The Diary of Mrs Moriarty von Miceyla ================================================================================ Kapitel 14: Vergessene Helden des Krieges ----------------------------------------- Da Moran nicht wusste, worauf Miceyla hinauswollte, blickte er nur verdutzt drein. „Das ist ein ziemlich gefährlicher Blick… So solltest du nicht einfach einen Mann ansehen. Was wenn William das mitbekommt, der zieht mir das Fell über die Ohren! Also, womit kann ich dir dienen?“, warnte er sie leise und sah verstohlen um sich. „Bringe mir bitte das richtige Kämpfen bei! Sprich, wie ich mich in unterschiedlichen Situationen korrekt selbst verteidige. Und den Umgang mit diversen Waffen. Theoretisches Wissen besitze ich derweil genug. Ich will nicht länger als Amateurin abgestempelt werden. Auch wenn ich es bei brenzligen Gefahren irgendwie schaffe mich durchzuschlagen, wird dies nicht ausreichen, falls ich mal mit einem Gegner konfrontiert bin, der weitaus erfahrener ist als ich. Auf Hilfe kann ich mich nicht ständig verlassen“, sprach Miceyla fest entschlossen und hoffte inständig auf seine Zustimmung. Jemand der so kampferprobt war wie Moran, könnte ihr einiges beibringen. „Ach, davon hast du gesprochen…“, murmelte er und legte nachdenklich den Kopf schräg. „Was hattest du denn schon wieder gedacht? Trottel… Also, wie lautet deine Antwort?“, hakte sie verbissen nach. „Hach… Ich weiß ja nicht so recht…“, zögerte er unentschlossen. „Komm schon, gib dir einen Ruck! Ich sehe nicht wirklich, dass du hier etwas Besseres zu tun hättest. Etwas Training käme auch dir zugute. Denn wenn du weiterhin unbekümmert vor dich hin futterst, wird aus dir bald ein dicker, fetter Rollmops, der für Will keine Hilfe mehr ist“, überzeugte sie ihn weiter mit Ironie. „Hey! Pass auf was du sagst! Ich wette du hast noch keinen Mann gesehen, der durchtrainierter ist als ich! Du kannst ein ganz schön vorlautes Mundwerk haben… Na schön… Ich gebe zu, dass du die nötigen Voraussetzungen erfüllst. Davon durfte ich mich ja höchst persönlich überzeugen. Aus diesen Ansätzen, lässt sich bestimmt einiges rausholen. Ein hoffnungsloser Fall bist du schon mal nicht. Gut, dann werde ich dich unter meine Fittiche nehmen, da ich deine Beharrlichkeit respektiere. Doch ich sage es dir bereits gleich im Voraus, Rücksicht kannst du nicht von mir erwarten, nur weil du eine Frau bist. Und meinen Anweisungen werden Folge geleistet! Auch wenn du nun in der Öffentlichkeit mir höhergestellt bist und ich als dein Diener fungieren muss. Bei unserem privaten Training, wird ohne Ausnahme mein Soldatenrang respektiert. Wenn ich dich schon in den Grundtechniken des Militärs unterweise, dann nur ernsthaft und vernünftig. Trotzdem müssen wir dein Training, erst noch von Will absegnen lassen. Soweit alles verstanden?“, setzte Moran mit verantwortungsbewusster Miene voraus. In Miceyla begann es vor lauter Vorfreude wie wild zu kribbeln. „Habe verstanden, Sir! Ich bin mir garantiert für keine Anstrengung zu schade! Wann geht es los?“, erkundigte sie sich erwartungsvoll und war so motiviert wie schon lange nicht mehr. „Na jetzt mach aber mal halblang! Du hast heute gerade erst geheiratet und willst dich gleich im Dreck wälzen. Was für ein Wirbelwind du doch bist, ha, ha! Denke mal, dass wir übermorgen beginnen können. Treffen wir uns nach dem Frühstück, vor dem Tor des Anwesens. Ich kenne da nämlich einen netten Ort, an dem es sich prima ungestört trainieren lässt“, meinte er und machte sich wieder eifrig an dem Resteessen zu schaffen. „Wunderbar! Ich danke dir schon mal vielmals für deine aufopfernde Zeit!“ `Endlich kein untätiges rumsitzen mehr und Louis hat mir auch langsam das Nötigste erklärt.` Bester Laune lief sie wieder hinauf. Etwas wehmütig hängte Miceyla ihr Brautkleid in den Schrank und setzte sich kurz darauf, an ihren neuen Schreibtisch im Schlafzimmer. `Es wäre wundervoll, wenn ich mich hier bald vollwertig heimisch fühlen werde. Ein wahres Zuhause, der Ort an dem man gerne zurückkehrt…`, dachte sie verträumt und zündete sich eine Kerze an. Da trat William ganz leise herein. „Bin wieder da, meine Liebe… Hm, du führst Tagebuch. Das passt zu dir“, sagte er lächelnd und erhaschte einen kurzen Blick auf ihr aufgeklapptes Buch. „J-ja, dies tue ich fast schon seitdem ich schreiben kann. Darin gehen Gefühle und Gedanken niemals verloren… Aber vielleicht ist das nun eher ein Verhängnis für uns… Ich meine, es ist alles sehr ehrlich geschrieben. Das darf nicht in die falschen Hände geraten“, sprach sie verunsichert, als ob sie eine Sünde begehen würde. „Das finde ich nicht. Ganz im Gegenteil, es ist klasse das jemand unsere Pläne von Anfang bis zum Ende festhält. Die späteren Generationen werden Augen machen, falls sie dies lesen. Auf diese Weise wird dein Name unsterblich. Es ist doch toll, ein Hinterbleibsel zurückzulassen, dass auf ewig Gesprächsthema sein wird. Solltest du dies mit uns gemeinsam schaffen, werden wir alle praktisch zu einer Legende. Die einen lobpreisen uns, die anderen verabscheuen uns wiederum. Und ich hatte die Idee, dass wir beide von jetzt an jede Woche zwei Tage in Durham verbringen, wenn ich dort an der Universität arbeite. Nur du und ich in unserem beschaulichen Anwesen dort. Das ist doch kein schlechter Kompromiss. Denn ich weiß, dass es für dich auch nicht immer einfach sein wird, wenn hier so viel los ist… Das bin ich dir schuldig. Wenigstens diese Zeit, werde ich voll und ganz dir widmen“, versprach er ihr liebevoll. Lächelnd erhob sie sich von ihrem Stuhl. „Aber Will, du bist mir doch überhaupt gar nichts schuldig. Und dennoch macht es mich sehr glücklich. Etwas Abstand von dem ganzen Trubel, wird dir und mir sehr guttun. Ich bin bereit für alles was auf uns zukommt. Ich scheue keine Anstrengung und keine Gefahr. Bei dir fühle ich mich sicher, du schenkst mir Mut und Kraft…mein Liebster…“ Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, nahm William sie zärtlich in die Arme. Sie schloss die Augen und genoss dabei die Geborgenheit und seine vertraute Wärme. Die Vögel zwitscherten munter und die Schatten der am Himmel vorüberziehenden Wolken, wanderten gemächlich über den Boden. Miceyla wartete am Tor des Anwesens auf Moran und marschierte motiviert auf und ab. „Ich sehe du bist pünktlich. Wunderbar, dann Abmarsch!... Und mal so nebenbei, siehst echt schick aus!“, sprach Moran, der sie erreichte und sie grinsend musterte. „Nicht wahr! Habe mir extra eine Hose zugelegt, damit ich in meinen Bewegungen nicht eingeschränkt bin“, erwiderte sie gespielt prahlerisch und konnte ihm die Belustigung ansehen. Moran schlug ein forsches Tempo ein und beide verließen das Grundstück auf der hinteren Seite. Sie lief mit ihm über jenes Feld, wo sie schon einmal mit William entlangspaziert war. Doch nun liefen sie noch weiter, auf ein großes Waldstück in der Ferne zu. „Was hast du denn alles da in deinen Sack gepackt? Sieht richtig schwer aus. Hoffentlich keine Folterinstrumente, ha, ha“, meinte Miceyla lachend auf dem Weg und klopfte auf seinen prall gefüllten Beutel, den er auf seinem Rücken trug. „Für dich nur das feinste Spielzeug, hi, hi“, antwortete er bloß und lachte verschwörerisch. Nach kurzer Zeit hatten sie den Waldrand erreicht und anstatt einen Weg zu nehmen, führte er sie querfeldein, mitten durch das Dickicht. Artig folgte sie ihm und musste angestrengt darauf achten, nicht an irgendwelchen Sträuchern oder Dornen hängen zu bleiben. Ewigkeiten war es her, seitdem Miceyla das letzte Mal mitten durch einen Wald lief. Das Leben in der Großstadt hatte sie ziemlich hölzern werden lassen. Doch rasch waren all ihre Sinne geweckt und sie genoss das aufregende Gefühl, nicht zu wissen was sie erwartete. Miceyla vertraute Moran, der genau zu wissen schien, wohin sie laufen mussten. Obwohl es immer schwieriger wurde, sich durch das dichte Gestrüpp zu zwängen, achtete er nicht darauf, ob sie mit ihm mithalten konnte. „Hör mal… Kommen wir heute noch an? Existiert dein geheimer Ort überhaupt?“, wollte sie sich vergewissern, wie lange sie noch diesen Hindernisparkour durchhalten musste. „Nicht jammern! Wir sind fast da“, rief er in einem unbekümmerten Ton. Und tatsächlich, sie erreichte hinter ihm eine große Lichtung, mit einer Wiese und einer kleinen Holzhütte. „Ui… Wer hätte gedacht, dass du mich an einen solch märchenhaften Ort führen würdest. Vor längerer Zeit hast du hier Schießübungen gemacht, nicht wahr? Die Spuren sind nicht zu übersehen“, sagte sie strahlend und blickte sich neugierig um. „Ja. Mensch bin ich lange nicht mehr hier gewesen… Und schau an, die ganzen Zielscheiben haben die letzten Stürme überlebt. Hier drinnen ist auch noch alles beim Alten. Dieses lauschige Plätzchen, kann dir zukünftig als Rückzugsort dienen. Komme hier her, wann immer du ungestört sein willst oder unser Querkopftrio dich zu sehr piesackt. Nicht einmal Jäger verirren sich zu diesem Ort“, meinte Moran und öffnete mit einem nostalgischen Blick die knarzende Hüttentür. Da entdeckte Miceyla einen schmalen Pfad, der in die Richtung führte, aus der sie gekommen waren. „He! Es gibt also doch einen vernünftigen Weg! Ich glaube du bist hier derjenige, der mich am meisten quält!“, beschwerte sie sich lautstark. Moran wandte sich ihr mit zorniger Miene zu. „Denkst du etwa, vor dir liegt stets ein ausgerollter Teppich bereit und hält dir gleichzeitig die ganze Gefahr vom Leib? Wenn du nicht in unwegsamen Geländen zurechtkommst, ist das dein eigener Untergang. Jeder Feind wird diese Schwäche ausnutzen,“ „Selbstverständlich ist mir das bewusst! Wenn es darauf ankäme, könnte ich ganze Berge besteigen, bis mir die blutigen Hände abfallen!“, konterte sie hastig. `Sein Training hat längst begonnen! Ich sollte mich mehr bemühen!`, zwang sie sich in Gedanken und nahm vor ihm eine kerzengerade Haltung ein. „Sehr schön. Bevor du mir Hand an eine Waffe legst, werde ich dich erstmal ordentlich zum Schwitzen bringen. Auf geht’s, umrunde zehn Mal die Wiese. Aber in einem zügigen Lauftempo!“, befahl er mit einer kurzen Kopfbewegung, in Richtung jener weitläufig begrünten Fläche. „Och nö… Die Wiese ist riesig und…“, jammerte sie leise. Da zückte Moran einen Revolver und schoss ihr unmittelbar neben die Füße. Verschreckt wich Miceyla zur Seite. „Hey! Das petze ich William!“ „Du brauchst gar nichts zu petzen. Das war lediglich eine Platzpatrone. Fünfzehn Runden. Bei jeder Beschwerde werden es fünf Runden mehr“, bestimmte er strikt. Ohne weitere Widerworte rannte sie los und hielt sich an dem äußeren Rand der Wiese. Moran beobachtete sie dabei mit Adleraugen, dass sie auch ja keine Abkürzung nahm oder langsamer wurde. Er war jeder Zeit dazu bereit, erneut in ihre Richtung zu schießen. Als sie die fünfzehnte Runde endlich beendet hatte, stützte sie sich keuchend an einem Baumstamm ab. „Gut, dann machen wir direkt weiter. Ich lasse dich mit jeder der unterschiedlichen Waffen, die ich mitgebracht habe, mehrmals schießen. Damit du auch mal den richtigen Unterschied zwischen Revolvern und Pistolen kennenlernst. Siehst du die Zielscheiben dort an den Bäumen? Versuche sie aus verschiedenen Distanzen zu treffen“, erklärte er gelassen und deutete mit dem Finger auf die verschiedenen Zielscheiben, welche leicht abgenutzt waren. „Das wird aber schwierig mit meiner momentanen Erschöpfung. Mit schwachen Händen, werde ich wohl kaum vernünftig zielen können“, meinte sie mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck. „Du musst in jeder Situation dein Ziel treffen können. Gleichgültig ob deine Hände taub oder deine Augen mit Blut verschmiert sind. Stell dir vor, du wurdest an den Rand des Todes getrieben und hast nur noch eine Kugel übrig. Dieser eine Schuss entscheidet ob du überlebst oder nicht. Vielleicht rettest du damit sogar das Leben eines Kameraden. Egal wie heikel die Lage ist, bewahre stets einen kühlen Kopf und eine noch viel ruhigere Hand.“ Mit diesen Worten nahm er sich ein Gewehr, legte es an und schoss unmittelbar hintereinander, drei Schüsse ab. Bei jeder der Zielscheiben traf er genau in die Mitte. „Oh…! Welch exzellente Treffsicherheit! Ich applaudiere! Na da will ich mich auch mal darin versuchen.“ Miceyla kannte längst sein überragendes Können im Umgang mit Schusswaffen und dennoch fand sie es unterhaltsam ihm zuzusehen. Obwohl sie eigentlich jene Tötungswaffen verabscheute, bekam sie Lust, auch ein paar Übungsschüsse zu machen, solange sie bloß auf hölzerne Zielscheiben zielte. Entschlossen griff sie nach einem Revolver, den sie von Morans mitgebrachten Waffen ausgewählt hatte und spielte damit etwas in der Hand herum. „Hey, ziel damit nicht auf mich! Das ist kein Spielzeug! Ich glaube Ernstfälle sind besser geeignet für dich, weil du dann nicht auf die Idee kommen kannst, Blödsinn zu treiben“, rief Moran leicht genervt und wich in den toten Winkel ihres Schussfeldes. „Du hast mich doch selbst in Richmond dafür gelobt, dass ich zielen könnte, schon vergessen? Und ich denke du warst so rücksichtsvoll und hast jede der Übungswaffen mit Platzpatronen geladen, da du keine kostbare Munition verschwenden willst“, meinte sie grinsend. „Ja, ja, schön wenn dir das klar geworden ist, Schlaumeier. Trotzdem ist es deshalb noch lange nicht ungefährlich, jemanden direkt zu treffen. Und vielleicht war das im Schloss des Militärheinis, bloß ein glücklicher Zufall und du hast einen guten Tag erwischt. Außerdem siehst du mir mit deiner zerbrechlichen Statur nicht gerade danach aus, als ob aus dir über Nacht eine Schießkünstlerin wird…“, sprach Moran in einem leicht provozierenden Ton. Wortlos legte sie ihre Waffe zurück und riss ihm ohne Vorwarnung sein Gewehr aus der Hand. „H-he! Was hast du damit vor?!“, schimpfte er und starrte sie perplex an. Etwas unbeholfen versuchte sie das Gewehr anzulegen und eine der Zielscheiben anzuvisieren. `Verdammt ist das Teil schwer… Aber jetzt blamier dich bloß nicht!` Sie biss mit einem konzentrierten Blick die Zähne zusammen und betätigte wie er es getan hatte, drei Mal hintereinander den Abzug. Nach dem Rückstoß taumelte sie kurz ein wenig nach hinten, jedoch formten sich ihre Lippen zu einem stolzen Lächeln. Zwar traf sie nicht wie Moran perfekt die Mitten, dennoch hatte sie ihre Ziele nicht verfehlt. „Ha, ha! Nun hast du deine Tauglichkeit vollends unter Beweis gestellt. Ich gebe mich geschlagen. Na komm, ich nehme dir das Gewehr wieder ab, bevor dir die Arme abfallen“, sagte er lachend und nahm ihr mit einer Hand die schwere Waffe ab. „Was hältst du von einer kleinen Pause? Ich will nicht, dass du gleich am ersten Tag so fix und fertig bist, sodass ich dich nach Hause tragen muss“, schlug er vor und legte das Gewehr ab. Anschließend war er auch schon gleich dabei, sich eine Zigarette anzuzünden. „Das ist eine großartige Idee!“, erwiderte sie froh über seinen Vorschlag. Beide setzten sich jeweils auf einen Baumstumpf. „Du…ich muss mich bei dir entschuldigen…“, murmelte Moran beinahe verlegen. „Entschuldigen, wofür?“, fragte sie amüsiert über seinen plötzlich so kleinlauten Tonfall. „Ich habe dich am Anfang nicht wirklich ernst genommen… Ich dachte mir, was schleppt Will uns denn da für ein treuherziges, kleines Gör an, dass er mal eben schnell in Londons Straßen aufgelesen hat. Im Gegensatz zu ihm, bin ich manchmal einfach nur blind. Also, es tut mir aufrichtig leid. Ich bin froh, dass du nun meine Kameradin bist“, gab er ehrlich zu und unterstrich seine Worte mit einem zaghaften Lächeln. „Ach, deine Vorurteile finde ich sogar ganz verständlich. Es freut mich, dass ich dich umstimmen konnte und es ist lieb von dir, dass du dich entschuldigst. Ich schätze deine Aufrichtigkeit. Wenigstens bist du nicht so stur wie ein gewisser jemand…“ „Und sag mal, woher kommen dein sagenhaftes Reaktionsvermögen und deine Treffsicherheit? Das kann nicht bloß Anfängerglück sein. Selbst mit Talent müssen sogar wir Soldaten viel üben, um den korrekten Umgang mit einer Waffe zu beherrschen. William würde jetzt sicher erraten können, was dein kleines Geheimnis ist. Mir musst du da etwas mehr auf die Sprünge helfen. Also, spuck es schon aus“, hakte er neugierig nach. „Na ja… Da steckt tatsächlich eine kleine Geschichte dahinter. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich früher als Kind gelernt habe, mit Pfeil und Bogen umzugehen. Es war eher unfreiwillig. Als ich eine Zeit lang auf mich alleingestellt war, wurde ich in etwas verwickelt, an das ich noch heute mit gemischten Gefühlen zurückdenke… Aber ich mag dich nicht mit meiner tristen Vergangenheit langweilen“, verriet Miceyla ihm gedankenversunken. „Pfeil und Bogen? Das nenne ich mal außergewöhnlich für ein junges Mädchen. Und ganz auf dich allein gestellt? Deine Vergangenheit scheint alles andere als langweilig gewesen zu sein. Erzähle mir die Story ruhig. Ich bin kein so schlechter Zuhörer, wie ich vielleicht aussehen mag. Außerdem weiß ich bislang kaum etwas über dich“, ermutigte er sie interessiert. Es machte sie glücklich, dass Moran sich Zeit nahm um sie besser kennenzulernen. Das war eine ganz neue Erfahrung für sie, da sie meistens nur von Schnelllebigkeit und eigensinnigen Personen umgeben war. Jetzt hatte sie viele freundliche Menschen um sich, denen sie sich mit gutem Gewissen anvertrauen konnte. „Noch nie zuvor habe ich jemandem davon erzählt. Jedoch erinnere ich mich an alles, als wäre es gerade erst gestern passiert. Zehn Jahre war ich alt und wurde ohne ein Wort von meinen Eltern, in einem kleinen heruntergekommenen Hause allein gelassen. Es fehlte uns an Geld und mich hatten sie praktisch geopfert… Für mich bedeutete dies allerdings eher eine neue Freiheit, schließlich musste ich keine Gewalt mehr erdulden. Dennoch, Sorgen hatte ich allemal. Es war der erste Monat, in dem ich mich selbstständig versorgen musste…“ „Oh nein… Es ist schon wieder alles angebrannt… Heute werde ich wohl abermals ohne etwas zu essen ins Bett gehen…“, klagte Miceyla, sank dabei missmutig zu Boden und wedelte den Qualm um sich herum weg. Da hörte sie plötzlich hastige Schritte hinter sich. „Rück das Essen raus! Das ist ein Überfall!... Puh, was für ein Gestank.“ Erschrocken fuhr sie herum. Seit drei Wochen hatte sie keine Stimmen mehr gehört. „W-wer seid ihr? Ich habe selbst nichts Essbares mehr bei mir…“, stotterte Miceyla kleinlaut und blickte ehrfürchtig eine kleine Gruppe von Kindern an, die mit Hacken und Steinschleudern bewaffnet waren. Sie alle sahen genauso verwahrlost und ausgezehrt aus, wie sie es war. Nur in den Augen des größten Jungen, leuchtete eine ungewöhnliche Entschlossenheit. „Leben hier keine Erwachsenen mehr? Wo sind deine Eltern?“, fragte der Älteste und blickte sich prüfend um. „Die sind fortgegangen… Seit ein paar Wochen lebe ich hier allein…“, antwortete sie und sah wie Besorgnis seiner Angriffslust wich. „Ich verstehe… Und wie willst du dich von nun an ernähren? Du wirst krank ohne Nahrung und sauberes Wasser. Dann stirbst du irgendwann“, erinnerte der Junge sie an ihr baldiges Schicksal. „Zur Not finde ich etwas Essbares auf den Feldern draußen…“ „Und im Winter? Das wird nicht funktionieren. Außerdem werden die Bauern aus dem Dorf ganz schnell dahinterkommen. Also schlag dir das lieber gleich aus dem Kopf. Wie heißt du überhaupt und wie alt bist du?“, konterte er unbarmherzig. „Ich bin zehn und heiße Miceyla.“ „Dann wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben, als dich uns anzuschließen, wenn du überleben willst. Wir sind alle Waisenkinder. Ich heiße Finn und bin letzten Monat zwölf geworden. Da ich der Älteste bin, trage ich die Verantwortung für diese Kinder. Henry ist auch zehn. Lily ist acht, Theo sieben und Amelia ist mit fünf die Jüngste. Doch du darfst nur beitreten, wenn du unsere Regeln befolgst. Denn wir haben uns einen Eid geschworen und teilen unsere Beute immer gerecht auf. Und die Älteren beschützen die Jüngeren“, erklärte Finn ihr pflichtbewusst. „Wenn ihr Waisenkinder seid, wo schlaft ihr dann eigentlich? Ich könnte euch ja anbieten, dieses kleine Haus mit mir zu teilen, doch hier ist nicht genug Platz für so viele Kinder. Und mit Beute meint ihr das Essen, welches ihr aus den Häusern stehlt?“, überlegte Miceyla und sah auf den staubigen Fußboden hinab. „Bäh… In dieser Dreckshütte, wo mir bei Nacht Ratten die Zehen annagen, könnte ich kein Auge zu machen! Da schlafe ich lieber unter freiem Himmel. Die Bauern unten im Dorf leben in Saus und Braus. Schau dir die Fettklöpse doch mal an. Jede Woche beliefern die London und verdienen sich eine goldene Nase. Und vor den reichen Schnöseln in der Stadt, tun sie so scheinheilig als seien sie bitterarm. Alles Lug und Betrug! Deren Angestellte und Mägde sind die waren Notleidenden. Schuften pausenlos auf dem Feld, während ihre Herren sich fettfressen. Daher rauben wir so viel wie wir nur können. Dazu ist mir jedes Mittel recht!“, blaffte Finn zähneknirschend und schwang seine spitze Hacke einmal energisch durch die Luft. „D-dann seid ihr ja Verbrecher! Mit euch will ich besser nichts zu tun haben!“, warf Miceyla ihm kühn an den Kopf. Sie konnte sich keine weiteren Probleme erlauben. „Gut, wenn du lieber auf deinen langsamen Tod warten willst, bitteschön! Von uns kannst du dir keine Hilfe erhoffen… Kommt Freunde, wir gehen!“ Die fünf Kinder kehrten ihr den Rücken zu und liefen wortlos aus der Küche, in der es noch immer leicht qualmte. Miceyla trippelte unentschlossen auf der Stelle. `War es richtig die Kinder wegzuschicken…? Ich meine, was habe ich schon zu verlieren? Vielleicht wäre dies eine gute Gelegenheit, um endlich von hier fortzukommen. Ich will diese schrecklichen Erinnerungen hinter mir lassen und einen Neuanfang wagen! Auch wenn von nun an alles noch viel schwerer werden wird… Jedoch bin ich am Leben, daher darf ich nicht einfach aufgeben. Hierbleiben und warten rettet mich nicht aus meiner jetzigen Situation. Wenn die grausame Welt dort draußen nach mir ruft, nehme ich eben den Kampf mit ihr auf!` Hastig lief sie in ein benachbartes Zimmer und packte ihr einziges leicht zerfleddertes Buch, in welches sie häufig schrieb, zusammen mit einem Stift in eine kleine Beuteltasche und stürmte geschwind aus dem Haus. „Finn! Warte!“, rief sie so laut wie sie nur konnte und versuchte die Kinder einzuholen. „Was ist? Aha! Das sieht für mich ganz danach aus, als hättest du es dir anders überlegt“, erkannte Finn und grinste plötzlich breit. „Ja! Ich werde mich euch anschließen!“, teilte sie ihm entschlossen mit. „Dann heiße ich dich bei den Himmelszelt-Helden herzlich willkommen! So wie jeder Stern einen eigenen Platz am Nachthimmel innehält, so verdient auch jeder von uns Menschen, seinen festen Ort zum Glücklichsein auf der Erde!“ Lächelnd streckte Finn seine einladende Hand zu ihr aus, die Miceyla nach kurzem Zögern zaghaft schüttelte. Dabei blickte sie ihn einmal ganz genau an. Die verwuschelten dunkelbraunen Haare, verliehen ihm ein verwegenes Äußeres. Und seine hellwachen himmelblauen Augen, strahlten trotz seiner Lebenssituation, unglaublich viel positive Energie aus. Er trug ein grünes Hemd, welches ihm eigentlich zu groß war, daher hatte er es unten mit einem Knoten kürzer gebunden. An seinem Hosengürtel, war ein leicht gekrümmtes Schneidemesser befestigt. Für sein Alter wirkte er ziemlich reif und sie konnte sich gut vorstellen, dass er einen fairen Anführer abgab. „Willkommen, Miceyla!“, riefen Theo, Amelia, Lily und Henry gleichzeitig. „Von da an, verbrachte ich die meiste Zeit mit den fünf Waisenkindern. Wir schliefen nachts in einer alten Scheune, in der selten jemand ein und aus ging. Finn war übrigens ein Spezialist, wenn es darum ging verschlossene Türen zu öffnen. Da ich mich stur weigerte, in die Häuser anderer einzubrechen und deren Nahrungsmittel zu stehlen, durfte ich mich, während Finn mit den älteren Kindern auf Streifzug ging, um die kleine Amelia kümmern…“ „Warum gehen wir nicht dort drüben etwas, auf der wunderschönen Blumenwiese spielen? Es muss doch für dich furchtbar langweilig sein, hier nur rumzusitzen und auf die anderen zu warten“, versuchte Miceyla Amelia lächelnd dazu zu motivieren, gemeinsam ein wenig Spaß zu haben. Das kleine Mädchen sprach nicht viel und war schrecklich schüchtern. Miceyla sorgte sich sehr um ihr Wohlergehen. Stets hielt Amelia einen kleinen Stoffhasen fest im Arm, der genauso traurig dreinblickte wie sie es selbst tat. „Dann lass uns wenigstens zusammen singen. Ein heiteres Lied vertreibt die Sorgen und schenkt jedem neuen Mut… `Ich erinnere mich an jenen alten Weg, an einem regnerischen Tag, wo ich dich das erste Mal traf. Der Weg führt zu einem fernen Märchenwald, dieses Geheimnis bewahre ich. Ich warte, ich warte, solange bis er vorüber ist, der Kampf in unseren Herzen. Ich werde stark sein, ich werde mutig sein, ich werde ganz bestimmt sicher sein. Folge mir, bis der Kampf sein Ende gefunden hat. Sieh das Licht, das langsam auf dich herabscheint, dieses Geheimnis bewahre ich…`“, sang Miceyla mit einer hellen und klaren Stimme. Abrupt hielt sie inne, als Amelia sie mit ihren kugelrunden braunen Augen fasziniert ansah. „H-hat dir das Lied nicht gefallen? War das eine schlechte Idee von mir…?“, fragte sie kleinlaut. „Du singst wunderschön. Wirst du mal eine Sängerin?“, sprach Amelia und wirkte auf einmal viel fröhlicher. Das glückliche Gesicht des Mädchens, erheiterte Miceyla noch wesentlich mehr als ihr Lob. „Ich glaube nicht, dass ich es auf eine Bühne schaffen könnte. Wer will schon ein armes und abgemagertes Mädchen anschauen?... Aber… Ich denke mir noch viel lieber Geschichten aus. Daher ist es mein großer Traum, Schriftstellerin zu werden. Denn Erzählungen verbinden die Herzen der Menschen. Gleichgültig ob sie von einem wohlhabenden Landgrafen oder einer armen Bauernmagd geschrieben wurden“, vertraute sie sich ihr ganz offenherzig an. „Ließt du mir dann eines Tages davon vor?“, bat Amelia interessiert und lächelte das erste Mal zaghaft. „Das werde ich ganz bestimmt, versprochen!“ Liebevoll streichelte Miceyla über die blonden Haare des Mädchens. „Dein Arm ist ja ganz rot. Hast du dir wehgetan?“, bemerkte Amelia mit einem besorgten Blick. „Ach, das ist mir beim experimentieren in der Küche passiert… Ich bin nicht besonders geschickt, wenn es ums Kochen geht.“ Amelia drückte vorsichtig ihr Kuscheltier an die rote Stelle von Miceylas Arm. Ganz so als wollte sie ihre Wunde dadurch heilen. Plötzlich vernahmen die beiden vertraute Stimmen in der Ferne. „Finn! Ihr seid wieder da! Wart ihr erfolgreich?“, begrüßte Miceyla lächelnd die Rückkehrer. Doch Finn packte bloß ohne ihr zu antworten, nach ihrer Hand und zog sie grob hinter sich her. „W-was ist denn los mit dir? Ist etwas passiert?“, erkundigte sie sich voller Verwunderung. „Nö. Langsam wird es einfach nur mal Zeit, dass du uns bei Beutezügen unterstützt. Mäuler von Feiglingen stopfe ich nur sehr ungern. Wenn du schon nicht bereit bist, aus nächster Nähe zu agieren, werde ich dich eben für den Fernkampf einsetzen“, beschloss Finn launisch. „Fernkampf? Aber wir ziehen doch nicht in den Krieg!“, blaffte Miceyla empört. „Doch, natürlich ist der tägliche Kampf ums Überleben ein Krieg! Was denn sonst? …Hier werde ich mit dir Bogenschießen übern. Das wirst du schon hinbekommen. Dann kannst du uns wunderbar den Rücken freihalten und bist das perfekte Ablenkungsmanöver.“ Die zwei erreichten ihren provisorisch errichteten Lagerplatz und Finn wühlte in einem Busch, bis er einen langen Bogen und ein paar Pfeile herauszog. „Wo hast du denn den Bogen her?“, fragte sie erstaunt. „Den habe ich selbst hergestellt! Du darfst mich gerne, für mein handwerkliches Geschick loben!“, prahlte er stolz. „Für den Anfang ist es am besten, wenn du einfach nur versuchst, einen breiten Baumstamm zu treffen. Nehmen wir die dicke Eiche da hinten. Sollte das gut klappen, suche ich dir kleinere Ziele aus oder direkt etwas Bewegliches wie einen Vogel. Schau genau her, ich mache es dir einmal vor.“ `Ich werde bestimmt kein armes Tier erschießen!`, dachte sie stur ohne diese Bemerkung laut auszusprechen, sonst hätte es gleich wieder in einem Streit geendet. Miceyla beobachtete, wie er einen der spitzen Pfeile auf seinem linken Daumen abstützte und mit der rechten Hand, die stramm gespannte Sehne des Bogens, mit drei Fingern nach hinten zog. Finns Körperhaltung war aufrecht und seine geschmeidigen Handgriffe sahen aus, wie die eines geübten Jägers. Ruckartig ließ er die Sehne los und der Pfeil traf in hoher Geschwindigkeit den entfernten Baumstamm, in dem er gerade steckenblieb. Voller Bewunderung klatschte sie in die Hände. „Toll wie du das kannst! Ich mag auch so gut Bogenschießen können“, sprach sie begeistert. „Gewiss, ich werde es dich lehren! Dann nenne mich von nun an `Meister`“, befahl Finn mit übertrieben arroganter Stimme. „Wieso sollte ich das tun? Du bist doch viel zu jung, um ein richtiger Meister zu sein! Außerdem scheinst du dir selbst am wichtigsten zu sein. Ein echter Lehrmeister, gibt seine Lebensweisheiten an seine Schüler weiter“, predigte sie und blickte ihn vorwurfsvoll an. Finn rollte nur beleidigt mit den Augen und drückte ihr den Bogen in die Hand. „Na los, Naseweis. Zeig was du kannst.“ Miceyla packte den Bogen an dem glatt geschliffenen Holz. Dabei versuchte sie den Pfeil anzulegen und zu spannen, wie er es getan hatte. Allerdings verrutschte ihr der Pfeil und sie ließ zu früh los. Er landete daraufhin vor ihr im Gras. „Gleich nochmal. Übung macht den Meister, daher bin ich ja auch schon einer! Ha, ha!“, meinte Finn lachend. Genervt von seinen neunmalklugen Sprüchen, mühte sie sich verbissen ab, ihr Ziel zu treffen. Gerade als sie das Gefühl bekam, den Dreh raus zu haben, peitschte die dünne Sehne nach dem loslassen, mit voller Wucht gegen ihren Unterarm. „Autsch!“ Abrupt ließ sie den Bogen fallen und hielt sich den wunden Arm. Dann war es ausgerechnet noch dieselbe Stelle gewesen, an der sie sich beim kochen verbrannt hatte. Es tat ihr höllisch weh. „Was bist du doch für ein Tollpatsch. Das bekommt sogar Amelia besser hin. Mache ich dir eben einen lächerlichen Stoffpolster. Du wehleidige, olle Heulsuse…“, nörgelte Finn, hob den Bogen auf und untersuchte ihn gründlich, ob er auch ja keinen Schaden genommen hatte. „Warum bist du so fies zu mir? Ich habe zum ersten Mal einen Bogen in der Hand. Und ich werde sowieso keine Waffe, bei deinen räuberischen Übergriffen einsetzen! Ich hasse dich!“, schrie sie ihn an und rannte mit kullernden Tränen davon. Miceyla wusste nicht, ob sie seine Worte nicht etwas zu ernst genommen hatte oder ob ihr knurrender Magen, für ihren Gefühlsausbruch verantwortlich war. Jedenfalls bekam sie sogleich ein schlechtes Gewissen. Dennoch fühlte sie sich generell, bei den Waisenkindern nicht wirklich dazugehörig und wohl. Eher wie eine Außenseiterin, die aus Mitleid aufgenommen wurde… Einige Wochen waren verstrichen und Finn verhielt sich ihr gegenüber, als hätte es zwischen ihnen niemals einen Streit gegeben. Auch Miceyla blieb vernünftig, da sie nicht von der Gruppe ausgestoßen werden wollte. An einem sonnigen Nachmittag, standen die Kinder aufgeregt um Finn versammelt, der etwas in der Hand zu halten schien. Neugierig gesellte sich Miceyla zusammen mit Amelia dazu. „Was hast du denn da? Ist das ein Schreiben aus dem Dorf?“, fragte sie und betrachtete das bunt verzierte Blatt Papier in seinen Händen. „Ja, diese Flugblätter haben sie im Dorf verteilt. Also hier steht…ähm… Jedenfalls geht es um irgendeine Feier oder ähnliches…“, nuschelte Finn und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Sag bloß du kannst nicht lesen? Gib mal her… `Wir laden euch alle recht herzlich zu unserem Erntedankfest, kommenden Sonntag ein. Lasst uns gemeinsam feiern, dass die Ernte dieses Jahr so reich ausgefallen ist. Es erwartet euch ein großes Festmahl, für Groß und Klein. Dabei wird gesungen und getanzt, die ganze Nacht lang`“, las sie fehlerfrei und flüssig vor. Die Kinder sahen sie bewundernd mit großen Augen an, als wäre es ein seltenes Phänomen, ein Kind vorlesen zu hören. Nur Amelia lächelte heimlich hinter ihrem Stoffhasen. „Wo hast du so gut lesen gelernt? Garantiert nicht von deinen hohlköpfigen, herzlosen Eltern“, platzte es erstaunt aus Finn. „Nein, natürlich nicht. Ich habe es mir selber beigebracht über die Jahre. Anfangs war es alles andere als einfach, doch nach und nach machten sich erste Fortschritte bemerkbar. Das bringt mich auf eine Idee… Finn, was hältst du davon, wenn ich dir und den Kindern auch ein wenig Lesen und Schreiben beibringe? Im Austausch dafür, startest du mit mir einen zweiten Versuch und bringst mir das Bogenschießen richtig bei. Ich mag dir nämlich beweisen, dass ich so schnell nicht aufgebe! Na, wie findest du meinen Vorschlag?“ Finn tauschte kurz Blicke mit seinen Freunden aus, ehe er antwortete. Alle schienen von der Vorstellung begeistert, etwas zu lernen, dass ihnen bislang verwehrt geblieben war. „Also schön, dann machen wir es so. Im Übrigen wäre es ziemlich peinlich, als Soldat nicht lesen zu können… Man würde mich auslachen. Bis zu dem Fest, haben wir noch etwas über eine Woche Zeit. Bis dahin solltest du die Grundlagen des Bogenschießens beherrschen. Denn mir ist gerade ein genialer Einfall gekommen!“, sprach er enthusiastisch, als hätte er gerade eine Vision erhalten. „Als Soldat?“, wiederholte Miceyla neugierig. „Japp! Mein Traum ist es ein echter Soldat zu werden. Es muss ein unglaubliches Gefühl sein, für die Gerechtigkeit zu kämpfen und dabei von allen umjubelt zu werden“, schwärmte er träumerisch und blickte dabei zum fernen Horizont. „Heißt im Umkehrschluss, du willst in den Krieg ziehen und sterben. Die gegnerische Seite verteidigt auch nur ihre eigene Gerechtigkeit. Alles ist nur eine Frage der Sichtweise. Und wenn du bloß auf Anerkennung für deine Taten abzielst, bist du ein Heuchler. Ein wahrer Soldat der Ehre besitzt, vollbringt auch seine Heldentaten, obwohl niemand hinsieht“, belehrte Miceyla ihn, um seine Überheblichkeit ein wenig einzudämmen. „Urgh…! Du hast ein unglaubliches Talent dafür, die Vorstellungen von anderen zu zerstören. Was weißt du schon von Soldaten. Kümmere dich lieber um Mädchenkram, wie Sticken und Kochen. Ach stimmt, was den Haushalt betrifft, bist du ja ebenfalls eine unübertreffbare Niete. Du wärst sicher mal eine unglaublich miese Ehefrau. Aber wer will dich auch schon freiwillig heiraten. Bestimmt wirst du mal mutterseelenallein, von dieser Welt Abschied nehmen“, hänselte Finn sie unaufhaltsam. Eingeschnappt kehrte sie ihm den Rücken zu und verschränkte die Arme ineinander. Die anderen Kinder hatten sich bereits heimlich aus dem Staub gemacht. Wie kam es dazu, dass immer so schnell ein Streit zwischen Finn und Miceyla vom Zaun brach? Es wäre doch das Vernünftigste, einfach Freundschaft zu schließen. Warum schafften sie es nicht, eine friedvolle Konversation zu führen? „…Mir…mir tut es leid, Finn… Ich wollte nur ehrlich sein. Vertragen wir uns wieder? Komm schon, der Klügere gibt nach. Ich weiß selbst, wie das mit den eigenen Träumen ist. Aus dir wird sicher mal ein tapferer Soldat, wenn du fest daran glaubst. Mit einem starken Willen ist alles möglich! Lass dich von niemanden aufhalten“, suchte Miceyla nach versöhnenden Worten und drehte sich wieder zu ihm herum. Überrascht blickte er für eine Weile, in ihre leuchtend grünen Augen. Kurz darauf zeigte er sein schönstes Lächeln, einer freien und ungezähmten Seele. „Na klaro! Wenn ich meine Ziele erreichen kann, schaffst du das auch. Zumindest falls du hart an dir arbeitest, ha, ha!“ Die darauffolgenden Tage verbrachte Miceyla damit, fleißig das Bogenschießen einzuüben. Mit dem von Finn angefertigten Armschutz, konnte sie nun optimal über eine längere Zeit hinweg trainieren. Irgendwann war sie sogar selbstsicher genug, um ihn damit ärgern zu können, dass sie ihn bald übertreffen würde. An dem Abend vor dem Erntedankfest, saßen die Kinder alle gemeinsam um ein knisterndes Feuer herum. „Morgen ist der große Tag! Wir haben die Gelegenheit, so viel zu Essen zu schnappen, dass es beinahe für einen ganzen Winter reicht. Also hört meinen Plan: Fast alle Dorfbewohner, werden in der Mitte des Dorfes auf dem Festplatz versammelt sein. Und die ganzen Vorratskammern sind währenddessen unbeaufsichtigt. Wir nutzen den Moment und schaffen so viele Nahrungsmittel heraus, wie wir nur tragen können und solange uns die Zeit ausreicht. Auch Amelia wird mithelfen. Wir benötigen jede helfende Hand. Und damit wir auch wirklich nicht bei unserer Aktion erwischt werden, wird Miceyla die Dorfbewohner für uns ablenken. Du darfst morgen deine neuen Bogenschießkünste unter Beweis stellen. Ziele aus dem Verborgenen heraus, mit einem brennenden Pfeil, auf einen der Heu- und Strohhaufen in der Nähe des Festes. Die sorglos feiernden Leute werden in Panik geraten und damit beschäftigt sein, das Feuer zu löschen. Keiner wird unterdessen auf uns achten. Wir sind dadurch praktisch unsichtbar“, erläuterte Finn mit einer Stimme, die nur so vor Selbstüberzeugung trotzte. Miceyla stockte der Atem und ihre Hände begannen nervös zu zittern. Sie traute ihren Ohren kaum. „Ach du liebe Zeit… Finn, bist du denn von allen guten Geistern verlassen! Ist das dein Ernst, ich soll ein Feuer legen? Wir riskieren dadurch, das gesamte Dorf in Brand zu setzen! Du musst doch selbst wissen, wie rasch sich ein Feuer ausbreitet. Ein Funke genügt… Und wo wollt ihr das ganze Essen hinschaffen? Bei Sonne und Regen verdirbt alles. Dein Plan ist viel zu waghalsig und bietet keine Alternativen, falls etwas schief gehen sollte. Du bringst uns damit alle in Gefahr…“ mahnte Miceyla ohne jede Hoffnung, den Sturkopf umstimmen zu können. „Was schlägst du dann stattdessen vor? Das wir in den Wintermonaten an Hungersnot verenden? Betteln bringt uns auch nichts. Jede Familie die noch Güte besitzt, hat für sich selber kaum ausreichend Nahrung um satt zu werden. Und in der Stadt würden sie uns als Fußabtreter benutzen. Wir haben also gar keine andere Wahl! Wer nichts wagt, der hat auch keine Hoffnung und Zukunft mehr! Und unsere neuen Vorräte, bringen wir in dein hässliches altes Heim. Keiner interessiert sich für das abgelegene, leerstehende Haus. Die Hütte ist das beste Versteck“, meinte Finn und stand nach wie vor felsenfest hinter seiner Idee. `Zu mir nach Hause?!... Hach, es ist ohnehin nicht mehr mein Zuhause… Nein, es ist nie ein echtes Zuhause für mich gewesen…`, dachte Miceyla traurig und versuchte sich innerlich, von den vergangenen Zuständen in jenem Haus zu verabschieden. „Gut! Sind die Himmelszelt-Helden, wieder bereit für die nächste Schlacht?“, rief Finn motiviert und streckte seine rechte Hand nach vorne aus. „Na klar! Für den Sieg und einen vollen Magen!“, sprachen Lily, Theo und Henry begeistert. Dabei legten sie ihre eigenen Hände auf die von Finn. Nur Miceyla verharrte regungslos auf der Stelle. Und auch Amelia, hatte nur schläfrig ihren Kopf gegen sie gelehnt. „Und somit kam der Tag des Erntedankfestes. Eine Tragödie wurde ins Rollen gebracht, von der ich noch heute in meinen düstersten Träumen heimgesucht werde… Meine schrecklichen Vorahnungen, bescherten mir damals eine schlaflose Nacht. Die letzte, welche ich gemeinsam mit den Kindern verbrachte. Wer weiß, vielleicht hätten sich doch noch Freundschaften entwickelt, die ein Leben lang gehalten hätten. Da stand ich nun, mit Pfeil und Bogen in meinem Versteck. Es begann zu dämmern. Die ausgelassenen Stimmen der feiernden Dorfbewohner, schalten zu mir herüber. Und es wehte ein sehr ungünstiger Wind… Diese Nacht hat noch mehr Ängste in mir geweckt, als ich ohnehin schon besaß…“ `Das gefällt mur ganz und gar nicht… Bei dieser Windstärke, wird sich das Feuer viel zu schnell ausbreiten. Es bleibt nicht bloß bei einem brennenden Heuhaufen, ich sehe es kommen…`, befürchtete Miceyla und ihre innerliche Panik, wurde von Minute zu Minute heftiger. Da raschelte es auf einmal hinter ihr im Gebüsch. Instinktiv erschrak sie und fuhr zusammen. Doch als sie die Gestalt eines ihr bekannten Jungen erkannte, atmete sie erleichtert auf. „Finn! Du hast mich zu Tode erschreckt!“ „He, he! Du wusstest doch Bescheid, wann ich noch mal bei dir vorbeikomme. Ich zünde dir diese Fackel an und stecke sie hier in die Erde. Tunke einen der Pfeile, mit der Spitze in den Eimer mit der Flüssigkeit und halte ihn anschließend ganz kurz in die Flamme der Fackel. Die Pfeilspitze wird sofort Feuer fangen. Denke einfach immer an dein Training der vergangenen Tage zurück. Und warte gleich auf das Zeichen von Theo, wenn wir alle bereit sind“, erklärte er ihr mit der Ruhe weg und richtete alles Nötige für ihren Einsatz her. „Finn… Das hier ist kein schlichter Streich mehr. Das Leben von Menschen steht auf dem Spiel. Erwachsene sind außerdem unberechenbar…“, sprach Miceyla noch einmal gewissenhaft auf ihn ein und sah ihn mit einem ängstlichen Gesichtsausdruck an. „Herrje… Man hat dir wirklich jeden Funken Mut genommen. Die haben das Feuer in Nullkommanichts gelöscht, wirst sehen. Wenn Gefahr droht, kriegen sogar die Fettklöpse ihre dicken Hintern hoch. Halt mal still… Die langen offenen Haare werden dich nur stören. So, viel besser!“ Finn band ihr die Haare zu einem Zopf zusammen. Ein wenig aufgewühlt, tastet sie sich an das stramm gebundene Haarband. „D-danke…“ „Du darfst es behalten. Das ist jetzt dein neuer Glücksbringer!... Und… Du hast ein sehr hübsches Gesicht… Du brauchst es nicht zu verstecken…“, flüsterte er ungewohnt sanft. Miceyla war verblüfft und gleichzeitig verlegen, plötzlich solche unerwarteten Worte von ihm zu hören. Trotz allem zauberte es ihr ein Lächeln auf die Lippen und nahm ihr ein kleines bisschen die unheilvollen Befürchtungen. „W-was soll dieser seltsame Blick?“, stotterte Finn und gab sich unbeteiligt. „Endlich…hast du mal etwas Nettes gesagt… Ich wünsche dir und den anderen viel Glück. Passt gut auf euch auf… Du kannst dich darauf verlassen, dass ich mein Bestes geben werde!“, versprach die zum Abschied. „Dir auch viel Erfolg! Bis später!“ Er wollte schon davonstürmen, da rief sie noch einmal nach ihm. „Finn!... Wir…wir sind doch Freunde, oder?“ „Klaro, dessen kannst du dir sicher sein. Wahre Freunde gehen durch dick und dünn!“ Wieder lächelte er so siegessicher, als könnte er kein Wässerchen trüben. Es war ein Lächeln, welches sie niemals vergessen würde… Die Augenblicke während der Ruhe vor dem Sturm, fühlten sich an wie ganze Stunden. Miceyla wartete und wartete auf das Zeichen, um ihre Gräueltat zu beginnen. Sie meinte vor lauter Angst, innerlich zu erfrieren. `Ich…ich kann das nicht tun… Ich will das einfach nicht… Was wenn sich jemand ernsthaft verletzt oder sogar…` Ihre zweifelnden Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Theo ihr in der Ferne mit einer leuchtenden Laterne, dass Zeichen zum abfeuern gab. Sofort spannte sie ihren brennenden Pfeil und zielte auf einen großen Heuberg, der sich in unmittelbarer Entfernung, der feiernden Dorfbewohner befand. Ihr gesunder Menschenverstand war nun vollkommen unterdrückt. Schließlich ließ sie die Sehne los und der Pfeil traf beinahe zeitgleich sein Ziel. Daraufhin geschah alles so schnell, dass sie den Eindruck hatte, man wolle sie bestrafen und ihr extra die Zeit zum Handeln rauben. Ein kleiner Teil des Heuhügels, begann zuerst leise knisternd zu brennen. Doch in beängstigender Geschwindigkeit, breitete sich die überschaubare Flamme aus und verschluckte das ganze leichte Heu. Einen kurzen Moment später, stand die komplette Ansammlung des Heus in Flammen. Vorerst bemerkte keiner das grell leuchtende Feuer, da alle selbst um ein Lagerfeuer versammelt waren. Jedoch dauerte es nicht lange, da rümpfte eine Frau, welche dem brennenden Heuhaufen am nächsten saß, die Nase und sah sich prüfend um. „Feuer! Um Himmels willen, es brennt! Holt Wasser, Beeilung!“, schrie diese entsetzt und alle schossen nach ihrer Warnmeldung, wie in einer Kettenreaktion in die Höhe. Alle schrien panisch wild durcheinander und die meisten wirkten sehr orientierungslos. Aber einige kamen bereits mit randvollen Wassereimern angestürmt und versuchten verzweifelt die ersten Löschversuche. Ganz bestimmt wollte sich keiner von ihnen eingestehen, dass es längst zu spät war. Der kräftige Wind, blies einige der versenkten Heuhalme in Richtung einer Scheune, die nun ebenfalls rasch Feuer fing. Und noch ehe irgendjemand etwas retten konnte, lichterloh in Flammen aufging. `Das muss alles ein Alptraum sein! Was habe ich getan…? Oh nein! Nein! Direkt hinter der Scheune, befindet sich der Speicher mit der Vorratskammer! Ich muss Finn und die anderen schleunigst warnen!` Hastig löschte Miceyla die Fackel und kämpfte sich mit dem Bogen bewaffnet, durch das Gestrüpp aus ihrem Versteck heraus und umlief die von Furcht übermannte Menschenansammlung. Durch das lodernde Feuer, war ihre Umgebung trotz hereinbrechender Nacht hell erleuchtet. „Finn! Ihr müsst da raus, sofort! Die ganzen Holzbalken werden in sich zusammenstürzen, sobald das Feuer hier ankommt! Hörst du mir überhaupt zu?!“, alarmierte sie flehend ihre Weggefährten und versuchte hektisch einzuschätzen, wie viel Zeit ihnen noch zur Flucht blieb. „Noch eine Ladung; dann sind wir hier weg. Pack am besten mit an“, sprach Finn beinahe desinteressiert über die hereinbrechende Bedrohung. Aufgrund ihrer Panik merkte sie nicht, dass er seine eigenen Gewissensbisse, krampfhaft mit Mut zu überspielen versuchte. „Weißt du was, du widerst mich einfach nur an! Während du hier egoistisch an deinen blöden Vorrat denkst, kämpfen Menschen gerade um ihr Zuhause, ihre einzige Heimat. Ich hätte niemals bei diesem blöden Plan mitmachen sollen! Nein noch besser, ich hätte mich dir niemals anschließen sollen!... Ist Amelia etwa auch…!“ Miceyla überkam eine ungeheure Wut, doch ihre Selbstvorwürfe waren bei weitem drastischer. Finn ignorierte sie schlichtweg und verschwand wieder im Speicher. Da entdeckte sie schockiert Theo, der den Eingang bewacht hatte und nun einem stämmigen Mann gegenüberstand. Dessen Augen waren vor Zorn und Angst rot unterlaufen und er funkelte den zitternden Jungen unbeherrscht an. „Ihr verabscheuungswürdigen Rotzlöffel seid das gewesen! Euch Teufeln werde ich nun den Garaus machen! Kommt und holt euch eure Strafe ab!“, zischte der Mann mordlustig und richtete eine Pistole auf den kleinen Jungen, der sich ängstlich mit einer großen Mistgabel zu verteidigen versuchte. „Lauf weg, Theo! Dagegen kommst du nicht an!“, rief Miceyla verzweifelt. Doch noch ehe er überhaupt reagieren konnte, drückte der Mann gnadenlos ab und traf den gebrechlichen Jungen mitten auf der Brust. Augenblicklich fiel er nach hinten zu Boden und Blut sammelte sich um seinen zierlichen Körper. „Theo! Neiiiiiin!“ Ohne lange nachzudenken rannte sie auf den Mann zu und holte weit mit ihrem harten Holzbogen aus. Sie versetzte ihm einen solch kraftvollen Hieb gegen sein Schienbein, dass er ins Straucheln geriet und sie erzürnt zu packen versuchte. Doch er besann sich eines Besseren, als er mit schockierter Miene einen Blick hinaufwarf. Kurz darauf ergriff er die Flucht. Miceyla wirbelte herum und verstand sofort warum. Mit hämmerndem Herzen warf sie den Bogen fort und kniete sich kurz neben den leblosen Theo. „Bitte sprich mit mir… Du darfst nicht sterben…“ Sie musste sich eingestehen, dass für ihn jede Rettung zu spät kam. Zum Trauern blieb für sie keine Zeit, da sie sich vergewissern wollte, ob die anderen Kinder wohlauf waren. Gerade erreichte sie den Speicher, da sah sie wie Finn zusammen mit Lily und Henry herausrennen wollte. An ihren verschreckten Gesichtern konnte Miceyla ablesen, dass auch sie endlich den Ernst der Lage begriffen hatten. „Nein! Vorsicht! Bleibt stehen!“ Ihr kreischender Warnschrei ging unter, als die komplette Vorderwand krachend in sich zusammenstürzte und somit nun den Eingang versperrte. Miceyla wich stolpernd zurück und rieb sich die Augen, welche vor lauter Rauch höllisch brannten. Als sie wieder ein einigermaßen klares Sichtfeld bekam, wollte sie den Anblick nicht wahrhaben, der sich vor ihr erbot. Die drei Kinder lagen unter etlichen, schweren Holzbalken begraben. Lily und Henry hatten ihr Bewusstsein verloren und rührten sich nicht mehr. Nur Finn war noch bei Bewusstsein und wollte sich unwillkürlich wieder erheben. Jedoch fehlte es ihm an Kraft, seine Beine unter dem ganzen Schutt hervorzuziehen. Mit schmerzverzehrter Miene, tastete er sich an seinen blutenden Kopf und blickte in Miceylas Richtung, bevor die Flammen seine Sicht nahmen. „K-kümmere…dich …nicht um uns… Rette Amelia… Sie ist dort hinten…hinaufgeklettert…“, keuchte er mit schwerem Atem und zeigte in den hinteren Bereich der Vorratskammer. „Es…tut mir leid…Miceyla…“ Seine letzten flüsternden Worte konnte sie nicht mehr hören, da sie bereits um das brennende Gebäude herumhechtete und zu der einzigen Seite rannte, welche noch nicht vollends in Flammen stand. Mit Ruß und Schweiß bedeckt, kletterte sie zu dem niedrigsten Fenster empor und hievte sich hinein. Sie keuchte schwer und musste darauf achten, nicht zu viel Rauch einzuatmen. Durch zusammengekniffene Augen blickte sie in die qualmende, halb zerfallene Vorratskammer hinein und fand Amelia, wie sie an einem erhöhten Holzbalken baumelte. Mit den letzten Kräften, bemühte sich das kleine Mädchen darum sich krampfhaft festzuhalten. Mit ihren zierlichen Händen, drohte sie jeden Moment abzurutschen. `Du meine Güte! Wie ist die Ärmste bloß bis da hinaufgekommen?` „Amelia! Ich bin gleich bei dir! Bitte lasse nicht los!“ Inständig betete Miceyla, noch rechtzeitig bei ihr zu sein. „Miceyla! Hilfe!“, wimmerte Amelia verzweifelt und weinte bitterlich. `Sei tapfer, meine kleine Freundin…`, dachte Miceyla beklommen und stieg von dem Fenster aus, auf den schmalen Holzbalken, an dessen Ende das verängstigte Mädchen hing. Die Flammen drohten das komplette Haus zu verschlingen. Miceyla zog sich mit beiden Armen vorwärts, um zu ihr zu gelangen. Dabei musste sie angesträngt darauf achten, nicht selbst hinunter zu stürzen. Es knackte bedrohlich vor ihr im Holz und es bildeten sich kleine Risse. „Ich schaffe es nicht weiter nach vorne, der Balken wird brechen. Versuche meine Hand zu greifen!“ Miceyla streckte so weit es nur ging, ihre Hand zu ihr aus. Trotz ihrer Todesängste, besaß Amelia noch genug Überlebenswillen, um sich verbissen darauf konzentrieren zu können, die rettende Hand zu packen. Jedoch befand sich noch immer ein zu großer Abstand zwischen den beiden. Ein Stück rutschte Miceyla weiter vor. Dabei begann das Holz sich unter ihr zu spalten und bohrte sich wie ein spitzer Pfahl in ihren Oberschenkel. Sie schrie kurz auf vor Schmerz und schob sich dennoch weiter, um Amelias Hand endlich erreichen zu können. „Gleich…ist es geschafft… Dann ziehe ich dich hoch… Und wir fliehen in Sicherheit… Ich werde immer bei dir bleiben. Vergiss unser Versprechen nicht… Lass…lass mich bitte nicht im Stich. Nicht aufgeben…“, sprach Miceyla mutmachende Worte. Ganz flüchtig berührten sich ihre Hände. Da rutschte Amelia mit der anderen Hand urplötzlich ab und stürzte schonungslos auf den Untergrund zu, wo die heißen Flammen darauf warteten, über sie herzufallen. „Neiiiiiin! Amelia“, schrie sie sich die Stimme aus dem Leib und ein letztes Mal blickte sie in ihre blutjungen Augen, die niemals mehr den nächsten Morgen miterleben würden. Kurz darauf prallte sie auf den Boden und verlor auf der Stelle das Bewusstsein. Regungslos kauerte Miceyla weiterhin oberhalb. Blut floss aus ihrer pochenden Wunde und all ihre Hoffnungen, waren mit den Kindern in den Flammen untergegangen. Sie hätte einfach auf ihren eigenen Tod warten können und trotzdem hangelte sie sich zurück und ließ sich aus dem Fenster in das weiche Gras fallen, da ihr gesamter Körper gelähmt war. Energielos kroch sie über die Erde, um weit genug von dem Feuer wegzukommen. Irgendwann sackte sie zusammen und blickte noch einmal in das Dorf zurück, von dem bald nicht mehr viel übrigbleiben würde. `Warum…soll gerade ich weiterleben? Wo es in dieser ungerechten Welt, ohnehin keinen Platz für mich zu geben scheint…` Knapp eine Woche später, konnte Miceyla sich wieder einigermaßen auf den Beinen halten. Doch ihre Seele hatte Wunden davongetragen, die in ihrem restlichen Leben niemals komplett verheilen sollten. Für jedes der fünf Kinder, errichtete sie ein Grab, in der Nähe ihres geheimen Lagerplatzes. Auch wenn es nur leere Gräber waren. Liebevoll setzte sie den kleinen Stoffhasen auf Amelias Grab. „Wir sehen uns eines Tages im Himmel wieder. Wartet solange auf mich. Jetzt habt ihr endlich euren festen, friedlichen Platz gefunden. Ich werde leben um Buße zu tun. Schließlich ist es meine Pflicht, euch nicht einfach zu vergessen. Lebt wohl, ihr Himmelszelt-Helden…“ „Gerade mal kurze drei Monate, verbrachte ich mit den Waisenkindern. Nach dem Drama, schlug ich mich noch einige Wochen alleine durch, ehe ich auf schicksalhafte Weise meinen Pflegeeltern begegnete, die mich sofort ins Herz geschlossen hatten. Ich war nur noch ein Hungerhaken und vollkommen antriebslos. Sie mussten sicher alle Mühe gehabt haben, um mich wieder aufzupäppeln. Nun, das war sie, die größte Tragödie meiner Vergangenheit. Eine Last, welche sich tief in meinem Herzen eingenistet hat…“, endete Miceyla ihre leidvolle Geschichte und fühlte einen dicken Kloß im Hals, bei den ganzen tristen Erinnerungen, die sie gerade wachrüttelte. Moran hatte während ihrer gesamten Erzählung, kein einziges Mal dazwischengeredet. Er hielt etwas den Kopf gesenkt und stützte sich nachdenklich mit den Ellenbogen auf den Beinen ab. „Dann kennst du ja tatsächlich das Gefühl, wie es ist seine Kameraden zu verlieren… Du musstest einiges durchstehen, mein lieber Scholli… Jetzt weiß ich auch, woher der verborgene Ausdruck von Stärke in deinen Augen kommt. Dieser Finn scheint mir ein kühnes Bürschchen gewesen zu sein. Ein bisschen wie unser William, ha, ha. Also war der Bub deine erste Liebe, huh?“, neckte er sie mit einem zaghaften Lächeln, um ihre Stimmung ein wenig zu erheitern. „U-unsinn! Er war…so etwas wie mein Vorbild. Und Finns Intellekt, reichte nicht mal annähernd an den von Will heran. Vom Charakter her war er viel zu hitzköpfig und übermütig. Allerdings waren Tapferkeit und selbstloses Handeln seine Stärken. Aus ihm wäre ein herausragender Soldat geworden…“, sprach sie wehmütig. „Und wenn man es genau betrachtet, warst du sogar Teil eines Verbrechens…“, murmelte Moran. „Du sagst es… Das Ganze war mein Verschulden. Jedoch, wenn ich den brennenden Pfeil nicht abgeschossen hätte, so wäre es eine Tat von Finn geworden. Dennoch bleibt und ist es eine furchtbare Dummheit von mir. Meine Narbe am Bein, erinnert mich tagtäglich daran. Klar, viele der garstigen Menschen im Dorf, haben mal einen kleinen Schock verdient und dennoch gab es auch gutherzige unter ihnen. Am Ende verloren wir den Kampf ums Überleben. Wir die Schwächeren, mussten vor den Stärkeren kapitulieren. Es sind letztendlich die fatalen gesellschaftlichen Unterschiede, welche zu solchen Übergriffen führen… Vielleicht ist es mein erneutes Schicksal, auf dich und die Brüder gestoßen zu sein. Auf diese Weise kann ich meine Sünden begleichen und im Gegenzug erhalte ich Wertschätzung, die ich niemals richtig erfahren durfte. Aber… Ich wurde dazu genötigt ein Feuer zu legen, Will tat es mit seinen Brüdern aus purer Absicht, darüber bist du sicher selbst im Bilde. Alles was ich zu verhindern versuchte… Sobald ich daran denke…wird mir ganz schummrig zumute…“, gestand Miceyla ehrlich und wagte erst jetzt, seinen Blickkontakt zu suchen. „Du weißt, dass wir alle dazu bereit sind, die Konsequenzen dafür zu tragen. Wir entschieden uns für den Weg eines Sünders, der im Verborgenen die verschollene Gerechtigkeit in diese Welt zurückholt. Du kannst dir doch bestimmt vorstellen, wie viele Menschen ich im Krieg erschossen habe… Die Leichen häufen sich um dich herum, mit deinen eigenen Kameraden darunter. Gerade eben saßt du noch mit ihnen am Tisch und ihr habt etwas zusammen getrunken, da liegen sie plötzlich tot neben dir. Doch als Soldat befolgst du lediglich deine Befehle und versuchst als Anführer für Sicherheit zu sorgen. Selbst wenn man weit genug aufsteigt und selbst die Vorrechte hat, anderen Befehle zu erteilen, macht dies das Ganze nicht einfacher. Denn Verantwortung ist eine sehr schwere Bürde. Mit dir und den Kindern ist es nicht anders gewesen. Du hast Finns Anweisungen ausgeführt und wolltest euch dadurch das Überleben sichern. Wenn von außen keine Hilfe zu erhoffen ist, muss man eben zu härteren Maßnahmen greifen. Wie du schon sagtest, dies ist die Problematik unserer Gesellschaft. Lass dich nicht zu sehr von deiner Vergangenheit zerfressen. Wir haben alle unsere Gründe für die Entscheidungen, welche wir treffen. Einen Grund zum Leben, sollte man sich von niemanden nehmen lassen. Jene die einen Krieg überlebt haben, entwickeln die stärksten Persönlichkeiten…“, sprach Moran Miceyla ins Gewissen und legte ihr freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. „Und genau das ist es ja, was ich nicht akzeptieren kann! Wir lassen unsere verstorbenen Freunde zurück und langsam löschen wir alles, was wir mit ihnen in Verbindung bringen. Das die Zeit alle Wunden heilt, ist eine gewaltige Lüge. Mag sein, dass es erträglicher wird und es einen abhärtet. Blicke nach vorn… Schließe Frieden mit dir und deiner Vergangenheit… Lerne zu vergeben und zu vergessen… Ich kann das nicht mehr hören! Erinnerungen sind ein wertvoller Teil von uns, geliebte verstorbene Menschen sind ein unersetzbarer Teil von uns. In Wahrheit bin ich stets en Schatten meiner Selbst gewesen… Dank William, finde ich vielleicht wieder zu meinem verloren gegangenen Lebenswillen zurück… Moran! Du bist doch auch der Meinung, dass Helden nicht in Vergessenheit geraten dürfen! Ich werde für die Waisenkinder und deine gefallenen Kameraden Kerzen anzünden. Ebenfalls für die Menschen, welche wegen uns ihr Leben lassen mussten und alle zukünftigen… Auch wenn es hunderte von Kerzen werden! Das ist mir gleichgültig. Ihnen gebührt dieser Respekt“, beschloss Miceyla emotional und packte ergriffen den Arm von Moran. Perplex riss er die Augen weit auf und blickte sie einfach nur sprachlos an. „Meine Güte… Ich weiß gar nicht, was ich auf deine impulsiven Worte antworten soll… Alles was ich dir versprechen kann ist, dass du meine vollste Unterstützung hast und das wir uns die Bürde teilen. Keine Opfer sind umsonst. Ich hätte da noch eine Frage. In welchem Dorf hast du damals gelebt und leben die heimtückischen Bauern immer noch dort?“, fragte er grübelnd. Langsam löste sie wieder ihren Griff von ihm und sah abwesend zu Boden. „Ein kleines, namenloses Dorf in der Nähe von Harefield… Ja, sie sind seit vielen Generationen dort ansässig. Soweit ich weiß, wurde das Dorf sogar noch weiter ausgebaut. Spuren eines Brandes, gibt es dort keine mehr“, meinte sie bedrückt. „Hm… So, so…“, brummelte Moran bloß und bekam einen eigenartigen Gesichtsausdruck. „Komm mir ja nicht auf dumme Gedanken“, sagte sie und lächelte zaghaft. Miceyla konnte genau erraten, was ihm gerade vorschwebte. „Nicht doch. Alleingänge sind mir strengstens untersagt“, erwiderte er grinsend. „Gut so…“ Gedankenversunken betrachtete sie ein flaches Holzbrett, dass an der Tür von der Waldhütte hing. „Du hast nicht zufälligerweise ein Messer parat?“, fragte sie geheimnistuerisch. „Na aber klar doch. Gehört zu meiner Grundausstattung. Hier. Was hast du jetzt nur wieder vor?“ Er überreichte ihr mit hochgezogenen Augenbrauen, ein scharfes Messer. Anschließend sprang sie sofort auf und nahm das Brett von der Tür. Als Miceyla sich anschließend damit zurück auf den Baumstumpf setzte, begann sie etwas mit dem Messer dort hinein zu ritzen. Sobald sie ihr Werk vollbracht hatte, zeigte sie Moran freudestrahlend das Holzbrett. „`Himmelszelt-Helden`…“, las er leise vor und lächelte sanft. Schweigend hang sie das Brett wieder an die Tür und legte sich mit einem wehmütigen Blick, die Hand auf das Herz. „Na komm, lass uns heimkehren. Zwar haben wir heute nicht allzu viel erreicht, aber in der nächsten Zeit, kommen wir ja öfters hierher. Und momentan bietet das Wetter die besten Voraussetzungen zum Trainieren. Nicht zu kalt und nicht zu warm. Ich pack noch eben schnell die Waffen zusammen, dann können wir aufbrechen. Und keine Bange, diesmal nehmen wir den richtigen Weg“, verkündete Moran entspannt und reckte sich genüsslich. „Super! Danke, dass du mir so geduldig zugehört hast. Und ich freue mich schon auf unser nächstes Training… Meister…“, sprach Miceyla lächelnd und sah ihn etwas verlegen an. „Meister…? Ich…?“, wiederholte er verwundert. „Ja… Ich glaube in dir habe endlich einen echten Meister gefunden. Bei wem sonst könnte ich so viel über Kriegskunst lernen. Also… Wenn du nichts dagegen hast, würde ich dich sehr gerne so nennen. Ein klein wenig fühle ich mich dabei schon, wie eine richtige Soldatin. Denn es gibt da jemanden, den ich um jeden Preis beschützen will. Daher muss ich stärker werden“, sagte sie mit glücklicher Miene. „Hm… Es ist zwar etwas seltsam, aber wenn du unbedingt darauf bestehst. Doch nenn mich bloß nicht vor den anderen so. Sonst kommt das nur wieder falsch rüber. Da fällt mir ein… Ich schätze ja, dass du mich ausgewählt hast. Doch warum hast du dich nicht Albert anvertraut? Er wäre für dich bestimmt noch geeigneter als ich. Jetzt komm mir nicht mit der Ausrede, er sei zu beschäftigt“, erkundigte Moran sich nach dem Grund für ihre Entscheidung. Ihr Blick trübte sich und sie schwieg einen Moment. „Mit ihm …ist alles ein wenig komplizierter“, murmelte sie knapp. „Warum das denn auf einmal? Ihr beide versteht euch doch prächtig. Ach egal. Komm, lass uns gehen.“ Munter plaudernd liefen die zwei zum Anwesen zurück. Dort angekommen, hatte Miceyla erst einmal vor sich frisch zu machen, da sie so aussehen musste, als ob sie eine halbe Weltreise hinter sich hätte. Ihr war bewusst, dass die Chance relativ gering war unentdeckt zu bleiben. Daher wunderte sie sich nicht, als Albert mit ein paar Briefen in der Hand aus dem Wohnzimmer schlenderte und sie zusammen mit Moran den Eingangsbereich betreten sah. „Wo seid ihr so lange gewesen? Und Miceyla…diese Kleidung…“, meinte Albert und musterte sie skeptisch. Er schien alles andere als begeistert, über ihr chaotisches Erscheinungsbild zu sein. Es stand außer Frage, dass er sie hübsch zurechtgemacht bevorzugte. Irgendwie amüsierte sie sein frustrierter Gesichtsausdruck aber auch ein wenig. „Wir waren an einem geheimen Ort trainieren, wie waschechte Soldaten! Denn ich muss euch doch tatkräftig zur Seite stehen können. Nicht wahr, Meister?“, sprach Miceyla euphorisch und knuffte Moran neckend in den Arm. „Hey! Was habe ich dir vorhin gesagt?!.“, beschwerte dieser sich verärgert. Sie grinste bloß unschuldig. „Meister…? Ja, mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr beide nun Kampftechniken einübt. Stärke macht dich noch schöner, meine liebreizende Eisblume. Und dennoch erhoffe ich mir, dass du nicht zu viel von deiner zarten Weiblichkeit verlierst. Es würde mir das Herz brechen, wenn du mich nicht mehr in einem wunderschönen Kleid, begrüßen kämst. Hier in unserem Zuhause, wo ich dich in Sicherheit weiß und immer ein Auge auf dein Wohlergehen haben kann“, meinte Albert unsagbar sanft und fuhr ihr zärtlich mit einer Hand, über ihr leicht zerzaustes Haar. Anschließend streichelte er so sachte ihre Wange, als wäre sie aus Porzellan. Augenblicklich bekam Miceyla eine Gänsehaut, bei seiner liebevollen Berührung. Sie hätte sich selbst etwas vorgemacht, wenn sie sich einredete, dass ihr dies nicht gefiel. Allmählich sah sie wirklich einen großen Bruder in ihm, der sie beschützen wollte. Wenn auch auf eine ganz besondere Art und Weise… `Ich bin keine Puppe, Albert… Ich mag mich nicht ständig klein und schwach fühlen. Auch ich wünsche mir, Ziele aus eigener Kraft erreichen zu können…`, dachte sie beharrlich und wurde trotzdem mit einem pochenden Herzschlag schwach, als sie in seine tiefgrünen Augen sah. „Moran mein Guter, solltest du Miceyla irgendwann einmal verletzt nach Hause bringen, werde ich meine neuen `Trainingsmethoden` an dir ausprobieren“, warnte Albert ihn mit einem teuflischen Lächeln. „Ich gebe darauf Acht, dass sie keinen Kratzer bekommt. Will ja schließlich noch meinen Kopf behalten, ha, ha“, versprach Moran daraufhin und verhielt sich vor dem Ältesten der Moriarty-Brüder so respektvoll, wie es sein unzüchtiges Wesen zuließ. „Oh Mann, von allen Seiten werde ich hier in die Enge getrieben… Und wie soll man so anständig trainieren…?“, murmelte er noch etwas genervt und entfernte sich. „Ich freue mich darauf, bald das erste Resultat deines praktischen Trainings zu sehen. Mute dir aber nicht zu viel zu und sei stets vorsichtig. Rasche Fortschritte kommen nicht über Nacht und brauchen Geduld. Perfektion entspringt deinen eigenen Überzeugungen. Präge dir das gut ein, Schwesterherz“ „Ich bleibe immer bedachtsam. Da ich nun nicht mehr alleine bin und Menschen gefunden habe, die mir sehr am Herzen liegen, passe ich gut darauf auf, euch keinen Kummer zu bereiten…Bruderherz…“ Der Tag ging zu neige und draußen wurde es stockduster. Miceyla lief im Wohnzimmer hin und her, von einer Stelle zur nächsten und zündete, wie sie es angekündigt hatte, eine Kerze nach der anderen an. Im Geheimen hatte sie beinahe das gesamte Anwesen, nach den verschiedensten Kerzen abgesucht und überall im Raum verteilt aufgestellt. Auf den Tischen, Stühlen, sogar auf dem Boden, sie ließ keinen Platz aus. Geruhsam zündete sie die letzte Kerze an und blickte sich um. Sie stand umringt von etlichen, friedlich flackernden Lichtern. Inmitten von kleinen, tanzenden Feuern. Furcht übermannte Miceyla, als sie ihre rechte Hand, zu einer der zart leuchtenden Flammen ausstreckte und die prickelnde Hitze auf der Haut zu spüren bekam, in der eine immense Macht schlummerte. Dabei stellte sie sich vor, wie es sein musste, in einem glühenden Feuer zu verbrennen. Keinen qualvolleren Schmerz könnte sie sich vorstellen, als einen langsamen, leidvollen Tod zu sterben. Sie wollte dennoch nicht wegschauen, sich dieser Furcht stellen und an all die Menschen denken, welche auf grausame Weise ihr Leben lassen mussten. Moran stand schon eine ganze Weile an der Tür und beobachtete sie im Stillen. „Da bin ich wieder… Ach du liebes bisschen! Weshalb brennen hier denn so viele Kerzen? Das ist ja das reinste Flammenmeer.“ William betrat das mit Lichtern überflutete Wohnzimmer und Miceyla fand bei ihm einen Gesichtsausdruck des puren Erstaunens vor, den sie bislang nur selten gesehen hatte. Moran fuhr sich bloß mit nachdenklicher Miene, durch seine schwarzen Haare, dann wandte er sich schweigend ab. Miceylas und Williams Blicke trafen sich. Seine rubinroten Augen spiegelten das Kerzenlicht wider, welches sie beide umgab. Auch er selbst verströmte eine feurige Hitze. Jedoch fürchtete sie sich nicht vor seiner verborgenen Kraft. Viel eher war sein Glühen wie ein schützendes Funkeln, dass sich sanft um sie legte. Während ihre Blicke miteinander verschmolzen, konnte sie sich auf einmal vorstellen, dass sie beide die Fähigkeit besäßen, unbeschadet durch das erbarmungsloseste Feuer zu schreiten, solange sie nur füreinander da wären. Gemächlich schritt William auf Miceyla zu und gesellte sich zu ihr in die Mitte des Raumes. Zärtlich legte er seine Arme um sie, als wollte er sie von all den bedrohlichen Flammen abschirmen. „In deinen Augen schimmert die Angst, noch mehr zu verlieren, als du es ohnehin schon getan hast. Und die Trauer, vergangene Fehler und falsche Entscheidungen nicht begleichen zu können. Ebenso die Zweifel, ob du den richtigen Weg für die Zukunft gewählt hast. Zu guter Letzt funkelt darin noch der starke Wille, die schönen Seiten des Lebens nicht zu vergessen und dankbar zu sein für jeden neuen Tag, an dem du dir sagen kannst: `Es ist wert niemals aufzugeben und die etlichen Wunder dieser Welt zu erforschen.` Du brauchst keine Angst vor den Flammen zu haben. Werde selbst zu einer unaufhaltsamen Flamme und besiege das erstickende Feuer um dich herum. Lass uns gemeinsam brennen. Unaufhaltsam und endlos. Ich werde dein verwundetes Herz heilen, meine Liebste“. Seine Worte hatten eine wahrlich magische Wirkung auf sie. Es fühlte sich für Miceyla an, als wäre sie schwerelos und würde von ihm davongetragen werden. Weit weg, von all den auflauernden Gefahren, welche in den Schatten auf sie warteten. „Ich liebe dich, Will…“ Nach ihren flüsternden Worten, beugte er sich etwas zu ihr hinab und küsste sie sanft auf die Lippen, während sie in einem Flammenmeer standen, das aus unzähligen Kerzen bestand. In jedem der ruhigen Lichter schlummerte eine Seele, die zwar bereits erloschen war, doch in den Herzen der Menschen, niemals in Vergessenheit geraten würde. Liebes Tagebuch, 23.3.1880 widerwillig habe ich die schrecklichen Facetten meiner Vergangenheit wachgerüttelt. Es ist erschreckend, wie fest Verluste einen in der Hand haben können. Ich kann gut nachvollziehen, weshalb viele Menschen schnell gereizt und empfindlich auf gewisses Gesprochene reagieren. Oft verbirgt sich ein triftiger Grund dahinter. Woher wissen wir, was eine Person alles durchstehen musste? Und welche Gefühle verletzt wurden? Vielleicht fällt es der Person auch schwer, ihr Umfeld oder gar sich selbst zu akzeptieren. Was für eine Weltanschauung wir erlernen, wird bereits bei der Geburt festgelegt. Wir werden in ein Grundmuster hineingeboren und ahmen die Lebenseinstellung unserer Mitmenschen nach. Aber warum wird es als unzüchtig angesehen, aus diesem Schema ausbrechen und einen neuen Lebensweg beschreiten zu wollen? Es muss doch gerecht sein, wenn man eine Gabe besitzt, von unten nach ganz oben aufzusteigen. Während ich die Menschen betrachte, sehe ich meistens nur, wie sie sich oberflächlich und mit lauter Vorurteilen begegnen, Ich jedoch mag die wahren Hintergründe verstehen lernen. Eine scheue Seele hat nicht immer den Mut, sich anderen zu öffnen. Und auch hinter dem kühnsten Lächeln, verbirgt sich oftmals eine zermürbende Trauer. Ich werde mein Umfeld gut beobachten und wer weiß, ob ich nicht dem ein oder anderen eine herzzerreißende Geschichte entlocken kann, die zuvor nicht dagewesenes Mitgefühl anderer weckt. Gerechtigkeit ist nichts, was man erzwingen kann. Es beginnt damit, dass jeder einzelne sein eigenes Handeln reflektiert und die Fehler von sich selbst und seinem Gegenüber vergibt. Für einen Neuanfang ist es nie zu spät. Das Leben hält immer wieder neue Entdeckungen parat, die uns herausfordern und bereichern. Helden die ihr Leben riskiert haben, um geliebte Menschen zu beschützen und der Gefahr trotz eigener Ängste mitten ins Auge blickten, verschwinden nicht einfach. Sie leben unsterblich in unseren Erinnerungen weiter und gehen in die Geschichte ein. Vergessene Helden des Krieges Erstickender Schwefel, brennende Erde, Soldaten stürmen aufeinander zu wie eine wilde Herde. Hektisches Kreischen, brüllende Kanonen, die Strategie des Krieges sollte sich nicht länger lohnen. Tobender Sturm, fallende Kameraden, die Gewehre werden von neuem geladen. Listige Intrige, gebrochenes Versprechen, die Feinde werden sich ohne ein jähes Ende rächen. Flüchtiger Sonnenstrahl, schmerzende Wunden, die Generäle drehen erneut ihre Runden. Stilles Opfer, Frieden in der Ferne, von der wahren Treue erzählen bloß nur noch die Sterne. Glücklose Illusion, rostendes Schwert, die gefühlskalte Grausamkeit welche jedem widerfährt. Starker Wille, vergessener Held, die Zukunft sich dem letzten Gefecht gegenüberstellt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)