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Ich, er und die Liebe

von

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Von sinnlosen Tagen und halbstarken Affen

Gestern Abend war ich noch neidisch auf einen Zombie. Heute Morgen lief ich selbst wie einer herum, nachdem ich mich die halbe Nacht schlaflos herumgewälzt hatte. Ich … weiß auch nicht. Der ganze Tag erschien irgendwie so sinnlos.

 

Zum Glück war meine Mutter auch erst ziemlich spät und ziemlich angeschickert nach Hause gekommen und schlief daher heute lange, sodass ich meine Ruhe hatte. Ich stand auf, machte mir einen Marmeladentoast und starrte ohne davon zu essen aus dem Fenster, wo sich ein so gar nicht zu meiner Stimmung passender, warmer Frühlingstag ausbreitete. Perfekt für eine Verabredung im Freien. Bisschen Reden, bisschen Spazierengehen, bisschen … Knutschen. Scheiße. Ich vermisste ihn. Ich vermisste das Gefühl, das ich hatte, wenn ich mit ihm zusammen war. Ich wusste, dass ich Mist gebaut hatte, und hielt deswegen ungefähr zwei Dutzend mal mein Handy in der Hand, um ihm zu schreiben, dass es mir leidtat. Dass ich das so nicht gemeint hatte. Dass es mir egal war, wo er herkam und dass ich ihn wiedersehen wollte. Doch dann löschte ich die Nachricht jedes Mal wieder. Die vielen Worte und Buchstaben, die wenigen Worte und die Smileys. Einfach alles. Ab und an sah ich auf seine Statusanzeige, ob er mal online gewesen war, aber da war nicht viel zu sehen. Was er wohl tat?
 

„Hey Schatz, du bist ja schon wach.“

 

Meine Mutter war die Treppe heruntergekommen und sah aus, als könnte sie einen Kaffee und eine Dusche vertragen. Verrückt. Meine Mutter ging aus und machte Party und ich saß zu Hause rum und blies Trübsal.

 

„Und?“, fragte sie, während sie in der Küche herumrumorte. „War dein Abend schön?“

„Ja, alles prima, Mama.“

 

Hoffentlich bohrte sie nicht noch weiter nach. Am besten trat ich gleich die Flucht an, bevor ihr noch einfiel, nach Einzelheiten zu fragen. Oder mir welche von ihrem Abend zu erzählen. Mit Armin!

 

„Ich … ich will gleich noch ein bisschen rausgehen.“

Sie lächelte. „Mach das. Soll ich uns zum Mittag was kochen?“

„Nein, brauchst du nicht. Ich nehm mir einen Apfel mit.“

 

Ich ging nach vorne, zog meine Turnschuhe an, steckte einen Schlüssel ein und verließ das Haus. Draußen schlug mir die Natur ihre Lebensfreude um die Ohren. Sonnenschein, Vogelzwitschern und der Geruch von Raps, der von den Feldern über das Land geweht wurde. Dieses süße, schwere Aroma, das so typisch für die Jahreszeit war. Wenn es nach Raps roch, war der Sommer nicht mehr weit. Nur in mir … in mir war irgendwie eher Herbst oder vielleicht sogar Winter.

 

Ich atmete tief durch, nahm mir mein Rad und schwang mich in den Sattel. Einfach rumfahren, nicht mehr nachdenken. Nicht drüber nachdenken, dass in dem Haus, an dem ich rein zufällig vorbeifuhr, wahrscheinlich Manuel in seinem Zimmer saß oder lag und was auch immer machte. Ohne mich. Ob er da wohl Besuch kriegen durfte? Wie es ihm wohl ging? Und wann genau hatte ich angehalten, um hier wie ein komischer Stalker in der Gegend rumzustehen?

 

Von der anderen Straßenseite aus starrte ich auf das langgestreckte Gebäude mit dem gelben Klinker, den weißen Sprossenfenster, dem tiefhängenden Dach und der hellblauen Haustür. Ein Schild, das auswies, wer hier wohnte, gab es nicht. Ob es wohl noch mehr Bewohner gab? Wie lief so was ab? Wie so ne Art WG nur mit Betreuern? Ich hätt’s gerne gewusst. Wäre am liebsten rübergegangen durch den unordentlichen Vorgarten hinter dem bröckelnden Friesenwall und hätte mal geklingelt. Aber natürlich traute ich mich das nicht. Zumal Manuel ja deutlich genug gewesen war. Er wollte das nicht. Ich sollte mich raushalten aus seinem Leben. Er wollte mit mir schlafen und …

 

Ich unterbrach mich gedanklich. Er wollte nicht mit mir schlafen, er wollte mich ficken. Das hatte er selber gesagt. Und solange es in diese Richtung ging war er süß und charmant, aber wenn ich nicht mitmachte, verlor er das Interesse. Er lachte mich aus, machte sich über mich lustig, gab mir ständig das Gefühl total dumm zu sein.

 

Abrupt wandte ich mich ab, stieg wieder auf das Rad und begann zu fahren. Was bildete der sich eigentlich ein? Dass ich nur dafür da war, dass er was zum Poppen hatte? Ich war mitnichten der „Bonze“, für den er mich hielt, aber die Mühe das herauszufinden, hatte er sich ja gar nicht gemacht. Er hatte mich einfach in eine Schublade gesteckt, die ihm bequem erschien. Unwillkürlich begann ich, schneller in die Pedale zu treten. Und bei dem Arsch hätte ich mich fast entschuldigt.

 

Plötzlich ging ich scharf in die Bremsen, zerrte mein Handy hervor und rief meine Kontakte auf. Ich würde ihn jetzt hier gleich einfach aus meinem Leben löschen. Der Kerl war es doch gar nicht wert, dass ich ihm nachtrauerte. Ich kannte ihn ja kaum und das Einzige, was wir gemacht hatten, war uns gegenseitig an die Wäsche zu gehen. Das konnte ich doch mit jedem haben. Ich … ich ließ das Handy wieder sinken. Nein, konnte ich eben nicht. Und wollte ich auch gar nicht. Es war schön gewesen und ich wollte das wieder haben. Ich wollte ihn wiederhaben.

 

Langsam schloss ich die Augen. Das wurde so nichts. Ich musste aufhören, darüber nachzudenken. Also steckte ich das Handy weg, stieg wieder auf mein Rad und schlug den Weg zwischen die Felder ein. Vielleicht würde ich mal die Runde über die Dörfer machen. Da war ich ein paar Stunden unterwegs. Meine Mutter würde mich schon nicht vermissen und wenn ich wiederkam, würde ich Hausaufgaben machen, zu Abend essen, vielleicht noch einen Film gucken und dann schlafen gehen. Sonntag überstanden. Blieb nur noch der Rest meines Lebens, den ich irgendwie rumbringen musste, aber das würde schon gehen. Irgendwie. Hoffentlich.

 

 

Ich überstand den Sonntag tatsächlich. Sogar die aufgewärmten Kartoffeln am Abend, weil meine Mutter beschlossen hatte, dass es Zeit wurde, die Reste zu verwerten und sich das Neukochen deswegen gespart hatte. Ich überstand den restlichen Abend und die Versuche meiner Mutter, mich zum gemeinsamen Filmgucken zu überreden, die ich erfolgreich abwehrte und mich in meinem Zimmer verkroch. Ich überstand die Nacht, in der ich allem möglichen Mist träumte, und den Montagmorgen, der wie durch zähen Sirup gezogen schien. Ich überstand die ersten zwei Stunden und die große Pause, in der ich mich in eine Ecke verzog und mir Kopfhörer in die Ohren stopfte, um die Welt auszublenden. Es war erstaunlich, wie oft man „Numb“ in Dauerschleife hören und sich mit jedem Mal mehr so fühlen konnte, als wenn das Lied nur für einen selbst geschrieben worden wäre.

 

Als es zur dritten Stunde klingelte, stand ich auf wie alle anderen. Ich ging die Treppe rauf und rauf und rauf. Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen. Als ich oben ankam, war ich trotzdem irgendwie der Letzte. Im Gang lungerte bereits die Meute herum und wartete darauf, dass der Klassenraum wieder aufgeschlossen wurde. Lauter Arschlöcher, die ihre Füße in den Gang streckten, als gehöre ihnen die Welt. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre wieder gegangen.

 

„Hey, alles klar bei dir?“

 

Die Stimme riss mich aus meiner Lethargie. Mia-Marie sah mich fragend an. Anscheinend war ich doch nicht der Letzte, denn sie stand neben mir auf dem Treppenabsatz und atmete ein bisschen schwer.
 

„Ja, alles bestens.“
 

Was sollte ich auch sonst sagen? Die Wahrheit wohl kaum.

 

„Na dann hör auf so zu gucken. Immerhin haben wir jetzt dein Lieblingsfach.“

 

Das stimmte. Mathe stand an und das war … einfach. Im Gegensatz zu dieser dämlichen Liebesgeschichte. Dort war leider nicht jede Gleichung eindeutig lösbar. Zu viele Variablen, zu viele Unbekannte. Kacke!

 

Ich gab mir einen mentalen Tritt und ging hinter Mia-Marie her. Herr Schrader war inzwischen aufgetaucht, sodass ich mich einfach hinten anstellen und mich mit dem Strom treiben lassen konnte. Zumindest so lange, bis sich ein Fuß vor meinen schob und mich beinahe zu Fall brachte. Ich rempelte meinen Vordermann an und bemühte mich nicht mal mehr, mich zu entschuldigen. Stattdessen fuhr ich wütend zu Oliver herum.
 

„Sag mal, hast du sie noch alle, du Penner?“

 

Er antwortete nicht, sondern grinste mich nur an. Überheblich und arschig wie immer. Und ich … ich wurde wütend. So wütend wie schon lange nicht mehr. Bevor ich es mir richtig überlegt hatte, hatte ich schon die Arme ausgestreckt und ihn geschubst. Hart. So hart, dass er durch den Gang rückwärts taumelte und unsanft mit der Wand kollidierte. Sein Versuch sich abzufangen wurde von weißem Rauhputz begrüßt. Tat bestimmt scheiße weh. Gut so!
 

„Ey, geht’s noch?“, fauchte er sofort. Ballte die Fäuste, wollte sich auf mich stürzen, aber ich überlegte gar nicht. Bevor er wusste, wie ihm geschah, lag er auf dem Boden und ich auf ihm drauf. Ich verdrehte ihm den Arm. Er schrie und dann zerrte mich auch schon jemand von ihm runter. Als ich den Kopf hob, blickte ich in das Gesicht meines Mathelehrers. Er sagte irgendwas, von dem ich nur die Hälfte mitbekam. Ich war zu sehr damit beschäftigt, das Blut in meinen Ohren pulsieren zu hören.

 

„… das noch mal passiert, werde ich das melden.“

 

Der Rausch des Adrenalins ließ langsam nach und ich bekam endlich wieder mit, was um mich herum passierte. Der reichlich derangierte Oliver, der mich ansah, als würde er mich am liebsten erwürgen, mein Lehrer, der maßlos enttäuscht wirkte, die Gesichter der anderen, die ihre Neugier durch die Klassentür herausquellen ließen, und schließlich ein Paar sturmblauer Augen, die mich musterten mit einem Ausdruck, den ich nicht so recht zu deuten wusste. Scheiße, wieso hatte ausgerechnet er das mitbekommen müssen? Ich sah zu Boden.
 

„Du entschuldigst dich jetzt bei Oliver.“

Ich ließ den Kopf noch tiefer hängen. „Tut mir leid.“

 

Damit schien die Sache erledigt, auch wenn Herr Schrader es für angebracht hielt, Oliver und mich ausnahmsweise mal nicht nebeneinander zu setzen, sondern ihm Leons Platz gab, der heute fehlte. Er saß somit direkt neben Jo, sodass ich meine beiden Lieblingsarschlöcher jetzt gleichzeitig im Blick hatte, die zu allem Überfluss auch noch anfingen miteinander zu tuscheln. Na prima.

 

„Er hat’s verdient.“
 

Anton schob seine Brille nach oben und schlug sein Heft auf. Ich seufzte und folgte seinem Beispiel. Kurvendiskussion die 873. Ich rechnete mechanisch und kam nicht umhin zu denken, dass ne Wiederholung in Stochastik vielleicht ganz gut gewesen wäre. Dann hätte ich berechnen können, mit welcher Wahrscheinlichkeit ich mein Leben noch weiter gegen die Wand fahren konnte. Vielleicht sollte ich doch damit aufhören, schwul zu sein. Mir ne Freundin suchen und einfach nicht mehr auf Jungs stehen. Bei Mädchen hatte ich wenigstens eine Entschuldigung, wenn ich sie nicht verstand. Daran waren schließlich schon Generationen von Männern gescheitert, einer mehr oder weniger fiel da bestimmt gar nicht auf.

 

 

„Hey T, wollen wir heute Abend ins Kino. Montags ist der Eintritt billiger.“

„Nö, hab schon was vor.“

 

Die viel zu nahe Stimme ließ mich zusammenzucken. Wir hatten Sport? Wann war das denn passiert? Und wann zum Geier hatte ich mich direkt neben T gestellt zum Umziehen? Das war etwas, das ich nach Möglichkeit dringend zu vermeiden versuchte, weil … na deswegen halt. Aus der Ferne ein bisschen spannen, war vielleicht moralisch nicht ganz einwandfrei, aber ja immerhin nichts, was ihm wehtat, wenn er es nicht merkte. Jetzt jedoch stand er direkt neben mir und zog sich sein Shirt über den Kopf. Sein nackter Rücken zum Greifen nahe. Ich hätte mich nicht mal großartig strecken müssen, um ihn anzufassen. Meine Augen folgten der Linie seiner Wirbelsäule bis zum Ansatz seiner Jeans, die er in diesem Moment begann, über seinen Hintern zu schieben. Seine enganliegenden Shorts rutschten dabei ein Stück weit nach unten, sodass ...

 

Ich schluckte und drehte mich eilig weg. So viel zu meinem schönen Plan, nicht mehr schwul zu sein. Das würde wohl nicht funktionieren. So gar nicht. Ich stand nun mal auf Männer und würde mich da durchwurschteln müssen, ob mir das nun passte oder nicht. Nur wie das funktionieren sollte, war mir schleierhaft, wenn ich schon bei der ersten Aussicht auf richtigen Sex den Schwanz einzog und noch dazu meinen Vielleicht-Beinahe-Freund beim ersten Date in die Flucht schlug.

 

„Hey, Benedikt, nicht träumen.“

 

Der Satz traf mich zusammen mit einem Rempler gegen meinen Rücken. Als ich mich umsah, grinste T mich an, während er zum Ausgang der Kabine ging.
 

„Pass bloß auf“, tönte Jo von weiter hinten. „Der haut dich sonst auch noch um.“

„Kann er ja gerne mal versuchen“ gab T nicht im Geringsten beeindruckt zurück.

 

Die anderen lachten und folgten ihm nach und irgendwie blieb ich am Ende allein in der Kabine zurück. In meiner Kehle saß so ein dummer, fetter Kloß, der da einfach nicht weggehen wollte. Warum war das für die anderen immer alles so einfach? Von denen schien sich keiner darum Gedanken zu machen, wie er wohl rüberkam. Andererseits war von denen auch keiner schwul. Die machten einfach, würde schon richtig sein.

 

Ich atmete noch einmal tief durch und zog mich endlich auch um. Nicht, dass ich noch einen Eintrag ins Klassenbuch bekam. Zwei an einem Tag mussten nun wirklich nicht sein.

 

 

„Hey, Benedikt, steht da nicht so rum. Geh mal ran“, schnauzte Herr Jansen, als ich schon wieder einen Ball durchgelassen hatte, der in diesem Moment durch das orange Rund des Basketballkorbs schlüpfte

„An Sandra?“, kicherte Mia-Sophie und ihr Hofstaat lachte dazu.

 

Ich kniff die Lippen zusammen und tat so, als hätte ich das nicht gehört. Ja, okay, vielleicht hatte ich ein bisschen mehr Hemmungen gehabt, weil Sandra den Ball geworfen hatte. Was Sandra vermutlich genauso ankotzte wie unseren Sportlehrer und meine Mannschaftskameraden, wenngleich auch aus anderen Gründen.

 

„Ich bin nicht aus Zucker“, meinte sie jetzt nämlich mit einem abschätzigen Blick, während sie zurücklief, um sich für die Verteidigung aufzustellen.

 

Man, was sollte ich denn machen? Ich hatte heute schon mal meine körperliche Überlegenheit ausgespielt und obwohl ja sogar Anton der Meinung war, dass Oliver das mehr als verdient hatte, war das nun mal scheiße. Aber anscheinend wurde mehr oder weniger erwartet, dass ich genau das tat um zu gewinnen. Um zu bekommen, was ich wollte. Selbst wenn ich nicht mal wirklich wusste, was das eigentlich war.
 

„Na los, sei nicht so ne Memme“, rief jetzt Jo, den ich dankenswerterweise mal wieder in meiner Mannschaft hatte. So ein Glück aber auch.

„Vielleicht sollten wir ihm lieber ein Röckchen und ein Paar Pompoms besorgen. Dann kann er uns anfeuern.“

 

Ich versuchte, auch Oliver zu ignorieren. Der hatte schon wieder die ganz große Klappe. Und ich fühlte schon wieder das Bedürfnis in mir aufsteigen, ihm genau da reinzuschlagen. Aber Gewalt war keine Lösung, das wusste ich selber. Zumal es auch nicht besonders gut zu funktionieren schien.
 

„Oh, jetzt heult er gleich“, machte Oliver weiter. Er breitete die Arme aus. „Willst du auf den Arm?“

„Ieh, bist du schwul oder was?“, lachte Jo auf und kassierte dafür von Oliver eine Faustschlag gegen den Oberarm. Fehlte nur noch, dass sie sich wie die Gorillas gegen die Brust schlugen und Uh-Uh-Rufe von sich gaben.

 

Unwillkürlich sah ich mich nach T um. Der hatte sich schon mit dem Ball in Position gestellt, um den Einwurf zu machen, und sah ziemlich ungeduldig aus, weil Jo und Oliver nicht aufpassten. Oder ging ihm dieses Gehabe auch auf den Sack?

 

„Hey, wird das heute noch was mit euch?“, rief er und hob auffordernd den Ball. „Wir wollen weiterspielen.“

 

Sofort gehorchten die beiden Halbaffen und gingen auf ihre Plätze. Er war halt eben doch der Boss und somit unter Garantie nicht schwul. Da musste ich mich anderswo umsehen.

 

 

Meine Hoffnung, Manuel im Bus zu sehen, wurde leider nicht erfüllt. Das ließ mir genug Zeit, mich in meinem Französischtext zu vergraben, um mein Gehirn mit genug Futter von dummen Gedanken abzulenken. Wir hatten doch tatsächlich ein Stück ausgewählt, in dem es um sprechende Bücher ging. Ich hatte auch eine Rolle bekommen. Die Mädchen hatten beschlossen, dass das „Buch der Beleidigungen und Kraftausdrücke“ unbedingt von mir verkörpert werden musste. Im Klartext hieß das, dass ich nur drei Sätze zu sagen hatte, die zur Hälfte aus „Scheiße“ bestand, und dann für den Rest des Stücks nur noch dekorativ aussehen musste. War mir sehr recht. Ich hatte schon fast befürchtet, dass mich jemand für den Gedichtband vorschlagen würde, der dem Geographiebuch – gespielt von „nur Mia“ – am Ende lieblich ins Ohr säuselte. Mal ehrlich, dann hätte ich mich auch gleich outen können.

 

Zu Hause erwartete mich ein leeres Haus. Das war normal und jeden Montag so, aber heute fuchste mich das irgendwie. Ich wollte nicht alleine sein. Während ich an meinem Käsebrot herummümmelte, das ich mir mangels anderen Aufschnitts geschmiert hatte, holte ich mal wieder mein Handy heraus. Manuel war zwischendurch online gewesen. Ob ich ihm doch einfach mal schreiben sollte? Ihn fragen, ob er vorbeikommen wollte? Aber was dann? Wir konnten ja schlecht einfach da weitermachen, wo wir aufgehört hatten, selbst wenn er sich inzwischen vielleicht wieder beruhigt hatte. Und gesetzt dem Fall, dass wir geklärt kriegten, dass es mir völlig egal war, wo er herkam und wie verkorkst seine Familienverhältnisse waren, war da immer noch die Sache, dass ich meiner Mutter noch nicht gesagt hatte, dass ich schwul war. Und sogar wenn sie das einigermaßen auffassen würde – was ich bezweifelte – würde sie es wohl kaum gutheißen, dass ich mich ausgerechnet mit Manuel traf. Die einzige Möglichkeit, mit ihm zusammenzusein, war also, es weiter geheimzuhalten. Und das würde mir garantiert irgendwann um die Ohren fliegen. Vielleicht war es doch einfach eine Schnapsidee gewesen, mich auf ihn einzulassen. Eigentlich hatte er mir ja nicht einmal besonders gut gefallen. Allein dieser lächerliche Bartverschnitt.

 

Sagte der Fuchs, dem die Trauben zu hoch hingen, höhnte eine Stimme in meinem Kopf. Ich fauchte sie an, ruhig zu sein. Zu hoch hängende Trauben waren anscheinend mein Schicksal. Entweder verliebte ich mich in Traumtypen, die hetero waren und somit unerreichbar, oder in irgendwelche Problemkerle, die nur mit mir pimpern wollten. Wobei letzteres ja so ganz nett war, aber halt irgendwie doch nicht alles, oder? War das jetzt schwul oder Mädchen oder ganz normal, dass man mehr wollte als das?

 

„Irgendwann werde ich das hoffentlich noch rausfinden“, murmelte ich und brachte das Käsebrot zurück in die Küche. Mir war bei dem ganzen Gedenke der Appetit vergangen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Ana1993
2020-05-15T15:43:57+00:00 15.05.2020 17:43
Wie schön, dass mein Hirn aus durchwurschteln durchschwuchteln macht... hätte als schlechter Wortwitz sogar passen können xD
Antwort von:  Maginisha
15.05.2020 18:17
Das ist in der Tat ein interessanter Verleser. :D


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