SOLIDIFY von YukihoYT (Bevor der Sturm aufzog) ================================================================================ Kapitel 4: 1995: Geheimnisse werden aufgedeckt ---------------------------------------------- Am nächsten Morgen ist meine Laune im Eimer. Was habe ich mir gestern nur dabei gedacht, mich so zu benehmen? Das passt gar nicht zu meiner sonst zurückhaltenden Art. So kenne ich mich doch selbst nicht einmal. Das ist gar nicht gut, bestimmt hasst er mich., denke ich, als ich den Wecker ausmache und seufze. Mir geht es überhaupt nicht gut. Mir ist, als ob mir alles wehtut und ich mich überhaupt nicht bewegen kann. Ich will am liebsten im Bett bleiben und nie wieder aufstehen. Aber auch das passt so gar nicht zu meinem Image. Ich stecke in einem echten Schlamassel. "Was machst du hier eigentlich, Setsuna?", frage ich mich selbst, richte mich auf, nur damit es mir schlagartig noch schlechter geht. Mir tut der Bauch weh und das liegt nicht nur an dem miesen Zeug, das ich gestern diesem unschuldigen Kerl an den Kopf geworfen habe. Ich hab meine Tage. Stöhnend werfe ich mich ins Bett zurück und ziehe mir die Decke über den Kopf. Das hat mir echt noch gefehlt, ich meine, wie kann man den Tag besser starten als mit einem blutigen Bett und dreckiger Unterwäsche? Das gibt mir aber nicht den Freifahrtschein für das Anschreien fremder Jungs. Ich bin wirklich eine furchtbare Person. Widerwillig rolle ich mich wie ein Burrito aus dem Bett und knalle auf den Boden auf. Wieder stöhne ich. Ich habe keine Lust auf nichts, aber ich muss mich entschuldigen gehen. Steh auf, Mensch! "Setsuna, Kind, stehst du auch bald au-... was machst du denn da auf dem Boden, Kind?", wundert sich meine Mutter als ich mit zerzaustem Haar und grimmigem Gesicht den Burrito simuliere. "Es ist nichts, Mutter. Guten Morgen.", entgegne ich so normal wie möglich und werfe die Decke schneller auf den Blutfleck als sie gucken kann. Mir egal, ob wir beide Frauen sind, auf meine Periode angesprochen zu werden, ist der Supergau. "Guten Morgen auch dir, Setsuna. Beeil dich, es wird langsam spät.", sagt sie mir sanft und verlässt wieder mein Zimmer. Vom Streit gestern scheint sie immer noch ziemlich fertig zu sein. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Streitereien unsere Familie auseinanderbringen... Ich schüttle den Kopf und ziehe mein Kleid runter, das hochgezogen wurde und meine Unterhose entblößt hat. Ich korrigiere, der Supergau ist schon still und leise beendet worden. Vermutlich denkt meine Familie, dass das jetzt der Grund war, wieso ich gestern so zickig war. Es ist nicht so, dass ich meine Familie nicht mag. Meine Eltern sind noch etwas anderes als streng und meine Schwester ist auch manchmal richtig süß zu mir, aber... tief im Innern ist mein Herz in dieser Familie schon längst erkaltet. Mein Innerstes hat die Hoffnung schon längst verloren. In der Schule kann ich mich nur auf Biegen und Brechen auf den Beinen halten, weil mich die Regelschmerzen immer wieder umbringen. Es ist fast schon deprimierend zu sagen, aber ich kann stolz sagen, dass niemand auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, wie sehr ich heute gelitten habe. Und nun bin ich auf dem Heimweg. Ich achte nicht wirklich auf meine Umgebung, da ich den Weg haargenau kenne und meine Gedanken schon den ganzen Tag darum kreisen. Dass ich nicht den Mut hatte, diesem Jungen noch einmal gegenüberzutreten. Kyokei war sein Name. Wieso gehst du mir einfach nicht aus dem Kopf? Und auf einmal, in der Hälfte meines Weges, steht da vor mir ein riesiger Hund, die Leine völlig unbenutzt auf dem Boden schleifend. Ich wage nicht, mich zu bewegen. Alles, was ich höre, sind die Rufe des Besitzers nach seinem Eigentum und mein eigenes Herzrasen. Und im nächsten Augenblick begegnen sich unsere Blicke, woraufhin er knurrt und ich die Nerven verliere. Schneller als ich denken kann nehme ich die Beine in die Hand und renne davon. In diesem Moment bin ich verängstigt wie nie, ich will nur noch weg hier. Es fühlt sich so an, als wenn alles, was mich von Innen auffrisst, von diesem Hund verkörpert wurde. Ich will weg, ich will weg, weg von dem Gebell und dem Schmerz in meinem Herzen! So renne ich also wie eine Wahnsinnige, eine gefühlte Ewigkeit und Schmerzen überall. Nichts kann mein wildes Laufen stoppen, nicht einmal der Zaun vor meinen Augen. Ich renne bergab und komme immer näher, das Bellen wird immer lauter. Als es nur noch etwa zwei Meter hinter meinen Ohren erklingt, reiße ich meine Beine nach oben, springe an der Ecke des Zauns ab und stürze in die Tiefe. "Magst du es, wenn ich dir die Haare bürste?", fragte mich Onee-sama. "Ja, ich mag das sehr!", lachte ich und schmiegte mich in ihre Halsbeuge. "Du bist so niedlich, Setsuna. Und so unschuldig!", kicherte sie und tätschelte mir den Kopf. Es war einer ihrer guten Tage, ich wusste, dass sie nie lange hielten und ich morgen wieder das Zielobjekt ihres Hasses sein würde. "Sag mal, Onee-sama...", fing ich an. "Hast du mich lieb?", schlagartig hörte sie auf, mir die Haare zu bürsten. "Zumindest hasse ich dich nicht mit all meinem Selbst, kleine Schwester. Ein Teil von mir aber... will, dass du bei ihm bleibst.", flüsterte sie, ehe sie aufstand und mein Zimmer verließ. Ich fühlte mich immerzu einsam, wenn sie das tat. Als ich die Augen wieder öffne, befinde ich mich in einem Garten. Zumindest liege ich ihm Gras und auf etwas Hartem. Vom Hund fehlt jede Spur. Ich sehe nach oben und stelle fest, dass der Sturz aus dieser Höhe keinesfalls hoch genug war, um mich umzubringen. Vermutlich war es der Schock, der mir die Lichter ausgeknipst hat. Ich seufze. Es wird Zeit, dass ich von hier verschwinde, ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon hier liege. Aber wie komme ich wieder raus, ohne dass mich irgendjemand sieht? Grundgütiger, vielleicht gehört den Leuten hier sowohl der Garten als auch der Hund! Lauf weg, Setsuna! Wenn du hierbleibst, hast du nicht mehr lange!, denke ich, als ich aufstehe und mir den Dreck von den Klamotten klopfe. Ich will gerade gehen, da merke ich, dass da etwas in der Erde liegt, zerbrochen, als ob ich darauf gelandet wäre. Neugierig, worauf ich denn gelandet bin, hebe ich es auf. Es ist ein Bilderrahmen, merke ich, nur um daraufhin fast einen Herzinfarkt zu kriegen. Auf diesem Bild ist niemand Geringeres als jener Junge als kleines Kind, gefolgt von einem weiblichen Exemplar seiner Selbst und einer kleinen Schildkröte, die beide in den Händen halten. Das ist sein Haus. Ich bin in seinem verdammten Garten gelandet. Oh mein Gott. Ich bin tot. Wenn er das rausfindet, wenn er rausfindet, dass ich bei ihm Hausfriedensbruch begangen habe, wird er mich mehr hassen als möglich ist. Wo ich mich nicht einmal getraut habe, mich unter den noch fortwährenden Schmerzen bei ihm zu entschuldigen. Und es gab wirklich eine Zeit, in der ich dachte, dass allein wäre schon schlimm. Aber nein, schlimmer geht es ja immer. Aus meiner Winterstarre ausbrechend lasse ich den Bilderrahmen schlagartig fallen, drehe mich auf dem Absatz und laufe davon. Aber ich komme nicht weit, als ich spüre, wie mich etwas um mein Handgelenk greift, fester als meine Schwester mich je gegriffen hat. "Brotmädchen? Was um alles in der Welt tust du hier?!", ich bin starr vor Schreck. Ich wage nicht, mich umzudrehen und ihn anzusehen. "Shizuhara, was soll der Scheiß?!", keift er und packt mich an der Schulter, sodass ich ihm direkt in die Augen sehe. Zum ersten Mal nennt er mich nicht Brotmädchen und es fühlt sich an, als würde eine Welt für mich entzweibrechen. "Es tut mir leid.", flüstere ich und senke den Blick. "Ich will überhaupt nicht hier sein, weißt du? Es war ein Unfall. Ich bin gedankenlos den Zaun runtergesprungen und habe das Bewusstsein verloren.", höre ich mich schluchzen, ehe ich in Tränen ausbreche. "Du musst mir glauben! Es war nicht meine Absicht, das Bild von dir, deiner Schwester und eurem Haustier zu zerstören! Es tut mir so leid.", der Junge vor mir weitet die Augen und lässt von mir ab. "Was hast du gerade gesagt?", will er völlig verdattert wissen. "Ich bin drauf gelandet und dann ist das Glas zersprungen! Das wollte ich nicht! Ich... ich...", doch ehe ich meinen Satz zu Ende schluchzen kann, greift der Junge nach meiner Hand und rennt davon. Zurück zu den Bäumen, ins Gebüsch, in das ich gelandet bin. Völlig überwältigt folge ich ihm nur unbeholfen, bis er anhält und sich fallen lässt. "Kyokei-kun?", stammle ich fragend. "Meine Eltern waren gerade da. Sie hätten dich gesehen und das wäre noch schräger.", beantwortet er meine Frage knapp, bevor er nach dem Bilderrahmen sucht, der kaputtgegangen ist. "Noch irgendwie heil.", flüstert er, ehe er ihn wieder dorthin zurücklegt, wo er ihn aufgesammelt hat. "Du hast es also gesehen, was?", murmelt er und baut sich wieder stehend vor mir auf. Ich nicke schuldbewusst. "Das mit deiner Schwester tut mir leid.", entfährt es mir, woraufhin er schnell wieder meine Schultern greift und sagt: "Sie selbst ist nicht gestorben! Nur... meine Schildkröte. Sie... wurde gefressen als ich noch klein war. Aber falls du es wissen willst, im Vergleich zu Raphael geht es meiner Schwester blendend.", ich seufze. "Im Vergleich klingt ja nicht gerade nett.", rutscht mir heraus und ich bereue es sofort. "Ey, das... das kann man doch unmöglich Leben nennen!", rutscht es ihm daraufhin raus und er schlägt die Hand vor dem Mund. "Sie liegt im Koma?!", erschrecke ich. "Nein, nein, sie... also, nein... sie hasst einfach nur die Außenwelt, was mich als jüngeren Zwilling nun mal nicht kaltlässt, jeden Tag beschäftigt und mir die Luft zum Atmen nimmt! So, jetzt ist es raus!", platzt er raus und sieht mich an wie niemand anders mich je angesehen hat. "Wieso erzählst du mir das?", frage ich ihn schüchtern und auch ein bisschen skeptisch. "Na ja, wir beide hatten einen... ziemlich miesen ersten Eindruck voneinander, vom Brot, dass ich essen durfte mal abgesehen. Das ist die Möglichkeit gewesen, quitt zu werden.", meint er. "Außerdem habe ich dich vorhin schon bewusstlos in meinem Garten gefunden und habe woanders gewartet, ohne vom kaputten Bilderrahmen gewusst zu haben. Und ich habe dein Hösschen gesehen.", lacht er, woraufhin ich vermutlich genauso rot anlaufe wie mein Tampon gerade. "Was zur Hölle ist falsch mit dir?!", will ich völlig empört wissen und packe ihn am Kragen. "Idiot, Perversling, dass ich dich geküsst und angeschrien habe, tut mir gar nicht leid!", schimpfe ich und funkle ihn wütend an, während er versucht, sich das Lachen zu verkneifen. "Du bist der Hammer, Brotmädchen. Ich kenne wirklich niemanden, der in deinem Alter welche mit Einhörnern trägt!", kriegt der sich gar nicht mehr ein. "Ich hatte ja wohl keine Wahl, okay?! Jetzt lass uns nicht mehr über meine alberne Unterwäsche, sondern über deine Schwester reden, Kyokei-kun!", schnauze ich ihn an. "Wie, warum das denn?", blickt er es nicht. "Das kann man kein Leben nennen, meintest du. Dann helfe ich persönlich dabei, dir dabei zu helfen, sie ins Leben zurückzuholen! Anders werde ich nicht ruhen, hörst du? Wir sind vieles, aber wir sind nicht quitt!", lasse ich ihn wissen und vorsichtig wieder los. Ich verschwinde hinters Gebüsch, finde meine Tasche wieder und als ich mich umdrehe, um zu gehen, treffen sich wieder unsere Blicke. "Du musst das nicht tun, Brotmädchen.", versucht er resigniert, mich davon abzuhalten. Er hat recht. Ich muss gar nichts. Genaugenommen kenne ich ihn gar nicht. Wegen ihm aufgewühlt zu sein, ist dumm. Nichts davon ergibt Sinn. Und trotzdem. Wird er mich nicht davon abhalten, ihn kennenzulernen und seiner Schwester zu helfen, was auch immer ihr fehlt. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, um mein Gewissen zu beruhigen. "Aber ich darf.", sage ich mehr zu mir als zu ihm und ergreife die Flucht nach Hause, wo ich schon längst hätte sein sollen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)