Ein Held unserer Zeit von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 3: ----------- 5. Schließlich war es Kai, den sie überreden konnte, mit ihr zur Abtei zu gehen. An diesem Punkt hatte sie schon gründliche Recherche betrieben. Zum Einen waren da die Ausschnitte der Videos gewesen, die Ivan und Sergeij gezeigt hatten, dann die Gespräche mit den anderen. Zum anderen gab es ja tatsächlich das Internet, und das Internet hatte nicht wenig über ihren Bruder zu sagen. Das meiste davon hatte sie aufgeregt, einiges davon hatte sie nicht verstanden, von vielem war sie sicher gewesen, dass es sich dabei nicht unbedingt um professionellen Journalismus handelte. Yuriys Team hatte von Anfang an wenige Interviews gegeben, so wenige, dass man sie an einer Hand abzählen konnte, und in keinen davon hatten sie irgendwas wirklich Brauchbares von sich gegeben. Sinaida hatte ihn angestarrt, den Junglauch mit seinem grimmigen Gesichtsausdruck und den zwei Antennen, und sich gefragt, ob sie ihn gemocht hätte, wenn sie sich damals schon gekannt hätten.  Alle ihre Freundinnen mit älteren Geschwistern kannten kein Leben ohne sie und die meisten hatten keine zwölf Jahre Altersunterschied zwischen sich, sondern vielleicht zwei oder fünf. Es war komisch. Es war bisher nie wirklich komisch gewesen, aber jetzt, wo sie wirklich darüber nachdachte, war es absolut komisch. Sinaida kannte Yuriy nur so, wie er jetzt war: ein Erwachsener mit einem Job, der Steuern bezahlte und sich über die Regierung beschwerte, und der leidlich kochen konnte, es aber nicht gerne tat. Ein Erwachsener, der keine Pickel hatte – oder nur sehr selten – und dessen Stimmbruch sie niemals mehr auf Band würde aufnehmen können, um ihn sein Leben lang damit zu erpressen. Sie wollte wissen, wo er diese seltsamen Jahre der Jugend verbracht hatte, die blinde Flecken für sie und Mama waren.  Sinaida kniff die Augen zusammen und starrte durch das mit Ketten verschlossene Gittertor auf die Gebäude der Abtei, von denen langsam der Putz abblätterte. Es war ein trostloses Gelände, auf dem kein Gras wuchs, und es wirkte kalt, auch wenn sie einen milden Sommertag hatten, an dem Sinaida weder fror noch schwitzte. Neben ihr verschränkte Kai die Arme vor der Brust und starrte das schwere Vorhangschloss an, das den Zugang verwehrte. Kai war ein bisschen seltsam, aber auch nicht seltsamer als alle anderen Leute, mit denen Yuriy sich umgab, und auch nicht seltsamer als Yuriy selber. Eigentlich, überlegte Sinaida, eigentlich war Miroslav aus ihrer Klasse viel seltsamer, denn der hatte den permanenten Drang, Gurkenscheiben in die Zimmerecke über der Tafel zu schießen und dann so lang hysterisch zu lachen, bis man ihn nach dem Grund dafür fragte. Wenn Sinaida es sich aussuchen konnte, dann nahm sie lieber jemanden wie Kai, der wenigstens ziemlich heiß war, wenn auch alt, und der keine Gurkenscheiben an die Wand klatschte, zumindest nicht vor ihren Augen.  „Okay“, sagte sie, um nicht mehr an Gurken zu denken, „und wie war das Leben in der Abtei so?“ „Hart und monoton“, sagte Kai achselzuckend. Er hatte mit Yuriy über diesen Ausflug gesprochen, zumindest glaubte Sinaida das, denn sie war sich relativ sicher, dass Kai sie nicht hierher begleitet hätte, ohne es mit den anderen zu besprechen, egal, wie sehr sie ihn damit genervt hatte.  „Gab’s Gebete?“, bohrte Sinaida nach. Kai grinste amüsiert. „Pro forma vielleicht.“ „Wann ist Yura in die Abtei gekommen?“ Kai zuckte erneut mit den Achseln. „Ich weiß es nicht genau.“ „Du weißt es nicht genau?“, fragte Sinaida ungläubig, „Hast du nicht gefragt?“ „Hast du nicht gefragt?“, schoss Kai zurück. „Es spielt keine Rolle, Kitsu-Chan.“ Sinaida dachte eine Weile darüber nach. Dann fragte sie: „Was spielt dann eine?“ Jetzt lächelte Kai nicht mehr. Stattdessen blickte er über das Gitter hinweg auf die Türme der Abteigebäude. Einen langen Moment war er still. Dann sagte er: „Die Abtei war für ihn schlechter als alles, was danach kam, aber besser als das, was davor war, glaube ich.“ „Davor waren Mama und Yuriys Vater“, wandte Sinaida ein, auch wenn sie schon die längste Zeit einen Klumpen im Magen hatte bei der Frage, an die sie kaum denken wollte, weil sie Angst vor der Antwort hatte. Kai sah sie an, als ob er ihre Gedanken trotz ihrer Empörung erraten konnte. Sie hatte es immer schon gemocht, dass er sie nie wie ein kleines Kind behandelte. Aber das tat eigentlich keiner von Yuriys Wahlfamilie. „Ich weiß.”  Ausnahmsweise wusste Sinaida nicht, was sie darauf sagen sollte. Kai lächelte auf sie herab und ließ einen Moment lang eine Hand auf ihrem Kopf ruhen. „Ich glaube, wir haben dieses Gebäude jetzt lange genug angestarrt. Willst du Eis? Yura hat gemeint, er würde irgendwo zu uns stoßen, sobald er die Runde mit Adhara fertig hat.“ „Eis klingt gut“, sagte Sinaida und warf noch einen Blick auf die Abtei, bevor sie sich umdrehte. Das Gebäude war alt, verfallen, verlassen. Sie konnte nicht mehr sagen, was sie hier hatte finden wollen. „Findest du, dass Yura ein vernünftiger Mensch ist?“, fragte Sinaida schließlich, als sie die Abtei bereits hinter sich gelassen hatten und die nächste Eisbude angesteuert hatten. Jetzt saßen sie an einem der Tische, beide mit einer riesigen Sonnenbrille auf dem Gesicht, und löffelten Eis in sich hinein, während sie auf Yuriy warteten. Kai gab ein undefinierbares Geräusch von sich und schluckte, ehe er sich den Mund abtupfte und sagte: „Lass dir mal von Boris erzählen, wie Yuriy einen Sommer lang losgezogen ist, um allen den Arsch zu versohlen, weil er dachte, dass seine Probleme nur so gelöst werden können. Ich musste ihm den eigenen dürren Arsch zuerst auf Grundeis legen, damit er rauskommt aus der Haltung.“ „Du hast mir den Arsch nicht auf Grundeis gelegt, du Lügner“, sagte Yuriy, der hinter ihm aus der Menge aufgetaucht war. Er wuschelte Sinaida durch die Haare, streifte mit den Fingerspitzen kaum sichtbar über Kais Fingerknöchel und ließ sich auf den Stuhl zwischen sie fallen. Adhara leckte hingebungsvoll über Sinaidas Fingerspitzen, bis die sie hinter den Ohren kraulte. „Borya hat den Kampf unterbrochen, der Klassenverräter. Außerdem ist mein Arsch nicht dürr und war es auch zu keiner Zeit. Adhara-“ Er gab einen kleinen, präzisen Pfiff von sich, woraufhin Adhara sich zu seinen Füßen unter den Tisch quetschte und zu ihm aufblickte, als ob er die Sonne in den Himmel gehängt hatte.  „Ach, wie süß“, sagte die Kellnerin bei ihrem Anblick und lächelte Yuriy an. „Was für einer ist das denn?“ „Malamute-Samojede-Mischling“, erwiderte Yuriy höflich, „hätten Sie vielleicht eine Schüssel Wasser? Und für mich einen Eiskaffee.“ Als die Kellnerin enthusiastisch bejahend verschwunden war, fragte Sinaida: „Warum hast du Leuten den Arsch versohlt?“ Eine alte Frau starrte Yuriy empört an, als der anstatt Sinaida für ihre Sprache zurechtzuweisen einfach nur erwiderte: „Ich dachte damals, dass es anders nicht geht.“ „Was? Das ist doch voll beknackt. Warum denn?” Yuriy gab einen langen, tiefen Seufzer von sich. Einen Moment lang sagte er nichts, dann: „Ich war ein Teenager mit Problemen. Da ist man so verdammt dramatisch.“ „Ich werd' sicher nie so dramatisch sein wie du, und ich werd' mich auch nie so furchtbar anziehen“, sagte Sinaida empört und nahm ihm das Eis weg. „Was hast du für Probleme haben können, die diese komischen Haltegriffe an deinem Outfit gerechtfertigt haben? Damit du beim nächsten Orkan nicht wegwehst, oder was? Und was war das für eine furchtbare Farbkombi?” „Du bist dreizehn, du aufmüpfiger Krümel“, sagte Yuriy unbeeindruckt, ohne ihre Fragen zu beantworten, und zog das Eis wieder heran, „reden wir weiter, wenn du mal so alt bist wie ich und ich Beweisfotos von deinen schlimmsten Modephasen habe.” Irgendwie, fand Sinaida, war es eine verdammt nette Vorstellung, dass Yuriy dann immer noch da sein würde. Auch wenn er ständig ihr Eis klaute. 6.  Sinaida hatte eigentlich nicht schnell vor irgendetwas Angst. Aber der Sturm rüttelte schon seit Stunden an Moskaus Straßen und Häusern, währen der Regen gegen die Fenster einschlug, als ob er sie zertrümmern wollte. Yuriys und Boris‘ Wohnzimmer war voller finsterer Schatten, die sich zu bewegen schien, je länger sie sie anstarrte. Mit einem tiefen Einatmen zog Sinaida sich die Decke, in der sie eingerollt auf dem Sofa schlief, über den Kopf. Nein, sie hatte keine Angst. Es war einfach nur ein bisschen unbequem.  Sie zuckte zusammen, als eine Tür sich knarrend öffnete.   Einen Moment lang lauschte sie mit angehaltenem Atem, ohne sich zu rühren. Schritte gingen über das knarrende Parkett, dann hielten sie inne. Einen Augenblick war es still. Dann seufzte jemand sehr tief und die Decke wurde von ihrem Kopf heruntergezogen. „He!“, protestierte sie zischend. Yuriy musterte sie unbeeindruckt, zumindest nahm sie das an. Nachdem das einzige Licht von den sturmgebeutelten Straßenlichtern vor dem Fenster kam, war seine Gestalt ein Mosaik aus Schatten und Grautönen, was nicht besonders viel Aufschluss über seinen Gesichtsausdruck gab.  „Ich geh‘ Milch trinken“, erklärte er leise genug, dass es nicht zu einer Unterbrechung des hingebungsvollen Schnarchens aus dem Schlafzimmer führte. „Kommst du mit?“ „Es ist-“ Sie warf einen Blick auf das Display ihres Handys. „Es ist vier in der Früh!“ „Und?“ „Wieso trinkst du um vier Uhr morgens Milch?“ „Ist das deine einzige Frage?“ Sinaida dachte darüber nach. Dann fragte sie: „Krieg‘ ich ein Stück von dem übrig gebliebenen Kuchen von gestern?“ Sie bildete sich ein, Yuriy mit den Schultern zucken zu sehen. „Klar.“ Er wartete, bis sie sich aus der Decke befreit und vom Sofa geschwungen hatte. Dann nahm er ihre Hand, um sie vom Wohnzimmer aus durch das Vorzimmer zur Küche zu dirigieren. Erst da schaltete er das Licht über dem Herd an. Sie sah ihm zu, wie er – gekleidet in Boxershorts und ein Shirt, das eindeutig Boris gehörte und permanent von einer seiner Schultern rutschte – den Kühlschrank öffnete und den Rest des Karottenkuchens herauszog, um ihn vor sie auf den Küchentisch zu stellen. Dann suchte er eine Gabel heraus und schenkte sich Milch in ein Glas ein, schloss den Kühlschrank wieder und ließ sich ihr gegenüber fallen. Sinaida schnitt sich ein Stück von dem Kuchen mit dem Messer, das schon am Teller gelegen hatte, ab und stach mit der Gabel hinein.  „Machst du das öfter?“, wollte sie wissen und steckte sich dabei einen Bissen in den Mund. Yuriy zog eine Augenbraue in die Höhe. „Milch trinken?“ „Milch trinken um vier Uhr Früh“, präzisierte Sinaida kauend. Yuriy dachte einen Moment lang darüber nach und nahm dabei einen Schluck. Dann sagte er: „Manchmal ist es auch drei oder fünf.“ Er sah, dass sie den Mund zu einer weiteren Frage öffnete und kam ihr zuvor, indem er hinzufügte: „Mein Schlafrhythmus ist manchmal ein bisschen im Arsch. Aber er pendelt sich nach ein paar Tagen meistens wieder von selbst ein. Ist nichts gegen das, was Kai meistens aufführt.“ Sinaida schürzte die Lippen und kam erst nach ein paar Sekunden darauf, dass das die gleiche Geste war, die auch Mama gerne machte, wenn sie etwas nicht gut fand, es aber nicht offen sagen wollte. Yuriy musterte sie über den Rand des Glases mit seinen hellen Augen und einem kleinen Schmunzeln, als ob es ihm auch aufgefallen war. Es war recht witzig, ihn mit feinen, rotblonden Stoppeln auf den Wangen zu sehen. Sie wurde aus diesen Gedanken gerissen, als ein gleißend heller Blitz über den Himmel zuckte und sie ein Auge zusammenkneifen ließ. Sekunden später rollte ohrenbetäubender Donner über Moskaus Dächer. Yuriy trank sehr unbeeindruckt noch einen Schluck Milch. „Na, heute knallt’s mal wieder ordentlich.“ „Gewitter sind Scheiße“, sagte Sinaida mit viel Gefühl. Sie wurde erneut von hellen Augen gemustert. Dann verzog Yuriy die Lippen zu einem kleinen, amüsierten Lächeln, von dem sie nicht genau sagen konnte, ob es auf ihre Kosten ging oder nicht. „Du hast doch wohl nicht Angst?“ „Natürlich nicht!“, erklärte Sinaida heftig. Vor Yuriy, der weder Tod noch Teufel fürchtete, würde sie bestimmt nicht zugeben, dass ihr mulmig zumute war bei einem Wetter, das selbst dem wehrhaften Moskau zuzusetzen schien. Aber es war schwierig, irgendwas vor Yuriy geheimzuhalten. Er sagte nichts, sondern trank nur aus, während Sinaida seinem Blick auswich und mit gesenktem Kopf in ihrem Kuchenstück herumstocherte. Dann erhob er sich und räumte sein Glas in den Geschirrspüler. „Stell‘ den Kuchen zurück in den Kühlschrank“, wies er sie mit einem Tonfall an, der vermuten ließ, dass er irgendetwas vorhatte. Zu perplex um zu protestieren tat Sinaida wie geheißen. Als sie sich zu ihm umdrehte, hatte er den Küchentisch ein Stück zur Seite gerückt, sodass zwei Leute mit etwas Quetschen vor dem Küchenfenster stehen konnten. Er winkte sie zu sich heran und Sinaida folgte der Aufforderung mit gerunzelter Stirn. „Was wird das, wenn’s fertig ist?“, fragte sie skeptisch. „Frühmorgendliche Lebensweisheiten“, sagte Yuriy und machte eine Pause. „Das sind die besten. Außer wenn sie von Boris kommen, wenn er wieder zu viel gesoffen hat, dann sind diese frühmorgendlichen Lebensweisheiten nämlich meistens ‚Im Notfall ausziehen‘ und das ist einfach kein allgemeingültiger Tipp, egal was er dir weismachen will.“   „Gott sei Dank hat keiner von euch Kinder“, stellte Sinaida fest. Yuriy schenkte ihr ein Grinsen, das nahe an einem Zähnefletschen war und ein bisschen wahnsinnig wirkte. „Es ist jedenfalls keine Schande, vor einer Naturgewalt Angst zu haben, Sina. Das ist sogar ziemlich intelligent.“ „Ich hab‘ keine Angst“, murmelte Sinaida halbherzig. Sie kniff erneut die Augen zusammen, als ein Blitz über den Himmel fuhr und Yuriys Gesicht einen Moment lang in tausend scharfe Splitter zerbrechen ließ.  „Angst heißt, dass du am Leben bist“, sagte Yuriy, „und ein Unwetter kann dir ein ganz neues Weltbild eröffnen. Die Strukturen des Systems zeigen sich immer erst so richtig im Chaos.“ Sinaida wollte fragen, was er damit meinte, aber da riss Yuriy bereits das Fenster auf und ließ den Sturm herein. Automatisch hob sie eine Hand vor ihr Gesicht, als die Luft an ihr vorbeipeitschte und irgendwo in der Küche etwas zum Scheppern brachte. Sie ließ den Arm erst wieder sinken, als kalte Finger sich fest und sicher um ihre Schultern schlossen. Yuriy ließ den Blick auf ihr ruhen, während ihr Herz in ihrer Brust hämmerte. Der Sturm wühlte sich durch ihrer beider Haar, bis man nicht mehr sagen konnte, wo das eine aufhörte und das andere begann und Sinaida sich fühlte wie von einer Feuersbrunst umhüllt. Yuriy zog sie an sich und drehte sich gemeinsam mit ihr dem Unwetter zu, das Wind und Regen auf sie und den Küchenboden niedergehen ließ. Sie wurde nass, aber der Sommersturm war warm, sodass sie nicht fror. Stattdessen atmete sie tief ein und stellte fest, dass Yuriys Arm sicher um sie lag. Der Sturm mochte an den Fenstern rattern, so sehr er wollte, mochte Masten umwerfen und Straßenlichter zum Schaukeln bringen: ihre Füße standen sicher am Grund und der Regen verletzte nicht. Stattdessen blickte sie mit weiten Augen auf die einsame, nächtliche Stadt, die unter dem Sturm gebeugt wurde und hatte ein seltsames Gefühl in der Brust, das ihr die Kehle abschnürte: wie als ob sie etwas Großartiges erlebte, etwas Einmaliges, ohne dass sie benennen konnte, was es war.  Sie konnte nicht sagen, wie lange sie dort standen. Aber irgendwann hörte der Sturm auf, erschöpfte sich nach und nach wie ein Tier, das zu lange getobt hatte. Der Regen hörte auf, der Wind legte sich, und Sinaida stand dort mit Yuriy am Fenster und war sich bewusst, schmerzhaft klar bewusst, dass sie existierte.  „Oh“, sagte sie leise. Yuriy summte und ließ sie los, um das Fenster zu schließen. Stille legte sich um sie. Er war genauso durchnässt wie sie, aber er lächelte so sehr, dass sich kleine Grübchen in seinen Wangen zeigten, die ihn einen Moment lang fast weich wirken ließen. Sinaida war sich sehr sicher, dass Yuriy ein bisschen verrückt war. Aber sie hatte ihn in diesem Moment so gerne, dass sie nicht wusste, wohin damit. Es waren sehr viele Lebenserkenntnisse auf einmal, besonders für eine Dreizehnjährige. „Okay“, sagte sie schließlich, „Stürme sind schon irgendwie cool. Aber wenn ich jetzt an einer Lungenentzündung sterbe, bist du verpflichtet, eine megageile Grabrede zu halten, sonst bin ich echt sauer.“ „Unsinn“, sagte Yuriy wenig mitleidig, „wenn man irgendwas über unsere Familie sagen kann, dann, dass wir nicht so leicht verrecken, schon gar nicht an einer Lungenentzündung.“ „Trotzdem ab ins Bad?“ „Trotzdem ab ins Bad“, bestätigte Yuriy und schob sie zur Tür hinaus. „Kann ich den restlichen Kuchen im Bett essen?“, fragte Sinaida, während er ihr im Badezimmer sorgfältig die Haare trocken rubbelte und dabei nicht mal so schlimm daran zog. „Das ist ein Sofa“, sagte Yuriy, „und wenn du bröselst, gehst du morgen selbst mit dem Handstaubsauger drüber.“ „Ist das ein Ja?“ „Von mir aus“, sagte Yuriy, rubbelte sich die Haare trocken und reichte ihr dann eine Bürste, um sich eien zweite zu schnappen. Schweigend entwirrten sie eine Weile ihre Haare, ließ Yuriy sie das Kuchenstück holen, bugsierte sie zurück ins Wohnzimmer und verschwand im Schlafzimmer. Er kam zwei Minuten später mit einem T-Shirt zurück, das eindeutig ihm gehörte, weil darauf eine Galaxie mit der Unterschrift „I Need Space“ zu sehen war. Außerdem war ihm Adhara auf den Fersen, die mit dem Schwanz wedelte, als sie Sinaida sah und dann zu ihr auf die Couch kletterte. Yuriy kraulte sie sanft hinter den spitzen Ohren, dann warf er Sinaida das Shirt gegen den Kopf. „Ich lasse Adinka bei dir“, sagte er ohne weitere Erklärung. Dann zögerte er, als ob er sich nicht sicher war, was er tun sollte, ehe er einen Moment lang die Hand auf ihrem Kopf ruhen ließ. „Schlaf gut.“ „Gute Nacht“, sagte Sinaida mit einem Gähnen, „ich hab‘ dich lieb.“ Einen langen Augenblick herrschte Stille.  Dann sagte Yuriy rau: „Zieh‘ dich um, bevor du schlafen gehst, sonst erkältest du dich am Ende wirklich noch.“ Er war im Schlafzimmer verschwunden und hatte die Tür hinter sich geschlossen, ehe Sinaida noch etwas darauf erwidern konnte. Männer, dachte Sinaida mit einem Augenrollen, zog sich um und kuschelte sich in die Decke und gegen Adhara, die leise in ihr Ohr schnaubte. Sie war innerhalb von Minuten eingeschlafen, ohne den Kuchen ein zweites Mal angesehen zu haben.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)