Falling From Grace von Last_Tear ================================================================================ Kapitel 1: With Broken Wings (Issay - Teil 1) --------------------------------------------- Langsam schloss Issay die Augen und atmete tief durch. Jeden Tag der gleiche Ablauf. Es war ermüdend. Sicherlich war es gut für die Disziplin, aber er langweilte sich. Obwohl ihm alles weh tat, er Akira dafür verfluchte, dass er ihnen den Auftrag versaut hatte und der Hunger an ihm nagte. Sein Geist kam einfach nicht zur Ruhe, seine Gedanken sprangen wild hin und her, wie gefangene Eichhörnchen in einem Käfig. Dies wurde erst gestoppt, als sich jemand neben ihn auf die Matratze fallen ließ und ein warnendes Knurren entkam ihm. Keita. Natürlich. Wer würde es auch sonst wagen, ihn jetzt noch zu belästigen? „Was willst du?“ Sein Gegenüber lachte leise und Issay verdrehte die Augen. Natürlich war der Andere noch genau so fit wie er selbst. Sie waren auf einem Level was ihre Fitness anging, aber körperlich war er stärker. Dafür konnte sich Keita schneller auf neue Situationen einstellen und in Sekundenschnelle einen Ausweg für gefährliche Situationen finden. So auch heute, sonst wäre wohl nicht nur einer von ihnen gestorben. Und genau dieser Umstand war es auch, der Issay davon abhielt, Keita zu erwürgen. „Ich kann nicht schlafen und wollte mich mit jemandem unterhalten. Der Rest schläft tief und fest und du weißt, dass wir nicht mehr raus gehen dürfen, wenn es dunkel ist.“ Ja, das wusste er. Das wussten sie alle nur zu gut und Issay verdrehte die Augen, bevor er von seinem Bett aufstand und ans Fenster trat, dass er einen Blick hinaus werfen konnte. Viel half es ihm nicht, alles was er sehen konnte, war endlose Dunkelheit, als hätte jemand das Licht gefangen genommen und weigerte sich, es wieder frei zu lassen. Aber theoretisch wäre das alles absolut kein Hindernis gewesen, ihren Schlafsaal doch zu verlassen. Nur praktisch war mehr als ein Junge verschwunden, der sich nach der Sperrstunde hinaus gewagt hatte und das war das Letzte, was er wollte. Einfach so verschwinden. Dafür hatte er zu hart gearbeitet, sich zu viel erkämpft, zu viele Prüfungen bestanden und Narben davon getragen. Er war nicht bereit, sein Leben leichtfertig wegzuwerfen, so wie Akira. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, worüber du dich unterhalten willst, Keita und meine Geduld ist längst aufgebraucht.“ Statt eine Antwort zu erhalten, spürte er, wie der Andere sich an ihn kuschelte und ein Seufzen entkam seinen Lippen. Wie sollte er es ihm verübeln nach allem was passiert war heute? Es war nur eine Umarmung, nichts was ihn schwächen würde. Ihr Ausbilder mochte der Meinung sein, dass Gefühle in dieser Welt unnötig waren, etwas dass kein Auftragsmörder besitzen sollte, aber Issay selbst war in diesem Punkt anderer Meinung und er wusste, dass es Keita genau so ging. Dementsprechend verschränkte er nur ihre Finger miteinander, hielt den Anderen eng bei sich und starrte weiter vor sich hin in die Finsternis. Eine Ewigkeit schien zu vergehen in welcher sie nur da standen und aus der Anwesenheit des Anderen Kraft zogen, bis Keita die Stille schließlich doch durchbrach. „Ich hab Angst, Issay. Was ist, wenn mir genau so ein Fehler passiert, wie Akira? Oder schlimmer? Wenn ich die nächste Prüfung nicht schaffe?“ Oh. Natürlich. Damit hätte er rechnen müssen, früher oder später. „Mit diesem Selbstbewusstsein schaffst du nicht mal die Trainingsrunde zum Frühstück.“ Erneut breitete sich Stille zwischen ihnen aus, nur ab und an unterbrochen wenn einer der anderen Jungs im Schlafsaal sich unruhig im Bett hin und her drehte aber auch das hörte nach kurzer Zeit auf. Keita schien nichts mehr zu sagen zu haben und als er müde davon wurde, zu stehen, zog er den Anderen einfach richtig in seine Arme und zurück ins Bett. Wenn niemand etwas davon mitbekam, würde niemand sie zurecht weisen können. Der neue Tag hingegen kam beinahe zu schnell. Schlaf war nicht einfach zu finden gewesen und kurz vor Sonnenaufgang hatte sich Keita zurück in sein eigenes Bett geschlichen um dort noch zumindest eine halbe Stunde zu verbringen, bis ihr Ausbilder den Raum betrat und das Licht anschaltete. Issay fühlte sich schwindlig als er aufstand, aber er zwang sich, ruhig zu stehen. Er war nicht in Stimmung direkt zurecht gewiesen zu werden. Davon ab, würde es an seinem Ego kratzen, wenn er wegen so einer Kleinigkeit Minuspunkte sammeln und in der Gunst ihres Ausbilders sinken würde. Die Inspektion dauerte keine zehn Minuten - in den letzten fünf Jahren hatten sie alle gelernt, worauf es ankam und dass es besser war, keinen Ärger für eine falsche Haltung zu riskieren oder zerrissene, unsaubere Kleidung. Es wunderte Issay kein bisschen, dass sie statt in den Speisesaal heute direkt nach draußen geführt wurden und kaum, dass sie ihre erste Runde rannten, schweiften seine Gedanken wieder ab. Natürlich war es normal, dass sie Zweifel hatten, ob sie gut genug waren, sie hatten zwar so weit überlebt, aber es gab immer einen nächsten Tag, der ihr letzter sein könnte. Einen Gegner, den sie nicht überwältigen konnten. Sicherlich wurden sie im Team ausgebildet aber Issay machte sich keine Illusionen. Ihre Ausbildung näherte sich dem Ende. Sieben Jahre waren ihnen an ihrem ersten Tag zugesprochen worden. Sieben Jahre, welche nichtmal die Hälfte soweit überlebt gehabt hatte. Wer wusste, wie viele von den anderen neun Jungs in den nächsten zwei Jahren noch übrig bleiben würden? Nein, acht, korrigierte er sich in Gedanken. Sie waren durch Akiras Verlust vielleicht durcheinander geraten, aber keiner seiner Kameraden zeigte eine Regung, während sie Runde um Runde auf dem alten Fabrikgelände liefen und diese Tatsache entlockte ihm doch ein kleines Schmunzeln. Er hätte nie gedacht, dass ihm überhaupt jemals jemand wichtig werden würde, aber diese Jungs waren längst zu seiner Familie geworden. Gut, mit zehn Jahren hatte er eben eine sehr düstere Sicht aufs Leben gehabt, nachdem er in einem Waisenhaus aufgewachsen war und ihn keiner hatte haben wollen. Geändert hatte sich daran eigentlich nur sein Überlebenswille. Egal was noch passieren würde, diese Welt würde es nicht schaffen, ihn in die Knie zu zwingen, weswegen er ruhig weiter lief, selbst als sein Magen zu knurren begann. Es war unwichtig. Nicht von Belang. Fast wäre er wieder in Gedanken versunken, konnte sich jedoch gerade noch rechtzeitig davon abhalten und stoppte mitten im Schritt, als ein Stein vor seinen Füßen landete. Beinahe automatisch sprang Issay zur Seite, rollte sich ab und kniff die Augen zusammen. Verdammt. „Wäre das eine Granate gewesen, wie hoch schätzt du deine Überlebenschancen ein?“ Die Stimme ihres Ausbilders war bar jeglicher Emotionen und Issay schluckte, als er zu dem älteren Mann aufsah. „Fünf oder zehn Prozent. Ich war nicht schnell genug und es gab keinen ausreichenden Schutz.“ Einige Sekunden lang sahen sie sich gegenseitig an, dann bückte sich ihr Ausbilder um den Stein wieder aufzuheben und in seinen Händen zu drehen. „Richtig. Und jetzt sag mir, was will ich mit einem toten Jungen, Issay? Wir haben gestern Akira verloren. Willst du der Nächste sein?“ Verdammt. Statt zu antworten starrte Issay auf den Boden vor sich, zwang sich ruhig zu atmen. Er wusste, dass er immer noch zu oft in Gedanken abschweifte wenn sie liefen. Aber es war schwer, sich zu konzentrieren, wenn er nicht sicher sagen konnte wie lange er geschlafen hatte. Ausreden. Alles Ausreden. Schweigen war offenbar ebenfalls die falsche Entscheidung gewesen, da ihm der Kopf in den Nacken gerissen wurde und automatisch versuchte er sich zu wehren, was zur Folge hatte, dass er schlussendlich von ihrem Ausbilder in den Schwitzkasten genommen wurde, welcher ihm gleichzeitig die Luft abdrückte. „Denkst du wirklich, ich werde meine Zeit mit jemandem verschwenden der so langsam ist, dass eine Granate ihn problemlos in Stücke reißen kann? Wenn du gegen Riku verlierst, wars das. Haben wir uns verstanden?“ Er konnte nicht mal nicken, nur erstickt nach Luft schnappen als er wieder los gelassen wurde und stolperte automatisch einige Schritte nach hinten. Er würde nicht verlieren. Ihr Ausbilder hatte sich bereits abgewandt, aber Issay brauchte einige Sekunden, bis er wieder etwas anderes sehen konnte, als dessen Rücken. Das perfekte Ziel. Ein gezielter Stich in den Lungenflügel…Es war so viel leichter jemanden von hinten zu erstechen, wenn man sich mit Anatomie auskannte und genau wusste, wo die Knochen lagen. Schade, dass er nichts bei sich trug, was er als Stichwaffe verwenden konnte…Issay schüttelte langsam den Kopf, nein das war zu früh. Auch wenn er sich das als Ziel gesetzt gehabt hatte, notfalls ihren Ausbilder zu töten, bevor er selbst getötet wurde. Noch nicht. Allein wie schnell dieser ihn überwältigt gehabt hatte, zeigte ihm dass er noch mehr Training brauchte und deswegen stellte er sich brav neben seine Kameraden, welche ihr Ausbilder mittlerweile hatte antreten lassen und konzentrierte die Wut in seinem Inneren darauf, zu atmen. Wut machte blind, wenn man sich ihr komplett hingab. Die Kampfteams für den Tag waren schnell verteilt und als Riku ihn düster angrinste, konnte Issay nicht anders, als ebenfalls zu grinsen. Einfach würde das nicht werden. Riku schien von ihnen allen am Meisten Muskeln angesetzt zu haben, außerdem war er mindestens einen halben Kopf größer als er selbst und bekannt dafür, erst zuzuschlagen und dann Fragen zu stellen, sofern das Opfer noch am Leben war. Zwar war es ihnen verboten, ihre Trainingspartner zu töten oder schwer zu verletzen, aber Riku hatte so einigen von ihnen bereits eine Schulter ausgerenkt. Und das war eine Erfahrung auf die Issay dankend verzichten konnte. Wie erwartet durften sie den Anfang machen - wenn er verlor würde ihr Ausbilder ihn für den Rest des Trainings so lange als Sandsack nutzen, bis es einen Grund gab ihn zu töten. Dann, wenn die anderen Jungs fertig waren, mit ihm zu spielen. Issay seufzte leise, während er sich seine schulterlangen Haare mit einem Band zusammenfasste. Dann würde er sich wohl was überlegen müssen. Hatte er nicht gestern seine Schlagringe eingesteckt gehabt? „Na was ist denn? Ich dachte, Mädchen machen immer den Anfang.“ Riku lachte amüsiert, während die restlichen Jungs langsam einen Kreis um sie gebildet gehabt hatten und Issay hob knapp eine Augenbraue. „Hat dir keiner beigebracht, dass du deinen Feind nicht unterschätzen sollst, Riku?“ Damit schob sich Issay die Schlagringe über die Fingerknöchel, prüfte kurz ob diese richtig saßen, bevor er einen lässigen Schritt auf den anderen Jungen zu gemacht hatte. Im nächsten Moment hatte er Riku hart in den Magen getreten und beobachtet befriedigt, wie dieser einige Schritte zurück taumelte und auf die Knie sank. Ein Knurren kam von Riku und als dieser sich wieder erhob, war Issay vorsorglich einige Schritte zurück gegangen, wich dem folgenden Schlagangriff gekonnt aus und schlug selbst zurück. Riku mochte den Vorteil haben, stärker zu sein, als sie alle, aber das bedeutete auch eines - er vernachlässigte seine Deckung. Massiv. Und genau diesem Umstand hatte es Issay zu verdanken, dass seine Faust problemlos mit der Wange des Anderen kollidiert war. Auf den ersten Schlag folgte direkt ein zweiter und als Riku sich soweit gefangen gehabt hatte um ebenfalls anzugreifen, reichte es Issay, sich zu ducken und abzurollen, als Riku versuchte ihn zu treten. In diesem Moment war alles aus seinem Kopf verbannt, das was zählte war sein Gegenüber - welches mit jeder Sekunde wütender wurde, weil er es nicht schaffte, ihn ebenfalls zu treffen. Ein gezielter Tritt gegen Rikus Schienbein ließ diesen vor Wut brüllen und dieses Mal schaffte es Issay nicht, dem Angriff ausweichen, weswegen er sich im Staub wieder fand und sich gerade noch abrollen konnte, bevor Rikus Ellenbogen dort mit dem Boden kollidierte wo zuvor noch sein Kopf gewesen war. Das reichte. Offenbar wollte der Andere ja wirklich Blut sehen und ein Knurren verließ Issays Lippen, bevor er dazu übergegangen war, Riku mit angetäuschten Schlägen und Tritten so sehr zu verwirren, dass es ein leichtes für ihn war, diesem das Nasenbein zu zerschmettern. Der Anblick war wirklich erbärmlich und Issay hatte gerade ausholen wollen, um es zu beenden, als ihr Ausbilder sich zwischen ihn und Riku stellte und ihn zurück in die Realität brachte. „Offenbar habe ich mich ja doch in dir getäuscht, Issay. Weiter so.“ Ein Schlag auf seine Schulter ließ ihn leicht zucken und er starrte stumm auf seinen Trainingspartner. Riku lag zusammengekauert auf dem Boden, presste die Hände an seine blutende Nase und weinte. Ihr Ausbilder hatte sich längst dem zweiten Trainingskampf zugewandt und Issay hatte sich gerade umdreht um seine Schlagringe wieder in der Hosentasche zu verstauen, als ihm auf die Schulter getippt wurde. Der Schlag kam so schnell, dass ausweichen unmöglich war und als Rikus Faust mit seiner Schläfe kollidierte, wurde alles um ihn herum schwarz. Als Issay wieder zu sich kam, lag er in seinem Bett und kniff erstmal die Augen gegen die Helligkeit zusammen. Was hatte er sich auch ausgerechnet das Bett direkt neben dem Fenster aussuchen müssen? „Du bist wieder wach…“ Huh. Er blinzelte irritiert und als er den Kopf auf die andere Seite drehte, sah er direkt in Keitas besorgtes Gesicht. „Entschuldige, ich hab nicht aufgepasst, Riku hat dich böse erwischt, du bist umgefallen wie ein Stein.“ Issay verzog das Gesicht und fluchte im nächsten Moment. Das erklärte wenigstens wieso er so grauenvolle Kopfschmerzen hatte. Dass Keita ihm ein nasses Tuch auf die Stirn gelegt gehabt hatte, merkte er jedoch erst, als dieser das Tuch vorsichtig wendete und Issay schnaubte leise, durfte doch echt nicht wahr sein. „Du kannst nichts dafür, Kei. Ich bin selbst Schuld, ich weiß, dass man einem Feind nicht den Rücken zu dreht, solange er noch lebt. Aber ich dachte, dass er sich an die Regeln hält.“ Keita seufzte leise und Issay zwang ein zuversichtliches Lächeln auf seine Lippen, griff vorsichtig nach der Hand des Anderen und drückte diese sanft. „Hey…Sag mir lieber wie dein Trainingskampf lief.“ Jetzt war es an Keita zu lächeln und Issays Herz machte einen kleinen Satz. Keita hatte so ein wunderschönes Lächeln, er tat es nur viel zu selten. „Gut. Ich hab Neji den rechten Arm ausgerenkt und musste ihn dann K.O. setzen, weil er trotzdem weiter gemacht hätte. Aber du musst dir keine Sorgen machen, Ishikawa-sensei meinte dass du dich gut geschlagen hast und der Überraschungsangriff von Riku gegen die Regeln war, also schläft er die nächste Zeit im Bunker.“ Immerhin etwas. Auch wenn Issay erschauderte bei der Erwähnung des Bunkers - sie nannten dieses Zimmer so, weil es absolut keine Fenster hatte, eine Tür und gerade so groß war, dass zwei Personen darin Platz hatten. Es war dunkel, kalt und man hörte dort drinnen immer Geräusche, egal ob Wind wehte oder nicht. Perfekt um jemanden in den Wahnsinn zu treiben und er war wahnsinnig froh dass er dort nur drei Tage verbracht hatte. „Heißt, keine Nachtwanderung heute?“ Keita schmunzelte nur und auch Issay musste lächeln, so wie sein Kopf dröhnte, wäre er wirklich nicht zu gebrauchen um irgendetwas im Wald aufzuspüren. Weder Tiere, noch Menschen. „Ich bring dir was mit. Wenn dir langweilig wird, kannst du dich ja mit Neji unterhalten, er spricht nicht mehr mit mir. Ansonsten solltest du versuchen liegen zu bleiben, wenn es geht, ja? Und ich hab dir was zu trinken besorgt.“ Issay murrte, als er den Kopf wieder in die andere Richtung gedreht hatte und machte große Augen, als ihm bewusst wurde, dass dort nicht nur eine Trinkflasche standen, sondern zwei. „Keita…“ Dieser hingegen grinste nur, bevor er sich vom Bett erhob und ihm nochmal zuzwinkerte. „Lauf nicht weg, ich komm zurück.“ Damit hatte er den Raum verlassen und Issay starrte ihm nach, während er zu verarbeiten versuchte, wieso Keita seine Wasserration für ihn aufgegeben hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)