Der letzte Krieg von BuchTraumFaenger (1. Auf einer Reise) ================================================================================ Kapitel 30: 30. Schneegestöber ------------------------------ Allmählich legte sich der Tumult. Alle Soldaten, die sich von Xiang haben bestechen lassen, wurden abgeführt. Der blaue Pfau war immer noch etwas angeschlagen, sodass er so gut wie keinen Widerstand leistete. Aber Wang war sich sicher, dass er sogleich wieder herumfluchen würde. Po witzelte ein paar Worte mit dem König, schielte aber immer wieder zu Shen und Yin-Yu rüber, die sich immer noch in den Flügeln lagen. Doch nach einer Weile lösten sie ihre Umarmung und gingen etwas auseinander. Xia und Sheng standen immer noch in ihrer Nähe, waren sich aber nicht sicher, ob sie nun was sagen sollten oder nicht. Schließlich gesellte sich Po zu den beiden Geschwistern und gab ihnen einen leichten Seitenstoß. „Äh, vielleicht wäre es angebracht, die beiden kurz alleine zu lassen“, flüsterte er den zwei erwachsenen Kindern zu. Der Panda gab ihnen keine Gelegenheit dagegenzusprechen und zog sie zum Gebäude rüber. König Wang empfing ein Signal von ihm und der Ochse rief seine Leute vom Platz zurück. Es wurde ruhiger, bis nur noch der weiße Lord und die Lady übrigblieben. Yin-Yu starrte die ganze Zeit auf den Boden, während Shen sie von Zeit zu Zeit von der Seite ansah. Erst jetzt schienen sie zu realisieren, was die Tage über passiert war. Der Lord rieb sich den Flügel. Er hatte sie wieder umarmt. Nach so langer Zeit. Und es fühlte sich an wie eine Illusion, die langsam wieder verblassen wollte. Wieder schaute er zu ihr rüber. Sie fühlte seinen Blick. Die Wirkung der vorherigen Umarmung konnte sie nicht mehr beruhigen. Stattdessen bangte ihr vor einer neuen Bestrafung von ihm. Die Spannung zwischen ihnen wuchs. Die Stille machte es nur noch schlimmer. Jeder von ihnen wollte gerne etwas sagen, befürchteten aber eine neue Konfrontation. Und keiner von beiden wollte das je wieder erleben. Sogar Shen hasste das Gefühl der Disharmonie in seinem Weltbild. Der weiße Lord wurde immer nervöser und strich sich über seinen Flügel und fühlte auf einmal etwas Seltsames in seinem Gefieder. Er griff danach und die weiße Feder mit der rot-schwarzen Markierung von Yin-Yu kam zum Vorschein. „Es ist noch nicht vorbei“, hatte die Wahrsagerin ihm versichert. Shen nahm einen tiefen Atemzug. „Ich denke, wir sollten reden.“ Er zuckte zusammen. Die Pfauenhenne umarmte sich selbst und zog den Kopf ein, immer noch seinen Blick meidend. Hatte sie Angst vor einer neuen Rüge? „Sollten wir nicht besser mehr in deren Nähe bleiben?“, fragte Xia und schaute ihren Eltern aus einiger Entfernung zu. Sie stand mit den anderen irgendwo in der Burg und beobachtete sie durch eines der Fenster. Doch Po tätschelte ihr beruhigend die Schulter. „Nur keine Sorge. Ich bin mir sicher, dass alles in Ordnung ist. Und sollte doch etwas passieren, so bin ich jederzeit zur Stelle.“ Sanft schob er sie beiseite. Doch dann reckte er neugierig den Hals. „Über was reden die da nur?“ Er hielt den Atem an. Shen machte ein paar Schritte auf sie zu. Dann hob der Pfau die Flügel. Yin-Yu begann zu zittern, als die Flügel sie von hinten an den Schultern berührten. „Was habe ich getan?“, fragte sie mit angespannter Stimme. Sie senkte den Blick noch tiefer und war völlig außerstande sich zu rühren. In der Zwischenzeit bewegte Shen ein wenig seine Fingerfedern. Er scheute sich davor ihr den Grund zu nennen, doch andererseits konnte er es auch nicht mehr länger in seiner Seele vergraben. Er konnte sie nicht mehr länger so sehen. „Hör zu…“, begann er. „Es war nicht wegen dir… oder zumindest hatte ich zuerst gedacht, es wäre von dir…“ Po stellte sich auf seine Zehenspitzen und versuchte ein Wort zu verstehen. Er hatte sich zwar jetzt nahe genug an die beiden herangeschlichen, jedoch nicht nah genug, um ein klares Wort zu hören. Shen sprach so leise, dass es praktisch unmöglich für den neugierigen Panda war herauszuhören was er sagte. Er presste sich enger an die Steinwand und beobachtete ihre Reaktionen, während Shen ungehemmt weiterredete. Plötzlich schrak Yin-Yu zusammen. Sie drehte sich um und starrte den weißen Lord an. Dann senkte sie ihr Gesicht und hielt sich die Flügel vor die Augen. Die Lady entfernte sich ein paar Schritte von ihm und gab den Eindruck gedemütigt worden zu sein. „Wie konnte sie nur?!“, rief sie und rang nach Luft. „Ich habe eine schlimme Familie!“ Der Lord konnte sehen wie ihre Schultern bebten. „Nun ja, auf mich kann ich ja auch nicht gerade stolz sein“, sagte er und wollte nicht daran denken, dass er ihr beinahe im Geheimgang das Gesicht zerschnitten hätte. Seine Wut auf den gefälschten Brief hatte ihn so blind gemacht, dass er sie fast getötet hätte. Die Pfauenhenne begann zu wimmern. „Ich kann verstehen, dass du mich nicht mehr sehen willst“, rief sie. „Ich hab dir nur Unglück gebracht.“ Es sah so aus, als hätte sie vor wegzulaufen, doch Shen ergriff sie an den Schultern. „Unglück?“, fragte er überrascht aber ernst. „Wie kannst du sowas sagen?“ Sein Griff um sie herum wurde fester. „Kennst du mich etwa nicht mehr?“ Sie schwieg bevor sie wieder ihre Schnabellippen bewegte. „Was bin ich dir noch wert?“ Er verengte die Augen. Xiang hatte sie schlimmer manipuliert als er gedacht hatte. Behutsam, aber bestimmt, drehte er sie herum, sodass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Seine Fingerfedern feste auf ihren Schultern. Nachdem er sich sicher war, dass sie nicht mehr weglaufen wollte, griff er in seine Federn und holte die weiße Feder heraus, die Xia ihm gegeben hatte. „Erkennst du es wieder?“, fragte er. Sie hob ihre Augen und schaute auf die weiße, alte Feder in seinem Flügel. Allmählich kamen Erinnerungen zurück. Sie erinnerte sich daran wie sie diese Feder gefunden hatte. Es war an den Morgen nach der Nacht gewesen, wo sie sie auf den Fußboden fand, während sie dabei gewesen waren sich wieder anzuziehen. Wahrscheinlich hatte er sie während ihrer Liebesnacht verloren. Sie hatte sie aufgehoben und sie ihm gezeigt. Dabei hatte der Lord gelächelt. „Du kannst sie behalten.“ Vor 17 Jahren… Der nächste Tag nach der Nacht „Meister Shen?“, fragte der Wolf-Boss, als er den Lord die Treppe in der Fabrik runtergehen sah. „Habt Ihr heute vor den Test an der neuen Waffe durchzuführen?“ Doch der Lord schüttelte den Kopf. „Heute nicht.“ Überrascht starrte der Wolf ihn an. „A-aber Ihr sagtet doch noch gestern…“ „Gestern war gestern“, schnitt Shen ihm das Wort ab. „Aber heute ist heute.“ Mit großem Auge beobachtete der Wolf wie die Pfauenhenne hinter dem Lord die Treppe hinabstieg. Sie trug eine andere Robe als gestern. Sie war dunkelblau und mit weißen Mustern versehen. Ihre Haltung war nicht mehr scheu wie vor ein paar Tagen. Ihr Blick wirkte selbstsicher und vielleicht sogar… glücklich. Lord Shen nahm ihren Flügel und führte sie bis ans Ende des langen Treppenweges. Dann legte er seine Flügel um sie, um sicher zu gehen, dass ihre Robe auch fest saß. Der große Wolf war ihnen unterdessen gefolgt und war sich nicht sicher, was er als nächstes sagen sollte. „Ähm… und was habt Ihr heute vor?“ „Es ist so schön draußen“, sagte der Lord. „Wir werden einen kleinen Spaziergang machen.“ Die zwei Vögel sahen sich an. „Heute ist ein besonderer Tag.“ Sie lächelte ihm zu. „Ja, ein besonderer Tag.“ Damit rieben sie ihre Schnäbel aneinander. Es schien Shen nicht zu stören, dass der Wolf ihnen dabei zusah. Der wiederum sah verdutzt von einem zum anderen. Dann zuckte er die Achseln. „Versteh ich nicht“, murmelte er vor sich hin und ließ sie allein. Kaum war er weg, konnte sich Shen ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dann geleitete er sie zur nächsten Tür. Die Luft roch wie reingewaschen. Es war als hätte die Welt einen neuen Atemzug genommen. Neuschnee bedeckte die Landschaft der Berge. Alles schien so rein zu sein, so vollkommen, dass es irgendwie schmerzte einen Fuß in den makellosen Schnee zu setzen. Shen platzierte sich neben sie und winkte mit den Flügel nach vorne. „Gehen wir.“ Zusammen gingen sie einen verschneiten Pfad entlang, der sich durch ein paar Hügel schlängelte. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel herab. Der Schnee glitzerte und das Knirschen unter ihren Füßen war alles was die Welt um sie herum belebte. Eine Weile schwiegen beide. Shen fühlte sich gedrängt etwas zu sagen und versuchte ein Gespräch zu beginnen. „Nun“, begann er. Er versuchte unerschütterlich zu klingen, aber er fühlte sich wie ein unsicherer Teenager. „Es war eine… nette Nacht gewesen.“ Sie lächelte und strich sich über ihre Robe. Shen biss sich auf die Unterlippe. Letzte Nacht war alles so selbstverständlich gewesen, aber jetzt, wo er wieder nüchtern war, schien es ihm etwas peinlich zu sein. Er versuchte das Thema zu wechseln. Sie sollte nicht auf den Gedanken kommen, dass er sie nur wegen ihres Körpers mochte. Nein, es war bei weitem mehr als das. Er wollte über was Neutrales sprechen. Immerhin war alles jetzt eine ernste Sache. Sie waren ab heute ein Paar. Aber nicht irgendein Paar. Er war jemand mit adeliger Abstammung. Und sie waren sich einig als Verheiratete zusammenzuleben. Damit kam eine neue Verantwortung auf ihn zu. Nicht nur der Plan China zu erobern. Etwas anderes hatte ihn erobert. Er hob etwas Schnee vom Boden auf und strich sachte darüber, während sie jede Bewegung seiner Flügel beobachtete. Sie lächelte. „Der Schnee ist so weiß wie du.“ Er lächelte zurück. Weiß, schwarz und grau waren die einzigen Farben, die sie sehen konnte. Plötzlich verfinsterte sich seine Miene. Ein Krieger in schwarz und weiß wird mich besiegen. „Stimmt etwas nicht?“, fragte sie besorgt. Hastig schüttelte Shen den Kopf. „Nein, nein. Es ist nur… Egal.“ Er wollte sich den Tag nicht mit dieser schwarz-und-weiß Prophezeiung ruinieren lassen. Nicht heute. Und was würde das überhaupt für einen Sinn machen? Er hatte bereits diese „Krieger“ aus schwarz und weiß beseitigt. Niemals würden sie seine Pläne durchkreuzen. Er presste den Schnee in seinem Flügel zusammen. „Nein, es ist nur alles so neu für mich.“ Sie nickte. „Für mich auch.“ Er warf den Schneeball von sich. Zusammen beobachteten sie, wie dieser irgendwo im Schnee verschwand. „Du kannst ganz schön weit werfen“, sagte sie. „Reine Übungssache.“ Erneut hob er etwas Schnee auf und formte ihn zu einem Ball. „Jetzt sieh dir das mal an.“ Er warf ihn sehr hoch in die Luft. Dann schleuderte er zeitgleich etwas in blitzschneller Geschwindigkeit hinterher und trennte den Ball in zwei Teile. Sprachlos sah sie zu wie die zwei Schneeballhälften vom Himmel fielen. „Wie hast du das gemacht?“ Er hob seinen Flügel und zog eine weiße Feder heraus. Aber diese Feder war irgendwie seltsam. Sie wirkte so steif und unnatürlich hart wie eine… „Federklingen.“ Er reichte ihr eines von den Messern, die wie weiße Federn geformt waren. Vorsichtig nahm sie es in den Flügel und befühlte es mit ihren Fingerfedern. „Sehr scharf!“, warnte er. „Ich hab sie diesen Morgen angezogen.“ „Wie bist du auf diese Idee gekommen?“, fragte sie. „Nun, Federn sind wie Messer geformt. Dann dachte ich, wieso keine Federmesser?“ Sie strich über die scharfe Klinge. „Besteht da nicht die Gefahr, dass du dich schneidest?“ „Nein, nicht wenn ich vorsichtig bin.“ Damit nahm er es wieder an sich. „Und ich werde vorsichtig sein. Mein Körper ist meine eigene Waffe.“ Während er sprach, formte er einen weiteren Schneeball, warf ihn in die Luft und trennte ihn wieder mit einem Federmesser durch, sodass der Schnee über ihre Köpfe rieselte. „Denkst du, ich könnte sowas auch?“, fragte sie nach ein paar Sekunden der Sprachlosigkeit. Er lächelte sie an. „Da bin ich mir sicher. Ich werde es dich lehren.“ Sein Blick wanderte über die Landschaft. „Für die Eroberung ist jeder guter Krieger nötig.“ Sie bemerkte schnell wie sich seine Augenlider anspannten. Sanft streckte sie ihren Flügel nach ihm aus und rieb ihm über den Kopf, um den ganzen Schnee wegzurubbeln. Seine Anspannung verflog. „Vielleicht sollten wir über was anderes reden“, schlug sie vor. Shen blinzelte. „Mm, ja. Zumindest heute.“ In diesem Moment bückte sie sich runter und formte nun ebenfalls einen Schneeball. Zuerst sah Shen sie überrascht an, als ob er sie fragen würde, was sie jetzt von ihm erwartete. Sie versuchte ein freundliches Lächeln aufzusetzen und fing an zu lachen. „Vergiss deine Arbeit. Es ist so ein wunderschöner Tag heute.“ Sie warf den Schneeball, schaffte es aber nicht ihn so weit weg zu werfen wie Shen es zuvor getan hatte. Der weiße Lord schmunzelte. „Da fehlt noch ein bisschen Übung.“ Jetzt formte auch er abermals einen Schneeball. Doch dann… Zuerst schrak sie zusammen, doch als sie kurz darauf ein Lachen von ihm vernahm, machte es ihr nichts aus, dass er den Schneeball auf sie geworfen hatte. Und es dauerte nicht lange und zwischen ihnen tobte eine kleine Schneeballschlacht. Dann rannten sie quer über die Schneefelder, wirbelten herum, dass der Schnee nur so stob und sie einhüllte. Schließlich warf er sich auf sie und beide rollten auf den weißen Boden. Keuchend kamen sie zum Stillstand und schauten sich gegenseitig etwas erschöpft an. Während Shen auf ihr lag, nahm er sich die Zeit ihr Gesicht vom Schnee zu befreien. Dabei führte er seine Bewegungen zärtlich und vorsichtig aus, und es begann ihn wieder an die vergangene Nacht zu erinnern. Sie war für ihn kein Geheimnis mehr. Seit er in der Nacht ihren ganzen Körper durchforscht hatte, meinte er alles über ihre Seele zu wissen. Nach einer Weile standen sie wieder auf und ein neues Fangen-und-Versteck Spiel begann. Sie spielten wie sie es noch nie in ihrer Kindheit getan hatten. Es war mehr als nur ein Spiel zwischen Freunden. Es war vertrauter und inniger… Während sie sich hinter einem der Schneehügel versteckte, lehnte sie sich gegen die Schneewand und nutzte die Chance, um nach frischer Luft zu schnappen. Plötzlich erstarrte sie. Ein Schatten war in der Ferne aufgetaucht und flog in niedriger Höhe über die schneebedeckte Berggegend. Die Pfauenhenne zog den Kopf ein. Ihr Herz schlug schneller. Sie kannte diese Gestalt. Im nächsten Moment gab die Figur den Eindruck sie entdeckt zu haben. Jetzt folgten ihr andere fliegende Schatten. Sie schrak zusammen, als Shen neben ihr auftauchte. „Gefunden!“ Doch dann bemerkte er ihre Unsicherheit und hielt inne. „Stimmt etwas nicht?“ „Äh… nein, ich…“ Behutsam schob sie ihn etwas weiter hinter den Hügel. „Ich… ich dachte nur, ich hätte eine… eine Blume irgendwo gesehen…“ Sie tat so als würde sie sich nach der Blume umschauen, aber in Wahrheit suchte sie den Himmel ab. Die dunklen Gestalten waren verschwunden. „Warte eine Sekunde“, sagte sie und ließ den überraschten Lord da stehen. „Bin gleich zurück.“ Schnell rannte sie hinter die nächste Schneewehe. „Sei vorsichtig“, rief Shen ihr nach. „Keine Sorge“, rief sie zurück. Kaum war sie aus seiner Sicht verschwunden, rannte sie so schnell sie konnte um ein paar verschneite Felsen, wobei sie immerzu den Himmel beobachtete. Aber da war nichts. Waren sie weg? Sie hielt an und lauschte. Aber da war kein Laut, nicht einer… Plötzlich packte sie jemand von hinten und riss sie in die Luft. Sie tat ihr Bestes nicht zu schreien. Der große Vogel flog mit ihr zu einem im Schatten versteckten Plateau. Yin-Yu landete mit dem Gesicht im Schnee. Schnell rappelte sie sich wieder auf und blickte in das Gesicht eines Adlers. „Nach so vielen Monden und Sonnen haben wir dich endlich gefunden“, sagte er zufrieden. „Wie könnt ihr es wagen?!“, schimpfte sie. Mehr Adler kreisten sie ein. Der große Vogel grinste dunkel. „Deine Eltern erwarten dich.“ Sie verengte die Augen. „Oh, wirklich?“ Sie wischte sich den Schnee von ihrer Kleidung. „Ich will nie wieder zurück!“ Der Adler schien jetzt etwas verwundert zu sein. Anscheinend hatte er noch nie solche Widerworte von ihr gehört. „Ganz schön frech nach ein paar Wochen Freizeit in der weiten Welt.“ Er packte sie am Flügel. „Du kommst jetzt mit uns mit!“ Sie riss sich von ihm los. „Nein! Du weißt ganz genau wieso. Mein Leben in Jingang ist vorbei! Es existiert nicht mehr!“ Der Adler zog die Augenbrauen zusammen. „Oder ist es wegen diesem merkwürdig aussehenden Kerl?“ Sie zuckte zusammen. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Der Alder knackte mit den Krallen. „Vielleicht sollten wir ihn fragen.“ Ein hässliches Grinsen von ihm versprach nichts Gutes. „Er weiß gar nichts über mich!“, beteuerte sie. Der anführende Adler wandte sich ab. „Ach, wirklich?“ „Er lebt in den Bergen!“, sagte sie mit fester Stimme. „Allein. Er bot mir nur ein Dach über den Kopf an.“ „In diesem Fall wird es ja dann kein Problem sein nach Hause zurückzukehren.“ Zwei der Wachvögel packten sie an den Flügeln. Ihr Körper krampfte zusammen beim Versuch wieder freizukommen. „Warum tust du mir das an?!“, rief sie. „Deine Eltern werden sonst sehr ungehalten zu uns“, erklärte der größere Adler. „Sie sagen uns: Bringt sie zurück oder kommt nie wieder. Dreimal darfst du raten, was ich jetzt wählen werde.“ „Nein, ich will nicht zurück!“ „Halt den Schnabel! Zeit zum Abflug.“ Damit packte einer der großen Alder sie mit seinen Klauen und flog mit dem wehrhaften Mädchen davon. Sie sah sich um, doch da war keine Möglichkeit ihn noch ein letztes Mal zu sehen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Die Landschaft um sie herum verschwamm. Lebwohl, mein Geliebter. Sie wünsche, sie könnte schreien. Aber er würde sie hören. Er sollte sie nicht hören. Er sollte nicht kommen. „Zuerst dachte ich, dir sei etwas Schlimmes passiert“, sagte Shen nachdem Yin-Yu ihre Version beendet hatte. „Bis ich… den Brief erhielt.“ Die Pfauenhenne stieß einen wehleidigen Seufzer aus. „Ich hätte mich nie verschleppen lassen sollen. Ich hab alles kaputt gemacht!“ Sie hielt sich den Schnabel zu, um zu vermeiden laut los zu weinen. Langsam trat Shen näher an sie heran. „Du hast vielleicht vieles kaputtgemacht, aber doch nicht alles.“ Sie senkte den Kopf noch tiefer. „Du gibst also auch zu, dass ich Schuld habe.“ Der Pfau verengte die Augen. „Wenn dann war es die Schuld deiner Mutter. Sie hat uns beide getäuscht.“ Yin-Yu senkte ihre verkrampften Flügel. „Ich hasse sie so sehr.“ „Warum hast du dich nicht bemerkbar gemacht?“, fragte er. „Ich wäre für dich da gewesen.“ Sie sah ihn mit versteinerter Miene an. „Und was wäre gewesen, wenn meine Eltern mit einer ganzen Armee angerückt wären? Nein, du warst noch nicht soweit. Mein Leben hat man schon ruiniert. Ich wollte nicht auch noch deines zerstören. Ich dachte, ich könnte mein früheres Leben hinter mir lassen. Ich wollte nie mehr meinen Namen hören, den ich am Tag meiner Geburt erhalten hatte. Im Übrigen hab ich nie etwas von deinen Plänen verraten. Nie.“ Shen schwieg einen Moment. „Ich erinnere mich noch wie du das erste Mal vor mir auf dem Boden lagst.“ „Vielleicht war es ein Fehler gewesen. Ich hätte dir eine Menge Probleme erspart.“ Für ein paar Sekunden wich Shen ihrem Blick aus, bevor er es wieder wagte sie anzusehen. „Aber deine Tochter hat nach mir gesucht, und mich gefunden. Und jetzt stehen wir hier.“ Sie sahen einander an, aber Yin-Yu zeigte sich mehr als verunsichert ihm gegenüber. Sie wandte sich ab und ging ein paar Meter weg. „Aber was bedeutet das?“, fragte sie mit heiserer, leiser Stimme. Sie hielt inne, als sie auf dem Boden ein paar Blutflecken von Xiang erkannte, als Shen ihm mit dem Messer am Flügel verletzt hatte. Der Pfau bemerkte ihren Blick und schaute nun ebenfalls auf die roten Spritzer herab. Dann wischte er mit dem Fuß über den blutbefleckten Schnee. „Du sagtest, du würdest ihn verlassen, oder?“, fragte er. Sie rang nach Luft. „Ich war wütend.“ „Aber du würdest es tun, wenn du es könntest, oder etwa nicht?“ Darauf wagte sie nicht zu antworten. Langsam gingen sie Seite an Seite weiter. „War er so grausam zu dir gewesen?“, fragte er vorsichtig. Ein bitteres Lächeln zierte ihre Schnabelwinkel. „Wir schliefen in getrennten Schlafzimmern. Nur in den ersten paar Monaten kam er zu mir, wenn er seinen „Spaß“ mit mir haben wollte. Ich konnte mir noch nicht einmal die Namen von meinen Kindern aussuchen. Hätte Xia nie den Anfang und Sheng nie den letzten Buchstaben seines Namens gehabt, hätte er sich was anderes ausgedacht.“ Ein paar Sekunden der Stille folgten. „Also hasst du ihn?“, wagte Shen die Frage zu stellen. Sie hielt an, aber ihr Blick blieb geradeaus gerichtet. „Ja.“ Ratlos rieb Shen sich über den Ärmel seiner Robe. „Wang hat dir ein Angebot gemacht. - Willst du es annehmen?“ Sie sah ihn schnell an. „Warum stellst du mir diese Frage?“ „Ich möchte nur die Antwort wissen.“ Sie schaute weg. „Wie soll ich dir das erklären? Ich hatte keine andere Wahl gehabt.“ Er umkreiste sie. „Bis jetzt, nicht wahr?“ „Ich weiß überhaupt nicht, was ich denken soll!“ Shen kam vor ihr zum Stehen, während ihr Blick auf den Boden gerichtet blieb. Schließlich holte Shen etwas aus seinem Mantel heraus und hielt es ihr vor. Yin-Yu hob den Kopf und starrte auf das eingerollte Papier in seinem Flügel. Shen gab keine Erklärung und öffnete es ein wenig. Ihre Augen weiteten sich. „Ist das etwa…?“ „Dein Brief? Ja.“ Er rollte es wieder zusammen. „Du hast ihn bekommen…?“ „Seit gestern… Und gelesen.“ Mit einem Mal wandte sie sich ab. War es ihr peinlich? „Aber das ist schon so lange her“, wimmerte sie. „Woher sollen wir wissen, dass es wieder so wird… wie früher?“ Der Pfau steckte den Brief wieder ein und legte die Flügel zusammen. „Was verbindest du mit der Farbe schwarz?“ „Wieso?“ „Beantworte einfach meine Frage. Was empfindest du bei Schwarz?“ Sie dachte kurz nach. „Farblos. Weiß ist hell und Licht, aber Schwarz ist dunkel und ohne Sicht.“ „Genauso hab ich auch die ganze Zeit empfunden. Ich war wütend, als ich hörte, dass du jemand anderem gehörst.“ Sie schaute zu ihm auf. „Er hat mich nie besessen. Es gab keinen einzigen Tag, wo ich nicht einmal an dich gedacht habe.“ Shen hob die Augenbrauen. „Die ganzen 17 Jahre? 17 Jahre sind eine lange Zeit. Jeden Tag?“ Sie nickte, wagte aber nicht ihm die gleiche Frage zu stellen. Stattdessen wandten beide ihre Blicke in die Ferne. „Hast du vor wieder in Xiangs Stadt zurückzukehren?“, fragte er vorsichtig. „Ich hab mich dort noch nie wohl gefühlt“, antwortete sie. „Es birgt so viele… düstere Erinnerungen.“ Shen schien über etwas nachzudenken. „Nun, in diesem Fall wirst du wohl eine Bleibe benötigen, wo du dich mehr… wie im Licht fühlen kannst. Dort wo es keine düsteren Gedanken gibt.“ Ein sehr sanftes Lächeln glitt über ihren Schnabel. „Das wäre zu schön. Einen Platz zu haben, wo man sich nicht wie in einem Gefängnis vorkommt. Kennst du so einen Ort?“ Ein sehr, sehr kleines Lächeln folgte auf seinem Schnabel. „Vielleicht. Und vielleicht auch für deine Kinder.“ Sie sah ihn von der Seite an, während Shen fortfuhr: „Mm, und vielleicht benötigt deine Tochter einen Ort, wo sie schwimmen lernen kann. Sie wird das mal in einigen Situationen dringend nötig haben.“ Yin-Yu hob den Kopf höher. „Ich kann auch nicht schwimmen.“ „In dem Fall müsst ihr es beide lernen. Und dein Sohn ist kein schlechter Kämpfer. Er wird auch einen Ort brauchen, wo er sich weiterhin gut halten kann.“ „Du meinst unser Sohn… und unsere Tochter.“ Shen musste schmunzeln. „Ich muss mich noch daran gewöhnen.“ „Könntest du dir denn vorstellen, dich daran zu gewöhnen?“ „Nun, ich werde dafür etwas Zeit brauchen.“ „Wieviel Zeit?“ Er drehte sich zu ihr um. „Vielleicht eine sehr lange Zeit. Denkst du, du kannst mir diese Zeit geben?“ Ihre Augen weiteten sich. „Eine sehr lange Zeit?“ „Eine sehr, sehr lange Zeit.“ Sie sahen einander an. „Könntest du dir das vorstellen?“, fragte er ernst. „Ja.“ Er zögerte. „Sicher?“ „Wenn du mich schon so fragst.“ „Willst du?“ Erst jetzt fiel ihnen auf, dass sie sich fast umarmten. Aber vielleicht brauchte er auch nichts Weiteres zu sagen. Sie hatte ihm bereits voll und ganz zugestimmt. In diesem Moment wirbelte eine kleine Schneeflocke um sie herum. Und noch eine und noch eine. Es begann wieder zu schneien. Beide Vögel sahen zum Himmel auf. „Liebst du immer noch den Schnee?“, fragte er tief in Gedanken. „Ich liebe ihn immer noch wie…“ Er schien zu ahnen, dass sie „du“ sagen wollte. Langsam nahm er ihre Flügel und küsste sie. Als hätte er die ganze Zeit nur darauf gewartet. Er streckte seine befiederte Hand nach ihr aus und wischte über ihre verschneiten Kopffedern. Dasselbe tat sie mit ihm. Plötzlich wehte ein eisiger Wind. Sie umarmten sich, während sie dabei den Schnee beobachteten. „Schnee ist wunderschön, nicht wahr?“, sagte er. „Ja.“ Schnell und behutsam umhüllte er sie mit seinem Mantel. Sie begann zu zittern, wurde aber schnell wieder von ihm aufgewärmt. „Hey!“, rief eine vertraute Stimme zu ihnen rüber. „Ihr holt euch noch eine Erkältung!“ Shen lächelte. „Wen kümmert es?“ Er zog sie näher zu sich heran. „Es ist uns ein Vergnügen.“ Po war sprachlos. „Also manchmal verstehe ich manche Leute echt nicht“, und beobachtete wie die Schneeflocken die beiden umwirbelten. 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