Der Sieben-Federn-Fluch von Augurey ================================================================================ Kapitel 4: Zeitung, Feder, Pergament ------------------------------------   Sie lagen ausgebreitet auf der Bettdecke, die Pergamente. Zerfleddert, vergilbt, mit Stockflecken übersät, wellig. Wellig von modriger Nässe. Von der Feuchtigkeit, die in den vergangen fünfundzwanzig Jahren in die die Kiste eingedrungen war. Die Jahre ihres Verstecks im moosigen Mauerwerk eines abgelegenen Kellerverlieses unter dem See. Sie mussten mit einem Zauber belegt gewesen sein. Denn beim Zustand der Kiste war es undenkbar, dass sie andernfalls zweieinhalb Jahrzehnte überstanden hätten. Der Verfall nistete in der morschen Kiste. Sand hatte den Boden bedeckt, Löcher klafften in den Seitenwänden. Würmer und Maden hausten im Holz. Doch auf den alten Pergamenten waren noch immer klare Buchstaben und Worte zu erkennen. Fast so, als hätte jemand gewollt, dass sie eines Tages gefunden würden. Und vielleicht war es tatsächlich so. Vielleicht hatten die Männer, deren Briefwechsel sich vor Albus Severus ausbreitete, ihr Geheimnis nur mit sich ins Grab genommen, um es erst Jahre nach ihrem Tod preisgeben zu können. Zwei Handschriften zierten die Papiere. Eine ausladende, geschwungene, verschnörkelte und eine enge, karge, fast schon abgehackte. Albus Severus betrachtete sie mit weiten, offenen, konzentrierten Augen, während er dem Lauf der Schrift folgte. Während das flackernde Licht der Öllampe über die Pergamente strich. Schwarz wie die Nacht schimmerten die Initialen am Ende der Briefe. Initialen, die Albus Severus gut kannte. A.D. und S.S. – Albus Dumbledore und Severus Snape. Die Initialen seiner Namensväter, deren Porträts noch immer über dem Schreibtisch der Schulleiterin hingen.   3. März 1996 war oben am Kopf des Briefs zu lesen, den Albus gerade aufgehoben hatte. Alle waren sie zwischen 1995 und 1997 datiert. Dieser hier bestand aus einem einzigen Satz. Einem Satz, aus dem Albus nicht schlau wurde. Die Waldkrähe ist ein Singvogel, VW drohen unsägliche Kopfschmerzen. Nicht nur Schneekugel glitzert. S.S. Große Teile des Textes waren ähnlich rätselhaft. Verschlüsselt und codiert sahen sie fast aus wie Hieroglyphen, wie alte Runen. "VW" zumindest hatte Albus inzwischen entziffern können. Es musste ein umgedrehtes und rückwärts geschriebenes „MA“ sein. Sollte es für Mysteriumsabteilung stehen? Das wäre ein merkwürdiger Zufall und doch - irgendwo passend. Nachdenklich senkte Albus den Blick. Ließ ihn auf den Zeitungen verweilen, die unter dem Briefestapel hervor blitzten. GEWALTSAMER EINBRUCH INS MINISTERIUM So lautete die Schlagzeile auf der ältesten Ausgabe. Sie stammte vom ersten Tag der Weihnachtsferien. Noch ein Mal überflog Albus Severus den Bericht, wie schon gefühlte tausend Mal zuvor. …Am gestrigen Abend…Einbruch in die Mysteriumsabteilung…zwei Auroren schwer verletzt… Drahtzieherin festgenommen… Ex-Todesserin Alecto Carrow… vor wenigen Wochen aus Askaban entlassen… überführt durch Bekennerschreiber Wie gut kannte Albus Severus diese Zeilen. Wie oft hatte er sie gelesen, am Tag als sie erschienen waren. Und das, obwohl er längst schon wusste, was geschehen war, ehe der Tagesprophet davon berichtet hatte. Das war der Vorteil und manchmal auch der Nachteil, wenn man der Sohn des Leiters der Aurorenzentrale war: Was am nächsten Tag in der Zeitung stehen würde, wusste man schon am Abend zuvor. Und an diesen Abend erinnerte sich Albus Severus so als ob er erst gestern gewesen wäre. Er hatte mit seinen Geschwistern und seiner Mutter am Tisch gesessen und mit knurrendem Magen zugesehen, wie das Essen allmählich kalt wurde. Dass etwas nicht stimmte, wusste jeder, auch wenn keiner darüber sprach. Normalerweise kam Harry Potter nie zu spät nachhause. Nur dann, wenn etwas Schlimmes geschehen war. Die Zeit verstrich und Albus begann unruhig zu werden, als endlich der Kamin grün aufgeleuchtet und sein Vater schweißgebadet aus dem Feuer gestiegen war.   „Was ist passiert, Harry?“, hatte Albus‘ Mutter sofort gerufen und war augenblicklich vom Stuhl aufgesprungen. Sein Vater aber hatte nur gekeucht: „Es hat einen Einbruch gegeben, in die Mysteriumsabteilung“ und dann hatte er alles erzählt, was geschehen war. Mit jedem seiner Worte waren die Augenbrauen in Ginny Potters Gesicht ein Stückchen weiter nach oben gewandert. Und Albus Severus hätte alles gegeben, um ihre Gedanken lesen zu können. Ihm war es, als ob seine Eltern über etwas sprachen, in das er nicht eingeweiht war und sich wortlos verstanden. Als sprächen sie über ein Geheimnis aus jener dunklen Vergangenheit, von der Albus Severus wusste, nicht nur weil sie in seinen Geschichtsbüchern stand, doch die er nie mit eigenen Augen gesehen hatte.   „Carrow?!? Alecto Carrow?“, rief Ginny schließlich, „Die steckte dahinter?“ „Ich wollte es auch nicht glauben“, versicherte Harry, „Und irgendwie fällt mir das noch immer schwer.“ „Warum?“, war Lily Luna herausgeplatzt, „Fehlen denn noch Beweise, dass sie es war?“ „Das nicht“, hatte Harry erklärt, „Das Bekennerschreiber stammt eindeutig aus ihrer Feder. Das hat die Untersuchung zweifelsrei ergeben. Aber nach allem, was wir über sie wissen - ich finde, es passt nicht zu ihr.“ „Alecto Carrow hatte damals im Schuljahr unter Voldemort ‚Muggelkunde‘ unterrichtet“, ergänzte ihn Ginny, den Kopf Albus und seinen Geschwistern zugewandt, „Sie war eine furchtbare Frau, brutal und gewalttätig. Aber - sie war immer eine Frau fürs Grobe, immer nur eine Handlangerin gewesen. Im Hintergrund arbeiten, Drahtzieher sein. Das ist nicht Alecto Carrow,“ Und mit diesen Worten hatte sie sich umgewandt, umgewandt zu Albus‘ Vater und ihn mit großen, angstvollen Augen angeblickt. Albus war zumute gewesen, als wäre ein Hauch des Winters durch die Fenster eingedrungen. Als wäre ein eisiger Wind durch die warme Stube gefegt, als sie die Lippen öffnete, um auszusprechen, was wohl allen am Tisch durch den Kopf ging. Was wohl auch sein Vater hinter seinen geschlossenen, zusammengepressten Lippen und der gerunzelten Stirn mit der Blitznarbe befürchtete. „Harry, was wäre, wenn Alecto Carrow nur das Bauernopfern war? Die Handlangerin eines großen Unbekannten im Hintergrund? Ich kann nicht sagen, wieso, aber ich habe das Gefühl, dass das nur der Anfang von etwas Größerem ist.“ Sie sollte Recht behalten. ERNEUTER EINBRUCH INS MINISTERIUM - AUROREN MACHTLOS UNSÄGLICHE VERFLUCHT UND ENTFÜHRT MINISTERIUMSZAUBERER TOT AUFGEFUNDEN Die Ereignisse überschlugen sich. Eine Schreckensbotschaft jagte die nächste. Noch ehe Weihnachten gekommen war, glich Großbritannien einem Wattstrand, der von einer dunklen Flut überrollt worden waren, einem ausgedörrtem Wald, in dem gleich mehrere Feuer auf einmal ausgebrochen waren. Die Zauberer waren wie aus dem Winterschlaf gerissen, während dichter Schnee noch immer ihre Dächer bedeckte. Und die Erwachsenen unter ihnen, von der Generation von Albus‘ Eltern aufwärts, tauschten stumm bedeutungsschwere Blicke, als wollten sie sagen: „All das haben wir schon einmal erlebt und es bedeutete nichts Gutes.“ Eine Gänsehaut breitete sich auf Albus‘ Rücken aus, wenn er an diese Weihnachtsferien zurückdachte. An die gedrückte Stimmung, an das Schweigen, an den wissenden Blick in den Augen seiner Eltern im Grimmauldplatz. Zwischen den Jahren ließen die Meldungen über Einbruchsversuche und Entführungen nach. Doch wer immer dahinter steckte, geistere nachwievor wie ein Phantom durch die Nachrichten. Nun waren es nicht die Taten selbst, die Schlagzeilen machten, sondern die Stimmen jener, die darüber spekulierten, wie es dazu kommen konnte und wer wohl hinter all dem stecke. Und während die einem vom Versagen der Auroren und die anderen von einer Verschwörung im Ministerium schrieben, berichtete Albus Vater zwischen Knallbonbons und Silvesterbowle von einer Reihe mysteriöser Nachrichten an den Tatorten, die noch zu untersuchen seien. Nachrichten, die mit „Lilith, der Schatten“, „Lilith, der schwarze Phönix“ oder einfach nur „Lilith“ unterschrieben waren. Nachrichten, denen stets ein kleiner, weicher Gegenstand beigelegt war wie der Fingerabdruck des Täters. Die letzte Schlagzeile aus den Weihnachtsferien lautete: AUGUREYFEDER GIBT AURORENZENTRALE RÄTSEL AUF Albus lächelte gedrückt, schob das Zeitungpapier beiseite. Dann wandte er sich um und hob sie vom Kissen auf. Langsam drehte er sie zwischen seinen Fingern, betrachtete sie im flackernden Licht, fuhr durch ihre Fasern. Mit ihrem grünlichschwarzen Schimmer kam sie ihm vor wie das Negativ einer Phönixfeder. „Mach dir keine Sorgen, Albus“, hatte seine Mutter ihm am letzten Abend im Grimmauldplatz gut zugeredet, ehe sie die Gaslichter zur Nachtruhe löschte, „Das ist Sache der Erwachsenen, die euch nicht betrifft und über die ihr euch keine Gedanken zu machen braucht. Ich bin mir sicher, dass die Auroren ‚Lilith‘ bald gefasst haben werden“. Ja, es war eine Sache der Erwachsenen gewesen, die Albus nicht betraf. Ihn nicht betraf bis zu jener Nacht. Jener Nacht, in der die Hauslehrerin von Slytherin verschwand und nach Stunden völlig verwirrt im Verbotenen Wald aufgefunden worden war. Bis zu jener Nacht, in der sein guter Freund Scorpius Malfoy einem Schatten in Kerkern gefolgt war und die verborgene Kammer unter dem See entdeckt hatte wie er Albus kreidebleich beim Frühstück erzählt hatte. Bis zu jener Nacht, in der die beiden Grabmale, das weiße von Albus Dumbledore und das schwarze von Severus Snape, aufgebrochen worden waren, scheinbar nur der Zerstörungswut willen. Und die Professoren von Hogwarts keine andere Spur dort gefunden hatten als die Feder des Augurey und ein Zettel, auf dem nur einziges Wort stand: „Lilith“. Fröstelnd blickte Albus hinüber zu den Bogenfenstern, wo Eisblumen die Sicht auf die Nacht verschleierten. Es war Ende Januar und bitterkaltes Wetter hielt Hogmeade und das Schloss fest in seinem eisigen Griff. Doch Albus zitterte nicht vor Kälte. Unter seiner Decke war ihm wohlig warm. Nein, die Kälte war es nicht, die ihm einen Schauer den Rücken hinabtrieb. Es war die dunkle Vorahnung, dass etwas Düsteres in sein Leben getreten war, dem er sich nicht entziehen konnte. Wie das Gefühl, seinen Kopf in die Schlinge des Galgens gelegt zu haben. Konnte es Zufall sein, dass gerade dort unten in der Kammer, die Scorpius entdeckt hatte, diese Pergamente versteckt gewesen waren? Konnte es Zufall sein, dass genau in der Nacht, als sie wieder aufgetaucht waren, die Gräber ihrer Verfasser geschändet wurden? Konnte es Zufall sein, dass sie von der Mysteriumsabteilung sprachen, wo alles mit einem Einbruch in die Mysteriumsabteilung begonnen hatte? Was für sinnlose Fragen! Als ob Albus die Antwort nicht längst schon wusste. Er spürte sie in jeder Faser. Die Nacht hinter dem Eisblumenschleier war finster, wie ein dunkler Mantel, unter dem man sich gut verstecken konnte. Wer konnte sagen, ob Lilith, das Phantom, nicht gerade in dieser Sekunde wieder einen neuen Einbruch plante? Ob nicht wieder Unsägliche überwältigt und entführt wurden? Ob in dieser Nacht irgendwo da draußen nicht wieder Menschen umgebracht wurden? Und der Schlüssel zu allem lag hier, mitten in Albus‘ Schoß. Wie Puzzleteile waren sie - die Pergamente, die Zeitungsberichte, die Augureyfeder. Puzzleteile, die nur darauf warteten, zusammengefügt zu werden. Und vielleicht war es genauso wenig Zufall, dass sie gerade ihm in die Hände gefallen waren. Ihm, dem Sohns des berühmten Harry Potters, des Auserwählten, der einst Lord Voldemort besiegt hatte. Ihm, der nach den beiden Männern benannt war, deren Briefe vor ihm lagen, deren Ruhestätten aufgebrochen worden waren. Vielleicht war es Albus Severus‘ Schicksal sich bei dieser Abstammung Lilith entgegen zu stellen. In die Fußstapfen seiner Väter zu treten. Die seines leiblichen und seiner beiden Namensväter. Harry Potter, Albus Dumbledore und Severus Snape, die damals Voldemort gemeinsam gestürzt hatten. Einmal noch blinzelte Albus, während er zum Fenster hinausblickte, die Feder geistesabwesend durch die Finger gleiten ließ. Dann raffte er Pergamente und Zeitungen zusammen, legte sie zusammen in die morsche Kiste unter seinem Bett und löschte das Licht. Schon morgen würde er mit seinen Geschwistern sprechen und versuchen, gemeinsam mehr herauszufinden, entschied Albus und schloss die Augen. Auf dem Nachttisch neben seinem Kopf lag die Augureyfeder und ein kühler Hauch des Winters, ein eisiger Wind strich durch die Fasern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)