Die Geister der Unterwelt von Alaiya (Wichtelgeschichte für Futuhiro) ================================================================================ Kapitel 1: Die Prüfung ---------------------- Die Fenster knirschten in der an diesem Tag plötzlichen Kälte. Olga schaute zu ihnen hinüber, halb damit rechnend, dass sie brechen würden. So war es letzten Monat schon passiert. Das alte Haus war nicht unbedingt in besten Zustand nach den letzten drei Jahren. Yefim stellte seine Ohren auf und spannte den buschigen Schwanz an, während auch er das Fenster beobachtete. Er hatte denselben angespannten Blick dabei, den Olga auch von den normalen Hauskatzen kannte. Sein ganzer Körper war angespannt. „Ist da etwas, Yefim?“, fragte sie den Fuchs. Das Tier machte einen erstickten Japslaut, entspannte sich dann jedoch. Ob es einer der Wintergeister gewesen war? Sie hatte viele Geschichten von ihnen gehört und wie sie gerade an diesem letzten Tag des Jahres ihr Unwesen trieben. Dabei hätte das Jahr nach dem alten Kalender bereits an Yule geendet. Sie hatte ihr Haar geflochten, trug es in einem Knoten gebunden und stand in der großen Vorhalle vor dem Zimmer ihres Onkels. Das Haus stammte noch aus Zarenzeiten, als ihre Familie mehr Einfluss gehabt hatte. Als sie für den Adel gearbeitet hatten, als Seher, als diejenigen, die kleine Wunder gewirkt hatten und die Ernten verbessert hatten. Ihr Großvater kannte viele von diesen Geschichten. So lange war es ja auch gar nicht her. Die Tür des Büros von Onkel Pyotr wurde geöffnet und ihre Tante schaute hindurch. „Komm rein“, meinte sie freundlich und mit einem weiten Lächeln. Olga nickte und durchquerte mit einigen eiligen Schritten das Vorzimmer, um in das Büro des Onkels zu treten, wo Pyotr, aber auch Vaska und Vanya auf sie warteten. Vanya war ihr kleiner Bruder, selbst wenn Vaska, ihre Cousine, wohl eher für ihre Schwester durchgegangen wäre. Vanyas Haar war dunkel, wie das Gefieder eines Rabens, Vaskas dagegen blond wie Olgas. Ja, das Haar des Mädchens, das trotz seines Alters kaum älter als 12 wirkte, war so hell, dass es beinahe weiß wirkte. Genau deswegen war sie hier mit Vanya. Die beiden waren keine Geschwister und doch am selben Tag zur selben Stunde geboren. Ein Zeichen, hatte ihr Großvater damals beschlossen. Und so waren die beiden Seite an Seite aufgewachsen. Und vielleicht mochte es ein Zeichen gewesen sein, war die Magie der beiden jenseits dem, was Olga sich je hätte vorstellen können. Dennoch würde das hier wohl genau so ihre Prüfung wie die der beiden werden. „Olga, meine Liebe“, meinte ihr Onkel in seinem üblichen dröhnenden Bariton. „Es freut mich, das du wirklich gekommen bist.“ Man hat ihr keine Wahl gelassen. Es war Familienehre, nicht. Familie steht vor allem. Und dieser Tag war wichtig für die Familie, selbst wenn sie lieber bei den Studenten an der Universität gewesen wäre, um das Ende des Jahres zu feiern. Dennoch machte sie einen Knicks. „Es ist mir eine Ehre.“ „Du kennst deine Aufgabe“, erwiderte Pyotr. „Ja.“ Sie sah die beiden Jugendlichen an, beide etwas mehr als ein halbes Jahrzehnt jünger als sie. Vanya war groß gewachsen und relativ kräftiger Natur, Vaska dagegen klein, ging ihm kaum bis zur Brust. Eine Eule thronte auf Vanyas Schulter, beobachtete alles auf verschlafenen Augen und mit aufgeplusterten Gefieder. „Ich werde die beiden nach Ostankino bringen und darauf achten, dass die Aufgabe der Hexe bis Mitternacht abgeschlossen war.“ Für die beiden war es die Prüfung, um in die nächste Phase ihrer Ausbildung aufzusteigen. Für sie war es die Prüfung zur Meisterin erklärt zu werden. Sie würde selbst die Kinder ausbilden dürfen, wenn sie es wollte, oder ihren eigenen Weg wählen dürfen. Einen Weg, dessen sie sich bereits recht sicher war. Die Göttinnen, denen Olgas Geburt gewidmet war, waren schwach. Das Land war das zweite Mal in einem Jahrhundert komplett neugegründet worden. Dabei gab es wenig, auf das man sich verlassen konnte. Bis auf eins. Es war nicht das Moralischste, war weit ab von Idealen doch trotz aller Widersprüche, gab es dort vielleicht eine Zukunft. Und es war die Zukunft, die sie suchen würde, anstatt sich wie der Rest der Familie an die Vergangenheit zu klammern. „Sehr gut.“ Ihr Onkel nickte nun. Sein Kopf wurde von einer großen kahlen Stelle geschmückt. Mit Bart und der grauen Haarkrone, um die Stelle hätte er vielleicht weise ausgesehen, wäre sein Haar nicht so kurz geschoren. So sah er eher aus, wie einer der Banker aus dem Westen. Jetzt griff er in die Schublade seines alten Schreibtischs und zog vier Gegenstände heraus. Eine goldene Taschenuhr und drei Amulette aus Holz. „Komm her, Olga.“ Sie trat vor, trat an den Schreibtisch und streckte die Hand aus. „Ihr habt zwölf Stunden“, sagte er und hob die Uhr, laut der es kurz vor Mittag war. „Ich weiß, Dyadya“, antwortete sie und steckte die Uhr in die Tasche ihres Wollrocks, machte das Band an ihrem Gürtel fest. „Für jeden von euch ein Amulett. Für den Notfall. Wir wissen nicht, was die Belaya euch auftragen wird“, fuhr ihr Onkel fort und nickte Olga zu. Sie nahm es sich. Es war ein einfacher Anhänger aus Holz. Eine vereinfachte Darstellung des Donnerzeichen von Peruns. Ein Zeichen des Schutzes, sowohl des Gottes, aber auch ihrer Familie. Sie konnten sie rufen, wenn sie es verbrannten. Vorsichtig holte sie ihre Kette unter dem Pullover hervor und hängte es zu den anderen Amuletten, die es bereits zierte. Einen Teil von ihnen hatte sie selbst vorbereitet – um sich die Anstrengung der Zauber unterwegs zu sparen. Hoffentlich würde es reichen. Auch an ihren Armen hingen Amulette. Vorbereitet war sie, soweit es möglich war. „Vaska, Vanya, ihr nehmt euch beide ebenfalls ein Amulett“, sprach Pyotr, als Olga zurücktrat und wartete, bis die beiden sich ihre Anhänger genommen hatten. Vaska machte ihres an einem Armreif fest, Vanya nutzte wie Olga eine Kette. „Ihr könnt einen Wagen nach Ostankino nehmen. Wie es von da aus weitergeht, liegt in der Entscheidung der Balaya.“ Olga seufzte. Sie glaubte nicht wirklich, dass sie weit vor Mitternacht fertig werden würden. Ihre eigene Prüfung allein war an einem Frühjahrstag stattgefunden, zur Sonnenwende, doch war auch sie nur wenige Minuten vor Ende des Zeitlimits fertig geworden. Was ein Abschluss für ein seltsames Jahr. Wenigstens stand die Sonne hoch an einem klaren Himmel, als Olga den neuen Wagen ihres Onkels Richtung Ostankino lenkte. Sie lebten wie schon ihre Großeltern, Urgroßeltern und die fünf Generationen davor im Familienanwesen in Ostozhenka. Angeblich, erneut laut ihrem Großvater, einst ein Geschenk einer Tsarin. Aber vielleicht war das auch nur eine Familienlegende. Was dies allerdings bedeutete, war eine lange Fahrt nach Ostankino. Wann es angefangen hatte, dass ihre Prüfungen in Ostankino stattfanden, wusste niemand mehr. Zumal es nicht bei jedem der Fall war. Es war ihre Großtante, die dies bestimmte, nachdem sie in die Zukunft sah. Olga selbst hatte ihre Prüfung im Wald abgelegt, hatte ein altes Haus aufgesucht. Dass sie dabei Baba Yaga nicht über den Weg gelaufen war, schien ein Wink eines guten Schicksals gewesen zu sein. So oder so, heute ging es nach Ostankino, wo auch ihre Mutter ihre Prüfung absolviert hatte. Dabei kannte die Geschichte der weißen alten Frau sogar die normalen Menschen der Stadt. Die Prüfung von ihr zu bekommen galt als gutes Zeichen, war sie doch auch großen Herrschern des Landes erschienen. Vaska und Vanya saßen auf der Rückbank. Während Yefim auf dem Beifahrersitz hockte, hatten die beiden jungen Magier ihre Familiare auf ihrem Schoß. Keine alte Tradition, sondern etwas, das erst vor vielleicht hundert Jahren in ihre Familie gekommen war. Zumindest Vanyas Eule hatte sich aufgeplustert und schien alles in allem mit der Situation nicht zufrieden. Vanya schaute still aus dem Fenster, während Vaska ein Buch aufgeschlagen hatte. Sie war wahrscheinlich die belesenste Hexe in ihrer Familie. Trotz der Sonne herrschte eisige Kälte im Wagen. Kein Wunder. Draußen waren die Temperaturen seit den Morgenstunden gefallen, statt gestiegen. Es war Vaska, die am Ende das eisige Schweigen brach. „Hast du die Balaya schon einmal gesehen?“, fragte sie auf einmal und schaute von ihrem Buch auf. Auch Kir, der buschige Kater auf ihrem Schoß sah auf. „Nein“, erwiderte Olga. „Die Balaya erscheint nur den wichtigeren Mitgliedern der Familie und ich bin, dankbarerweise, nicht wichtig genug.“ „Wie kann man froh sein, kein großes Schicksal zu haben?“, murmelte Vanya, ohne den Blick von dem Straßenrand abzuwenden. „Indem man lieber sein eigenes Schicksal wählt.“ Olga zuckte mit den Schultern. Mit einer Hand zog sie sich ihre Mütze zurecht, da jedes freie Stück Haut vor Kälte schmerzte. Vanyas Blick war düster, während er ein paar Passanten am Straßenrand beobachtete. „Menschen treffen falsche Entscheidungen“, murmelte er. „Fang nicht wieder damit an, Van“, murmelte Vaska und verdrehte die Augen. Selbst Olga hatte davon genug mitbekommen. Für einen Sechszehnjährigen hatte Vanya sehr ausgereifte Meinungen, die ihn häufiger mit dem Großvater in Konflikt gebracht hatte. Er verfluchte das Referendum aus dem Vorjahr noch immer. Es war etwas, über das man besser keine Diskussion mit ihm anfing. Er war ein Junge und gerade in einem Alter, in dem seine Meinungen ihm unglaublich wichtig waren. „Nun, es sieht aus, als hättet ihr ein großes Schicksal“, erwiderte Olga daher, um das Thema in eine andere Richtung zu lenken. „Immerhin bekommt ihr die Ehre mit der Balaya zu sprechen und einen Auftrag für sie zu erfüllen.“ „Ich hätte es bevorzugt eine alte Prüfung zu vollziehen.“ Vaska packte das Buch in ihre Tasche und strich durch Kirs Fell. „Ich finde, das wäre mehr im Geiste mit den alten Bräuchen.“ „Bräuche verändern sich, Vaska“, murrte Vanya. „Wir sind keine Vrac mehr.“ „Ich denke dennoch, dass es mehr im eigentlichen Geiste der Prüfung war.“ „Meine Prüfung war in einem Wald“, erwiderte Olga. „Allerdings auch mit Zeitlimit.“ „Aber war der Sinn nicht einmal für eine Woche draußen zu bleiben?“ Olga lächelte. „Ich fürchte, die Zeiten sind vorbei.“ Wieder sah sie nach vorne, um sich auf die Straße, die an einigen Stellen recht glatt war, zu konzentrieren. „Immerhin könntest du dich später entscheiden aufs Land zu ziehen. Vielleicht wirst du eine Naturhexe.“ Selbst wenn alles im Leben des Mädchens dafür sprach, dass sie einmal eine Kampfmagierin werden würde. „Ja. Und dann würde ich meine Kinder in den alten Ritualen prüfen“, murmelte Vaska und entlockte dafür nun Vanya ein genervtes Stöhnen. „Nun, erst einmal solltet ihr sehen, dass ihr eure Prüfung übersteht“, erwiderte Olga. „Und denkt daran, dass auch meine Zukunft davon abhängt.“ „Es ist deine Aufgabe, uns am Leben zu erhalten.“ Vanya seufzte. „Wenn wir nicht bestehen, kriegst du noch einmal eine Chance.“ Dies ließ Olga unkommentiert. Denn bei allen Chancen, so wartete sie schon seit vier Jahren darauf, aus dem Familienanwesen auszuziehen. „Ich denke es ist in unser aller Interesse, wenn wir das heute Meistern und vor dem neuen Jahr mit der Prüfung fertig sind, oder? Immerhin wollt ihr das Feuerwerk auch nicht verpassen, oder?“ Vanyas Murren sagte deutlich, dass er auf ein Feuerwerk verzichten konnte. Hätte man ihn gelassen, wäre es wohl gefolgt worden von irgendeiner Beschwerde über Verschwendung und Nutzlosigkeit. „Letztes Jahr hat Mutter mich Silvester mit nach Tschechien genommen“, erzählte Vaska. „Wusstest du das, Olga?“ „Nein“, antwortete Olga, froh, dass das Mädchen ihren Bruder unterband. In der Ferne war ihr Ziel schon zu sehen: Der Fernsehturm von Ostankino. Warum auch immer die Balaya sich in diesem niedergelassen hatte. Vielleicht genoss sie die Aussicht. Vaska war davon jedoch abgelenkt, als sie begann die Feinheiten von Prag zu beschreiben und den Dingen, die sie dort gelernt hatte. Zumindest das hatten die beiden gemeinsam: Sie hatten beide Themen, bei denen es schwer war, sie zum Schweigen zu bringen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)