The Diary of Mrs Moriarty von Miceyla ================================================================================ Kapitel 13: Rosenprinz ---------------------- „Träume sind etwas Wundervolles. In Träumen können wir mit der Person zusammen sein, die wir am meisten lieben.“ „Du kannst mir den Trichter wiedergeben und halte das Glas genau hier. Nicht wackeln! Wehe du verschüttest mir auch nur einen Tropfen!“, wies Sherlock Miceyla konzentriert an und drückte ihr dabei vorsichtig ein Reagenzglas, mit einer blubbernden Flüssigkeit darin in die Hand. Sie hatte sich von ihm dazu überreden lassen, ihm bei einem seiner spontanen Experimente zu assistieren. Auch wenn ihr seine ganzen eigenen Kreationen nicht ganz geheuer waren, beobachtete sie interessiert sein Geschick, das dem eines geübten Chemiker-Experten gleichkam. „Sag mal, was hast du vorhin eigentlich für ein feines Buch gelesen, als ich reinkam? Man sieht dich selten so aufmerksam in einem Roman lesen, ha, ha“, fragte sie neugierig und bemühte sich darum, dass schmale Glas gerade zu halten, während sie darauf wartete, es wieder zurück in die Halterung stellen zu dürfen. „Oh, dieses hier? Den Inhalt des Buches müsstest du am allerbesten kennen. Schau mal wer der Autor ist. Kommt dir der Name bekannt vor?“, meinte Sherlock grinsend, zückte jenes nagelneue Buch mit einem blauen Einband und hielt es präsentierend in die Höhe. „Ach wirklich?... A-aber das ist ja mein Name! Nein, sag bloß mein Manuskript wurde schon fertig gedruckt und gebunden?! So schnell? Dann ist die Antwort des Buchhändlers doch glatt in meiner ganzen Post untergegangen. Da verpasse ich tatsächlich die Veröffentlichung meines ersten, eigenen Buches. Oh Mann, ha, ha. Wie ist bisher dein Eindruck? Deine Meinung bedeutet mir sehr viel. Bitte, bitte sage es mir!“, sprach sie überrascht und war sofort überglücklich. „Das solltest du ihn lieber nicht fragen. Er hat keine Ahnung von guter Literatur. Ach und danke übrigens, dass du heute meinen Platz als sein Sklave eingenommen hast“, bedankte sich John, der lächelnd an der geöffneten Tür stand. „Das mache ich doch gern. Wie oft hat man denn schon die Gelegenheit, ein chemisches Experiment durchzuführen und…huch!“ Miceyla bemerkte plötzlich, dass sich ihre Füße am Boden, in einer Art Kordel verheddert hatten. `Herrje, wann ist das denn passiert?! Sherlocks Chaos lässt mal wieder grüßen…`, dachte sie verzagt und versuchte sich irgendwie ungeschickt zu befreien, ohne sich bücken zu müssen. Jedoch machte sie alles nur noch schlimmer und die Knoten zogen sich immer fester zusammen. Schließlich verlor sie das Gleichgewicht. Sie hätte sich problemlos an dem Tisch festhalten können, allerdings wäre sie so das Risiko eingegangen, dass die ätzende Flüssigkeit über ihre Hand lief. „Miceyla, Achtung!“, schrie John schockiert und wagte kaum hinzusehen. Sherlock reagierte ohne Umschweife. Er schlug ihr das Reagenzglas aus der Hand, sofort zersprang das dünne Glas und die Flüssigkeit floss zischend über den Boden. Und ehe Miceyla sich versah, fand sie sich in Sherlocks Armen wieder. „Oh Schreck. Wir wollen doch nicht dein hübsches Gesicht ruinieren. Sieh an, die Schnur suche ich schon seit Tagen!“, sprach er gelassen und blickte belustigt zu dem verknoteten Seil, welches sich um ihre Füße geschlungen hatte. Sie errötete, als sie so nah bei ihm stand und hüpfte etwas zur Seite, um sich von der Kordel zu befreien. „A-also wirklich! Wer bitteschön sucht etwas, dass sich direkt vor seiner Nase befindet?! Dir ist echt alles zuzutrauen“, meinte sie verlegen und war dennoch amüsiert. „Du benimmst dich seltsam. Alles in Ordnung?“, erkundigte Sherlock sich beiläufig mit einem eindringlichen Blick. „Bin mir nicht sicher, was du von mir hören willst, aber du bist es doch selber schuld“, meinte sie nur grinsend. „Ich glaube es ja nicht! Sherlock, das hätte mal wieder ins Auge gehen können! Du schaufelst dir irgendwann noch, in diesem Chaos dein eigenes Grab! Ach was rege ich mich eigentlich immer darüber auf… Zwecklos. Ich bin in meinem Zimmer, falls mich wer sucht“, sprach John aufmüpfig und entfernte sich leise fluchend. „Was ist hier denn schon wieder für ein Radau? Ich sehe wohl nicht richtig! Wer ist für diese Sauerei verantwortlich?“, fragte eine wütende Emily, mit auf der Hüfte abgestützten Händen. „Tut mir leid… Mir ist ein kleines Missgeschick passiert…“, entschuldigte Miceyla sich kleinlaut. „Nein, es ist mein Verschulden. Der Auslöser war ganz eindeutig, die dezente Unordnung in diesem Raum. Ich bringe das selbst wieder in Ordnung, Mrs Hudson“, verteidigte Sherlock sie und begann mit einem Besen die Scherben zusammenzukehren. Emily rollte mit den Augen und lief wieder seufzend die Treppe hinab. „Noch sechs Tage bis zu eurer Hochzeit…“, murmelte er monoton. „Ja… Die Zeit verfliegt wahnsinnig schnell. Wahrscheinlich war dies heute mein letzter Besuch vor der Hochzeit. Es gibt noch einiges für mich zu erledigen. Zum Glück geht mir bei den ganzen Formalitäten, William zur Hand“, sagte sie aufgeregt über den Aufbruch in ihr neues Leben. „Und unter anderem packst du deine Koffer… Es war für uns beide vorteilhaft, dass wir im selben Stadtteil wohnten. Zukünftig wirst nicht mal eben kurz, bei einem Spaziergang hier vorbeischauen. Ich weiß, du willst das jetzt nicht schon wieder von mir hören. Aber wie ergeht es dir dabei, einen Mann zu heiraten, den du noch nicht wirklich lange kennst und der einen völlig anderen Lebensstil hat, als du ihn gewohnt bist? Sei ehrlich, Miceyla. Gehe einmal in dich. Wer mit einem Menschen zusammenlebt, wird früher oder später Seiten an diesem kennenlernen, von denen man niemals gedacht hätte, dass sie überhaupt existieren. Ich will dich nicht belehren, jedoch sind Gefühle wie ein schleichendes Gift. Wenn du in den Adel einheiratest, kann sogar ich dir kaum behilflich sein bei…nennen wir es mal eheliche Problemchen. Da geht es schon damit los, dass mir rein rechtlich gesehen die Hände gebunden sind. Vergiss auch bitte seine Brüder nicht, mit denen du gezwungenermaßen zurechtkommen musst…“, sprach Sherlock ernsthaft. In seinen Worten steckte ein Ausdruck voller Besorgnis um ihr Wohlergehen. Es versetzte Miceyla einen leichten Stich ins Herz. Sie war dabei mit Sherlock eine Freundschaft aufzubauen, die ein ganzes Leben halten könnte. Und dann entschied sie sich auch noch für eine Liebe, die stets für William an zweiter Stelle kommen würde, da er all seinen Elan in die Verwirklichung seines Plans steckte. Aber sie hatte es nie wirklich einfach in ihrem Leben gehabt. Sie wollte jeden Moment dieser prickelnden Leidenschaft auskosten und etwas an dieser trostlosen Welt verändern, in der kein gerechtes Glück existierte. Dafür war es allemal wert zu kämpfen. Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, dass den drei Brüdern tatsächlich jede Entscheidung so leicht von der Hand ging, wie es nach außen hin aussah und sie ihr Schicksal akzeptierten. Dies konnte einfach nicht sein. Inständig hoffte sie, dass die drei ihr das Herz öffneten, sonst würde sie niemals vollwertig zu ihnen gehören. „Ganz gleich wie viele Bezirke wir voneinander entfernt wohnen. Ich habe zwei gesunde Beine und werde so oft hierherkommen wie ich mag. Hier ist immer viel Interessantes auf den Straßen los, dass uns beide magisch anzieht. Und wie du weißt habe ich hier nun meinen Verlag, bei dem ich öfters vorbeischauen werde. Was meine Heirat mit William betrifft… Wie lange würdest du denn mit einer Hochzeit warten? Wenn du deinen Partner ein halbes Leben lang analysiert hast? Ich weiß, du könntest es niemals über dich bringen zu heiraten. War ein blödes Beispiel. Jedoch… Wenn zwei Menschen einander gefunden haben, beginnt für sie eine aufregende Reise mit Höhen und Tiefen. Man lernt einander immer besser kennen und es entsteht ein unzertrennliches Band der Vertrautheit, welches sich Liebe nennt. Egal wie unterschiedlich die Gedanken des anderen auch sein mögen, solange man einander wertschätzt und füreinander in jeder Lebenslage da ist, kann man sich sicher sein, den richtigen Menschen gefunden zu haben, mit dem man auf ewig glücklich sein wird. Das ist zumindest, woran ich glaube. Also, wieso sollte ich mein neuerrungenes Glück, dieses Schicksal, einfach wieder fortwerfen? Und du weißt ja in welcher Kirche wir in Westminster heiraten. Nur für den Fall, falls du es dir anders überlegen solltest…“, sagte Miceyla in einer besonnen Tonlage. Sherlock blickte für einen Moment nachdenklich zu Boden, ehe er sie mit einem Lächeln auf den Lippen ansah. `Richtig, lass uns dieses Glück nicht fortwerfen…`, dachte er im Stillen. „Geben wir uns ein freundschaftliches Versprechen. Wo auch immer uns die unterschiedlichen Wege hinführen und welche Herausforderungen auf uns warten mögen, wir finden wieder zusammen und vergessen niemals unsere Ideale, für die wir einstehen. Es darf dich nicht kümmern, wenn die Leute dich und mich verachtend belächeln, während wir uns von der breiten Masse hervorheben. Jemand der wie wir anders denkt ist einzigartig. Deine Meinung kreierst du dir selbst. Die Vergangenheit ist nur eine Probe, um deinen Lebenswillen zu testen. Vergiss dies bitte nicht. Na, ist es beschlossene Sache?“, fragte er grinsend und streckte seine Faust zu ihr aus. „Das Versprechen ist hiermit besiegelt. Es warten so viele Geheimnisse im Verborgenen auf uns, ich wäre verzagt all die Abenteuer ohne dich erleben zu müssen“, sprach sie lächelnd und drückte ihre Faust gegen seine. „Ist der Meisterverbrecher unser gemeinsamer Feind?“, stellte er ihr dann diese plötzliche Frage. Verwundert blickte sie ihn an. Sie wusste nur zu gut, dass dies einer seiner spielerischen Tests war, um sie herauszufordern. „Hierbei sollte man zu allererst abwägen, ob die Definition `Feind` überhaupt zutreffend ist. Dir ist selbst klar, dass er es hauptsächlich auf die verdorbene Oberschicht abgesehen hat. Solange wir ihm nicht bewusst in die Quere kommen, werden wir auch nicht zu seinem Ziel. Und ich glaube, du bewunderst ebenfalls zu sehr die Genialität seiner Taten, als das du mit ihm eine Feindschaft anzetteln würdest“, gab sie ihm eine ehrliche Antwort. ´Bitte lass ihn das nicht skeptisch machen…´, hoffte Miceyla inständig. „Das hast du gut gesagt. So… Meine Salpetersäure ist jetzt aufgebraucht. Ich gehe neue besorgen, du kommst mit. Schnell, das Fachgeschäft schließt bald. Dann kann ich dich demnächst dort hinschicken, hi, hi“, verkündete Sherlock nach einem Blick auf seinen ausgefallenen chemischen Bestand und lief sogleich hinaus. Sie hatte nichts dagegen einzuwenden und watschelte ihm rasch hinterher. Nach einem etwa zehnminütigen Fußmarsch, betraten die zwei einen kleinen Laden, der diverse Fläschchen und Ampullen, mit den bekanntesten und seltensten chemischen Flüssigkeiten verkaufte. `Dies muss für Sherlock wie ein Schlaraffenland sein. Wusste gar nicht, dass es hier so ein spezielles Geschäft gibt, ha, ha`, dachte sie staunend. Es brauchte nicht lange, da hatte er auch schon alles beisammen was er wollte und führte eine lebhafte Unterhaltung mit dem Verkäufer. Sie konnte ganz deutlich heraushören, dass Sherlock mehr Ahnung und Fachwissen besaß als dieser. Der arme Mann, war sogar regelrecht von seiner dynamischen Art eingeschüchtert. Amüsiert beschloss Miceyla im Freien auf ihn zu warten. Auf dem Bürgersteig vor dem Geschäft erschrak sie plötzlich und traute ihren Augen kaum. William befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite und schlenderte gemütlich den Gehweg entlang. `Auweia! Will ist hier in der Innenstadt?! Da hätte er sich keinen unpassenderen Zeitpunkt aussuchen können… Ich bin schockiert darüber, meinen eigenen Verlobten zu sehen, ha, ha. Was ist das nur für eine verdrehte Welt. Ich muss Sherlock schnellstmöglich abfangen. Es ist ratsam eine Begegnung zu vermeiden, bei der auch noch ich dabei wäre. Verschwinden wir schnell sonst…`, versuchte sie vernünftig zu bleiben. Doch es war bereits zu spät. Es kam wie es kommen sollte. Noch ehe Sherlock einen Fuß aus dem Laden gesetzt hatte, entdeckte er William. „Liam!“, rief er freudestrahlend. `Ahhh!` Miceyla vergrub verzweifelt ihr Gesicht in den Händen. Sherlock lief vergnügt mitten über die Straße und ignorierte schlichtweg die ganzen Kutschen, die wegen ihm abrupt anhalten mussten. Ihr blieb nichts anderes übrig, als peinlich berührt hinter ihm her zu hechten. „Das ist aber eine Überraschung, euch zwei Hübschen hier anzutreffen. Wie ich sehe, gehen Sie wieder Ihrer Leidenschaft für chemische Versuche nach. Ich hoffe, Sie setzen meiner Miceyla dabei keiner Gefahr aus“, begrüßte William die beiden, als sie ihn auf dem Bürgersteig erreicht hatten. „Hallo Will…“, sagte sie nur leise. `Urgh… Ich kann mich auf eine heftige Schelte gefasst machen. Und jetzt stehe ich direkt neben Sherlock. Sollte ich nicht auf die Seite zu Will wechseln? Warum gerate ich wegen solch einer Nichtigkeit in Panik?!`, dachte sie hektisch, doch die beiden jungen Männer lächelten sich einfach nur gelassen an. „Hatten Sie einen unterhaltsamen Abend in Richmond? Es wird gemunkelt, dass die Vorstellung dort so skurril gewesen ist, dass keiner der dort anwesenden Personen sie jemals vergessen wird. Ein Jammer, dass ich nicht persönlich zugegen war. Was habe ich mir da nur entgehen lassen. Ich kann nicht ausschließen, dass Sie dort dem Meisterverbrecher über den Weg gelaufen sind. Möglicherweise wissen Sie sogar, um wen genau es sich dabei handelt. Wer weiß wie viele Anhänger er hat…“, forderte Sherlock ihn grinsend heraus. „Wir jagen beide den richtigen Antworten nach und lassen nicht locker, bis wir die Wahrheit ans Licht gebracht haben. Aber bitte suchen Sie in der Rechtschaffenheit keine Mängel. Missgunst zieht nur Irrglauben nach sich. Wie sagt man so schön, die Lösung des Problems findet sich meist dort, wo man sie am wenigsten erwartet hätte. Jedenfalls war es für mich ebenfalls eine unvergessliche Vollmondnacht“, meinte William genügsam und warf einen innigen Blick auf Miceyla, die sofort von einer wohligen Wärme gepackt wurde, bei der Erinnerung an jene erschwingliche Nacht. `W-was tust du da gerade, Will?! Ich darf keine Anspielungen machen, aber du haust eine nach der anderen raus…`, dachte sie beunruhigt und fühlte sich bei deren Unterhaltung, wie das überflüssige dritte Rad am Wagen. Und sie war gleichzeitig erleichtert als auch enttäuscht darüber, dass Sherlock mit ihr nicht über die Ereignisse in Richmond gesprochen hatte. „Hm… Ich habe mir da wohl eine günstige Gelegenheit entgehen lassen. Aber die nächste kommt früher oder später. Jedenfalls finde ich, dass es endlich mal an der Zeit ist, um Ihnen einen Besuch abzustatten. Da warten einige gemeinsame Interessen darauf, von uns auseinandergenommen zu werden. Meinen Sie nicht auch?“, kündigte Sherlock genüsslich an und für einen Augenblick herrschte bedachtes Schweigen. „Gewiss, dies würde mir ein großes Vergnügen bereiten. Miceyla Liebes, komm es ist bereits spät. Wenn Sie uns nun entschuldigen würden. Auf ein andermal, Sherlock Holmes“, verabschiedete William sich mit einem neutralen Lächeln und nahm Miceyla bei der Hand, um sie ohne Umschweife mit sich zu ziehen. Während die beiden zügig den Gehweg entlangliefen, warf sie noch einmal kurz zu Sherlock einen Blick über die Schulter, der noch immer schweigsam an Ort und Stelle stand. Sofort trafen sich ihre Blicke und sie wusste nicht weshalb, doch sie bekam eine Gänsehaut bei seinen ausdruckslosen Augen, die ihr dennoch so unglaublich viel zu erzählen versuchten. Aber auch sie musste ihm den Eindruck vermitteln, dass ihr einige Geheimnisse auf der Seele lagen, die sie einfach nicht aussprechen konnte. Miceyla erschrak, als sie Williams zurechtweisenden Blick auf sich spürte und drehte den Kopf ruckartig wieder nach vorne. `Ich sollte achtsamer sein… Das war gefährlich. Wir begeben uns immer mehr auf dünnem Eis. Allerdings… Ist es wirklich möglich, dass ich mich mit Sherlock ohne Worte austauschen kann?` Der Gedanke brachte sie vollkommen durcheinander. Und plötzlich bekam sie Bammel, wenn sie an alle zukünftigen Konfrontationen zwischen William und Sherlock dachte. Obwohl die zwei Sonderlinge nach außen hin, wie gute Freunde auf derselben Wellenlänge wirkten. Dennoch verbarg sich dahinter eine schlummernde Rivalität. Sollte diese jemals geweckt werden, würde ein Sturm aufkommen, der ganz London, wenn nicht sogar ganz England erschüttern könnte. Das Klügste für sie war zum Wohle aller Beteiligten, vorerst die Beobachterrolle zu spielen und sich so diskret wie nur möglich zu verhalten. Bei der ersten Möglichkeit bog William mit ihr in eine Seitenstraße ab und gab einem Kutscher ein Handzeichen, woraufhin dieser die Kutschentür für sie beide öffnete. Sie saß direkt neben ihm, doch er blickte bloß stumm hinaus. Die ganze Situation war ihr äußerst unangenehm, daher entschied sie zaghaft ein Gespräch anzufangen. „Du warst heute in der Innenstadt…“ „Ja, ich bin bei der Bank gewesen. Mir ist es wichtig, dringliche Geschäfte persönlich zu erledigen. Verzeih mir meine verärgerte Stimmung. Das hat nichts mit Sherlock zu tun. Ich habe vorhin einem Mann aus der Patsche geholfen. Es ist erschreckend, wie die Arbeiterklasse in jeder Ecke dieser Stadt schikaniert wird. Und die Passanten marschieren einfach desinteressiert vorüber. Du glaubst gar nicht wie wütend mich das macht. Wie konnte es nur so weit kommen… Aber ich mag dich nicht mit meiner schlechten Laune runterziehen, wo du nun ohnehin schon ständig mit diesem Thema konfrontiert wirst. Schließlich steht unsere Hochzeit vor der Tür. Das wird wahrscheinlich eines der schönsten Erlebnisse in unserem gemeinsamen Leben werden. Und du bist wirklich damit einverstanden, hier in London zu heiraten, statt in Durham wie ich es vorgeschlagen hatte? Alle werden erfahren, dass ich eine Bürgerliche eheliche“, sagte er vertraulich und wandte sich ihr zu. „Genau das ist doch der Sinn und Zweck des Ganzen. Wir haben nichts zu verheimlichen. Teilen wir unser aufrichtiges Glück mit der ganzen Welt. Früher oder später werden die Menschen einsehen, dass Macht und Wohlstand nicht die kostbarsten Güter für ein erfülltes Leben sind. Erwecken wir die eingefrorene Herzenswärme in den Seelen der ganzen Ignoranten. Eine kleine gute Tat macht dabei immer den Anfang“, meinte sie liebevoll und lehnte sich dabei lächelnd an ihn. Zärtlich legte er seine Hand auf ihre. „Danke das ich dir begegnen durfte und danke das du den Platz an meiner Seite gewählt hast. Deine Entscheidung ist für mich nicht selbstverständlich gewesen. Ich werde dafür sorgen, dass es dir bei uns gut gehen wird. Dir soll es an nichts fehlen. Zwar ist dies keine äquivalente Entschädigung, für den hohen Preis den du zahlst und der Gefahr, welcher du ausgesetzt bist. Dennoch hoffe ich, dass du dich dank unserer Privilegien frei entfalten kannst. Nutze deine neuen Möglichkeiten weise. Keiner wird dir dabei im Wege stehen, solange es im Rahmen des Machbaren ist. Zögere nicht. Ich weiß, dass es dir schwer fällt Entscheidungen zu treffen. Gemeinsam arbeiten wir daran, dass dir dies zukünftig leichter fällt. Denn bedenke stets, Zeit ist rar. Und ignoriere bitte, wenn andere unsere Liebe hinterfragen. Besonders Sherlocks durchleuchtendes Denken. Unseren eigenen Standpunkt, kennen nur du und ich. Was der Rest der Welt denkt, braucht uns nicht zu interessieren. Ach und ehe ich es vergesse. Ich habe mir dein frisch veröffentlichtes Buch besorgt. Wie versprochen wollte ich einer der Ersten sein, der es liest“, verriet William ihr freudig. „Ich mag dich ja wirklich nicht enttäuschen, doch Sherlock ist dir zuvorgekommen“, erwiderte Miceyla belustigt. „Hach… Er wohnt nun mal näher bei der Buchhandlung. Das ist der einzig unfaire Grund. Wie sieht es aus, kommst du mit deinem Auszug voran? Falls du weitere Hilfe benötigst, sage Bescheid. Deine Nachmieterin, die wir arrangiert haben, zieht unmittelbar nach dir ein. Sie arbeitet genauso zuverlässig und gewissenhaft wie du. Mrs Green wird also nichts an ihr zu bemängeln haben. Gut, dann kannst du heute noch mit uns zu Abend essen“, sagte er frohgestimmt, während sie in Richtung des Anwesens fuhren. Dort angekommen, fing Louis ihren William sofort ab. „Hallo Bruder. Es gibt etwas, dass ich gerne mit dir besprechen möchte. Es ist ein äußerst dringliches Anliegen“, sprach dieser mit ernster Miene. „Dann lass uns das direkt erledigen. Wir sehen uns gleich bei Tisch, meine Liebe“, sagte William pflichtbewusst und verschwand daraufhin mit Louis im Wohnzimmer des Erdgeschosses. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, um das erste Stockwerk ein wenig näher zu erforschen. Vor allem verspürte sie den Drang, endlich einen Blick in Williams Schlafzimmer zu erhaschen. Wo es sich befand wusste sie bereits. Das sie sich bald die Räumlichkeiten jede Nacht mit ihm teilen würde, kam ihr noch etwas surreal vor. Gemächlich lief sie den Flur auf einem blitzeblanken Teppich entlang. Da hörte sie auf einmal liebliche Klavierklänge und folgte ihnen neugierig. Die Musik führte sie zu Alberts Arbeitszimmer. Unauffällig lugte sie durch die offenstehende Tür. Dort spielte Albert auf einem glänzend schwarzen Flügel. Dabei sah er unbeschreiblich anmutig aus, noch mehr als er dies ohnehin schon immer tat. Er spielte nicht einfach nur auf diesem Instrument, er fühlte die Musik und schien durch sein Spiel, seinen Gefühlen Ausdruck verleihen zu wollen. Hinter jeder einzelnen Note, steckte eine tiefgründige Bedeutung. Es war eine Wohltat, den sanften Klängen zu lauschen, die selbst das aufgebrachteste Gemüt zu beschwichtigen vermochten. Sein Anblick zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Da entdeckte Albert sie und unterbrach sein Spiel. „Miceyla, ich freue mich dich zu sehen. Komm nur herein“, grüßte er sie mit einem freundlichen Gesichtsausdruck. „Guten Abend. Du spielst wundervoll auf dem Klavier, ich könnte dir stundenlang zuhören. Das war aber ein sehr tragisches Stück. Im Geiste sehe ich etliche Bilder. Ich glaube eine ganze Geschichte, versucht diese dramatische Melodie zu erzählen…“, sprach sie liebevoll mit einem traumverhangenen Blick. „Das macht mich neugierig. Erzählst du mir die Geschichte? Setz dich zu mir“, bot er ihr lächelnd an, auf dem breiten, gepolsterten Hocker neben ihm Platz zu nehmen und spielte unbeirrt weiter. Ein wenig schüchtern nahm Miceyla sein Angebot an und setzte sich direkt neben Albert. „Du hast bestimmt deine ganz eigenen Vorstellungen, während du spielst. Aber vielleicht gibt es ja sogar Überschneidungen, bei unseren Fantasien. Ich sehe einen bitterlichen Abschied vor mir. Zwei junge Herzen, die sich mehr als alles andere auf der Welt etwas bedeuten, werden voneinander getrennt…“, begann sie zu erzählen, wobei die Melodie sie voll und ganz in ihren Bann zog. „Wer sind die beiden und was hat zu ihrer Trennung geführt?“, fragte er gespannt und suchte für einen kurzen Moment ihren Augenkontakt. Schweigend blickte sie in das tiefe Grün seiner Augen, das ihrem eigenen glich. „Die beiden…sind Bruder und Schwester. Und die Eltern der Geschwister, haben sich nach einem heftigen Streit getrennt. Das Mädchen blieb bei der Mutter. Der Vater ging mit dem Jungen fort. Die armen Kinder waren der Hierarchie der Erwachsenen hilflos ausgeliefert und weinten verzweifelt über ihr grausames Schicksal. Sie kamen niemals über den Abschied hinweg und dachten Tag ein, Tag aus an den jeweils anderen…“, fuhr sie die traurige Erzählung fort. „Das ist wahrlich bitter. Eventuell gab es ja eine Möglichkeit, wie die Geschwister in Kontakt bleiben konnten. Und ich hoffe doch auf ein Wiedersehen der beiden“, sagte er und lächelte zaghaft. „Gewiss, denn ihre Sehnsucht war stärker als das Schicksal, welches sie fesselte. Sie schrieben sich heimlich gegenseitig Briefe. Dies taten sie viele, viele Jahre lang. Und dann eines Tages, als die zwei erwachsen waren, trafen sie durch den puren Zufall wieder aufeinander. Es brauchte nur einen kurzen innigen Blick und ihre ehemalige kindliche Geschwisterliebe, verwandelte sich in die leidenschaftliche Liebe zwischen Mann und Frau.“ Mittlerweile hatten ihre Vorstellungen sie komplett vereinnahmt. „Oho… Eine verbotene Liebe“, kommentierte Albert lächelnd mit Blick auf die Tasten. „Ja… Trotz ihrer erschütternden Vergangenheit, fanden sie wieder zueinander. Gemeinsam lehnten sie sich gegen die Proteste ihres Umfeldes auf und waren glücklich solange sie einander hatten“, erzählte sie weiter und lächelte ebenfalls bei dieser schönen Vorstellung. „Dann nimmt die Geschichte ein gutes Ende?“ „Nein, leider nicht. Denn wie im wahren Leben, platzte die unumgängliche Realität ins Haus. Der junge Mann war ein Soldat und wurde aus dem Land an die Kriegsfront geschickt. Unfreiwillig war er dazu verdammt, seine Angebetete zu verlassen. In jeder schlaflosen Nacht betete sie darum, dass ihr Geliebter wohlbehalten zu ihr zurückkehrte. Und dann eines Tages, ereilte die junge Frau die tragische Nachricht, dass ihr geliebter Bruder im Krieg sein Leben gelassen hatte. Nun brach für sie eine Welt zusammen und sie war am Boden zerstört. Der einzige Grund zum Leben wurde ihr genommen und sie beendete schließlich ihr eigenes Leben… Doch das eigentliche Drama sollte erst noch folgen. Es ist eine Fehlmeldung gewesen, ihr Bruder war noch am Leben. Wenige Tage später kam er bei ihrem Haus an und fand die Leiche seiner geliebten Schwester…“, endete Miceyla leise die traurige Erzählung. „Was ein Elend… Und ich hatte mir ein glückliches Ende, für die beiden erhofft. Hm… Du hast wohl wie ich, einen Draht zu herzzerreißenden Tragödien. Jedoch klingt das für mich nach einer hervorragenden Story, für dein nächstes Werk. Wirst du diese Geschichte schreiben? Aber bitte erfülle mir den Wunsch und lass die Schwester am Ende noch ein Weilchen länger auf ihren Bruder warten. Stell dir nur die Szene vor, wie sie sich mit Freudentränen in den Armen liegen. Wenigstens in unseren erfundenen Geschichten, muss das Schicksal zu einem guten Ende führen. Und auf diese Weise schenkst du deinen Lesern den Mut, dass irgendwo da draußen noch die Hoffnung auf sie wartet. Du wirst sehen, dies bewirkt wahre Wunder“, versuchte er sie von seiner Bitte zu überzeugen und spielte den Abschluss des Klavierstücks. „Du hast recht, Albert. Ich glaube meinen eigenen dramatischen Texten, habe ich meine Hoffnungslosigkeit zuzuschreiben. Ich werde die Geschichte schreiben und erfülle dir deinen Wunsch. Auch ich habe eine bescheidene Bitte an dich… Wirst du für mich auf dem Klavier spielen, immer wenn es mir an Inspiration mangelt? Das wäre wundervoll und verliehe meinen Geschichten noch mehr Tiefe…“, bat sie ein wenig verlegen. „Nichts tue ich lieber als das. Und da haben wir auch wieder den heimlichen Verehrer und deinen Soldaten, ganz nach meinem Geschmack, ha, ha“, sprach er lachend und freute sich ganz offensichtlich darüber. Seine charmante Art brachte sie selbst dazu, über das ganze Gesicht zu strahlen. Plötzlich wirkte er wieder etwas ernster und blickte Miceyla nachdenklich an. „Weißt du, mein Bruder Will liebt dieses geheimnisvolle Leuchten in deinen Augen, dass unendlich viel Trauer und Einsamkeit widerspiegelt. Und er versucht dein Leid in Stärke umzuwandeln. Doch… Mir gefällt dein ehrliches und unverwechselbares Lächeln noch viel besser. Was auch immer dir Tränen bescheren mag, ich werde es aus der Welt verbannen und dein kostbares Lächeln um jeden Preis beschützen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer… Ah und ich hätte da noch eine kleine Frage. Es ist pure Neugier. Was gefällt dir an Soldaten so gut? Und was bewunderst du an ihnen?“, nutzte er die Gelegenheit für diese Frage. Es überraschte sie nicht, dass er sich nach dem Grund bei ihr erkundigte. Die meisten Frauen waren wohl eher allem, was mit dem Krieg in Verbindung stand abgeneigt. „Nun, Soldaten sind diejenigen, welche unser Land und die schwachen Menschen beschützen. Für viele mögen sie bloß die einfachen Bauern sein, die auf das Schlachtfeld geschickt werden, um ihre Vorgesetzten und Herrscher zu verteidigen. Aber sie sind weitaus mehr, als Befehle befolgende Kampfmaschinen. Jeder einzelne von ihnen wird mit dem Tod und Leid konfrontiert. Ein Soldatenherz fühlt tiefgründiger und weiß was Opfer bedeuten. Kein Normalsterblicher kann dies nachempfinden. Für mich sind Soldaten Helden“, beschrieb sie die traurige Realität mit einem Funken des Trostes. Obwohl Albert bereits eine ähnliche Beschreibung von ihr erwartet hatte, wirkte er überrascht und lächelte mit verborgener Bitterkeit. Langsam hob er eine Hand, ganz so als ob er sie berühren wollte. Jedoch besann er sich eines Besseren und zog sie wieder zurück. „Dann macht es mich ja wirklich stolz ein Soldat zu sein… Es ist mir schon öfters aufgefallen, du trägst häufig diese schönen Perlenohrringe. Sie müssen dir viel bedeuten.“ „Oh… Das sind nur ganz schlichte Ohrringe, nichts Besonderes. Sie gehören zu einem der wenigen Dingen, die mir meine verstorbene Pflegemutter vermacht hat“, meinte Miceyla lächelnd. „Aber an dir wirken sie besonders. Deine Pflegemutter muss wie du ein sehr gütiger Mensch gewesen sein.“ An vergangene Zeiten zurückdenkend, fasste sie sich gedankenversunken an einen ihrer Ohrringe. „Sie war für mich wie ein Segen. Ganz im Gegensatz zu meiner leiblichen Mutter…“, erwiderte sie knapp. `Bestimmt hat Will ihm davon berichtet, dass wir uns über unsere jeweilige Vergangenheit ausgetauscht haben…`, dachte sie und da wurde ihr etwas Schauerliches bewusst. `Albert hat in einem jungen Alter, seine eigene Mutter umgebracht. Sie soll zwar ebenfalls ein Scheusal gewesen sein… Jedoch… Hat er denn rein gar nichts dabei empfunden? Und hätte er dies auch getan, wenn er niemals auf William gestoßen wäre? Selbst falls ich meiner Mutter den Tod wünschen würde, da ich sie abgrundtief hasse, es eigenhändig zu vollbringen, dass wäre für mich undenkbar… Nun sind die drei Brüder zu Mördern geworden, ist das nicht noch viel grausamer? Bei William und Louis kann ich es noch nachvollziehen, da sie ohne Eltern aufgewachsen sind. Doch Albert… Hat sich keiner von ihnen jemals nach elterlicher Liebe und Führsorge gesehnt? Tapferkeit kann das eigene Herz sehr kalt werden lassen…`, dachte sie und blickte ihn traurig an. Sie bekam das beklommene Gefühl, eine unüberwindbare Mauer würde zwischen ihnen beiden stehen. „Was hältst du davon, wenn du meinem Klavierstück einen Titel gibst? Es ist nämlich noch namenlos. Wäre doch schade drum, bliebe dies so, oder? Den Titel kannst du auch gleich mit deiner neuen Geschichte verbinden“, wechselte er rasch das Thema, da er merkte, wie die Stimmung immer trister wurde. „Hm... Da kommt mir eine Idee. Du wirst jetzt überrascht sein, ha, ha. Wie findest du `Eisblume`? So wie du mich immer nennst. Das passt wunderbar zu einer Liebe, die sich trotz der kaltherzigen Welt durchsetzt und lieblich erblüht. Zauberhaft und einzigartig… Voller Schmerz und voller hingebungsvoller Aufopferung…“, entschied Miceyla und merkte an seinem sanften Lächeln, dass es genau der Titel zu sein schien, den er sich erhofft hatte. „Kannst du auch Klavier spielen? Ich könnte dir gerne etwas beibringen, wenn du magst“, schlug er heiter vor. „Tatsächlich wurde ich kurzzeitig mal darin unterrichtet. Aber ich bin noch lange nicht gut genug, um mich als herausragende Pianistin bezeichnen zu können“, antwortete sie bescheiden. Die beiden lächelten sich an, als plötzlich Louis an der Tür stand und mit einem Klopfen seine Anwesenheit kundtat. „Kommt ihr? Das Essen ist fertig“, verkündete er und lief direkt wieder fort. Miceyla verließ gemeinsam mit Albert sein Arbeitszimmer und setzte sich an dem ästhetisch gedeckten Tisch, mit einem spiegelnden Silberbesteck, William und Louis gegenüber. „Abend Will. Na, gab es wieder Ärger? Die Frustration steht dir ins Gesicht geschrieben“, meinte Albert und nahm neben ihr Platz. „Nur das Allgegenwertige, keine neuen Auffälligkeiten. Doch ich denke, wir sollten von nun an öfters die Stadt auskundschaften. Auch Fred kann nicht an allen Orten gleichzeitig sein. Das Grundgerüst für alle kommenden Unterfangen, sollte langsam aber sicher ausgebaut werden. Hilft man heute einem Notleidenden aus der Unterschicht, wird er morgen wieder von einem anderen Betrüger übers Ohr gehauen. Und jene Schwindler mit der dicken Geldbörse, erkaufen sich die Schweigepflicht der Polizisten. Dem normalen Bürger sind die Hände gebunden. Sie schuften Tag und Nacht für einen mickrigen Lohn, der nicht einmal für eine vernünftige Mahlzeit reicht, geschweige denn um den Lebensunterhalt ihrer Familien zu finanzieren. Keiner vermag den klagenden Stimmen Gehör zu schenken“, berichtete William unzufrieden. „Die Gesetze sollten verschärft werden, sodass jedermann gleichbehandelt wird und keiner Angst davor haben muss, seine Meinung frei auszusprechen“, machte Miceyla einen spontanen Vorschlag zur Lösung des Problems. „Fabelhafte Idee, dann bringen wir dich zum Parlament und du versuchst dies durchzusetzen“, meinte Albert daraufhin sarkastisch. `Ich weiß, mein Einwand war für die Katz…`, dachte sie schmunzelnd. „An jenem Tag hast du mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Regierung mit unserer Königin eingeschlossen, sich Gedanken über den Werdegang von London und ganz England machen. Nur musst du bedenken, dass die Monarchie schon lange keinen weitreichenden Einfluss mehr, auf das Treiben der Gesellschaft hat. Die meiste Macht fällt in die Hände der Menschen, die in der Wirtschaft und im Handel den größten Profit erzielen. Und gerade diese gierige Meute, hat es sich in den gehobenen Positionen bequem gemacht. Ich will nicht behaupten, dass es auf alle zutrifft. Ausnahmen gibt es, das steht außer Frage. Jedoch wagt keiner zu protestieren und Auffälligkeit dadurch zu erregen. Wie dem auch sei, die notwendige Revolution haben wir bereits in die Wege geleitet. Lasst es euch gut schmecken“, sprach William feierlich und die vier genossen friedlich ihr Abendmahl. Es war der einundzwanzigste März, der langersehnte Tag ihrer Hochzeit. Die Geburtsstunde eines neuen Lebensabschnittes stand ihr bevor. Miceyla stand vor einem großen Spiegel und versuchte mit ruhigen Atemzügen, den tobenden Wirbelsturm ihres innerlichen Gefühlschaos zu besänftigen, während Emily einen langen weißen Schleier, mit einem funkelnden Diadem an ihren gelockten Haaren befestigte. „Geht es? Sitzt das Korsett vielleicht doch etwas zu fest?“, erkundigte diese sich überprüfend. „Nein, nachdem ich dich bat es zu lockern, spüre ich es kaum noch. Ich bin nur schrecklich aufgeregt. Ich danke dir aus tiefstem Herzen, dass du heute an meiner Seite bist. Was würde ich nur ohne dich machen“, antwortete sie lächelnd. „Du hast mir selbst damit eine Freude gemacht, dass ich deiner Hochzeitfeier beiwohnen darf. Und mache dir nicht allzu viele Gedanken um eure Hochzeitsnacht, es ist weniger schlimm als du denkst. Lord William scheint mir ein umsichtiger Mann zu sein“, beruhigte Emily sie entspannt. „Äh… Ha, ha… Verzeih. Es ist nur, unsere Hochzeitsnacht haben wir bereits hinter uns…“, verriet sie und blickte verlegen zu Boden. „I-ist das so?! Das konnte ich nicht wissen!“, stotterte Emily mit errötetem Gesicht. Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen. „Du… Wir bleiben doch Freundinnen, auch wenn ich ab heute eine Adelige sein werde, nicht wahr?“, brach Miceyla schließlich die Stille. „Natürlich! Das spielt doch für mich gar keine Rolle! Du bist ein herzensguter Mensch. Ich werde immer deine Freundin bleiben. Und versprich mir, weiterhin unseren Chaosdetektiv zu besuchen. Denn ich glaube deine Anwesenheit tut ihm gut. Jedenfalls spricht er ständig froh gestimmt über dich. Das Sherlock mal eine Frau bewundern würde, macht mich fast schon neidisch, hi, hi“, versicherte Emily ihr mit glücklicher Miene. `Ich denke nicht, dass es Bewunderung ist… Anerkennung trifft es eher`, verbesserte Miceyla ihre Aussage und lächelte wortlos. „Fertig! Sieh dich nur an! Ich habe noch nie eine so schöne Braut wie dich gesehen!“, schwärmte Emily mit funkelnden Augen. In der Tat raubte es ihr den Atem, sich in dem schimmernd weißgoldenen langen Kleid zu sehen. Es war das mit Abstand prachtvollste Kleid, dass sie jemals tragen durfte. Und es sollte das erste und letzte Mal sein. Dieses Kleid war ausschließlich für den heutigen Anlass bestimmt. Nun meinte sie, sich selbst in einen Engel verwandelt zu haben. Noch nie wie in diesem Augenblick, hatte sie sich gleichzeitig traurig und fröhlich gefühlt. Da klopfte es auf einmal an der Tür. „Seid ihr soweit, darf ich hereinkommen?“ „Oh, Albert! Ja, komme herein. Wir sind gerade fertig geworden“, erlaubte Miceyla ihm ohne zu zögern einzutreten. Langsam trat er mit einem Lächeln auf den Lippen in den Raum, während sein Blick auf der fertig zurechtgemachten Braut ruhte. „Mrs Hudson, wären Sie so freundlich und lassen uns für eine Weile allein?“, bat er höflich. „Selbstverständlich, Graf Moriarty“. Emily verließ nach einem kurzen Knicks vor Albert, dass Ankleidezimmer des Anwesens und schloss leise die Tür. „Es überrascht mich, ich dachte du wärst bereits bei Will“, hob sie an und erfreute sich an seinem spontanen Besuch. „Ich wollte dich noch ein letztes Mal sehen“, sagte er ruhig und stellte ein kleines Kästchen auf einer Kommode ab. „Das hört sich ja fast danach an, als würdest du von mir Abschied nehmen“, meinte sie belustigt. „Auf eine gewisse Art und Weise tue ich das… Wenigstens habe ich das Privileg, dich als Allererster in einem Brautkleid sehen zu dürfen. Keine Worte dieser Welt, werden deinem traumhaften Anblick gerecht. Zum Glück wirst du mit Will auf einem Erinnerungsfoto verewigt. So ist es mir erlaubt, für immer an den heutigen Tag zurückzudenken. Nun sage ich schon mal lebe wohl zu Miss Lucassen und begrüße Mrs Moriarty, meine neue zauberhafte kleine Schwester, die uns allen hier nun den turbulenten Alltag versüßen wird“, sprach er so sanftmütig, dass es ihr das Herz erwärmte. „Schau nur, ich habe ein kleines Hochzeitsgeschenk für dich. Ich hoffe es wird dir gefallen.“ Mit diesen Worten öffnete er das Kästchen und holte eine funkelnd goldene Kette, mit einem glänzenden hellblauen Schmuckstein daran heraus. Sogleich legte er ihr die Kette an. „Was für ein wunderschönes Eisblau. Vielen Dank, Albert. Sie ist unbeschreiblich schön“, bedankte sie sich strahlend für sein hübsches Präsent. „Da bin ich aber froh, dass sie dir gefällt. Das ist ein Aquamarin und die Kette ist aus purem Gold. Zwar wirst du dein Hochzeitskleid nur heute tragen, doch die Kette kann dich von nun an immer begleiten“, sagte er lächelnd. „Oh je… Schon wieder solch ein kostbares Juwel… Das traue ich mich ja kaum zu tragen…“ „Hm… Dabei befindet sich doch in diesem Raum, ein weitaus kostbareres, unbezahlbares Juwel“, sprach er grinsend und sah ihr dabei tief in die Augen. „Ist dem so? Habe ich etwas übersehen?“ Verwundert blickte sie umher, da wurde ihr plötzlich bewusst, was er meinte und errötete sofort. „Ach so… Du sprichst von mir… Ha, ha, du alter Charmeur…“ „Mit diesem Schmuckstück, ist dein Hochzeitskleid nun vollkommen. Du fährst gleich mit Mrs Hudson zur Kirche. Louis wird dich zum Altar führen, wie besprochen. William hatte erst mich dafür vorgeschlagen, aber es ist schon gut so… Die Gäste, welche nachher auf dem Bankett anwesend sein werden, sind lediglich ausgewählte Vertraute von uns. Unangenehme Personen werden wir heute, an eurem besonderen Tag, erst gar nicht in unsere Nähe lassen. Wir haben noch etwas Zeit. Fühlst du dich wohl? Ist alles bequem? Nicht das du den einmaligen Anlass heute nicht genießen kannst“, erkundigte Albert sich sicherstellend, ob alles seine Ordnung hatte. „Ähm… Na ja… Ich gestehe, dass meine Schuhe furchtbar unbequem sind, sie drücken an allen Stellen“, gestand Miceyla und lief ein paar langsame Schritte. „Wirklich? Lass mal sehen… Das ist natürlich schlecht. Wer hat sich auch solch unvorteilhafte Schuhe ausgesucht, wo du den ganzen Tag darin gehen musst?“, sagte er und kniete sich vor ihr nieder, um dies selbst zu überprüfen. Es machte sie unsagbar verlegen, wie viel Mühe er sich für sie gab. „Du hast bestimmt noch ein weiteres Paar Schuhe parat, da du doch stets perfekt organisiert bist.“ „Ja, ich habe sie dort in den Schrank gestellt. Nur sind sie wesentlich schlichter und harmonieren nicht besonders mit dem Kleid“, erwiderte sie und zeigte auf einen großen Holzschrank. „Unter dem Kleid wird ohnehin niemand sehen, was du für Schuhe trägst. Warte, ich ziehe sie dir an. Du brauchst dich nicht in dem schweren Kleid zu bücken.“ Miceyla ließ ihn brav gewähren und im Nu hatte sie bequemere Schuhe an. Lächelnd blickte Albert zu ihr auf. „I-ich danke dir, aber bitte erhebe dich wieder… Es ist mir ein wenig unangenehm, wenn du noch länger vor mir kniest…“, bat sie peinlich berührt. „Mag nicht jeder Mann einmal in seinem Leben herausfinden, wie es ist um die Hand der Frau anzuhalten, die man liebt?“, sprach er sanft und erhob sich wieder würdevoll. „A-Albert…“ `Seine koketten Sprüche bringen mein Herz jedes Mal zum rasen. Er meint dies doch stets nur scherzhaft…oder…?`, dachte sie nachdenklich und bekam mittlerweile sachte Zweifel. „Weißt du… William ist mir bei allem einen beachtlichen Schritt voraus, den ich mit gewöhnlicher Anstrengung kaum ausgleichen kann. Das war schon immer so und daran wird sich auch nie etwas ändern. Ich glaube, dass ich mich davor fürchte dich zu berühren, aus Angst dich verletzen zu können. William jedoch ist da ganz anders. Er hat keinerlei Hemmungen und schreitet stets selbstsicher zur Tat. Ich wollte nicht, dass du unsere wahren, erbarmungslosen Persönlichkeiten siehst. Zwar magst du meinem Bruder deine Treue geschworen haben, doch wirst du immer frei bleiben. Du bist keine Gefangene und kannst jeder Zeit wieder in dein gewöhnliches Leben zurückkehren. Auch wenn dies wirklich ein Abschied bedeuten würde und ich etwas nachhelfen müsste… Dennoch bewundere ich deine Entschlossenheit. Und da du dich uns auf unserem dornigen Pfad angeschlossen hast, wünsche ich mir, dass du trotzdem glücklich wirst und das vor allem Will dich glücklich machen kann… Du weißt, dein großer Bruder eilt dir in der Not herbei. Für dich lasse ich alles stehen und liegen“, redete er einfühlsam auf sie ein. „Mir hätte keiner ein größeres Geschenk machen können, als das ich nun täglich Zeit mit euch verbringen darf. Denn die meiste Zeit meines Lebens, habe ich ein unterwürfiges Dasein geführt. Bin mit knurrendem Magen eingeschlafen und noch hungriger wieder aufgewacht. Nie hörte ich auch nur ein freundliches Wort. Gewalt und Beschimpfungen standen an der Tagesordnung… Bereits jetzt habt ihr mir so viel Güte entgegengebracht, dass falls ich heute meinen letzten Tag leben sollte, ich friedlich von dannen ziehen könnte. Möge es mir auch nicht erlaubt sein eine Bilderbuchehe zu führen, in meinen Träumen wird mein Leben stets perfekt sein…“, sprach Miceyla voller Dankbarkeit und blickte melancholisch in ihr Spiegelbild. Albert in seinem vornehmen Anzug, stellte sich dicht neben sie. Außenstehende hätten nun angenommen, sie beide seien ein Brautpaar. Es erinnerte sie ein wenig daran, wie sie damals im Eingangsbereich des Anwesens, mit ihm vor dem Spiegel stand. Und jetzt ist aus ihr eine Braut geworden. Sie konnte es wahrlich selbst kaum glauben, wie eine kurze Begegnung auf einem Marktplatz, ein ganzes Leben verändern konnte. „Träume sind etwas Wundervolles. In Träumen können wir mit der Person zusammen sein, die wir am meisten lieben. Dort gibt es keine Grenzen und niemand wird es einem verbieten. Wenige Augenblicke des Glücks auskosten, ehe man in der trostlosen Realität erwacht. Dann lass uns träumen, meine liebe Eisblume. Solange wir an diesen abscheulichen Teufelskreislauf gefesselt sind, der sich das Leben nennt…“, hauchte Albert mit einer solchen Beharrlichkeit, dass ihr das Blut in den Adern gefror. Plötzlich war seine Sanftmütigkeit verschollen. Sie sah einen verborgen schmerzvollen Ausdruck in seinen Augen, als würde an ihr ein Feuer lodern, an dem er sich verbrannte und seine eigenen Gefühle beklagen, die ihn innerlich ausmerzten. `Nein…nein… Albert, sage mir nicht das du… Die ganze Zeit über dachte ich, so wie du dich mir gegenüber verhältst, sei deine eigene Art, wie du mit allen Frauen umgehst… Wie konnte ich nur so blind sein… Hast etwa ernsthafte Gefühle für mich…? Aber ich…liebe William…` Es kam ihr vor, als würde die gesamte Welt sich um sie herum drehen und sie zu Boden werfen. Er konnte anhand ihrer erschütterten Reaktion erkennen, dass sie die versteckte Botschaft seiner Worte verstanden hatte und lächelte zufrieden. „Wir sehen uns gleich. Dein Bräutigam erwartet mich…“, verabschiedete er sich nun wieder in einem liebevollen Tonfall und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf das Haar. Anschließend machte er schnurstracks kehrt und verließ den Raum. Sie hasste sich selbst dafür, dass sie es nicht fertigbrachte ihm etwas zu erwidern und einfach nur wie eine verlassene Seele schweigend dastand. Energisch biss die sich auf die Lippe, um ihre Tränen zurückzuhalten. Unter keinen Umständen, wollte sie mit einem verweinten Gesicht vor den Altar treten. `Warum hast du mir dies gerade unmittelbar vor der Trauung gesagt? Was wolltest du damit bezwecken…?` Sie würde auf die Schnelle, keine Antworten auf ihre Grübeleien erhalten. Also entschied sie vernünftiger Weise, mit Emily zusammen die Kutsche aufzusuchen. `Du heiratest heute den Mann den du liebst und hast nun zwei Brüder, daher lächle!`, zwang Miceyla sich in Gedanken und versuchte ihre Anspannung durch einen ruhigen Atem zu lockern. „Ah, da bist du schon! Dann können wir ja los. Komm, ich helfe dir.“ Emily stand ihr nun wieder hilfsbereit zur Seite und stieg mit ihr in die Kutsche, die Louis persönlich fuhr. Jetzt befand sie sich auf geradem Wege in Richtung Kirche und ihre Nervosität stieg. „Bitte sehr, dein Brautstrauß. Du hast dir wirklich hübsche Blumen ausgesucht.“ Lächelnd überreichte Emily ihr den Blumenstrauß. Träumerisch betrachtete Miceyla die rosafarbenen Rosen. „Freundliche Farben beschwichtigen das Gemüt…“, murmelte sie und ehe sie sich versah, war die Kutsche auch schon an der Kirche angekommen. Die Kutschfahrt kam ihr unnatürlich kurz vor. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie ruhig noch ein Weilchen umherfahren können. Doch nun war der Augenblick der Wahrheit gekommen. „Ich gehe dann schon mal hinein, bis gleich. Du siehst im Freien bei Tageslicht noch zauberhafter aus“, sprach Emily bestärkend und hüpfte davon. Sie blickte hinauf zu dem beinahe klaren Himmel und genoss einen letzten Moment der Stille an der frischen Luft. Da gesellte sich Louis zu ihr. „Bist du soweit, können wir hineingehen?“, fragte er gelassen ohne es eilig zu haben. Er war heute verdächtig höflich zu ihr. Aber es hätte auch gegen die guten Sitten verstoßen, wäre er dies nicht. „Ja, lass uns gehen, Louis“, sagte Miceyla mit fester Stimme und hakte sich bei ihm ein. Die Kirche besaß einen gepflegten Vorgarten, durch den sie in einem gemächlichen Tempo hindurchschritten. Auf einmal zögerte sie doch noch kurzfristig und stoppte. „Warte…! In…Ordnung… Jetzt bin ich wirklich soweit!“ „Ganz sicher?“, wollte er sichergehen und grinste. Entschlossen nickte sie ihm als Antwort zu und betrat mit ihm die große Halle der Kirche. Es war ein magischer Moment. Die Blicke aller Anwesenden waren auf sie gerichtet und jeder schien bei ihrer Erscheinung den Atem anzuhalten. So viele Leute die sie nicht kannte, jedoch waren nur freundliche Gesichter zu entdecken. Und was sie noch viel fröhlicher stimmte war, dass der Adel Seite an Seite mit gewöhnlichen Bürgern zusammensaß. Noch einmal dachte Miceyla an den Ball zurück und an all die Erlebnisse, welche sie durchlebt hatte, seit sie die Brüder der Familie Moriarty kennenlernte. Durch all dies, fühlte sie sich für ihren Hochzeitstag vorbereitet und für die unbekannten Abenteuer, die in der nahen und fernen Zukunft verborgen lagen. Allmählich richtete Miceyla ihren Blick geradeaus und ihre komplette Aufmerksamkeit fiel auf ihren William, der vorne am Altar stand und sie sofort mit einem strahlenden Lächeln ansah. Da wartete er auf sie, ihr Prinz im schwarzen Anzug. Das Herz pochte wie wild in ihrer Brust. Nun sah er sie das erste Mal in ihrem Brautkleid. John saß in einen der vorderen Reihen und winkte ihr unauffällig zu. Sie lächelte kurz in seine Richtung. `Natürlich ist er ohne Sherlock hier…´, dachte sie feststellend, war allerdings nicht allzu enttäuscht darüber, da es sie keineswegs überraschte. Ganz vorne stand Albert neben Moran und Fred. Alle waren makellos herausgeputzt. Wie ein Magnet zogen Alberts Augen ihre eigenen an. In seinem Blick lag die ihr bekannte Warmherzigkeit, doch seinen unterdrückten Schmerz konnte sie noch immer erkennen. Nicht lange hielt sie diesem brennenden Augenkontakt stand, von dem nur sie allein wusste, was er zu erzählen versuchte. Sie war darum bemüht, ihn für eine Weile gezwungenermaßen auszublenden, um nicht aus dem Konzept zu geraten. Wenn sie darüber nachdachte, war es um die Voraussetzung sehr schlecht bestellt, ein harmonisches neues Leben beginnen zu können. Nicht mehr lange und sie hätte zwei Stiefbrüder. Der eine hegte sehnsüchtige, romantische Gefühle für sie und der andere wiederum hegte einen verachtenden, tiefen Groll ihr gegenüber. Plötzlich musste sie sich eingestehen, dass Sherlock gar nicht mal so unrecht, mit seinen pessimistischen Einwänden gehabt hatte. Doch Miceyla würde alles ertragen, um an Williams Seite sein zu können. Egal ob sie gegen den schlimmsten Sturm ankämpfen oder durch lodernde Flammen laufen müsste. Nichts war mächtig genug, um ihre klare Sicht rauben zu können, damit sie immer wieder zu ihrem Liebsten zurückfand. Mit erhobenem Haupt schritt sie vor den Altar, während leise Orgelmusik im Hintergrund spielte und kam neben William zum Stehen. „Du siehst traumhaft schön aus…“, flüsterte er mit liebvollem Lächeln. Bei dieser ganzen Wehmut in seinen Augen, die am liebsten die Zeit angehalten hätte, musste sie sich am Riemen reißen, ihm nicht um den Hals zu fallen. Emily nahm ihr den Brautstrauß ab und Louis gesellte sich an die Seite von Albert. Der Pfarrer vor ihnen begann mit seiner Rede und alle hörten wie gebannt zu. Nur Miceyla schien sich nicht wirklich darauf konzentrieren zu können und starrte mit einem hektischen Herzschlag geradeaus. „…Dann ist jetzt die Möglichkeit für das Brautpaar, sich ein paar letzte Worte von der Seele zu sprechen, bevor ihr Gelübde die Ehe besiegelt“, sprach er bedachtsam und betonend. Wachgerüttelt wandte Miceyla sich William zu und nahm zärtlich seine Hand. „Ich beginne… William, es gibt keinen Menschen, der mich so gut versteht wie du. Und dabei liegt unser erstes Treffen noch nicht lange zurück. Nie zu träumen hätte ich gewagt, nun hier mit dir an diesem besonderen Ort zu stehen. Alles was ich mir wünsche ist, dass wir den heutigen Tag niemals vergessen werden und jede noch so kleine gemeinsame Erinnerung wertschätzen. Denn schließlich lebt man nur einmal… Ich werde dich immer lieben. Kein Schmerz und keine Trauer sind stark genug, um mir meine Gefühle für dich zu rauben. Egal wo du bist, werde auch ich sein. Ich bin stets bei dir. Auch wenn es dir mal schlecht gehen sollte, halte ich deine Hand und werde sie nicht loslassen, komme was wolle.“ „Meine liebste Miceyla, du bist mein strahlendes Licht, mein Sonnenschein, der mein Leben um einiges bereichert hat. Es ist eines der wertvollsten Güter, sich vollstes Vertrauen entgegen zu bringen und sich in schwierigen Zeiten zu unterstützen. Wir sind beide zwei unabhängige Individuen und wählen den Weg, der uns in ein freies und erfülltes Leben führt. Wir bilden unsere eigenen Meinungen und errichten zusammen eine glorreiche Zukunft, für die es sich zu leben lohnt. Warum sich nach dem Unmöglichen sehnen, wenn wir doch so viel erschaffen können, dass die Welt in Staunen versetzt. Meine Liebste, bis zu meinem letzten Atemzug gehört mein Herz dir allein…“, sprach William mit felsenfester Stimme und sie beide lächelten sich mit sachter Schwermut an. Denn sie wussten, die Bedeutung seiner Worte wiegte schwerer, als es den Anschein hatte. „…Sollte es irgendjemand geben, der Einspruch gegen den Bund dieser zwei jungen Menschen erhebt, so möge er nun sprechen oder auf ewig schweigen“, setzte der Pfarrer seine Rede fort, als Miceyla und William sich das Ja-Wort gegeben hatten. Erleichtert stellte sie fest, dass es mucksmäuschenstill blieb und sie durften sich ohne eine Unterbrechung, gegenseitig die leuchtend goldenen Eheringe an den Finger stecken. Der Beweis dafür, dass sie von jetzt an endgültig zusammengehörten. „Hiermit erkläre ich sie beide offiziell zu Mann und Frau…“ Der Pfarrer endete mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Rede. Endlich war es William erlaubt, seine geliebte Miceyla zu küssen. Sie schlossen gleichzeitig die Augen, in dem Moment als ihre Lippen aufeinandertrafen. Es war ein Kuss der ihr Gelübde besiegelte und den Beginn ihres unabwendbaren Schicksals einleitete… Scherlock stand außerhalb der Kirche, an einer Hausmauer angelehnt und blieb unbemerkt, als das frisch vermählte Ehepaar aus dem Eingangstor trat, von der Menge umjubelt. Immer mehr Passanten stoppten mit bewundernden Blicken. Einer von ihnen kam neben Sherlock zum Stehen. In den trüben Augen des Mannes, spiegelte sich Neid und Wohlwollen wider. „Ach, was für ein herrlicher Anblick… Ist das nicht himmlisch? Junges Blut, dass in trauter Zweisamkeit ein neues Leben beginnt…“, meinte dieser mit kratziger Stimme. „Finden Sie? Für mich gleicht es eher dem Sprung ins Unglück. Es gab da mal einen Ehemann, der hat seine eigene Frau in einem brennenden Zimmer eingeschlossen und ihre verkohlte Leiche anschließend in die Themse geworfen. Alles nur weil die erzürnte Dame, den Alkohol ihres faulen Gatten vor ihm versteckt hielt. Und dann wäre da noch jene bestialische Frau, die ihre eigenen Kinder…“, erzählte Sherlock munter und hielt inne, als der schockierte Mann eilig das Weite suchte. ´Ha, ha, meine Horrorehegeschichten will wohl keiner hören. Na…was für eine tragische Geschichte, darf ich von euch beiden in meiner Sammlung aufnehmen…? Jedenfalls wird sie alle bisherigen übertreffen. Ein facettenreiches Spektakel zwischen Licht und Schatten…´, dachte er beschließend und blickte Miceyla und William hinterher, wie sie in ihrer Kutsche, die von vier Schimmeln gezogen wurde, davonfuhren. „Lang lebe das Brautpaar…“, murmelte Sherlock, während er zurückschlenderte und sich geruhsam eine Zigarette anzündete. Später Abend war es geworden. Langsam kehrte Ruhe ein und bei Miceyla machte sich die Müdigkeit, nach einem langen Tag der Feier bemerkbar. „William, ich habe soeben ein Telegramm erhalten. Die Antwort ist negativ…“, kam plötzlich Albert mit ernster Miene herbei und übermittelte seine dringende Nachricht. „Wie ich es erwartet hatte. Ich werde dann morgen bereits sehr früh aufbrechen. Schicke noch bitte Treffpunkt und Uhrzeit an besagte Person zurück. Alles Weitere regele ich“, sagte William daraufhin mit einem entspannten Lächeln. Zwar wusste sie nicht worum genau es ging, jedoch konnte sie deutlich heraushören, dass es sich bestimmt um einen ihrer Aufträge handeln musste. „Das trifft sich gut. Ich begleite dich, Bruder. Tja, sieht wohl ganz danach aus, als fielen die fröhlichen Flitterwochen ins Wasser“, spottete Louis und grinste höhnisch. Miceyla musste sich eine scharfe Bemerkung verkneifen. „Louis… Verzeih meine Liebe, dass der Zeitpunkt etwas ungelegen kommt. Sollte alles reibungslos verlaufen, bin ich noch vor morgen Abend wieder hier. Gut, sollen wir rasch das Wichtigste vorbereiten?“, entschuldigte William sich bei ihr und verschwand kurz darauf mit seinen zwei Brüdern. Miceyla wurde allein zurückgelassen. Sie stand da als wäre sie ein verirrtes Wesen, an dem Abend ihrer eigenen Hochzeit. Sollte dies von nun an Gang und Gebe sein, dass sie wie ein artiges Schoßhündchen darauf wartete, bis William sie dazu aufforderte etwas zu tun? Und sollte sie die führsorgliche Hausfrau spielen, während ihr Ehemann und dessen Brüder draußen mit der Gefahr konfrontiert waren? Nein, das war garantiert das Letzte was sie wollte. Ihr Streben war es, eigenständig zu handeln und sich weiterzuentwickeln. Und sie wusste auch schon, wie sie am besten damit beginnen konnte. Zügig lief Miceyla die Treppenstufen des Anwesens hinunter und suchte Moran auf, der leise summend die Reste von der großen Tafel plünderte. „Hm…? Oh, du bist es bloß. Was soll der kritische Blick?! Ich stehle hier kein Essen!“, verteidigte er seine Unschuld, ohne sich dabei aufhalten zu lassen. „Moran… Ich muss dich um etwas bitten…“ Liebes Tagebuch, 21.3.1880 von heute an werde ich an einem neuen Ort Tagebuch führen. William hat mir den großen Schreibtisch in unserem Schlafzimmer überlassen. Ich hatte noch nie so viel Platz an einem Tisch. Hier kann ich mich ordentlich breit machen, he, he. Sogar ein eigenes Ankleidezimmer habe ich. Unsere Hochzeit heute war ein prägendes Ereignis. Irgendwie fühlt es sich ein wenig seltsam an, dass es für Emily und John eine ganz gewöhnliche Feier war, ohne das sie wissen können, was sich bei uns im Hintergrund alles abspielt… Und Sherlock, wie er wohl über das alles wirklich denkt? Ich habe ihn heute nicht gesehen. Doch auch seine Gabe hat Grenzen. Solange er nicht auf einmal die Macht des Hellsehens entwickelt, wird er bei uns keine Spuren vorfinden, die auf Verbrechen des Meisterverbrechers hindeuten. Ach ja, es gab tatsächlich heute einen klitzekleinen Zwischenfall. Mycroft Holmes hat sich anonym unter die Gäste gemischt! Er stand nicht auf der Gästeliste. Wollte er uns etwa ausspionieren? Nicht lange hat es gedauert, bis Will Wind davon bekam. Mycroft ergriff dann ruckzuck die Flucht und Fred sollte für eine Weile seine Verfolgung aufnehmen, um sicherzugehen das er nicht wieder zurückkam. Dieser Mycroft ist mir noch immer ein Rätsel… Allerdings scheint er Sherlock recht gern zu haben, also kann es sich bei ihm nur um einen guten Menschen handeln. Die ganze Zeit seit heute Vormittag, versuche ich mich hartnäckig von einer gewissen Sache abzulenken… Und zwar von Alberts indirektem Liebesgeständnis. Ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll… Auch wenn er es nicht offen ausgesprochen hat, ist es deutlicher gewesen als all das, was er bislang zu mir gesagt hatte. William wird von seinen geheimen Gefühlen wissen, denn er kennt ihn besser als jeder andere. Es ist furchtbar… Ich hoffte Teil einer glücklichen Familie werden zu können. Doch es sieht ganz danach aus, dass wir uns am Ende alle gegenseitig verletzen… Aber dennoch wird sich kaum etwas an der Beharrlichkeit der drei Brüder ändern. Und auch ich muss voranschreiten und hart an mir arbeiten! Ohne das William es aussprechen muss weiß ich, dass er genau dies von mir erwartet. Es ist nicht damit getan, dass ich hier sitze und darauf warte, dass sich alles zum Guten wendet und stur Aufträge ausführe. Nein! Ich werde eigenständig darüber entscheiden, wie ich Will am besten zur Hand gehen kann. Nur der eigene Fortschritt erzeugt Anerkennung und bewirkt etwas in den Herzen der Menschen. Jetzt habe ich die einmalige Chance, meinen unerschütterlichen Willen unter Beweis zu stellen. Rosenprinz Weiße Rose, eingebettet in deiner Geborgenheit, engelsgleich schwebe ich dahin in meinem reinen Kleid. Freudentränen fallen wie sanfte Federn auf den Schnee, meine Innere Kälte nimmt Abschied und schmilzt zu einem klaren See. Deine Wärme strahlt zu mir als ein zarter Lichtschleier, zwei Herzen vereinen sich auf einer heiteren Feier. Unser neues Glück leuchtet wie funkelnde Diamanten, es ist mehr als nur ein Schicksal, welches wir fanden. Lass uns jeden führen in ein schönes Leben und allen einen Teil der Hoffnung zurückgeben. Den Weg in die Zukunft betreten die zerbrechlichen Seelen, an Mut und Stärke wird es ihnen garantiert nie fehlen. Freude steht denen zu, die hart dafür gekämpft haben und mit erhobenem Haupt weiterleben, trotz der Narben. Nun erscheint sie mir gar nicht mehr so trist, die Welt, geliebter Prinz, du bist mein beschützender Held. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)