damit auch schon wieder erschöpft sein, denn der schwarzhaarige sah selbst gerade aus, als bräuchte er jemanden, der ihn aufheitert. Seine Haltung war beinahe noch verschlossener als sonst, er wirkte direkt verängstigt.

„Hey Tamaki“, grüßte Mirio bemüht fröhlich, „Wie geht’s?“

Tamaki fuhr erschrocken zusammen, beinahe wie ein Kaninchen, dass der Hund anbellt. „Ha…hallo Mirio“, brachte er dann doch heraus, „Hab dich gar nicht kommen sehen…“ Er klopfte auf den Rasen neben sich, ein deutliches Zeichen, dass Mirio aller bösen Überraschung zum Trotz doch willkommen war.

„Ist irgendwas passiert?“, erkundigte Mirio sich vorsichtig.

Tamaki schüttelte den Kopf. „Nur das Übliche. Kennst mich ja.“

„Eben. Deswegen frag ich ja, ob was passiert ist.“

„Es ist nichts passiert. Mir geht’s einfach nicht so gut heute, das kommt vor.“

„Liegt wohl am Wetter, hm?“, mutmaßte Mirio. Tamaki zuckte nur die Schultern.

„Wir… haben heute Bewerbungen geschrieben. Lebenslauf, Anschreiben, so was halt. Der Abschluss rückt immer näher, wir sollen uns langsam Gedanken machen.“

„Ich wäre jetzt davon ausgegangen, dass Fatgum dich übernehmen würde. Habt ihr nie darüber gesprochen?“

Tamaki schrumpfte noch weiter in sich zusammen. „Hab mich nicht getraut“, nuschelte er.

„Dann schick ihm doch deine Bewerbung. Er sagt bestimmt nicht nein.“

„Und wenn doch?“

„Dann gründen wir unsere eigene Agentur. Die Big Three Agency, das wäre doch cool, oder?”

Tamaki schwieg, sah aber immerhin nicht mehr ganz so blass aus. „Ich… will euch keine Umstände machen.“

„Tust du ja nicht“, versicherte Mirio schnell, „Ich hab zwar von Centipede versichert bekommen, dass er mir die Stelle frei hält, bis ich meine Macke wieder einsetzen kann, aber im Moment mach ich eh nur Bürokram. Und ohne Sir ist es…“, nun musste er selbst heftig schlucken, um sich wieder über Wasser zu halten, „Es ist im Moment sowieso nicht dasselbe.“

Centipede hatte ihn eingeladen, sein Praktikum fortzuführen um mit dem liegengebliebenen Papierkram zu helfen, den Sir Nighteye bisher immer selbst erledigt hatte. Seine Buchführung war akribisch genau und sehr umfangreich; Centipede und Bubble Girl, die beiden ehemaligen Sidekicks, standen nun vor einem Berg an Arbeit, in die sie sich erst einfinden mussten. Dass sich dazu jede Zeile von Sirs makelloser Handschrift, jedes von ihm entworfene Formblatt wie ein Stich ins Herz anfühlte im Angesicht seiner schmerzhaften Abwesenheit, machte die Sache nicht gerade leichter. Die beiden Profis gaben ihr Bestes, positiv und lustig zu bleiben, wie Sir es sich gewünscht hatte, und sorgten zumindest vor ihm und Deku immer für gute Stimmung, aber man merkte es eben doch.

„Ist das nicht anstrengend?“, die Stimme riss Mirio aus den Gedanken. Es war Hidoku, der Klassenkamerad, den Mirio im Moment am allerwenigsten sehen wollte.

„Was?“, fragte er dennoch.

„Die ganze Energie, die du investierst, um Tamaki aufzupäppeln?“ Hidoku warf dem Schwarzhaarigen einen hämischen Blick zu, „Das versackt doch alles in einer endlosen Grube. So eine Beziehung nennt man toxisch, weißt du? Du gibst und gibst und nichts kommt zurück, damit machst du dich nur kaputt.“

„Tut mir leid“, murmelte Tamaki, so leise, dass hoffentlich nur Mirio ihn hörte, und stand auf. Mirio bekam ihn gerade noch am Handgelenk zu fassen; auch er war aufgesprungen, unschlüssig, ob aus Wut oder Überraschung. Hidoku war ein Lästermaul, aber DAS konnte er doch jetzt nicht ernst meinen, oder?

„Aber was soll man auch von einem Kerl erwarten, der sich Suneater nennt?“, legte Hidoku noch nach, „Der würde selbst die Sonne verschlingen und uns alle im Dunkeln stehen lassen.“

„Das ist nicht… Das bedeutet der Name nicht“, entrüstete sich Mirio. Er wünschte, ihm würde eine bessere Erwiderung einfallen, aber sein Gehirn hing noch an der Sache mit dem leeren Büro fest. Centipede hatte dort einen kleinen Altar aufgebaut, direkt unter Sirs geliebten All Might Postern. Wenn er zu lange darüber nachdachte, würde er nur wieder zu weinen anfangen, und dafür war jetzt nicht der richtige Moment. „Du weißt doch ganz genau, wie Tamakis Macke funktioniert“, führte er aus, „Wenn er wirklich die Sonne verschlingen würde, könnte er sie auch wieder reproduzieren. Und zwar größer und heller als vorher! Nur weil etwas aussieht, als wäre es weg…“ Er konnte nicht mehr weitersprechen. Seine Stimme versagte ihm den Dienst, oder vielmehr, sie stellte ihn vor die Wahl: Entweder sprechen, oder die Tränen zurückhalten. Beides ging nicht. Aber der Moment der Schwäche ging unter im Angesicht der Schulglocke, die die Unterhaltung in diesem Moment beendete. Tamaki wand sich aus Mirios Griff und lief los, sicher froh, der Situation zu entkommen. Hidoku zuckte nur mit einem hämischen ‚pah‘ auf den Lippen die Schultern und machte sich ebenfalls zügig davon, um nicht zu spät zu kommen. Herr Aizawa schaffte es eben auch durch seine bloße Existenz, jeden Streit zwischen Schülern zu schlichten… in seinen Unterricht zu spät zu kommen war ein Risiko, dass niemand gerne einging.

Mirio blieb allein zurück. Er bekam nicht mehr auf die Reihe, was eigentlich gerade passiert war… nur schien irgendwie alles schief gelaufen zu sein. Um nicht doch noch in aller Öffentlichkeit zu Heulen anzufangen beeilte er sich, zurück ins Wohnheim zu kommen. Er fühlte sich, als würde er Sir damit enttäuschen, aber er konnte sich einfach nicht mehr zusammenreißen. Vielleicht half es, wenn er sich einfach die Decke über den Kopf zog und versuchte zu schlafen.
 

Letztendlich tat sich nichts, außer, dass das versprochene Gewitter aufzog. Regen peitschte gegen die Scheiben der Verandatür. Mirio hatte sich nicht dazu durchringen können, das Licht einzuschalten, und so wurde die Dunkelheit des Zimmers nur unterbrochen von den regelmäßigen Blitzen, die durch das Fenster schlugen und gleich wieder verschwanden. Mirio drehte sich auf die andere Seite und schlug prompt mit dem Kopf gegen die Wand. Früher war ihm das nicht so oft passiert… da war die Wand auch noch nicht so undurchdringlich wie jetzt. Nur zwanzig Zentimeter hastig errichteter Fertigteile, eilig konstruiert, als die UA auf ein Internatssystem umstellen musste, um ihre Schüler vor der Liga des Bösen zu schützen. Mirio hatte die Wand nie wirklich respektiert, als er noch jederzeit durch sie hindurch in Tamakis Zimmer schlüpfen konnte um ungeachtet der Nachtruhe mit seinem Freund herumzualbern. Nun, da er seine Macke nicht mehr nutzen konnte, rächte sich die Wand mit steinerner Härte. Er könnte hören, wie sich Tamaki auf der anderen Seite im Bett herumdrehte, wusste, dass sein Freund keinen Zentimeter weiter weg war als bisher. Und doch… war er plötzlich unerreichbar weit weg. Aus Frust und weil es immer noch besser war als wieder zu heulen schlug Mirio nochmal mit dem Kopf gegen die Wand. Es tat weh und die Wand blieb undurchdringlich, wie eigentlich jedes Mal. Nur fiel es ihm sonst leichter, den Rückschlag wegzustecken. Was war nur heute verkehrt? Warum konnte er sich nicht einfach wie sonst aus dem Sumpf ziehen und die Traurigkeit von sich werfen? Es gab keinen Grund, warum es ihm gerade jetzt nicht mehr gelingen sollte, fröhlich zu sein.

Ein weiterer Blitz fuhr durchs Zimmer und streifte das Poster Von Sir NightEye, das an der Decke über dem Bett hing. Es fühlte sich an, als würden die scharfen Augen des Helden Mirio direkt ins Herz blicken, und der Junge fühlte sich schuldig. Normalerweise, wenn er zu seinem alten Arbeitgeber hochsah, war er motiviert, weiter sein Bestes zu geben, aber heute hatte er nur das Gefühl, auf ganzer Linie zu versagen.

„Mirio?“ Tamakis Stimme. Aber sie kam nicht durch die Wand, sondern vom Balkon. Verwirrt rappelte Mirio sich auf. Tamaki stand vor der Verandatür, nackt bis auf die tiefsitzende Unterhose, wie immer, wenn er eigentlich schon im Bett war. Draußen war es sicher kalt, aber Mirio war so überfordert, dass er einen Moment brauchte um zu verstehen, was er tun sollte.

Tamaki seufzte tief. Er hatte gemerkt, dass es Mirio nicht gut ging, und nahm ihm die momentane Benommenheit nicht übel. Es war ja nicht so, als würde er nicht allein durch die Tür kommen. Der Balkon über Mirios hielt den Regen halbwegs ab, aber die Kälte war doch so unangenehm, dass er nicht lange zögern wollte. Zum Glück hatte er gut gegessen… Oktopoden waren Wirbellose, ihre Tentakel so flexibel, dass sie sich auch durch schmale Spalten quetschen konnten. Er wusste aus Experimenten an seinem eigenen Balkon, dass zwischen Tür und Rahmen genug Platz frei blieb. Die ganzen Wohnhäuser waren eilig konstruiert; ein Sicherheitsleck vielleicht, aber eines, dass nicht jeder so gut ausnutzen konnte wie er. Es gehörte schon einiges Geschick dazu, die Tentakel an seinen Fingern durch den schmalen Spalt zu drücken um auf der anderen Seite auch noch den Hebel in die offene Position zu schieben. Aber es funktionierte. Die Tür ließ sich öffnen, und Tamaki trat ein, noch bevor Mirio es vom Bett geschafft hatte.

„Dachte, ich schau mal vorbei“, grüßte Tamaki leise, schaltete das Schreibtischlicht ein und schob seinen Freund zurück ins Bett, „Süßer Pyjama.“

„Oh… danke“, meinte Mirio und blinzelte etwas verlegen. Tamaki konnte sehen, dass er geweint hatte, und legte seinem Freund mitfühlend den Arm über die Schultern.

„Mieser Tag heute, was?“, begann er vorsichtig. Mirio nickte, es sah aus, als müsste er sich mächtig zusammenreißen, um nicht wieder zu weinen. „Ist okay. Solche Tage gibt es. Die gehen vorbei.“ Mirio schluchzte und Tamaki zog ihn an sich. „Wein dich ruhig aus. Ich weiß, dass du stark sein willst, aber manchmal…“ Er streichelte Mirio etwas unbeholfen den Kopf, unschlüssig, was er eigentlich sagen wollte. „Ich… kenne sowas, weißt du? Es gibt immer wieder Tage, an denen man einfach mies drauf ist. Ganz ohne Grund, und man kann nichts dagegen tun. Egal wie sehr man es versucht… nein, gerade, wenn man dagegen kämpft.“

„Was soll ich dann…“, wimmerte Mirio. Er fühlte sich hilflos und verzweifelt, unfähig, zu tun, was ihm sonst so leichtfiel. Tamakis Umarmung half ein wenig, aber dennoch… er konnte nicht aufhören zu weinen, im Gegenteil, es wurde nur noch schlimmer.

„Nachgeben“, meinte Tamaki schließlich, „Wie, wenn du gegen Aizawas Fesselungstuch kämpfst. Das dürfte eine gute Analogie sein… je mehr du dich wehrst, desto fester zieht sich das Tuch zu. Aber wenn du es einfach über dich ergehen lässt, gibt er dich irgendwann von selbst wieder frei. Oder muss mal blinzeln.“ Er drückte Mirio nochmal fest an sich. „Dir darf es auch mal schlecht gehen, Mirio. Niemand macht dir deshalb einen Vorwurf.“

Mirios Augen wanderten direkt wieder in Richtung des Posters. Tamaki lächelte gutmütig. „Auch er nicht. Sir Nighteye würde nicht wollen, dass du dich unnötig unter Druck setzt.“

„Natürlich nicht…“, Mirio rieb sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht, „Aber… ich will ihn einfach nicht enttäuschen…“

„Tust du nicht. Hat er dir den je einen Vorwurf gemacht, wenn du eine Aufgabe nicht auf den ersten Versuch schaffst?“

Mirio schüttelte heftig den Kopf. „Du hast Recht“, murmelte er, „Sir hat immer gesagt, dass man manchmal einen Schritt zurückgehen muss, um vorwärts zu kommen… oder sich zurückziehen, um Verstärkung zu holen.“

Tamaki klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Ich bin jetzt hier.“ Seine Stimme klang sicherer, als er sich selbst dabei fühlte. „Tut mir leid, dass ich dich heute Mittag hängen gelassen habe.“

Mirio schüttelte heftig den Kopf. „So war das doch nicht…“

„Was du gesagt hast…“, unterbrach Tamaki ihn, „von wegen, ich könnte alles Licht, dass ich verschlinge, stärker und heller wieder reproduzieren? Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, wie. Diese Helligkeit, die du verströmst… das ist nicht wirklich etwas, was ich wiedergeben kann. Ich bin nicht so wie du oder Kirishima. Ich weiß nicht, wie man jemanden aufmuntert, der traurig ist. Aber…“

„Aber du tust es gerade“, stellte Mirio leise fest. Er hatte es erst nicht gemerkt, aber jetzt spürte er deutlich, wie sich seine Mundwinkel ganz von selbst wieder zu einem Lächeln verzogen. Kaum zu glauben, dass es vorher so unmöglich gewirkt hatte. „Diesmal bist du es, der heller strahlt als die Sonne selbst. Auch wenn du es vielleicht nicht merkst…“, er sah seinen Freund direkt an, „Du tust es. Danke, Tamaki.“

„G…gern geschehen, denke ich.“

„Bleibst du noch etwas hier?“

„So lange du willst“, versprach Tamaki, „Vorausgesetzt, Aizawa kommt nicht nochmal vorbei, es ist schon nach zehn... Aber ich lass dir in jedem Fall die Balkontür offen.“ Er legte Mirio bekräftigend die Hand auf die Schulter. „Ich bin nicht weiter weg als sonst, hörst du? Du musst nur einen kleinen Umweg nehmen.“

„Hmmm… also soll ich aufhören, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen?“

„Wäre gesünder, ja.“

Mirio lachte. Es war plötzlich so lächerlich einfach, dass er fast nicht mehr aufhören konnte, und es fühlte sich wunderbar an. Tamaki blieb tatsächlich noch eine ganze Weile, hatte aber Glück und kam damit durch – offenbar waren die anderen noch zu verschlafen um zu merken, dass er aus dem falschen Zimmer kam. Und falls es ihnen doch auffiel behielten sie es wenigstens für sich. Lediglich, dass er so wenig geschlafen hatte würde sich im Laufe des Tages rächen, aber das musste eben der Kaffee retten. Mirio war wichtiger als die blöde Englischklausur.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Angelique
2020-05-20T19:02:15+00:00 20.05.2020 21:02
Bis jetzt klingt die Geschichte sehr interessant. Mirko gehörte zu meinen Liebling Charaktere. Ich werde die Geschichte auf jeden Fall weiter lesen.


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