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Wer wir waren

Seto & Joey | Puppyshipping
von

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Plötzlich vor ihm

Nach all den Jahren, in denen er kein einziges Mal an ihn gedacht hat, steht er plötzlich vor ihm und alles ist wieder da.

Ausgerechnet hier.

Es schneit nicht, wie es in einem schlechten Film getan hätte, stattdessen strömt der Regen herab und prasselt auf seinen Schirm.
 

Joseph Wheeler erstarrt ein paar Meter vor ihm und betrachtet ihn, als sei er ein fleischfressender Schneemann mitten in einer Pfütze.

»Was machst du hier?«, fragt er überrascht und Seto Kaiba überlegt nicht zum ersten Mal, ob Wheeler tatsächlich dermaßen kognitiv limitiert ist, wie es seine Worte vermuten lassen, oder ob er diese Fragen stellt, um ihn zu provozieren.

Ganz bewusst. Weil er schon immer die zweifelhafte Fähigkeit besessen hat, ihn dort zu packen, wo es ihn besonders reizt.

In jedem Sinne, spöttelt eine Stimme in seinem Kopf.
 

»Das, was Menschen auf Friedhöfen machen, solange sie noch nicht tot sind.«

Wheeler schaut ihn an, als wisse er nicht, ob er lachen darf – oder schon wieder kann. Dann schaut er weg, mustert etwas auf dem Boden, knapp vor seinen Sneakers, die inzwischen völlig durchweicht sein dürften. Die Regentropfen laufen sein Haar hinab und perlen von den Strähnen in sein Gesicht.

Einen Moment lang ist er versucht, ihm die Tropfen von der Wange zu wischen, aber Seto Kaiba gibt keinem so niederen Bedürfnis nach. Er ist kein Schwächling, der sich von Emotionalität einwickeln und durch das Leben jagen lässt.

Seine Handlungen und seine Entscheidungen unterliegen stets einer Rationalität, auf die er insgeheim unheimlich stolz ist.

Feigling, schnarrt die Stimme.
 

Er hält einige Schritte vor ihm, gerade weit genug, dass Wheeler im Regen steht und nicht in die Versuchung gerät, sich mit unter den Schirm zu stellen.

Kaiba beobachtet, wie Wheelers Blick über das frisch aufgeschüttete Grab fliegt, als habe er Angst, das Bild würde sich in seinen Kopf fräsen und ihn nie wieder loslassen. Als könne er die Wirklichkeit austricksen, wenn er nur nicht zulassen würde, sie als solche anzuerkennen.

Dabei ist das belanglos. Kaiba weiß das.

Das Grab seiner Eltern blitzt in seinen Gedanken auf, aber er schiebt die Bilder zur Seite, wie er es schon seit Jahren, fast sein ganzes Leben lang, getan hat. Er betrachtet Wheeler und überlegt, ob er betet oder einfach nur ins Leere starrt – und ob das überhaupt einen Unterschied macht.
 

»Ich kann nicht zurück«, murmelt Wheeler irgendwann und das Prasseln des Regens nimmt die Worte mit. »Ich habe das Gefühl, dass er jeden Moment durch die Tür kommt, wenn ich zu Hause bin.«

Aber es kommt niemand.

Der Regen trägt die Worte zu ihm und sie pochen in seinen Ohren, weil er sie so oft gespürt hat.

Stattdessen wartet man, hofft und wird enttäuscht. Immer und immer wieder. Bis man irgendwann resigniert die Realität annimmt – oder daran zugrunde geht.

Seto Kaiba sagt sich, dass es nichts mit Empathie zu tun hat, als er vor seiner Wohnungstür stehen bleibt.

»Oh, krass. So Gesichtserkennung und so?«, ruft Wheeler hinter ihm und er spürt, wie der sich zu ihm lehnt und er tritt hastig in den Flur.

Nicht hastig. Zügig. Effizient. Weil es regnet.

Die Stimme gackert.
 

Kaiba redet sich ein, dass es absolut rational vertretbar ist, eine Person nicht im strömenden Regen auf sich gestellt zurückzulassen. Unterlassene Hilfeleistung geistert durch seine Gedanken. Eine innere Stimme lacht ihn aus. Eine andere schweigt.

Er weiß nicht, was besser ist.

»Danke, Alter«, sagt Wheeler, während er seine Schuhe auszieht und in feuchten Socken und durchnässter Kleidung in seinem Flur steht.

Wheeler schaut sich planlos um, beißt auf seiner Unterlippe herum und überlegt offensichtlich, wie er es schafft, keine Pfotenabdrücke auf dem teuren Parkett zu hinterlassen.

»Du siehst aus wie ein begossener Hund.«

Er wartet auf das Funkeln in den Augen, das Lodern, das er ihm geschenkt hat, sobald die Worte zwischen ihnen gesprüht haben. Stattdessen wirft Wheeler ihm einen verlegenen Blick zu.

»Ja, sorry. Ich will echt nichts volltropfen.«

Vor ein paar Jahren hätte er ohne zu zögern einen zweideutigen Spruch losgelassen.

Wheeler tritt von einem Fuß auf den anderen und er redet sich ein, dass er keine Enttäuschung verspürt, als nichts Dergleichen folgt.
 

Seto Kaiba redet sich ein, dass es keine große Sache ist, als er Wheeler einen Pullover und eine Jogginghose in die Arme drückt.

Er fragt sich, wie einfach es wäre, zu ihm zu gehen, ihn zu berühren, seine Strähnen aus der Stirn zu streichen und mit seinen Lippen über die feuchte Haut zu streifen. Ob er ihn von sich stoßen würde? Ob er überrascht wäre?

»Hey, sind das nicht noch meine –«

»Du kannst dich im Bad –«, unterbricht er Wheelers Geplapper und schluckt den restlichen Satz herunter, weil sich Wheeler bereits den nassen Pullover über den Kopf zieht und plötzlich halbnackt im Gang steht.

»Danke«, sagt er ungeniert und Seto Kaiba fragt sich, seit wann er sich bei ihm bedankt. Ob das eine irritierende Höflichkeit ist, die aus ihrer Entfremdung resultiert oder aus Wheelers Bedürfnis, seine Planlosigkeit zu kaschieren.

Er beobachtet, wie sich Wheeler die schmerzhaft vertrauten Sachen überstreift.

Ob er immer noch so schmeckt, wie damals.
 

Nach all den Jahren, in denen er kein einziges Mal an ihn gedacht hat, ist er ihm plötzlich wieder so nah und alles, was er gedacht hat, vergessen zu haben, kommt schlagartig zurück.

»Wo warst du?«, will er ihn fragen, aber tut es nicht, weil es ihn nichts mehr angeht.

Ausrede, zischt diese nervige Stimme, die immer mehr wie Wheeler klingt.

»Boah, wie krass. Mokuba ist ja so was von erwachsen geworden.«

Nur Wheeler besitzt die Unverschämtheit in einer fremden Wohnung umherzustreifen und einfach ein Bild aus dem Regal zu nehmen und zu befingern. Kaiba will es ihm aus der Hand reißen, aber kämpft gegen den Zorn, den er immer irgendwann verspürt, wenn ihm Wheeler zu nahekommt.

»Wie alt ist er jetzt eigentlich?«

Wheeler verzieht sein Gesicht, wahrscheinlich, weil für ihn jegliche Grundrechenart höchste Anstrengung bedeutet.

Dabei war es eine simple Rechnung.

Plus die Jahre, seit denen Wheeler verschwunden ist.

»Sechsundzwanzig?«

»Siebenundzwanzig«, korrigiert Kaiba ihn scharf.

Wheeler nickt gedankenverloren, während er das Bild zurück in das Regal stellt. Es ist wahrscheinlich das Einzige, dem in der ganzen Wohnung etwas Persönliches anhaftet. Aber das ist nichts Neues. Mokuba ist schon immer die Ausnahme in Seto Kaibas Leben gewesen.
 

»Weißt du, er hätte sich kaputtgelacht«, flüstert Wheeler. Sein Name ist ein Tabu.

»Dass wir uns ausgerechnet an seinem – also – dort wiedertreffen. Eigentlich war es überhaupt wegen ihm, dass wir –«

»Wheeler«, unterbricht er ihn harsch, »du kannst im Gästezimmer schlafen. Solltest du noch etwas brauchen, dann warte, bis du wieder aus meiner Wohnung verschwunden bist und besorge es dir irgendwo außerhalb meiner Reichweite.«

Nur Wheeler besitzt die unglaublich nervenaufreibende Art, ihn nach einer solchen Zurechtweisung schief anzugrinsen. Als habe er irgendeinen lahmen Witz erzählt und die Pointe versaut. Als habe Wheeler den Witz schon gekannt und nur um seinetwillen gelächelt.

Ohne ein weiteres Wort, erhebt sich Kaiba und lässt Wheeler auf dem Sofa zurück.

Er weiß nicht, ob er die Worte, die ihm schon, immer noch, wieder auf der Zunge liegen, geflüstert oder gebrüllt hätte.

Er will es nicht herausfinden.

Weil du ein Feigling bist, zischelt die Stimme.

Später liegt er im Bett und starrte die Schatten an der Zimmerdecke an. Er zählt ihre Beine, Arme und Flügel, während er sich einredet, wegen des Stresses in der Firma nicht einschlafen zu können.

Lügner, kichert die Stimme.
 

Als sich die Tür scharrend öffnet, wendet er seinen Blick nicht von der Decke. Weil er vielleicht hofft, dass Wheeler nicht denselben Fehler zweimal begehen würde.

»Kaiba?«, flüstert er. »Schläfst du schon?«

Natürlich lernt Wheeler nichts aus Fehlern.

»Ja«, antwortet er der Zimmerdecke.

Nach all den Jahren, in denen er kein einziges Mal an ihn gedacht hat, steht er plötzlich dort und alles ist wieder da.

Jede Berührung, wie er über seine Wange, sein Schlüsselbein, seinen Bauch gestreichelt hat; jeder Atemzug, dem er mitten in der Dunkelheit der Nacht lauschte, weil er nicht begreifen konnte, dass sie beide wirklich hier lagen; jedes geflüsterte Wort, jeden anvertrauten Gedanken, jeden Traum.

»Also«, murmelt Wheeler und er hört, wie er von einem Fuß auf den anderen tritt, als würde er schon zu ihm schleichen wollen, aber sich zurückhalten.

Die Worte formen sich auf seiner Zunge, aber er schluckt sie herunter.

Die Frage, die er nicht stellen will, verpufft irgendwo zwischen seinen Lippen.

Du bist ein Idiot, sagt die Stimme nüchtern.

Die Decke raschelt, als er sie zurückschlägt und er lauscht Wheelers nackten Füßen auf dem Parkett, spürt das Gewicht auf der Matratze, wie sie sich senkt und fühlt dann die Wärme. Er atmet tief ein und aus und den Duft Wheelers, der ihm so vertraut ist wie sein eigener.

»Seto«, flüstert Wheeler in sein Ohr.

Und legt dann seine Stirn an seine Schulter.
 

Seto Kaiba vergisst einige Momente zu atmen. Wheelers Nähe schnürt ihm die Luft ab. Wie eine zu feste Umarmung. Als tauche er unter in die Vergangenheit, wie unter Wasser. Jede Erinnerung überschwemmt ihn.

Wheelers Sturheit. Wheelers große Klappe. Wheelers Kampfgeist. Wheelers Lachen. Wheelers Blick. Joeys Nähe.

Er dreht sich auf die Seite, zu ihm und schaut ihn stumm an.

»Seto«, haucht Joey und da ist dieser Ton in seiner Stimme, der Versprechen flüstert, ohne es in Worten auszudrücken.

Er lehnt sich zu ihm, spürt die Haut auf seiner, die Lippen gegen die eigenen gepresst, berührt und hält ihn und in diesem einen Augenblick ist alles komplett.

Als könnte er endlich das Bild erkennen, das all die Puzzleteile zusammen ergeben.

Sie könnten nochmals von vorne anfangen, die Vergangenheit vergangen sein lassen, vergeben und verzeihen und endlich glücklich sein.

Er öffnet den Mund, um Joey zu fragen, ob er dieses Bild ebenso sieht, aber er schweigt.

Feigling, säuselt die Stimme, während er ihn berührt, berührt wird und im Augenblick zerschmilzt.

Sie leben vor sich her.

Er fragt nicht, was Joey in den letzten Jahren getan hat, was er plant zu tun und Joey stellt keine Gegenfrage.

Vielleicht sieht so Glück aus, überlegt er. Dieses Nicht-Wissen, Nicht-Erwarten, Nicht-Planen. Vielleicht funktionieren sie nur so, ohne dass ihr Puzzle in alle Teile auseinanderbricht.

Aber Wheeler scheint das nicht zu begreifen.
 

Wheeler hat nie begriffen, dass Worte mehr zerstörten als zu schweigen.

»Ich habe dich oft vermisst, weißt du?«, sagt er an einem Morgen, sitzt am Tisch und schaufelt Cornflakes in sich hinein, während Seto in seine leere Kaffeetasse starrt.

Er fragt sich, seit wann es in seiner Küche Cornflakes gibt und welche Auswüchse die Inkompetenz Wheelers noch annehmen könnte. Ob er bewusst ihr Glück aufs Spiel setzte.

»Wo warst du?«

Er spürt, wie Joey erstarrt.

Nach all den Jahren, in denen er kein einziges Mal an ihn gedacht hat, sitzt er plötzlich dort und alles ist wieder da. Seine Präsenz füllt den Raum, als wäre er nie weggewesen.

Jeder Vorwurf, jede Ausrede, jedes Wort, das ihn zur Explosion getrieben hat, jeder Blick voller Enttäuschung, jeder Kommentar, der ihn dazu getrieben hatte, in Wheelers Wunden zu bohren, jedes ratlose Schweigen, jedes resignierte Ignorieren, jeder Zweifel.

»Was meinst du?«, fragt Wheeler und ballt seine Hand um den Löffel. Seto hört, wie er seine Zähne kaum auseinanderbekommt.

»Warum bist du nie zurückgekommen?«, fragt er und ignoriert das letzte Zischen der Kaffeemaschine.

Wheeler atmet ein. Und aus.
 

Seto beobachtet, wie er seine Stirn kräuselt und die Lippen aufeinanderpresst.

Er kennt diese Mimik, hat sie schon so oft gesehen, dass er weiß, Wheeler würde als nächstes seine Augen schließen in dem vergeblichen Versuch, sich zu kontrollieren.

»Warum hast du mich nie angerufen? Warum hast du mir nie gesagt, dass ich wiederkommen soll?«, presst er zwischen seinen Lippen hindurch, schließt die Augen und verschränkt die Arme vor der Brust.

Seto Kaiba sieht es schon vor sich. Er weiß, welche Worte er sagen muss, um Wheeler zum Explodieren zu bringen. Das hat er schon immer gewusst.

In seinem Kopf drängt ihn eine Stimme, die Worte endlich zu sagen. Eine andere warnt ihn.

Tu es endlich, flüstert die erste, immer lauter, bis sein Kopf pocht. Er presst die Finger gegen seine Schläfen und zählt gedanklich bis zehn. Dann fünfzehn. Aber die Frage lässt ihn nicht los.

»Warum bist du gegangen?«, stolpert über seine Lippen und er weiß in diesem Moment, ihr Augenblick ist unumkehrbar vergangen.
 

Wheeler erbleicht, dann steigt Wut in seine Wangen.

»Du hast gesagt, ich soll gehen, du Dreckssack!«, bricht aus ihm heraus.

»Weil du gehen wolltest!«, poltert er. »Glaubst du, ich halte dich zurück, wenn dich hier nichts mehr hält?«

»Ich wäre hiergeblieben, wenn du es gewollt hättest!«, brüllt Wheeler.

»Wenn du nicht selbst bleiben willst, kann ich darauf verzichten«, zischte er.

Er wird nicht laut in seiner Wut, sondern leiser. Die Silben der Worte scharf wie Messer und kalt wie Metall in einer Winternacht.

Wheeler schaut ihn einen Moment an, schweigt, schluckt, schüttelt den Kopf.

»Arschloch«, sagt er nur, erhebt sich und dreht sich um, poltert durch den Gang und reißt seine zerfledderte Jacke von der Garderobe.

Nach all den Jahren schaut er ihm nach und fragt sich, ob er ihn dieses Mal aufhalten soll.
 

 

[Fortsetzung folgt ...]
 

 

 
 

Frage des Kapitels: Seid ihr auf Setos oder Joeys Seite bisher?
 

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Ich freue mich auf euch! : ))

Viele Grüße,

Jaelaki

Sein Name

Manche Menschen schleichen sich in ein Leben, einige kommen und gehen, ohne dass es jemand bemerkt und dann gibt es Personen, die stolpern in einen Klassenraum, ohne zu ahnen, wie grundsätzlich dieser Schritt alles ändern wird.

 

Seine blonden Haare standen in Strähnen von seinem Kopf ab, Regentropfen flossen von ihren Spitzen in sein Gesicht und er trug keine Jacke, obwohl es Winter war. So stand er plötzlich im Klassensaal wie auf einer Bühne.

»Joseph, du bist schon wieder zu spät!«, sagte der Lehrer mit einem Seufzen, doch Joseph Wheeler grinste nur, wischte sich die Strähnen aus der Stirn und antwortete: »Ich war zu müde, um früher herzukommen.«

 

Ein Kichern schwappte durch die Klasse, das Seto Kaiba mit einem Stirnrunzeln missbilligte. Er rümpfte die Nase, als Joseph vor ihm in der Sitzreihe vorbeischlenderte, sein Rucksack sah aus, als hätte er stundenlang im Matsch gelegen, und zog seinen nagelneuen Laptop näher zu sich, nicht, dass dieser widerliche Idiot noch Spuren auf der polierten Oberfläche hinterließ. Natürlich musste er ausgerechnet direkt hinter ihm sitzen.

Ein Verlierer, mutmaßte die Stimme, niemand von Belang.

 

»Hey, wer ist der denn?«, rief Joseph, war halb von seinem Stuhl aufgesprungen und zeigte mit seinen Fingern auf ihn.

»Das ist doch Seto Kaiba«, wisperte ihm ein Junge mit braunem Kurzhaarschnitt zu und versuchte offenbar, ihn auf seinen Stuhl herunterzuziehen. Vergeblich. Joseph sprühte wie ein Feuer, das niemand einfangen konnte, wenn er es nicht von sich aus zuließ.

»Achja, der von dem reichen Sack adoptiert wurde, nicht?«, flüsterte Joseph Wheeler viel zu auffällig zurück, nachdem er sich wieder auf den Stuhl hatte fallen lassen.

 

Als würde das meine gesamte Existenz erklären. Seto Kaiba biss die Zähne aufeinander, denn dieser Umstand wurde ihm nicht im Entferntesten gerecht. Er war mehr als nur der neue Schüler in der Klasse, der von einem reichen Sack adoptiert worden war. Er hatte sich seinen Rang selbst erarbeitet, aber das war für jemanden so Einfachgestrickten wie Joseph Wheeler kognitiv undurchdringbar. Josephs Banknachbar blinzelte gen Decke, als wünschte er sich kurzzeitig woanders hin. Dasselbe hätte für Seto Kaiba gelten können, gingen ihm die Meinungen anderer nicht so grundsätzlich an seinem Ausgang vorbei.

»Hey! Voll cool! Ist das deiner?«

Joseph Wheeler kippelte mit dem Stuhl und drehte sich dabei halb zurück, so dass er geradezu Auge in Auge mit ihm saß und auf seinen Laptop schielte.

»Nein, ich stehle gerne die neuesten Laptops von Passanten.«

Wheeler starrte ihn einen Moment an, als wüsste er nicht, ob er die Wahrheit sagte, dann grinste er schief.

»Pass lieber auf, dass ich dir den nicht in der Pause abziehe.«

 

In seinen Augen funkelte das Braun. Eine völlig langweilige Farbe, wie Seto Kaiba bemerkte, nichts an Joseph Wheeler stach positiv aus der Masse an Durchschnittsmenschen hier in der Klasse hervor. Er kratzte wohl an der Mitte und brach eher nach unten als nach oben aus.

Bedeutungslos, gähnte die Stimme, niemand, der irgendwann Einfluss haben würde.

»Keiner nimmt etwas von mir, ohne dass ich es ihm erlaube.«

Joseph erwiderte seinen Blick ohne ein Zögern, ohne einen Wimpernschlag. Sie schauten sich in die Augen und Seto wusste nicht genau, worum es ging, nur, dass es etwas Elementares zwischen ihnen entscheiden würde.

»Joseph, dreh dich zur Tafel! Du bist jetzt ruhig oder du fliegst vor die Tür, verstanden? Und schreib das jetzt endlich mit!«

»Na, klar!«, antwortete Joseph dem Lehrer zu euphorisch und drehte sich entgegen seiner Worte nochmals zu Seto um.

»Hast du ein Blatt Papier für mich, damit ich mitschreiben kann?«

»Sehe ich so aus?«

 

Er war nicht der Typ, der anderen Almosen gab. Jeder hier musste schauen, wie er es schaffte, den Tag als Sieg zu verbuchen. Das Leben war kein Teamspiel, bei dem jeder am Ende bekam, was er wollte. Jeder Tag war ein neues Level und nur diejenigen, die sich gegen alle Widrigkeiten im Spiel behaupteten, hatten eine Chance, es erfolgreich abzuschließen.

»Du siehst so aus, als hättest du alles auf dieser Welt«, sagte Joseph und für einen Moment verpuffte die rücksichtslose Antwort auf Setos Zunge, als sein Gegenüber ihn so anschaute mit einem Lächeln, das in den Mundwinkeln zuckte. Ein Grinsen, das bis in seine Augen kletterte und dort einen Schatten tanzen ließ.

»Niemand hat alles auf der Welt«, murmelte Seto und blickte auf seine Tastatur, obwohl er mit verbundenen Augen tippen konnte.

 

Halt den Mund, das ist gefährlich nahe, zischte die Stimme. Zu nahe an der Wahrheit.

»Und was fehlt dir?«, fragte Joseph. Seto vergaß weiter zu tippen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann jemand ihn das letzte Mal so etwas gefragt hatte, denn er besaß alle. Ihm fehlte nichts, was Menschen als erstrebenswert begriffen. Er starrte diesen Jungen vor sich an, dessen Ärmel viel zu weit unter seinen Handknöcheln hingen und suchte Worte. Er wusste immer, was er wann zu sagen hatte und wenn er nichts von sich gab, dann weil er es nicht wollte. Joseph Wheeler beobachtete ihn mit einem Grinsen und er wollte ihm diese Sorglosigkeit aus der Mimik wischen. Niemand hatte das Recht ihn dermaßen distanzlos anzuschauen, als gäbe es keine Mauern zwischen ihnen, die ihre Leben in zwei völlig verschiedene Milieus zerteilte. Zwei Spielfelder, die keine Gemeinsamkeiten aufwiesen.

»Ich bin übrigens Joey«, flüsterte er ihm zu, während er kippelte. »So nennen mich meine Freunde.«

»Wir sind keine Freunde.«

Seto Kaiba tippte ohne ihn anzuschauen weiter, stierte an die Tafel und hakte diesen bemitleidenswerten Chaoten ab, als das, was er war: ein Niemand. Statt geknickt beizugeben, brach Joseph in Lachen aus und kassierte dafür eine Rüge vom Lehrer, die er mit einem Schulterzucken von sich abschüttelte.

»Noch nicht«, sagte er amüsiert und zog einen angeknabberten Stift aus seinem Rucksack.

 

Am Ende seines ersten Schultages an der neuen Schule, kannte Seto die Namen sämtlicher Lehrerinnen und Lehrer, denn es war wichtig, die zu kennen, die in den nächsten Jahren seine Zukunft beeinflussen würden. Nicht aus Interesse, sondern weil es strategisch bedeutsam war, möglichst alle entscheidenden Aspekte des Feldes zu kennen, auf dem dieses Spiel gespielt wurde. Ihm waren alle Prüfungsformalia und Fristen bekannt; er konnte die Schulordnung auswendig zitieren und die Kriterien für eine außerordentlich gute Leistung. Es würde ein Kinderspiel werden. Er verzog den Mund, als er in die Limousine einstieg und sein Bodyguard die Autotür hinter ihm schloss.

»Wie war Ihr erster Tag an der neuen Schule?«, fragte sein Fahrer mit einem Blick in den Rückspiegel. »Haben Sie nette Leute kennen gelernt?«

Er beschäftigte sich nicht mit dem überflüssigen Geflecht an sozialen Kontakten. Seine Mitschülerinnen und Mitschüler interessierten ihn wie der Dreck unter Joseph Wheelers Fingernägeln. Er stutzte. Da war er schon wieder dieser Name, der in seinen Gedanken echote wie ein mieser Ohrwurm, ein Name so unwichtig wie nervenraubend.

»Reine Zeitverschwendung«, murrte Seto und packte seinen Laptop aus.
 


 

[Fortsetzung folgt ...]
 


 

Frage des Kapitels: Versteht ihr Setos Verhalten? Warum (nicht)?



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  Marron
2020-02-25T22:05:45+00:00 25.02.2020 23:05
*me, welches eigentlich aus dem Fandom von Yugioh! raus war* Huh? Eine Story über mein Lieblingspair? Mal ansehen.

vier Minuten später: O.O Yay, ich glaube, ich schmeiß mich wieder ins Fandom rein!

Deine Kapitel haben so viel Ansätze, dass man mehrfach lesen muss, um alles mitzukriegen. Ich bin total gespannt, wie das weitergeht. Das will ich jetzt doch wissen.

Mich fesselt dein Schreibstil, ehrlich, ich wünschte, ich könnte so schreiben. Ich fühle mich direkt ins Geschehen gezogen und würde am liebsten gleich weiterlesen. Und du wirst den Charakteren und den Veränderungen, die mit dem Älterwerden einhergehen, absolut gerecht. Ich bin wirklich gespannt, was noch so passiert! :D
Antwort von:  Jaelaki
27.02.2020 22:57
;-D
Das freut mich! Gibt es ein größeres Kompliment? Vielleicht nicht ... ; )

Vielen Dank für deine motivierende Rückmeldung! : ))

Viele Grüße,
Jaelaki
Von: Karma
2020-02-23T13:33:59+00:00 23.02.2020 14:33
Jaja, reine Zeitverschwendung. Natürlich, Seto. Red dir das ruhig weiter ein.
:D

Wieder unheimlich spannend, obwohl eigentlich gar nicht so viel passiert ist. Aber das Unausgesprochene und das Wissen, dass zwischen den beiden noch so viel passieren wird - was man ja schon am ersten Kapitel sieht -, macht es wieder sehr, sehr spannend.
:)

Gefällt mir, also gerne weiter so.
;)

LG,
Karma
Antwort von:  Jaelaki
27.02.2020 22:56
;-D
Irgendwie findet er immer die »passende« Beschreibung. ; )

Danke, das freut mich. Ich habe ein Versuch gestartet, bei dem ich diese Story auch als Originalstory veröffentliche und Joey sozusagen eine junge Frau ist. Dabei müssen natürlich die Figuren anders eingeführt werden als bei einer Fanfiction (denn bei letzterer sind die Charaktere den Leser*innen ja schon bekannt). Daher »passiert« in diesem Kapitel noch nicht sooo viel, denn die Charaktere werden eingeführt. : )
(Zumindest war es das, was ich mir dabei gedacht hatte ...) x)

Danke dir! : ))

Viele Grüße,
Jaelaki
Von:  Trollibaer
2020-02-08T08:07:27+00:00 08.02.2020 09:07
Hi Jaelaki,
ich bin verwirrt, ist diese Geschichte schon das vorweg genommene Ende von Was wir sind?
Großartig finde ich, daß du aus Setos Perspektive schreibst!!! Ich hoffe die Geschichte bleibt aus seiner Sicht!
(Es gibt eh zu wenig Geschichten, die sich mit seinem Seelenleben beschäftigen!)
Das Grab ist das von Muto?
Beide sind also in den dreißigern? Sozusagen erwachsene Männer?
Nun, Joey wird sich nicht wie einer verhalten, und Kaiba wird entsprechend reagieren.
Bei diesem Paar gibt es kein besser oder "schuldig", beide sind zu kompliziert.
Deine Andeutungen lassen auf eine gute Geschichte mit weiterhin unschöner Vergangenheit schließen.
Ich freue mich beide Geschichten paralell zu lesen!!!
lg
Trollibaer
Antwort von:  Jaelaki
12.02.2020 21:02
Hallo, nope, es sind unabhängige Geschichten. Die eine hat nichts mit der anderen zu tun.
Ich habe Setos Perspektive auch vermisst. x)
Genau, Yugi ist tot. Wie und so wird noch thematisiert. : )
Es freut mich, dass dir die Story bisher gefällt. : )

Viele Grüße,
Jaelaki
Von: Karma
2020-02-06T20:43:59+00:00 06.02.2020 21:43
Ganz ehrlich, ich hab keine Ahnung, auf wessen Seite ich eigentlich bin. Dafür sind noch zu viele Fragen offen. Aber es macht auf jeden Fall neugierig auf mehr, also werde ich dranbleiben und mich dann irgendwann entscheiden, wenn ich mehr weiß und mehr Zeit hatte, mir alles durch den Kopf gehen zu lassen.

Übrigens sind die halben Andeutungen, halben Sätze und nicht ausgesprochenen Dinge gleichermaßen stilistisch genial wie unglaublich fies. Ich find's toll, also Favo und ich bin gespannt auf mehr.
;)

LG,
Karma
Antwort von:  Jaelaki
06.02.2020 22:39
Danke dir für deinen Eindruck! : ))
Gerne! Oft ist es ja so, dass man vom Bauchgefühl einer Seite zugeneigt ist. Ich hatte auch keine tiefgründige Reflexion erwartet. ; ) Aber ich freue mich umso mehr, wenn sich da ein paar Argumente über die nächsten Kapitel hinweg sammeln.

Danke, das freut mich, wenn es gut bei dir angekommen ist! : )

Viele Grüße,
Jaelaki
Antwort von: Karma
06.02.2020 22:40
Gerne doch.
:)
Und ich muss sagen, ich schwanke einfach viel zu sehr und hab zu wenig Infos, um schon zu einer Seite zu tendieren. Da sind unterschwellig so viele verletzte Gefühle auf beiden Seiten zu spüren, dass ich mich lieber noch nicht entscheiden will. Damit warte ich noch.
:)
Antwort von:  Jaelaki
06.02.2020 22:44
Kann ich absolut verstehen. Ich finde es nur super spannend, was sich Leser*innen so ausmalen, wenn sie Geschichten von mir lesen und dachte, mit so Fragen kitzele ich da ein bisschen was heraus. ;-D

Viele Grüße,
Jaelaki
Antwort von: Karma
06.02.2020 22:47
Ich grübele die ganze Zeit seit dem Lesen schon darüber nach, was wohl zwischen den beiden so schiefgelaufen ist. Aber da ich einfach mal vermute, dass wir das so nach und nach noch erfahren, übe ich mich in Geduld und freue mich einfach auf die nächsten Kapitel, die wahrscheinlich etwas Licht ins Dunkel bringen - und, wie ich einfach mal vermute, auch noch für etwas mehr Verwirrung sorgen werden.
:D
Antwort von:  Jaelaki
23.02.2020 14:24
Richtig, das wird Thema der Story sein. : ) Ich freue mich über deine Spannung und Geduld und wünsche dir viel Spaß bei Kapitel 2! ; )


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