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Enemy mine - geliebter Feind

von

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Kapitel 14

„Das mit dem ‚charmant‘ sollte er noch üben“, bemerkte April.

Saber nickte. „Andererseits, wer lässt schon jeden zu sehen, wenn er sich umzieht“, gab er zurück.

Es dauerte etwas mehr als die angekündigten fünf Minuten, bis die Tür wieder aufging. Jean hatte nur das Hemd gewechselt. Beth war in ein auberginefarbenes schlichtes Kleid geschlüpft und hatte ihre Wellen zu einem lockeren Zopf zusammen gebunden.

Saber lächelte erfreut und bot ihr gleich seinen Arm an. Die kurzen Ärmel, der körpernahe Schnitt und der Saum, der eine Handbreit über dem Knie endete, passten wunderbar zu ihr. Make-up hatte sie nicht aufgelegt, aber das war auch nicht nötig, wie er fand.

„Also, wohin?“, fragte Jean-Claude zielstrebig, als wollte er diese spontane Einladung so schnell wie möglich abhaken.

„Ja. Wohin? Griechisch? Spanisch?“, wollte auch Beth wissen, als sie den angebotenen Arm annahm.

„Gibt es was, das ihr bevorzugt?“, erkundigte sich der Schotte.

„Nein, wir kennen nichts davon“, gab sie zurück.

„Wir gehen üblicherweise nicht zum Abendessen“, erläuterte ihr Bruder. Er hatte die beiden beobachtet und hielt nun, dem Beispiel des Schotten folgend, April seinen Arm hin. Es gehörte offensichtlich zu den Gepflogenheiten hier.

„Dann suchen wir ein gutes Restaurant aus, wenn es euch recht ist“, meinte Saber, seine Aufmerksam auf die schöne Frau auf seinen Arm gerichtet.

April wollte sich eben dem Paar anschließen, als sie die Geste des Outriders bemerkte. Überrascht von seiner Aufmerksamkeit bedankte sie sich und hakte ein.

„Was hältst du vom Italiener in der Keating Street? Dort ist es nicht übertrieben fein und es ist auch keine Schnellimbissbude. Das Essen dort ist gut“, schlug sie vor.

Ein kurzes Nicken von Saber stimmte ihr zu. Beth hatte keine Einwände, sie könnten sie überall hinbringen, sie würde alles probieren, was ihr aufgetischt wurde.

„Was beinhaltet... ein Italiner?“, erkundigte sich Jean-Claude und warf noch einmal einen Blick auf die Frau an seinem Arm. Sie verstand es, ihren Körper in Szene zu setzten, besser noch als Annabell. Seinen jüngeren Schwester fehlte die Zielorientiertheit hinter ihrer Kleiderauswahl, sie trugen, was ihnen bequem erschien. April hingegen hatte ganz bestimmt sehr bewusst dieses Kleid ausgesucht. Von vielen praktischen Aspekten her, wie Transportmöglichkeit und Pflege, spielten hier eindeutig auch der Effekt mit hinein, wie es ihren Körper zur Geltung brachte. Der Ausschnitt deutete gekonnt ihre Oberweite an, ohne sie freizügig zu präsentieren oder zu – wie nannten es Menschen – verschlossen zu sein. Er erregte Aufmerksamkeit. Wenn ihm das schon auffiel, ging es den Männern hier sicher nicht anders.

Oder auch nicht.

Er schaute nach vorn, zu seiner Schwester und dem Recken. Beide schienen vergessen zu haben, dass sie in Begleitung waren. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf den jeweils anderen. Er schnappte Fetzen ihres Gesprächs auf, Saber erzählte ihr etwas über seine Heimat und sie hörte aufmerksam zu. Ihre Miene, so bemerkte Jean-Claude, war sanfter und strahlender als er es je gesehen hatte. Ihr Blick war nicht nur interessiert, sondern fasziniert, hing nicht nur an den Lippen des Schotten, sondern auch an dem Mann, der er war. Nicht anders sah der auf sie. Die sonst ruhigen, sachlichen Züge waren freundlicher und wärmer, sein aufmerksamer Blick ruhte auf ihr, nahm jedes Detail ihrer Erscheinung war.

Beinahe entging dem grünhaarigen bei seiner Beobachtung die Antwort der Navigatorin.

„Nun, was typisch italienisch ist. Pizza, Pasta, guter Wein, herrliche Nachspeisen“, erwiderte sie gerade, schien sich auf das Essen zu freuen.

„Pizza? Das sind diese flachen Dinger, mit Tomatensoße, Dauerwurst und Käse.“

„Ja und auch wieder nein. Die Pizza dort hat mit diesem Tiefkühlfraß nichts zu tun. Handgemacht und frisch aus dem Ofen, mit allem möglichen Belag.“

Er nickte verstehend.

„He, Bio. Wir können Pizza auch anders machen“, rief er seiner Schwester zu.

Es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich zu ihm umdrehte. „Was?“

„April sagt, man kann auf Pizza noch etwas anders drauf legen, als das, was du immer drauf machst.“

„Oh.“ Der kleine Laut verriet, dass sie seinen Worten nur langsam folgen konnte, dann aber verstand wovon er sprach. Der Themenwechsel war recht abrupt gewesen.

Mit großen Augen sah April zwischen den Geschwistern hin und her. Es überraschte sie, wie er neue Informationen zur Kenntnis nahm und gleich mit seiner Schwester teilte. Lerneifer schien in der Familie zu liegen.

„Ich würde ja sofort mit Kochtipps aufwarten, nur leider sind unsere Kochfähigkeiten eher beschränkt“, stieg Saber auf das neue Gesprächsthema ein. „Darum kennen wir die guten Restaurants hier in Yuma.“

„Jean mach uns immer Frühstück. Das ist wirklich gut. Er macht sehr köstliche Varianten mit … Hühnerembryo.“ Der Outrider richtete sich den Kragen. Es war ihm unbehaglich, dass seine Schwester solche, eher familiären, Informationen preisgab.

Verschmitzt grinste April ihn an. „Oh, deine Schwester hat dich gerade dazu verdonnert, uns mit deinem gebratenen Hühnerembryo zu verwöhnen. Ich will wissen, ob sie wirklich so gut sind, wie sie behauptet.“

Erstaunt sah auch der Schotte aus, als er Beth anblickte. Sie lernte dazu, wenn es darum ging, Witze zumachen. Er lächelte beeindruckt und fragte sie: „Was zauberst du, außer Pizza?“

Jean-Claude sah mit gerunzelter auf die Navigatorin. „Hat sie nicht. Nicht sie hat nur von ihren Erfahrungen berichtet“, erwiderte er irritiert ehe er dem Schotten antwortete. „Bio macht ziemlich viel aus eurer Küche. Nudeln mit Tomatensoße, Fish'n Chips, gerührtes Hühnerembryo mit Kartoffeln und Spinat“, zählte er auf. „Sie probiert so ziemlich jedes Rezept aus, das sie in die Finger bekommt. Ob es nach eurem Ermessen auch gut ist, weiß ich nicht.“

Im Schein der versinkenden Sonne über der Stadt, konnte die Röte auf Beth‘ Gesicht von diesen Strahlen herrühren oder das Kompliment ihres Bruders machte sie verlegen. Es war nicht zu erkennen.

„Das möchte ich sehr gern testen, Beth“ meinte Saber leichthin und setzte den Weg mit ihr fort. Sie waren unbewusst alle stehen geblieben, es war Zeit weiter zu gehen. Immerhin lag das Restaurant gleich um die Ecke, die sie mittlerweile erreicht hatten.

„Ich werde mich freuen, wenn du bei uns isst“, antwortete sie und lächelte ihn einmal mehr an.

„Ich nehme dich beim Wort, Beth.“

April folgte nicht gleich, Jean-Claude zog unwillkürlich an ihrem Arm, als er den beiden anderen nachgehen wollte. Sie überlegte, wie sie ihm ihre Worte erklären sollte, er schien nicht verstanden zu haben, was sie gemeint hatte.

Er warf ihr im Gehen einen prüfenden Blick zu und hob die Schultern. Als er sah, wie Saber und Beth das Restaurant betraten, der Schotte ihr dabei die Tür aufhielt, tat er es ihm gleich.

Sie liefen hinter dem Paar her, bis sie einen freien Tisch fanden. Der Recke schob Beth den Stuhl zurecht, ehe er sich zu ihr setzte und einmal mehr tat es ihm der grünhaarige gleich.

Ihm fiel auf, dass Sabers Hand auf der seiner Schwester lag, als er sich setzte. Eine subtile Geste der Zuneigung.

„Jetzt haben wir so lange übers Essen gesprochen, ich habe richtig Hunger bekommen. Ich freu mich schon“, stellte April fest, stützte die Arme auf den Tisch und verflocht ihre Finger mit einander.

„Was genau ist eigentlich der Grund, aus dem ihr feiern wollt?“, erkundigte sich der Outrider beiläufig.

„Wir feiern den Teilerfolg. Ihr wurdet angehört und es gibt eine erste Einigung“, erläuterte Saber.

„Ihr feiert Teilerfolge? Warum?“

„Es lief alles gut. Wir freuen uns und wollen das mit euch teilen.“

„Ist nicht sehr effektiv, hm. Hier jetzt zu sitzen und zu essen, wenn man noch …“

„... etwas Neues lernen kann“, unterbrach Beth ihren Bruder und sah ihn mit ihren großen Augen an.

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Warum kann ich keine Brüder haben“, entfuhr es ihm murmelnd.

Ein Kellner kam und reichte jedem eine Karte. Sie akzeptierten seine Getränkeempfehlung, dann zog er sich zurück.

„Du bist ein kluger Kopf, Jean, und dir ist noch nie aufgefallen, dass bei uns nicht alles effektiv ist?“, entgegnete April knapp und unterdrückte ein Seufzen. Bis zu seiner Frage hatte sich der Abend für sie angenehm entspannend angefühlt, jetzt schien das für sie dahin. „Versuch die Zeit zu genießen, auch wenn du meinst, du verplemperst sie.“ Damit schlug sie die Karte auf.

Jean-Claude rollte die Augen.

„Ich hab euch lange genug beobachtet. Von Menschen auf Pecos hab ich viel gelernt. Das heißt nicht, dass ich es gut heiße“, gab er zurück. Hatte sie schon wieder was zu nörgeln? Der Eindruck, dass Menschen ihr Gegenüber gern belehrten, schien ihm nicht unbegründet. Jesse war da ein Paradebeispiel und es schienen wirklich alle Menschen gern zu tun.

Beth beobachtete genau das Gespräch zwischen ihrem Bruder und der Blondine, während der Schotte sie beobachtete, fasziniert von ihre Aufmerksamkeit und ihrer Neugierde. Die Art, wie sie die Stirn sacht runzelte, ihre Augen hin und her blickten und ihre Brauen zuckten war unheimlich anziehend.

„Du musst auch nicht alles gut heißen. Tun wir schließlich auch nicht.“ Jetzt schnappte April sogar leicht, frustriert. Bis eben war ihr Jean-Claude ein angenehmer Begleiter gewesen, doch er schien permanent alles in Frage zu stellen und zu kritisieren, was sie taten. Das war schlichtweg unangenehm, war doch nichts schlimmes an dem was sie taten oder etwas, dass man unbedingt kritisieren musste. Sie musste das Thema wechseln, sonst würde ihre Laune sich verschlechtern und den Abend ruinieren. „Sieh mal, ob du dich für die Nahrungsaufnahme begeistern kannst“, meinte sie und nickte in Richtung der Karte, die er in der Hand hielt.

„Was mein Bruder meint, ist einfach dass:“, begann Beth ruhig und einem neutralen Ton, als spräche sie von einer Meta-Ebene. „man kann oft beobachten, dass Integration für Menschen bedeutet, dass die Neuen sich an die anpassen müssen, die schon länger an einem Ort leben. Sie müssen sie kopieren und nachahmen bis hin zur Aufgabe dessen was sie sind, während die andere Seite meint, nur ihre Art zu leben ist die einzig Wahre. Das entspricht aber nicht der Definition von Integration. Die kann nur gelingen, wenn beide Seiten auf einander zugehen, auf Augenhöhe, niemand dem anderen etwas aufdrückt, was er nicht ist und“ Sie schaute April nun direkt mit ihren offenen Augen an. „sich nicht entmutigen lässt, wenn es mal holprig wird.“

„Du hast recht, Beth“, stimmte diese ihr zu. „Integration ist ein laufender Prozess, ein gegenseitiges Geben und Nehmen, das beste aus beiden Welten zu vereinen. Es ist nicht so einfach.“

Beth presste nachdenklich die Lippen auf einander. „Vielleicht wäre es leichter - und auch effektiver - würdest du nicht die Erkenntnisse meines Bruders in Zweifel ziehen, sondern einfach nur zur Kenntnis nehmen. Die Frage, warum er sich Brüder wünschte, wäre doch auch nicht uninteressant gewesen. Natürlich wäre es noch einfacher, wenn mein Bruder seine Vorurteile auch mal zurück nimmt.“ Bei ihrem letzten Satz warf sie diesem einen strengen Blick zu, worauf hin sich dieser in die Speisekarte vertiefte.

„Du hast Recht, es wäre schon interessant zu wissen, weshalb Jean lieber Brüder gehabt hätte. Ob die wohl auch so direkt wären, wie du.“ April verbarg sich ebenfalls hinter ihrer Karte. Ob der jungen Outriderin bewusst war, wie gut sie diesen Treffer versenkt hatte?

Sie wandte sich an Saber, unschlüssig, ob sie noch etwas sagen sollte. Der schüttelte allerdings kaum merklich den Kopf und schmunzelte amüsiert.

„Es ist wie bei euch. Hab einen Streber in der Familie, dann kriegt er Prügel, weil er nicht lieber Baseball spielt. Bei uns ist es umgekehrt. Wenn du kein Streber bist, bekommst du Ärger. Aber auch bei uns hauen große Brüder kleine Schwestern aus Ärger raus ... nur kleine Brüder gucken einen nicht so an, wie es kleine Schwestern tun“, brummte Jean-Claude schließlich hinter seiner Karte hervor und nahm den Wein, der eben serviert wurde. Er genehmigte sich gleich einen großen Schluck und gab seine Bestellung auf, als er der Kellner nach fragte.

Mit den Bestellungen der anderen drei verschwand er wieder und April setzte das Gespräch an der Stelle fort, an der es unterbrochen worden war.

„Etwa mit diesem Blick?“, fragte sie und schlug ihre Augen auf die Weise auf, die Fireball am ehesten schwach machen konnte. Sie bezweifelte zwar, dass er die gleiche oder auch nur eine Wirkung bei dem Outrider hatte, aber diese Vorführung diente schließlich nur der Demonstration.

„So unterschiedlich sind wir wirklich nicht“, meinte sie schließlich und nahm ebenfalls einen Schluck von ihrem Wein.

Irritiert bemerkte Jean-Claude, wie seine Herzfrequenz anstieg und sein Puls sich beschleunigte. Er konnte ihn im Hals spüren. Mit einem weitern Schluck Wein wirkte er dagegen.

„Nicht ganz. Bio ist da ... anders ...überzeugend“, erwiderte er dann wahrheitsgemäß. Diese körperliche Reaktion hatte der Blick seiner Schwester nie bei ihm bewirkt. „Sie kann das noch besser als Snow.“

Seine Schwester beugte sich leicht zu Saber.

„Du wirkst amüsiert. Warum?“, flüstert sie.

„Dein Bruder wird weich“, raunte er zurück. Das amüsierte ihn wirklich. April hatte es geschafft ihn aus dem Konzept zu bringen, was angesichts seiner distanzierten, überheblichen Fassade erstaunlich war.

„Tja, das ist mir nicht neu.“

„Für mich schon. Das möchte ich bis zum Schluss mitverfolgen.“ Saber grinste Beth zu.

Diese lehnte sich zurück, als das Essen aufgetragen wurde und nahm danach ihr Besteck zur Hand. Sie legte es gleich wieder ab, als April ihr Glas hob und ihnen allen zuprostete. Sie erwiderte die Geste.

„Beth ist mit rationalen Argumenten unschlagbar. Nicht uns allen ist das gegeben, deswegen kämpfen manche Frauen mit anderen Waffen“, meinte sie und zwinkerte anerkennend in Richtung der Geschwister.

„Weder Bio noch Snow müssen immer rational argumentieren“, gab ihr Bruder zu und prostete zurück. Dann wandte er sich seiner Pizza zu. „Das kann ich mir irgendwie vorstellen. Ich will auch nicht immer sachlich argumentieren, das funktioniert bei meinen Jungs auch nicht immer.“ Sie pickte eine Ananas von ihrer Pizza und aß sie ehe sie sich ein Stück davon abschnitt.

„Es scheint als wüssten alle Frauen durchaus, wie sie durch kommen. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass dein Vorgesetzter sich von diesem Blick beeindrucken lässt.“

„Ich spiel auch mal gerne die 'ich bin ein Mädchen'-Karte aus. Das funktioniert auch ganz gut“, versetzte April neckisch. Den Scherz verstand Jean-Claude allerdings nicht. Er warf Saber einen scharf-prüfenden Blick zu.

„Moment. Damit da keine Missverständnisse aufkommen. Ich lasse April nichts durch gehen weil sie ein Mädchen ist oder weil sie den Welpenblick versucht“, verteidigte der sich etwas perplex.

Auch die Blondine schüttelte den Kopf. „Beruflich spiel ich weder den Blick noch die andere Karte aus. Ich bin ein Star Sheriff“, lächelte sie auch wenn sie die Reaktion des grünhaarigen verwirrte.

Er schien von diesen Beteuerungen nur halb überzeugt, legte die Gabel aus der Hand und griff nach dem Stuhl seiner Schwester. Die wirkte erstaunt, als er sie darauf näher zu sich zog.

„Ich bin der Ansicht, sowohl Mann als auch Frau sollten wissen, wann welches Verhalten angebracht ist“, meinte er dabei nüchtern.

„Keine Sorge. In der Regel wissen sowohl Mann als auch Frau, wann welches Verhalten angebracht ist“, erwiderte Saber und hoffte, Beth würde bald wieder näher zu ihm rutschen können. Die Distanz zwischen ihnen gefiel ihm so nicht.

„Ich wüsste zu gerne, wie du zu dieser Ansicht kommst, Jean. Was hat dich jetzt zu dieser Annahme gebracht?“, wollte April interessiert wissen.

„Deine Aussagen sind irritierend. Besonders, wenn man bedenkt, dass der Hormonhaushalt von Menschen unausgeglichener ist als der von uns, was euch, mehr als uns, zu Überreaktionen verleitet.

„Das hat mir Beth bereits erklärt“, nickte die Navigatorin und beugte sich neugierig leicht näher zu ihm. „Ja, wir neigen deshalb manchmal zu Überreaktionen, aber wir sind deswegen nicht an jedem und allem interessiert. Ich kann gerade nur für mich sprechen, aber ich bin da eher konservativ. In einer Beziehung sollte man treu sein und nur einen Partner haben.“

„Es gibt durchaus Menschen, die ihre Ausstrahlung anderen gegenüber, auszunutzen wissen, Jean. Aber von uns gehört niemand zu dieser Sorte Mensch. Ich persönlich halte eine monogame Symbiose, die ein Leben lang hält für ein erstrebenswertes Ziel“, fügte der Recke hinzu.

Jean-Claude hob die Brauen. „Eine monogame Symbiose, hm?“ Er ließ den Stuhl seiner Schwester los, die sofort auf ihren vorherigen Platz zurück rutschte. „Das ist wie wir leben. Polygamie bringt zu viele unvorhersehbare Einflüsse und stört daher den Ablauf und die Effizienz des Lebens. Was ist daran“ Er sah die Blondine an. „konservativ?“

Wieder in der Nähe, die so angenehm war, legte Saber seine Hand sofort wieder auf die seiner Freundin.

„Menschen sind da sehr unterschiedlich, Jean. Es gibt welche, die gar keine...“ Sie zögerte einen Moment, entschied sich dann für ihren Begriff für eine dauerhafte Beziehung. „Symbiose eingehen und sich mit abwechselnden Partnern durch das Leben schlagen. Andere finden es langweilig und wenn alle Beteiligten einverstanden sind, kann es auch schon vorkommen, dass Polygamie alltäglich ist. Aber im Grunde sind auch wir Menschen darauf aus, eine monogame und lebenslange Beziehung einzugehen. Die Ausschüttung einzelner Hormone soll das gewährleisten. Es haben sich aber viele Formen von Beziehungen in unserer Zivilisation entwickelt, eine monogame Beziehung wird daher von einigen als konservativ empfunden.“

Die Geschwister hoben die Köpfe zu einem Nicken, beinahe simultan.

„Wohlstandssituation also“, meinte Jean-Claude zu verstehen.

„Ich denke auch.“ Seine Schwester nickte, sprach eher zu ihm als zu den anderen beiden. „Legen wir die Bedürfnispyramide dieses Menschen Maslow zugrunde, bewegen wir uns aufgrund der Ressourcenknappheit im Bereich der Grundbedürfnisse - Essen, Schlafen, Fortpflanzung - und Sicherheit - Wohnen und Arbeiten.“

„Ja, das dachte ich auch gerade. Wer genug Ressourcen hat, kann sich um andere Dinge kümmern, die in dieser Pyramide weiter oben rangieren. Für uns geht es primär ums Überleben. Individuelle Bedürfnisse sind sekundär.

„Wir befinden uns durch die Abdeckung der Grundbedürfnisse weitestgehend schon in den oberen Bedürfnissen der Pyramide. Selbstverwirklichung und persönliche Freiheit sind für einige bereits wichtiger als das Wohl der Gemeinschaft“ stimmte Saber zu.

Auch April nickte. „Wir müssen uns trotz der Angriffe durch Outrier nicht überall Sorgen um das Überleben machen, gerade hier in Yuma leben die Menschen fernab der Kriegsschauplätze und können sich daher auf die Befriedigung anderer Bedürfnisse konzentrieren. Sozialer Status, und wie Saber schon sagte, Selbstverwirklichung.“

Einen Moment lang lag gegenseitiges Verständnis über ihnen und ein freundliches Schweigen.

„Nun“, räusperte sich Jean-Claude schließlich, „dass ist, was unter anderem eure Führung noch verstehen muss. Oder den Fakt mit den ausgeglichenen Hormonsystemen.“

Seine Schwester verflocht ihre Finger mit denen des Schotten. „Ich denke, wenn sie dir zuhören, werden sie ihre Vorteile daraus ziehen können“, meinte sie dabei.

„Ihr kämpft gerade darum, eure Grundbedürfnisse sichern zu können - Überleben, genügend Ressourcen dafür zur Verfügung zu stellen“, zeige die Navigatorin bereits, dass schon mal sie verstand.

„Das sollten die Regierungsmitglieder des Neuen Grenzlandes verstehen. Es gibt auch bei uns noch Regionen, die an der Deckung der Grundbedürfnisse arbeiten“, fügte Saber hinzu.

„Sehen wir, wohin es führt“. Der Outrider wollte darüber keine Prognosen aufstellen. Er schaute seine Schwester an und wechselte das Thema. „Bist du sicher, dass du Biologie studieren willst?“

Sie hob die Schultern. „Effizienter wäre es.“

„Was stünde noch zur Auswahl?“ erkundigte sich Saber interessiert.

„Mir scheint, abseits von Zoologie oder Anatomie hat sie durchaus auch ein Verständnis für Psychologie. Das könnte langfristig ebenso nützlich sein“, antwortete Jean-Claude leichthin.

Beth wirkte nachdenklich. In ihrer Heimat war die Ausbildung festgelegt, im Interesse der Führung und zum Wohle des Volkes. Jetzt hatte sie auf einmal eine Wahl. Das machte es ihr schwer, eine Entscheidung zu treffen.

„Beth hat das Zeug für beides. Es gibt Möglichkeiten, in jedes Studium reinzuschnuppern, einige Vorlesungen zu besuchen, bevor man sich entscheidet“, überlegte der Recke laut. „Vorab würde es auch Sinn machen, die Studienpläne genauer anzusehen und vielleicht danach zu entscheiden, was interessanter wäre.“

„Du könntest auch beides studieren. Es gibt einige, die das machen. Es ist aber ein enormer zeitlicher Aufwand und man muss ganz schön was auf dem Kasten haben. Man kann auch zuerst das eine und dann das andere studieren. Viele Wissenschaftler im KOK haben nach ihrem Hauptstudium angefangen, zu arbeiten und sich dann entschlossen, ein weiteres Studium neben der Arbeit zu absolvieren, weil es für ihre Forschungen vorteilhaft ist“, teilte April ihr Wissen mit.

„Bio ist sehr klug.“ So wie Jean-Claude diesen Satz betonte, wollte er wohl jedem Zweifel entgegenwirken. Unverkennbar schwang Stolz in seiner Stimme mit. Er legte seiner Schwester die Hand auf den Oberarm. „Das beraten wir noch“, meinte er nur.

Sie nickte. „Es ist aufregend, mehr als eine Option zu haben.“ Da war es wieder, das Funkeln in ihren Augen, dass Saber liebte und ihrem Bruder so neu war, aber auch so gut gefiel.

„Macht das. Es eilt nichts.“ Der Schotte lächelte vor sich hin.

„Klug und hübsch, das ist eine seltene Kombination“, schmunzelte April. „Das liegt nicht nur an den Genen, den Eltern oder der Umwelt sondern auch an der Unterstützung durch dich, dass sich deine Schwestern zu solch tollen Frauen entwickeln.“

Ungläubig blinzelte er sie an und brachte kein Wort hervor. Es war neu, Anerkennung dafür ausgesprochen zu bekommen, dann noch ausgerechnet von jemand, der mal der Feind gewesen war. Er wusste nicht, wie er das bewerten und annehmen sollte.

„Das zählte bisher nicht zwingend als positiv. Es galt eher als übermäßig. Für uns Schwestern war es allerdings mehr als angenehm“, grinste Beth angesichts der entgleisten Gesichtszüge ihres Bruders.

„Bei uns wir Zusammenhalt und Unterstützung in der Familie hoch angerechnet. Die Familie gilt bei uns als höchstes Gut“, meinte Saber.

„Damit hat sich Jean eindeutig den größten Pluspunkt bei uns gesichert. Es zeigt, wie sehr er das Wohl anderer über sein eigenes stellen kann“, ergänzte April.

Der schob den letzten Bissen seiner Pizza in den Mund und den Teller von sich. Die Worte machten es ihm nicht leichter, die Situation zu bewerten.

„Wir sollten diese Feier beenden. Es gibt noch genug zu tun, das unsere höchste Aufmerksamkeit erfordert“, rettete er sich selbst auf für ihn sicheres Terrain zurück und bemerkte nicht, wie seine Schwester ein tonlose „ich hab es dir gesagt“ an die Navigatorin richtete. Diese nickte leicht. Ja, Beth hatte nicht gelogen. Soviel hatte sie heute feststellen können.
 

Die Nacht war hereingebrochen, als sie das Restaurant verließen.

Wieder hatten die Männer den Frauen mit den Stühlen geholfen, ihnen die Tür aufgehalten und ihnen den Arm angeboten.

Auf dem Rückweg waren sie eher still.

Beth lehnte ihren Kopf an Sabers Arm, ein weiterer Moment, in dem körperliche Nähe von ihr ausging. Saber genoss es auf jeden Schritt zum Hotel zurück. Kein Schatten trübte diesen Moment.

Sie lösten ihre Nähe erst, als sie das Zimmer der Geschwister erreichten und Jean-Claude dessen Tür öffnete.

Beth zögerte, folgte ihrem Bruder nicht gleich. Seine Geste verdeutlichte, dass er es für angemessen hielt, sich für heute zu verabschieden, aber sie hatte es damit nicht ganz so eilig.

„Schlaft gut“, verabschiedete sich April von den Geschwistern und ihrem Boss.

Der Schotte nickte leicht und gab seiner Freundin einen kurzen, zarten Kuss. „Gute Nacht, Beth“, verabschiedete er sich, einerseits die Aufforderung des Outriders respektierend, andererseits seine Gefühle für dessen Schwester nicht verbergend.

„Noch zwei Minuten“, hörten sie ihn sagen. „Gute Nacht, April.“ Damit verschloss er die Tür von innen.

Als diese sah, wie Beth ihre Arme nach dem Schotten ausstreckte, beeilte sie sich auf ihr Zimmer zurück zu kommen. Obwohl sie bei den Blicken der beiden wohl davon ausgehen konnte, dass sie die beiden ohnehin nicht mehr bemerkten.

Sie fanden in die Arme des anderen, kaum das Jean-Claude die Tür geschlossen hatte.

Saber presste sie innig an sich und schloss die Augen.

„Tut mir leid. Ich kann es nicht unterdrücken“, hörte er sie an seine Schulter murmeln.

„Dafür musst du dich nicht entschuldigen. Es ist schön“, raunte er zurück und strich ihr sanft über den Rücken.

„Hmhm“, machte sie. Angenehme Wärme durchflutete sie. Sie löste sich weitgenug von ihm, um seine Lippen suchen zu können. Er kam ihr entgegen, strich sacht über ihre und brauchte nur einen Augenblick um sie seine Zuneigung spüren zu lassen, hingebungsvoll und sehnsüchtig wie die anderen Male zuvor. Dass sie ihm auf die gleiche Weise antwortete, steigerte sein Verlangen nach ihr nur weiter. Er umfasste sie fester. Die Gefahr sich hinreißen zu lassen, wurde gebannt, als aus dem Zimmer heraus gegen die Tür geklopft wurde.

Jean-Claude erinnerte diskret, aber entschieden an den Ablauf der Frist.

Vielleicht war es besser so. Bestimmt war es besser so. So ausgebremst zu werden, wie am Vorabend war deutlich härter.

Sie wünschten einander eine gute Nacht und gingen auf ihre Zimmer.
 

Abende wie der heutige waren selten.

Das war eine Untertreibung.

Wann sah man Saber schon so offensichtlich turtelnd? April verstand einmal mehr, was mit „berauschend“ gemeint hatte. So weltvergessend hatte sie ihn noch nie gesehen. Keine seiner vorherigen Beziehungen, oder das, was zu einer hätte werden sollen, hatte ihn je dazu bewogen so seine Gefühle zu zeigen. Eine höfliche Zurückhaltung war immer noch zu erkennen, immerhin hielt er nur ihre Hand und verschlang sie nicht beinahe auf offener Straße, wie andere Pärchen das durchaus taten, aber er wäre auch nie zu einem Abschiedskuss vor den Anwesenden der abendlichen Runde gekommen. Über die Kussszene, die sie vor Ramrod zu sehen bekommen hatte, begann April gar nicht erst zu sinnieren.

Interessanter als Sabers Liebesleben, und sie freute sich ehrlichen Herzens für ihn, war Jean-Claude, gab sie sich selbst gegenüber zu. Seine kühle, überhebliche Fassade hatte heute nicht nur Risse bekommen, sondern war sogar an einigen Stellen gebröckelt. Was dahinter zum Vorschein kam, hatte überhaupt nichts mit diese Fassade zu tun. Es schien sich mehr um das Gegenteil zu handeln. Hätte man sie nach ihrer ersten Begegnung mit ihm – kurz erschauerte sie kalt, als sie daran dachte – gefragt, was für ein Typ der Outrider sei, hätte sie ihn als kalt, arrogant und von sich selbst überzeugt beschrieben. Heute allerdings war er höflich gewesen, ein Gentleman ähnlich wie Saber. Er war immer noch etwas kühl und distanziert und ohne Beth hätte er wohl nicht gezeigt, wie fürsorglich er war und wie sehr ihm das Wohl seiner Schwestern am Herzen lag, aber er war durchaus auch klug und ein cleverer Verhandlungspartner, wie sie im Gespräch mit ihrem Vater und den Senatoren festgestellt hatte. Sie hatte auch fest gestellt, dass er auf sie reagierte. Oder zumindest auf das weibliche Geschlecht. Seine Musterung, als sie die beiden abgeholt hatten, war ihr nicht entgangen, genauso wenig wie die Irritation, als sie ihm im Restaurant ihren wirkungsvollsten, verführerischsten Blick zugeworfen hatte. Das war im mindesten mal schmeichelhaft. Vorurteile und Vorerfahrungen beeinflussten ihn teilweise noch sehr, was schade war, aber er war auch der Ältere der Geschwister so dass sie sich in ihm stärker gefestigt hatten. Seine Fragen hatten sie zum Teil doch aus der Fassung gebracht, doch wenn sie es recht bedachte, musste sie zugeben, dass es womöglich auch an ihren eigenen Vorurteilen lag. Würde sie nicht davon ausgehen, hätte sie es nicht erlebt, dass Outrider in eher Befehlsempfänger waren, skrupellose, überhebliche Lemminge, wäre sie von sich aus auf den Gedanken gekommen, dass sich hinter seinen Fragen ernsthaft Neugier verbarg und nicht eine indirekte Ablehnung und Kritik, die ihr vor Augen führen sollte, wie wenig Wert ein Mensch nach Ansicht der Outrider war. Vielleicht glaubte sie auch nur, dass sie diese Ansicht vertraten. Die Wrangler mit denen sie zu tun hatten, sprachen nicht zwingend für den Rest der Bevölkerung.

April seufzte und drehte sich auf die Seite. So viel stand für sie fest: Jean-Claude war ein interessanter, höflicher und kluger Mann mit dem man wirklich gute Gespräche führen konnte. Vorausgesetzt es gelang ihnen beiden in Zukunft ihre Vorurteile in den Griff zu bekommen. Fürs erste freute sie sich auf das Frühstück und die Fortsetzung dieser tiefen Dialoge.

Mit einem leichten Lächeln schlief sie ein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  MissAuditore
2020-05-29T18:31:31+00:00 29.05.2020 20:31
Hallo,
endlich bin ich dazu gekommen die neusten Kapitel zu lesen.
Ich bin sehr irritiert über Jean Claude, da ich eher davon ausging das er alles mögliche unternimmt um seine Schwestern von Saber und Colt fernzuhalten. Ich bezweifle stark das er Saber oder sogar Colt als eventuelle Schwager akzeptieren würde, obwohl das sehr belustigend sein könnte.
Überrascht bin ich wirklich über die recht schnelle Annäherung zwischen Beth und Saber, aber das gefällt mir sehr gut. Er wirkt ja sonst eher bedacht, schüchtern und zurückhaltend.

Ich hoffe (trotz deiner Nachricht) doch sehr das Fireball in Aprils Freundlichkeit gegenüber Jean Claude und seinen Schwestern nichts falsches interpretiert. Vorallem da er dem Charme der weiblichen Outrider auch des öfteren unbewusst verfallen ist.

Ich hoffe auf baldige Fortsetzung. Liebe Grüße


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