Ich, er und die Liebe von Maginisha ================================================================================ Kapitel 24: Von exakten Uhrzeiten und bodenlosen Wahrheiten ----------------------------------------------------------- Routinen sind wirklich eine feine Sache. Sie ermöglichen Vorhersehbarkeit, Planbarkeit und erleichteren an vielen Stellen das Leben. Einfach weil man sich wieder und wieder in Situationen befindet, in denen man genau weiß, was man tun soll. Das senkt den Stresspegel und somit das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben. Glaube ich jedenfalls. Andererseits macht sich das Leben oft genug einen Spaß daraus, uns in Situationen zu werfen, in denen wir nicht genau wissen, wie wir reagieren sollen. Doch auch das ist gut, denn es trainiert unsere Problemlösefähigkeit und hält uns geistig fit. Um die Ecke zu denken, ist eine wichtige Eigenschaft. Und dann gibt es diese Situationen, wo man überhaupt nicht weiß, was man machen soll, und auch keine Lösung findet, egal wie lange man darüber grübelt. In so einer befand ich mich jetzt.   Wir warteten mal wieder auf Herrn Vogel, damit er uns den Klassenraum aufschloss, sodass ich in Ruhe inmitten des Pulks lärmender Mitschüler im Flur sitzen und mir Gedanken machen konnte. Das hieß im Klartext, dass ich wie ein hypnotisierter Nacktmull auf den Bildschirm meines Handys starrte und versuchte zu verstehen, was da los war. Ich kam einfach nicht dahinter. Meine Nachrichten an Manuel waren zwar alle versendet worden, aber sie wurden nicht empfangen. Warum nicht? Immerhin war heute schon Mittwoch. So lange hatte doch kein Mensch sein Handy ausgeschaltet. Ob es vielleicht kaputt war? In einem wandelnden Funkloch gefangen? Geklaut worden? Oder steckte da mehr dahinter? War Manuel in Schwierigkeiten? Oder hatte es etwas mit uns zu tun?   Ich knurrte und war schon kurz davor, mein mickriges Datenvolumen zu strapazieren, um im Netz nach einer Lösung zu suchen, als mich jemand anstupste.   „Brauchst du Hilfe?“   Anton. Anton, der mich aus großen, bebrillten Augen ansah und mit dem Kopf auf mein Handy deutete. Anton, der die absolute Ahnung von Computern hatte. Er wusste bestimmt, wo das Problem lag.   „Ich hab jemandem ein paar Nachrichten geschickt, aber die kommen irgendwie nicht bei ihm an.“ „Kann ich mal sehen?“   Ich zögerte. Der Chat mit Manuel war … nun ja, nicht explizit, aber es ließen sich bestimmt ein paar Rückschlüsse ziehen. Zumal ich Manuel mit seinem richtigen Namen eingespeichert hatte. Ich meine, was hätte ich denn schreiben sollen? Mein kleines Seepferdchen? Wohl kaum.   „Warte mal kurz.“   Ich rief die Kontakte auf und kürzte Manuels Namen bis auf den Anfangsbuchstaben zusammen. „M“ konnte schließlich viel bedeuten. Anschließend gab ich Anton das Handy.   Er betrachtete es, drückte ein paar Tasten und fragte dann: „Hast du es mal neu gestartet?“   Ich rollte mit den Augen. „Ja, hab ich. Ich hab auch alle Updates runtergeladen, daran kann es also nicht liegen.“   „Mhm“, machte er. „Dann muss das Problem beim Empfänger liegen. Entweder hat das Gerät keinen Empfang, was auch an einem fehlenden Update liegen kann, ist ausgeschaltet …“ „Das hab ich mir auch schon gedacht.“ „… oder der Empfänger hat dich blockiert.“ „Was?“   Anton schob seine Brille nach oben und zeigte auf den Bildschirm.   „Blockiert“, wiederholte er geduldig. „Siehst du? Der Zeitstempel hat sich seit Samstagabend 18.14 Uhr nicht mehr verändert. Das dürfte der Zeitpunkt des Kontaktabbruchs gewesen sein. Ist da etwas vorgefallen?“   18.14 Uhr. Am Samstag. Das war … nur wenige Minuten, nachdem wir unser Date beendet hatten. Der Zeitpunkt, an dem er mich aus den Augen verloren hatte, vermutlich. War da wirklich seine erste Handlung gewesen, sein Handy zu zücken und mich zu blockieren? Warum?   Unter mir schien sich ein Loch aufzutun, aber ich weigerte mich, dort hinein zu springen. Das konnte nicht wahr sein. Da stimmte etwas nicht. Vielleicht … vielleicht war ihm sein Handy auf dem Weg runtergefallen und war jetzt tatsächlich kaputt. Konnte doch sein. Am Sonntag hatte er dann bestimmt versucht, mich zu erreichen, aber ohne Handy konnte er mir nicht schreiben und da ich den ganzen Tag drinnen gehockt hatte, hatte er mich auch nicht ansprechen können. Schließlich konnte er ja schlecht einfach bei uns klingeln. Und dann … dann war einfach keine Gelegenheit mehr gewesen. Dienstag war ich bis abends in der Stadt gewesen und …   Und was ist mit Montag?, wollte eine kleine, gehässige Stimme wissen. Er hätte am Bus auf dich warten können.   Nein, widersprach ich. Er ist montags noch nie am Bus gewesen. Immer nur am Mittwoch.   Mittwoch. Heute war Mittwoch. Heute Mittag würde er am Bus sein und wir konnten das klären. Ganz bestimmt konnten wir das. Es musste einfach so sein. Denn warum hätte er mich gleich nach unserer Verabschiedung blockieren sollen? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn.   Ich nahm mein Handy wieder entgegen und steckte es in die Tasche. Die Hoffnung, dass sich dort irgendetwas tun würde, war erloschen. Eigentlich hatte sie gestern Abend schon angefangen zu flackern, als ich Manuel probeweise noch ein paar Mal geschrieben hatte, aber jetzt war endgültig zappenduster und der Docht glimmte nicht einmal mehr. Ich würde abwarten müssen, ob ich Manuel heute Mittag wiedersah.     Der Tag zog und zog sich. Ich versuchte wirklich, mich zu konzentrieren, aber immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich mein Handy herauszog, um dieses Mal nicht auf den Messenger sondern auf die Uhrzeit zu gucken. Das war es dann wohl auch, was mir in der letzten Stunde den Rüffel von unserem Klassenlehrer einbrachte. „Eine ganz besondere Form des Parasitismus finden wir heutzutage in elektronischer Ausführung. Fiese, kleine Geräte, die die Aufmerksamkeit ihres Wirts an sich binden, obwohl dieser doch eigentlich meinem höchst interessanten Unterricht lauschen sollten.“   Herr Wilkens stand vor meinem Tisch und streckte die Hand aus. „Wenn ich um dein Handy bitten dürfte.“ „Aber ich hab nur geguckt, wie spät es ist.“   Herr Wilkens zog die Augenbrauen zusammen. „Wirklich. Bitte! Ich steck’s jetzt auch weg. Versprochen!“   Eigentlich konnte ich gar nicht glauben, wie bettelnd ich gerade klang, aber anscheinend hatte ich Erfolg. Die lehrerische Stirn entspannte sich. „Na schön, ich will mal nicht so sein. Aber wenn ich heute auch nur eine Ecke von dem Ding zu sehen bekomme, ist es weg und zwar bis Morgen früh. Verstanden?“ „Ja, Herr Wilkens.“ „Schön. Dann wenden wir uns also wieder dem Bandwurm zu.“   Ich atmete erleichtert auf. Das hätte mir gerade noch gefehlt, wenn mein Handy jetzt eingesammelt worden wäre. Obwohl Manuel sich darüber sicherlich einen abgegrinst hätte. So jedoch brachte es mir nur ein paar gehässige Kommentare von Oliver ein, der in der letzten Reihe saß und mich ganz eindeutig nachahmte, wie ich um mein Handy flehte. Ach, sollte er doch. Mir egal. Hauptsache die Stunde war bald rum und ich konnte mich endlich mit Manuel treffen. Immerhin hatte ich jetzt noch einen Grund gefunden, warum er sein Handy vielleicht nicht hatte. Er hatte Ärger bekommen, weil er zu spät heimgekommen war oder wegen sonst was, und sein Betreuer das Ding konfisziert. Ganz einfach, Problem gelöst. Blockiert. Pff! Das war ja lächerlich und ganz bestimmt nicht der Grund. Mit Sicherheit nicht.     Wie ein Irrer raste ich nach Schulschluss durch die Stadt und kam völlig abgehetzt und außer Atem am Busbahnhof an, der jedoch völlig verwaist dalag. So sehr ich auch suchte, es war niemand zu sehen, weder an unserer Haltestelle noch an einer anderen.   Mit letzter Hoffnung ging ich zum Kiosk hinüber und betrat den winzigen, bis an die Decke vollgestopften Laden. Zwischen Zeitschriften, Zigaretten und Zitronenbonbons hockte ein völlig zerknitterter Mann unbestimmten Alters und las in einem Magazin. Als er mich kommen sah, legte er es beiseite und stellte sich hinter dem Tresen auf. „Na, was soll’s denn sein?“, leierte er mäßig freundlich.   „Ich, äh …“ Ich sah mich um und wies auf die Kästen, in denen lose Süßwaren herumlagen. „Ein paar von denen da.“   „Und welche Sorte.“ „Die sauren?“ „Und für wie viel?“ „Einen Euro?“ Er warf mir einen komischen Blick zu, griff dann aber nach einer Zange packte ein paar der bunten Gummiteile in eine kleine, dreieckige Papiertüte.   „Macht einen Euro.“   Ich bezahlte, steckte die Tüte ein und verabschiedete mich. Wahrscheinlich dachte der Typ jetzt, dass ich ganz gehörig einen an der Waffel hätte. In meinem Alter kaufte doch keiner mehr Gummitierchen. Wobei ich nicht leugnen konnte, dass die Dinger eine gute Nervennahrung waren, während ich mich in das Bushäuschen setzte und darauf wartete, dass Manuel auftauchte. Ich wartete und wartete. Nicht mal, als der Bus irgendwann kam und die Traube von Schülern in seinen Bauch lud, gab ich die Hoffnung auf. Gleich … gleich würde er noch um die Ecke kommen. Ganz bestimmt. Aber er kam nicht. Der Bus fuhr schließlich ab und ich starrte aus dem Fenster hinaus ins Leere. So langsam wurde ich das Gefühl nicht los, dass da tatsächlich etwas nicht stimmte. Etwas ziemlich schlimmes.   Zu Hause hielt ich es kaum aus, beim Mittagessen stillzusitzen. Seit ich durch die Tür gekommen war, wusste ich nämlich, wie ich das Problem lösen konnte. Zuerst hatte ich noch in Erwägung gezogen, Manuel anzurufen, aber wenn tatsächlich was mit dem Handy nicht stimmte, würde mir das auch nicht weiterhelfen. Nein. Wenn ich wissen wollte, was hier los war, gab es dafür nur einen Weg, auch wenn der meine Hände ein wenig zittern ließ. Ich würde zu Manuels Wohnheim gehen müssen und ihn selbst fragen. „Ich bin nochmal weg“, sagte ich zu meiner Mutter, als sie bereits das Telefon in der Hand hatte, um irgendwas wegen der Hochzeit zu organisieren. Das war immerhin der älteste Trick der Welt, den bereits Vierjährige in Perfektion beherrschten. Wenn du etwas willst, musst du nur warten, bis deine Eltern ein wichtiges Telefongespräch führen. Während jemand am anderen Ende ist, sagen sie zu allem Ja, nur damit sie ihre Ruhe haben. „Ist gut, Schatz“, meinte meine Mutter daher auch nur, während ich mir bereits meine Schuhe anzog und anschließend aus der Haustür stürzte. Ich nahm mein Fahrrad und trat in die Pedalen. Bis zu dem Heim war es nicht weit, aber im Moment erschien mir jede weitere Sekunde wie Folter. Ich musste endlich Bescheid wissen.   Mit quietschenden Reifen kam ich an dem gelben Haus an. Der Vorgarten war immer noch verwildert und neben der Tür lehnte eine Leiter. Daneben standen einige Farbeimer. Augenscheinlich Utensilien für die Renovierung, von der Manuel gesprochen hatte. Ich stellte mein Fahrrad ab, wickelte noch schnell das Schloss um den Hinterreifen und stand dann plötzlich unentschlossen auf dem von Gras überwucherten Gartenweg.   Was, wenn er sauer wurde? Er hatte nicht gewollt, dass ich hierherkam. Aber andererseits blieb mir keine Wahl. Was sollte ich denn machen, wenn er auf einmal nicht mehr erreichbar war? Zumal ich ja Morgen arbeiten musste. Ich musste doch immerhin unsere Verabredung absagen.   Zögernd ging ich auf die hellblaue Tür zu. Es sah trotz der Unordnung freundlich aus. Wie ein Zuhause, in dem nette Leute wohnten. War vermutlich auch beabsichtigt. Kontrastprogramm zu dem Mist, denn die Bewohner bei ihren Eltern erlebt hatten. Und freundliche Leute würden mir vermutlich nicht den Kopf abreißen, wenn ich sie einfach so aus heiterem Himmel belästigte. Hoffte ich zumindest.   Mit einem letzten, tiefen Atemzug drückte ich auf den Klingelknopf. Ich hörte, wie es drinnen läutete, Schritte kamen nähe rund dann … „Oh hallo! Kann ich dir helfen?“   Der Mann, der mir gegenüber stand, trug eine labbrige Jeans und ein T-Shirt mit Farbspritzern. Seine blonden Haare hatten der Stirn bereits einigen Platz eingeräumt und waren am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Rasiert hatte er sich ebenfalls mehrere Tage nicht, sodass ein stoppeliger Bart seine gebräunte Haut zierte. Ich wusste nicht warum, aber ich war mir sicher, dass er dieser Jens sein musste, von dem Manuel immer erzählt hatte. Wahrscheinlich weil mir klar war, dass jemand, der so auftrat, bei Herrn Möller sofort Widerwillen erregen würde. Und außerdem: Wer sollte es sonst sein?   „Ich …“, begann ich und konnte mit einem Mal nicht weiterreden. Warum kam Manuel jetzt nicht von irgendwo herangeschneit und zog mich mit ein paar ruppigen Worten in sein Zimmer? Oder nach draußen, wo er sich eine Zigarette ansteckte und mich anfauchte, was ich hier wollte, bevor er mir alles erklärte. Aber Manuel kam nicht. Er kam einfach nicht.   Ich weiß nicht, was es war, aber der Gesichtsausdruck meines Gegenübers veränderte sich plötzlich. Die unverbindliche Freundlichkeit, die auch jedem Postboten entgegengebracht worden wäre, wurde zu einem ehrlicheren Interesse. „Suchst du jemanden?“   „Ich …“ Schon wieder kam ich nicht weiter. Es war, als hätten alle meine Worte plötzlich die Flucht ergriffen. Puff, einfach weg. Blank space im Kopf. Je länger das hier dauerte, desto sicherer war ich mir, dass tatsächlich etwas passiert war. Etwas, das sich wie ein großer, schwarzer Berg vor mir auftürmte und drohte mich zu zermalmen, sobald ich auch nur eine falsche Bewegung machte.   Der Mann, den ich für Jens hielt, sah mich immer noch fragend an. Ich gab mir einen mentalen Tritt. Wenn ich nicht sagte, was ich wollte, würde ich nicht weiterkommen. „Ich suche Manuel.“ Da, es war heraus. Ich hatte es geschafft. Einen ganzen Satz hatte ich sagen können ohne zusammenzubrechen. Das allerdings drohte mir jetzt, als die Miene des Pferdeschwanzmannes plötzlich traurig wurde. Oder mitleidig? Bestürzt? Ratlos? Was nur? Ich hatte keine Ahnung! Ich konnte mir keinen Reim auf diesen Blick machen, das leichte Verziehen des Mundes, das subtile Räuspern.   „Manuel wohnt nicht mehr hier.“ „Was?“   Die Frage, die ja zum Glück nur aus einem einzigen Wort bestand, war mir entschlüpft, bevor ich sie aufhalten konnte.   „Er wohnt nicht mehr hier. Wir haben ihn in einer anderen Einrichtung untergebracht.“   Was? Dieses Mal schaffte das Wort es nicht mehr über meine Lippen. Es prallte von den Wänden meines Kopfes ab und sprang dort drinnen im Dreieck wie ein wild gewordener Pingpongball. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Manuel war weg? Aber warum? Wann? Wie? Ich wollte es wissen, aber ich konnte nicht fragen. Es war, als wäre da nur noch ein lautes Piepsen in meinem Kopf. Ihr wisst, so wie im Fernsehen, wenn die Herzmaschine auf einmal anzeigte, dass da gerade einer den Löffel abgegeben hatte. Tilt. Ende. Gehirn.exe has stopped working. Ich sah mich in meinem Kopf um, aber da war keinerlei Aktivität zu verzeichnen. Also nahm ich mir einen Stuhl, hockte mich darauf und wartete ab, was als Nächstes passierte.   „Möchtest du vielleicht reinkommen?“   Die sanfte Stimme des Mannes holte mich zurück aus meiner Starre. Ein wenig irritiert sah ich ihn an. Reinkommen? Ich? „Du siehst aus, als könntest du einen Tee vertragen. Ich bin übrigens Jens.“   „Benedikt“, antwortete meine auf Autopilot gestellte Höflichkeit. Wenn sich jemand vorstellte, antwortete man ihm doch auf diese Weise, nicht wahr? Zumindest glaubte ich, dass es so war. Momentan war ich mir da nicht so ganz sicher. Momentan war überhaupt nichts sicher. Dieses Gefühl, dass die ganze Welt ins Schwanken geraten war, war es vielleicht auch, das mich tatsächlich durch die Tür in den niedrigen Flur treten ließ. Drinnen roch es nach Farbe und gebratenen Zwiebeln. „Wir können gleich in mein Büro gehen, wenn du magst. Ich hole uns nur noch rasch einen Tee und sage Anita Bescheid, dass sie mit Anna abräumt.“ Ich nickte. Ich glaube zumindest, dass ich nickte. Mein Körper durchlief einfach die üblichen Rountinen, auch als Jens mich einige Augenblicke später in einen hellen Raum führte, bei dem es sich dann wohl um das besagte Arbeitszimmer handelte. Ich wurde auf einem Sofa platziert, das schon mal bessere Zeiten gesehen hatte, während Jens mir gegenüber in einem ebenso betagten Sessel Platz nahm. Mein Blick fiel auf einen überquellenden Schreibtisch, zwei ebenso überfüllte Bücherregale und ein Fenster mit selbstgenähten Gardinen in gelb mit bunten Streifen. Es wirkte leicht chaotisch, aber liebenswert. Der helle Holzfußboden war auch hübsch. Oder dieses Bild mit dem Sommerblumenstrauß in einem roten Rahmen, das einen ziemlichen Farbklecks an den weißen Wänden darstellte. Er passte zu dem Flickenteppich, der den Boden verschönerte. Auf dem Sofa lagen rote Kissen. Am liebsten hätte ich mir eines von ihnen geschnappt und mich damit in irgendeiner Ecke zusammengerollt. Aber kneifen galt nicht. Ich musste aufhören, mir das Zimmer anzuschauen und stattdessen Jens ansehen, der mir gegenübersaß und wartete.   Seine hellen Augen taxierten mich, als ich meinen Blick endlich wieder in seine Richtung lenkte.   „Möchtest du Zucker?“   Vor mir stand eine große, bunte Tasse mit einem dicken Weihnachtsmann. Darin dampfte eine rote Flüssigkeit vor sich hin. Früchtetee vermutlich. Eigentlich war es viel zu warm für Tee. Viel zu warm und zu eng. Besonders in meinem Hals und in meinen Augen. Auch das Kribbeln in meiner Nase machte mir ein wenig Sorgen, aber ich drängte das Gefühl zurück, so gut es ging. Wenn ich mich nur genug konzentrierte, würde es schon nicht überhand nehmen. Alles im grünen Bereich.   „Ja, danke“, erwiderte ich nach einer halben Ewigkeit, als die Antwort eigentlich schon gar nicht mehr zur Frage passte. Ich nahm die Zuckerdose, schaufelte zwei riesige Teelöffel braunen Zucker in meinen Tee und begann umzurühren. Der Löffel verursachte ein helles, klingelndes Geräusch. Es klang beruhigend normal. Vorsichtig nahm ich einen Schluck, bevor ich die Tasse wieder auf den Tisch stellte. Damit war meine Gnadenfrist wohl endgültig vorbei. Ich musste mich dem Gespräch mit Jens stellen. „Also … Manuel ist weg?“   Meine Stimme klang eigenartig dünn. Ich räusperte mich. Was war ich denn? Ein Mann oder eine Maus? Reiß dich zusammen, Benedikt! Komm schon! Du schaffst das.   „Ja, er wurde am Sonntag verlegt. Die Unterbringung war ohnehin nicht auf Dauer. Wir mussten nur schnell einen Platz für ihn finden.“   Schnell einen Platz? Warum das? War bei ihm zu Hause etwas vorgefallen? Was Schlimmes? „Ich weiß ja nicht, wie viel er dir erzählt hat, aber …“ „Er hat mir von seinen Eltern erzählt. Dass sie Probleme mit Alkohol haben. Und von seinem Bruder. Dass er im Gefängnis sitzt, weil er Autos geklaut hat, und von dem Angriff.“   Ich weiß nicht, woher all diese Worte auf einmal kamen. Sie sprudelten wie von selbst aus mir heraus. Ja, er hatte so viel erzählt, aber das Wichtigste hatte er anscheinend verschwiegen. Dass er verdammt nochmal jetzt nicht mehr hier war!   „Er hat dir von dem Angriff erzählt? Das wundert mich, ehrlich gesagt. Normalerweise spricht er nicht gerne über die Sache mit Pascal.“ „Doch, er hat’s mir gesagt. Ich hab ihn gefragt und … da hat er es erzählt.“   Jens seufzte leise. „Das war wirklich schlimm für ihn. Schon nach dem ersten Prozess ist er so abgerutscht, aber nachdem Pascal ihn dann so verprügelt hat …“   „Was?“ Ich hätte beinahe meine Tasse fallen lassen. „Pascal hat … Manuel verprügelt?“ Ich kapierte plötzlich nur noch die Hälfte von dem, was Jens sagte.   Der wiederum sah mich erstaunt an.„Du sagtest doch, er hätte dir davon erzählt.“   „Ja, aber … Er hat gesagt, dass Pascal einen seiner ehemaligen Komplizen zusammengeschlagen hätte, weil der ihn verpfiffen hat.“ „Das stimmt ja auch.“ „Ja aber …“   Ich verstand immer weniger. Das würde ja bedeuten, dass Manuel …   Und plötzlich machte es 'Klick' in meinem Kopf. Die Geschichte, die Manuel mir erzählt hatte. Die von seinem Bruder. Es war seine eigene gewesen. Er war derjenige gewesen, der seinen Bruder damals verraten hatte. Er war derjenige, der nur knapp einer Messerstecherei entgangen war. Ich war mir nicht sicher, ob er das bei der Polizei angegeben hatte, aber vermutlich hatte der Angriff auf ihn auch so ausgereicht, um die Bewährungsauflagen zu verletzen. Und so hatte Manuel seinen Bruder indirekt erneut ins Gefängnis gebracht. Was für eine Scheiße.   „Das kannst du wohl laut sagen.“   Ich schreckte hoch und mir wurde klar, dass ich das wohl tatsächlich laut ausgesprochen hatte. Ich senkte den Blick. „Tut mir leid. Ich wollte nicht ...“   Ein Lachen antwortete mir. „Kein Problem. Ich bin so einiges gewohnt. Aber ich verstehe immer noch nicht ganz, warum du hergekommen bist? Hat Manuel dir nicht gesagt, dass er geht?“   Ich schüttelte den Kopf. Nein, hatte er nicht.   Jens seufzte. „Das ist so typisch für ihn. Wenn es die Möglichkeit gibt, sich um eine unangenehme Situation herumzuwinden, wird er sie ergreifen, statt sich dem Problem zu stellen. Das ist auch der Grund für seine Verlegung. Er kommt in eine geschlossene Einrichtung. Wir hoffen, dass er durch die festeren Strukturen endlich wieder Halt findet.“   Er machte eine kurze Pause. „Wahrscheinlich sollte ich dir das alles gar nicht erzählen. Das sind immerhin vertrauliche Informationen, aber ich habe das Gefühl, dass du ein kleines bisschen Wahrheit verdient hast. Und ich glaube, dass du Manuel wichtig warst, sonst hätte er dir nämlich gar nichts erzählt oder nur irgendein Lügenmärchen. Magst du mir verraten, was das mit euch beiden war?“   Ich zuckte zusammen. Nein, das wollte ich ihm ganz bestimmt nicht sagen.   Jens schien mein Schweigen richtig zu deuten. „Okay, wie du willst. Ich kann es mir ohnehin denken.“ Auf meinen entsetzten Blick hin, hob er beschwichtigend die Hände. „Keine Panik, von mir erfährt niemand etwas. Ich hatte schon geahnt, dass Manuel jemanden kennengelernt hat. Er war so anders in letzter Zeit. Und letzten Mittwoch, als wir vom Gericht die Entscheidung über seine Verlegung bekommen haben, wollte er unbedingt mit dem Bus fahren, statt mit mir zusammen das Auto zu nehmen. Das war deinetwegen, hab ich recht?“   Letzten Mittwoch? Ach ja. Das Treffen am Busbahnhof. Die neuen Sachen, das Hemd … das alles war wohl für diesen Termin gewesen. Aber das hieß, dass er da schon gewusst hatte, dass er nicht mehr lange bleiben würde. Und er hatte trotzdem … Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Er hatte mich total verarscht. Hatte mir etwas vorgemacht, um zu kriegen, was er wollte. Und ich Idiot war darauf reingefallen. „Warum hat er nichts gesagt?“ Meine Stimme war ein Flüstern, fast so als hätte ich Angst, dass meine Selbstbeherrschung vollkommen zerbrechen würde, wenn ich lauter sprach.   Jens zuckte mit den Schultern. „Wer weiß. Manuel ist … schwer zu durchschauen. Er verkauft dir mit einem Lächeln die größten Schwindeleien. Aber er ist kein übler Kerl und er ist nicht dumm. Vor der Sache mit Pascal war er gar nicht schlecht in der Schule. Ja, er war nicht einmal besonders auffällig, wenn man mal von ein paar geschwänzten Schulstunden und einigen kleineren Raufereien absieht. Aber danach …“ Er nahm einen Schluck Tee und seufzte. „Ich kann nur erahnen, wie es dir jetzt geht. Einfach so zurückgelassen zu werden tut sicherlich weh. Hat er wirklich nichts erwähnt?“   Ich schüttelte den Kopf, aber dann fiel mir ein, was er am Samstag gesagt hatte. Ich hatte gemeint, dass er mich nicht so einfach loswerden würde, und er hatte geantwortet, dass ich ja keine Ahnung hätte. Und es stimmte. Ich hatte wirklich keine Ahnung gehabt, dass er zu so was fähig war. Wie einfach es für ihn war, die Verbindung zwischen uns zu kappen und mich loszuwerden. Es hatte ihn nicht mehr gekostet als ein paar lumpige Tastendrücker auf seinem Handy. Alles andere war für ihn erledigt worden.   Ich atmete tief durch, trank meinen mittlerweile kalten Tee in einem Zug aus und erhob mich. „Ich … ich sollte besser gehen. Meine Mutter weiß nicht, wo ich bin. Sie … sie arbeitet hier beim Amt und … “   Erst, als Jens lächelte, wurde mir bewusst, wie dumm das war, was ich da gerade von mir gegeben hatte. Ich biss mir auf die Lippen.   „Ich glaube, ich weiß, wen du meinst. Deine Mutter ist eine nette Frau, auch wenn ich annehme, dass sie nichts von dir und Manuel wusste?“   Ich nickte fast unmerklich und sah zu Boden. „Hey, mach dir keine Sorgen. Von mir erfährt keiner was. Allerdings sollte das, was ich dir heute erzählt habe, auch unter uns bleiben. Ich könnte sonst ein paar Schwierigkeiten bekommen.“ „Nein, klar, ich erzähl keinem was.“   Wem auch? Es wusste ja niemand von uns außer Julius. Julius, der mit allem Recht gehabt hatte.   Ich merkte, dass ich hier raus musste und zwar schnell. Sonst würde ich entweder doch noch irgendwas durch die Gegend werfen oder anfangen zu heulen und beides wollte ich eigentlich lieber vermeiden.   Jens brachte mich zur Tür. Als ich nach draußen in den warmen Sonnenschein trat, legte er mir die Hand auf die Schulter. „Hey, nimm’s nicht so schwer. Vielleicht meldet er sich ja noch bei dir, wenn er sich erst mal eingelebt hat.“   „Ja vielleicht“, sagte ich, obwohl ich nicht daran glaubte. Wenn es so gewesen wäre, hätte er mich nicht blockiert. Denn dass das so war, daran bestand für mich inzwischen kein Zweifel mehr. Er hatte mich einfach aus seinem Leben gestrichen. Ausradiert. Gelöscht. Es tat weh, darüber nachzudenken. Irgendwo da, wo mein Herz sitzen musste, tat es furchtbar weh. Wie ein Messer, das herumgedreht wurde. Und rum und rum und rum.   „Ich fahr dann mal“, murmelte ich und ging zu meinem Rad zurück. Ich merkte, das Jens mich beobachtete, bis ich endlich die richtige Zahlenkombination eingestellt hatte, die das Schloss aufspringen ließ. Irgendwie war gerade alles ein wenig verschwommen. Trotzdem bekam ich es hin, auf mein Rad zu steigen und wegzufahren. Weg von dem Ort, an dem Manuel mal eine Zeit lang gewohnt hatte, bevor er weitergezogen war und mich zurückgelassen hatte wie ein unliebsam gewordenes Haustier. Ein Rehkitz vermutlich. Ein Bambi.   Bei dem Wort fing ich dann doch an zu heulen. Eilig wischte ich die Tränen weg und fuhr einfach drauflos. Irgendwohin, wo mich niemand kannte und niemand sah. Zwischen den Feldern herum und über die Dörfer, immer weiter und weiter, bis ich irgendwann an einem Feldeingang stand. Ich sah hinüber zu den zwei Hügelgräbern, stieg ab, ließ das Rad ins Gebüsch fallen und machte mich auf den Weg zu dem hinteren der beiden. Oben setzte ich mich unter den Apfelbaum und schloss die Augen. Neben mir lauerte immer noch der Abgrund der bodenlosen Wahrheit, aber ich würde nicht reinspringen. Nein, das würde ich nicht. Ich würde noch ein bisschen hinabsehen und mich gruseln und dann würde ich mich irgendwann umdrehen und einfach weggehen von diesem Riesenschlamassel, in den Manuel mich hineingezogen hatte, ohne mich zu fragen.   Es war 18.14 Uhr, als ich mich endlich wieder erhob und den Heimweg antrat. Meine Mutter würde sonst wohl noch fragen, wo ich blieb. Denn das Leben musste schließlich weitergehen. Auch ohne Manuel. Irgendwie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)