Die mit den Tierwesen tanzt von Calafinwe ================================================================================ Kapitel 1: Im Ministerium angekommen ------------------------------------ Ich sah mich um. Auf dem Alexanderplatz war um diese Zeit noch recht viel los, das Bahnhofsgebäude, hinter dem sich der Fernsehturm erstreckte, hell erleuchtet. Ich drehte zunächst einige Runden auf dem Platz, doch Frau von Bülow war nicht auffindbar. Ich grummelte. Was sollte ich als Nächstes tun? Warten, wo ich war und darauf hoffen, dass die Bülow mit abholte? Ich sah mir die Menschen an, die auf dem Platz unterwegs waren und beschloss, ins Bahnhofsgebäude zu gehen. Seufzend passierte ich die Fressbuden. Warum nur hatte ich meine Handtasche nicht mitgenommen? Jetzt stand ich in einer mir fremden Stadt und mir grummelte der Magen, doch ohne Geld würde der noch eine Weile lang weitergrummeln. Ich verließ das Gebäude auf der anderen Seite und stand nun direkt vor dem Fernsehturm. Erneut verfluchte ich mich, da sich auch mein Smartphone in meiner Handtasche befand. Nicht mal ein Selfie konnte ich machen, nur den Fernsehturm so bestaunen. Gemessenen Schrittes umrundete ich den Turm und betrachtete ihn immer wieder fasziniert. Die runde Kugel oben machte einiges her, nicht so ein hässlicher Kasten, wie das beim Fernsehturm in München der Fall war. Auch hier waren noch recht viele Leute unterwegs, Jugendliche, die die Nacht zum Tag werden ließen, Touristen, Pärchen Hand in Hand. Ich trollte mich weiter gen Westen. Wenn ich schon die Gelegenheit hatte, mir Berlin einmal anzusehen, wollte ich so viel wie möglich sehen. Schließlich wusste ich nicht, wann die vom Ministerium mich einsammeln würden. Hinter dem Fernsehturm gab es einen großen Platz mit einem Brunnen, an dem sich auch viele Leute aufzuhalten schienen, also schlenderte ich dorthin. Der Brunnen wurde von einer Griechischen Gottheit mit Dreizack beherrscht, während zahlreiche Seetiere Wasser zu ihm hoch spien. Ziemlich kitschig und weil sich hier besonders viele Pärchen aufzuhalten schienen, ging ich schnell weiter. Ich kam zu einer Straße und wandte mich nach rechts zur nächsten Kreuzung. Auch hier war es sehr belebt um diese Uhrzeit, ich schätzte, dass es mittlerweile auf halb zehn Uhr abends zuging. Dem Menschenstrom folgend ging ich an der Kreuzung wieder links und folgte der Karl-Liebknecht-Straße, die bald über eine Brücke über die Spree führte. Von dem kleinen Fluss war in der Dunkelheit nicht viel zu erkennen, außer die Lichter, die sich darin spiegelten. Das Gebäude auf der anderen Straßenseite sah mit der Beleuchtung ziemlich duster aus. Ich ließ es rechts liegen und ignorierte auch den Park dort. Parks hatten um diese Zeit häufig die Angewohnheit, von Obdachlosen, Drogensüchtigen und möglicherweise auch Kriminellen bevölkert zu sein. Und so interessant ich Berlin auch fand, so suspekt war mir sein Image. Ich beschloss, tagsüber einmal herzukommen, wenn ich Gelegenheit dazu bekam. So ganz abgelenkt von meinen Gedanken war mir gar nicht aufgefallen, dass eine kleine Lichtkugel vor mir schwebte. Sie sah jener verdammt ähnlich, die die Bülow im Kirchwald gezaubert hatte, um mir den Weg zu leuchten. Verstohlen sah ich mich um. Die anderen Fußgänger schienen die Lichtkugel nicht bemerkt zu haben und so folgte ich ihr möglichst unauffällig. Es führte mich über eine weitere Brücke. Interessiert las ich eines der Straßenschilder. „Hah! Unter den Linden!“, rief ich erfreut. Einige andere Fußgänger drehten sich zu mir um, aber ich ignorierte sie. Unter den Linden war neben dem Ku’damm eine der bekanntesten Straßen in Berlin. Wenn ich ihr folgte, würde ich sicher noch an einigen anderen touristischen Attraktionen vorbeikommen. ‚Sofern die Leuchtkugel nicht einen anderen Weg wählt‘, dachte ich. Doch ich wurde belohnt. Etwa eine halbe Stunde brauchte ich, um das Brandenburger Tor zu erreichen. Aus dem Geschichtsunterricht wusste ich, dass das Brandenburger Tor zur Zeit der Teilung in Ostberlin gestanden hatte. Mit der Wende 1989 war es zu einem Symbol der Freiheit geworden, als zahlreiche Berliner die Grenzmauer erklommen hatten, um unter den Fittichen des Brandenburger Tors die Öffnung des eisernen Vorhangs zu feiern. Eine leichte Gänsehaut machte sich auf meinem Körper breit, wenn ich daran dachte, was dieses Bauwerk schon an historischen Ereignissen erlebt hatte. Ich hatte eine gefühlte Ewigkeit am Brandenburger Tor verbracht, ehe ich mich von der Leuchtkugel dazu bringen ließ, mich wieder abzuwenden. Sie führte mich auf die andere Seite des Tores zwischen zwei der Säulen, wo Frau von Bülow auf mich wartete. „Oh, hallo, da sind Sie ja wieder“, begrüßte ich sie erleichtert. „Hatten Sie ausreichend Gelegenheit, das Brandenburger Tor zu bewundern?“, fragte sie. „Ja. In echt sieht es noch viel eindrucksvoller aus, als wenn man es immer nur auf Bildern sieht.“ Frau von Bülow seufzte resigniert. „Kommen Sie, es ist schon spät.“ „Und Ihre Arbeit wartet auf Sie.“ „Werden Sie bloß nicht frech, Frau ...“ Mir entging nicht, wie sie stockte. „Was ist?“ „Nichts“, flüsterte sie. Ihr Gemütswechsel überraschte mich. „Wir sollten uns nur einen Decknamen für Sie überlegen, sobald wir im Ministerium angekommen sind.“ „Einen Decknamen?“, fragte ich, während wir der Straße folgten und die Parkanlage durchquerten, die gemeinhin als Tiergarten bekannt war. Von den Tieren im Tiergarten konnte man um diese Zeit natürlich nichts hören, aber tagsüber würden sicher die Elefanten aus allen Rüsseln tröten. „Ja, definitiv. Im Ministerium wird man Sie darüber aufklären.“ „Hm“, machte ich. Dann: „Können wir mal in den Zoo gehen, wenn das Wetter schön ist?“ „Sie sollen magische Tierwesen untersuchen, meine Liebe, nicht Zootiere.“ „Aber ...“ „Nichts da! Magische Tierwesen sind mindestens genauso interessant, wie Elefanten, Tiger und Schildkröten.“ Wir gingen weiter. Die Siegessäule mit Goldelse auf ihrer Spitze kam immer näher. „Sagen Sie mal, Katzen sind doch in gewisser Weise auch magisch versiert, oder?“ „‚Magisch versiert‘ ist eine glatte Übertreibung. Sie spüren, wenn Magie gewirkt wird und lassen sich in gewisser Weise trainieren. Aber das magische Verständnis von Katzen geht nicht über einfachste Aufgaben oder gute Menschenkenntnis hinaus. Und nicht jede Katze eignet sich dafür.“ „Verstehe. Wie verhält es sich denn mit Großkatzen?“ „Wieso?“, fragte von Bülow. „Wollen Sie sich einen Löwen zulegen?“ „Nein. Ich frage nur aus wissenschaftlicher Neugier.“ „Sie können es ja mal erforschen, aber nicht, ohne vorher die wichtigsten Verteidigungszauber und Apparieren gelernt zu haben!“ Ich seufzte. Apparieren lernten sie bei Harry Potter erst im sechsten Schuljahr, wenn mich nicht alles täuschte. Und häufig kam es dabei zu Unfällen, bei denen der Anwender ein Körperteil ‚vergaß‘. Da würde einiges auf mich zukommen. „Okay, wir sind da.“ In meinen Gedanken versunken hatte ich gar nicht bemerkt, dass wir bei der Siegessäule angekommen waren. Wieder starrte ich fasziniert nach oben. „Kommen Sie, wir haben nicht ewig Zeit!“ Sie nahm mich am Ellbogen und führte mich über den mehrspurigen Kreisverkehr. „Sollten wir nicht lieber eine der Fußgängerunterführungen nehmen?“ „Wieso? Es ist doch eh kaum etwas los“, meinte Frau von Bülow und sprang den letzten Satz mit mir, damit wir nicht von einem anrauschenden Taxi überfahren wurden. „Nur die, die los sind, fahren wie besoffen“, kommentierte ich. „Typisch MaKas.“ „‚MaKas‘?“ „Magische Kartoffel, Menschen, die nicht zaubern können. Nichtmagier.“ Ich folgte Frau von Bülow irritiert. In Fantastic Beasts 2 hatte Grindelwald die nichtmagische Bevölkerung als „Kann nicht zaubern“ bezeichnet. Hatten sie eine andere Bezeichnung bekommen? Oder hatte man Normalsterbliche in Deutschland jemals „Kann nicht zaubern“ genannt? War es vielleicht nur ein verächtlicher Ausdruck von Grindelwald und Konsorten für Muggel? „Sie wissen, dass sich der Begriff anhört, als wären es Affen?“ Frau von Bülow drehte sich zu mir um und zog eine Augenbraue nach oben. „Makaken. Das ist eine Affenunterart.“ „Ja, und ist das so schlimm?“ Ich überlegte. „In Anbetracht der Tatsache, dass der Mensch vom Affen abstammt, wohl nicht.“ „Also, wollen wir dann?“ Ich schluckte. „Was muss ich tun?“ „Sie atmen einmal tief durch, visieren die Wand an und rennen durch. Natürlich ohne, dass Ihnen ein MaKa dabei zuschaut.“ „Also wie bei Harry Potter am Gleis?“, fragte ich aus einem Reflex heraus und bekam plötzlich ein ganz schlimmes Übelkeitsgefühl. „Wie bei wem?“, fragte Frau von Bülow irritiert. „Ach, nicht so wichtig. Würden Sie es mir bitte einmal vorführen?“ Sie nickte und sah sich um. Niemand, der uns hätte beobachten können. Frau von Bülow rannte einfach auf die Mauer zu und war verschwunden. Sie hatte nicht tief durchgeatmet, bevor sie losgerannt war. „Na toll, und jetzt soll ich ihr das nachmachen.“ Ich sah mich ebenfalls um. Gerade jetzt mussten natürlich ein paar Nachtschwärmer in meine Richtung kommen. Ich tat so, als ob ich den Sternenhimmel betrachten würde, von dem in Berlin natürlich nichts zu sehen war. „Ey!“, meinte einer, als er auf mich aufmerksam wurde. Ich stöhnte. „Willste mit auf’n Bier?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, schwang er mir seinen schweren Arm um den Hals. Er roch fürchterlich nach Alkohol und ich rümpfte die Nase, als ich mich von ihm frei machte. „Ey, jetzt sei doch nich‘ so!“ Ich machte mich schnell aus dem Staub und ging einmal auf die andere Seite der Siegessäule in der Hoffnung, dass mir die Typen nicht folgten. „Dass die auch immer besoffen sein müssen ...“ Ich wartete an Ort und Stelle und lauschte, doch außer leichtem Verkehrslärm und einem weit entfernten Martinshorn konnte ich nichts hören. Vorsichtig ging ich auf der anderen Seite wieder herum. „Verdammt ...“ Schnell hechtete ich wieder zurück. Die Halbstarken hatten sich direkt vor der Mauer niedergelassen, in der Frau von Bülow verschwunden war. „Was mach‘ ich denn jetzt? Weghexen?“ Einen Zauberstab hatte ich ja, aber ich bezweifle, dass es so eine gute Idee war, ihn hervorzuholen. Hernach flog ganz Berlin in die Luft und ich hatte Schuld daran. Andererseits wartete die Bülow wahrscheinlich schon wieder auf mich. Und langsam wurde es mir doch zu frisch. Ich überlegte das für und wider und wurde dann jäh aus meinen Gedanken gerissen. „Kommen Sie?“, fragte Frau von Bülow hinter mir. Ich fuhr auf dem Absatz herum. Ihr Kopf steckte aus der Wand hinter mir heraus. „Äh ...“ „Jede Wand ist magisch verzaubert. Wenn die eine Seite belegt ist, wählt man einfach eine andere. Und nun kommen Sie endlich.“ Ich schwieg, atmete stattdessen einmal tief ein und wieder aus, wie sie mir geraten hatte. Dann rannte ich mit einem höchst mulmigen Gefühl los und machte die Augen zu. Trotzdem fühlte es sich an, als würde ich durch eine Wand laufen, raus aus der Kälte und hinein in wärmeres Klima. Als ich sicher war, dass ich nicht tot oder schwerstverletzt in der Wand steckte, öffnete ich die Augen. „Lassen Sie sich nicht auf die MaKas ein, das bringt nichts.“ „Leichter gesagt, als getan.“ Ich folgte Frau von Bülow. Innerhalb des Podests, auf dem die Säule mit dem Friedensengel thronte, war es ziemlich dunkel. Frau von Bülow hatte scheinbar ein Lumos an ihrem Zauberstab und leuchtete uns den Weg. „Na, Bertie?“, fragte sie in die Dunkelheit. Ich konnte absolut nichts erkennen. „Na, Waltraud?“ Wir gingen tiefer in den Raum hinein. Mittlerweile konnte ich Einzelheiten erkennen, auch, dass sich vor uns ein Gitterkasten befand. „Ist das ein Aufzug?“ „Sie haben es erraten. Bertie, Abteilung für Magische Landwirtschaft, wenn du so nett wärst.“ „Natürlich.“ Bertie öffnete die Aufzugkabine für uns und wir gingen an ihm vorbei. Höflich nickte ich dem Mann mit Halbglatze und grauen Haaren zu, und wunderte mich darüber, warum kein Hauself den Aufzug bediente. Bestimmt würde ich an anderer Stelle bald auf welche treffen. Wir fuhren in die Finsternis hinab. Anstatt im ersten Untergeschoss, einer großen und hell erleuchteten Eingangshalle, anzuhalten, fuhren wir weiter. „Und wie viele Probleme hattest du mit ihr?“, fragte Bertie. „Meistens hab ich darauf gewartet, dass sie endlich kommt.“ „Sie kann Sie übrigens hören“, murmelte ich. „Wie war das?“, fragte Frau von Bülow. „Ach, nichts.“ Wir fuhren noch vier Etagen nach unten. „Du meine Güte, wie weit geht das eigentlich runter?“ „Das Ministerium für Zauberei Deutschland hat zehn Etagen, neun, wenn man die Lobby ignoriert“, erzählte Bertie bereitwillig. „Im untersten Stockwerk ...“ „Bertie, lass gut sein. Das lernt sie alles noch früh genug.“ Ich grinste Bertie verschmitzt zu. Zu gerne hätte ich mehr gewusst, aber Frau von Bülow schien nun endgültig am Ende ihrer Geduld angekommen zu sein. Endlich waren wir im fünften Untergeschoss angekommen. Bertie ließ uns aussteigen. „Da wären wir, die Abteilung für Magische Landwirtschaft teilt sich die Etage mit der Abteilung für Magische Wirtschaft“, führte mich Frau von Bülow ein. „Einen Grundriss des Ministeriums sowie Angaben dazu, in welcher Etage sich welche Abteilung befindet, gibt es immer hier am Aufzug.“ Sie deutete auf ein großes Plakat links des Aufzugschachts. Ich wollte schon einen Blick darauf werfen, aber sie hielt mich zurück. „Kommen Sie, Sie sind bestimmt erschöpft von der ganzen Aufregung. Außerdem wartet Müller wahrscheinlich schon brennend darauf, Sie kennenzulernen.“ „Müller?“ „Dr. Heribert Gernot Müller, der Leiter der Abteilung für Magische Landwirtschaft.“ „Dr. Heribert Gernot Müller“, wiederholte ich ehrfürchtig. In Gedanken stellte ich mir einen kleinen, dicken Mann mit Brille auf der Nase und hellgrauen, kurzen Haaren vor. In einem braunen Tweedanzug, der aus der Zeit gefallen zu sein schien und mit braunen Budapestern dazu. Tatsächlich handelte es sich um einen großen, recht kräftigen Mann mit schwarzem, vollem Haar und einem Ankerbart. Statt einer Brille trug er ein Monokel, im Mundwinkel hatte er eine halb gerauchte Zigarre, die aber erloschen war. Seine Kleidung entging mir komplett. Mein Blick war auf das fixiert, was er auf den Schultern hatte: ein azurblauer kleiner Vogel, etwa so groß wie eine Amsel. Dr. Heribert Gernot Müller, Leiter der Abteilung für Magische Landwirtschaft, erhob sich. „Wie ich sehe, gefällt Ihnen mein Jobberknoll?“, fragte er, als er auf uns zukam. „Ja, Sir!“, bestätigte ich. Der kleine Vogel schien zu spüren, dass es um ihn ging. Neugierig hüpfte er auf der Schulter von Dr. Müller und sah mich mit seinen kleinen schwarzen Augen an. Er legte den Kopf schief. „Er ist eine Handaufzucht.“ „Handaufzucht?“ „Ja, wir haben ihn einem amerikanischen Zauberer bei der Einreise abgenommen. Er war gerade einmal wenige Tage alt und in furchtbar schlechtem Zustand.“ „Oh.“ Betroffen sah ich zu dem kleinen Vogel. Er hatte ein kräftiges, blaues Gefieder und wirkte nicht wie ein Sorgenkind. „Singt er gar nicht?“ „Nein. Warum, das werden Sie noch früh genug herausfinden.“ „Werde ich?“ „Ja. Setzen Sie sich bitte!“ „Kann ich ...“, fing Frau von Bülow an. „Nein. Waltraud, meine Liebe, unser Neuzugang ist doch noch gar nicht richtig angekommen.“ Dr. Müller bedeutete ihr, sich ebenfalls zu setzen. Sie seufzte vernehmlich und nahm neben mir am Schreibtisch des Abteilungsleiters für Magische Landwirtschaft Platz. Er setzte sich uns gegenüber. „Also lassen Sie mich mal sehen ...“ Er rückte sein Monokel zurecht und griff dann nach einer Akte, die geschlossen auf seinem Tisch gelegen hatte. „Erste magische Begebenheiten in Ihrem Umfeld haben sich schon in Ihrer Kindheit zugetragen, richtig?“ „Äh ... nicht, dass ich wüsste.“ „Oh, aber ja! Als sie acht Jahre alt waren, hat Sie ein Auto auf Ihrem Fahrrad erfasst und Sie blieben so gut wie unverletzt. Haben Sie das vergessen?“ „Äh ...“ Diese Episode aus meiner Grundschulzeit hatte ich tatsächlich verdrängt. Ich hatte mich sehr dafür geschämt, einfach ohne noch mal zu schauen auf die Straße gefahren zu sein. Der Autofahrer hatte zum Glück noch eine Vollbremsung hinlegen können. Ohne mir der Realität bewusst zu sein, war ich einfach weiter gefahren mit meinem Rad, ehe mich der Autofahrer eingeholt und mit zitternden Beinen gefragt hatte, ob ich verletzt sei. Als ich verneinte, war er weitergefahren. Zuhause hatte ich den Vorfall verschwiegen und es über die Jahre vergessen. Jetzt sah ich Dr. Müller betroffen an. „Magie! Sie haben seinerzeit unglaubliches Glück gehabt, dass der Fahrer zu geschockt war, um zu realisieren, was eigentlich geschehen war. Und er unverrichteter Dinge wieder gefahren ist, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Sie unverletzt sind.“ „Äh, Herr Dr. Müller. Sie wissen davon?“ „Wir haben Sie schon seit längerem auf dem Schirm.“ Verwirrt sah ich ihn an. Und wandte mich dann an Frau von Bülow in der Hoffnung einer Erklärung. Sie ignorierte mich. „Äh, darf ich Sie etwas fragen?“ „Nur zu“, ermutigte mich Dr. Müller. „Äh, wenn Sie mich schon so lange beobachten, warum melden Sie sich erst jetzt bei mir?“ Verlegen wechselte der Abteilungsleiter einen Blick mit Frau von Bülow. „Nun, wissen Sie, es kann schon mal vorkommen, dass wir Nachwuchshexen und -zauberer aus den Augen verlieren. Konkret ist uns Ihre Akte vor etwa einem Jahr wieder in die Hände gefallen, das hat in der Registratur für einigen Wirbel gesorgt. Da Sie sich ziemlich gut geschlagen hatten und in Ihrem Umfeld bei den MaKas gefestigt waren, haben wir Sie nur beobachtet. Jedoch haben die Dinge in den letzten Stunden etwas überhandgenommen, nicht?“ „Äh, was meinen Sie?“, fragte ich ihn unsicher. „Na, das Feuer in dem Bürokomplex. Im Eifer des Gefechts kann so etwas schon mal passieren, vor allem wenn man emotional aufgewühlt ist.“ „Das Feuer?“, fragte ich erschrocken. „Aber ja!“, bestätigte Dr. Müller. „Ihr Glück, dass Sie die MaKa-Feuerwehr gerufen haben, das hätte sonst böse enden können.“ „Äh, nur, dass ich Sie richtig verstehe. Sie wollen mir sagen, dass ich das Feuer im Erdgeschoss meines Arbeitgebers verursacht habe? Mit Magie?“ „Ja.“ Mir wurde kurzzeitig schwarz vor Augen. Dr. Müller und Frau von Bülow schwiegen diskret, bis ich meine Fassung wieder erlangt hatte. „Ist jemand verletzt worden?“, fragte ich besorgt. „Nein, wie ich schon sagte. Die Feuerwehr kam rechtzeitig und hat Schlimmeres verhindert. Niemand wurde verletzt. Trotzdem hielten wir es für ratsam, Sie unter unsere Fittiche zu nehmen.“ Immer noch aufgewühlt sah ich ihm ernst in die Augen. „Und jetzt wollen Sie, dass ich magische Tierwesen untersuche?“ Er nickte. „Da Sie durch Ihre Eltern einen landwirtschaftlichen Hintergrund mitbringen, hielten es die Ministeriumsoberen für sinnvoll, Sie in meine Abteilung zu versetzen.“ „Oh. Und ich soll die Tierwesen alleine erforschen?“ „Ja. Sie müssen wissen, dass im Deutschen Zaubereiministerium, anders als in den anderen in Europa, ziemlich Not am Mann herrscht. Oder der Frau, wenn man so will.“ „Personalmangel? Wurden dem Ministerium die finanziellen Mittel gekürzt?“, fragte ich. Dass in Deutschland diese oder jene Ausgabenposten von der Politik kaputt gespart wurden, war kein Geheimnis. Das betraf unter anderem das gemeine Schulwesen in den Ländern, aber zum Beispiel auch Bundes- und Landespolizei sowie den Zoll. Deshalb war es das Erste, was mir einfiel. „Nun ja, so ähnlich“, meinte Frau von Bülow leise neben mir. Verwirrt sah ich zwischen den beiden hin und her. „Sie werden es noch früh genug erfahren. Tut mir leid, aber zu Ihren Aufgaben wird es deshalb auch gehören, dass Sie sich zunächst alleine in Magie aus- und fortbilden.“ Ich riss den Mund auf. „Wir haben eine exzellente Enzyklopädie der Magie und Zauberkunst. Eine vollständige Ausgabe haben wir bereits auf Ihr Zimmer bringen lassen.“ „Äh ... Mein Zimmer?“ „Sie werden vorerst hier wohnen. Nichts Weltbewegendes, natürlich gibt es keine Fenster, dafür ist es ein Einzelzimmer. Sie haben private Sanitärräume mit fließend warmem Wasser. Und es gibt einen Gemeinschaftsraum.“ „Aha. Aber halten Sie das nicht für völlig gefährlich, eine nicht ausgebildete Hexe auf magische Tierwesen loszulassen? Oder auf Berlin?“ „Keine Sorge, Ihre Arbeit wird sich die meiste Zeit außerhalb der Stadt abspielen. Tierwesen sind nämlich sehr MaKa-scheu, wie Sie sich denken können.“ „Hat denn bisher noch niemand Tierwesen untersucht?“, fragte ich. „Doch natürlich, aber noch nicht maßgeblich. Sie müssen wissen, die Deutsche Zauberergemeinschaft hat erst sehr spät begonnen, sich mit dem Thema zu befassen. Lange Zeit wurden magische Tierwesen von uns Menschen als gefährlich betrachtet und deshalb gejagt. Diese Herangehensweise bröckelt erst seit knapp hundert Jahren.“  „Wieso? Was geschah denn vor hundert Jahren?“, fragte ich so beiläufig wie möglich. Der erste Fantastic Beasts Film spielte 1926 in New York. Jetzt war es 2020, die Zeitrechnung von Dr. Müller konnte also hinkommen. „Ja, nun. Die Zaubererschaft in Übersee sah mit einem nicht unerheblichen Vorfall konfrontiert, dessen Auslöser man zunächst in der Riege der Tierwesen vermutete. Hinterher stellte sich jedoch eine andere Ursache für die Geschehnisse heraus.“ „Oh!“ „Jedenfalls, einige der Tierwesen halfen am Ende, die Enttarnung der Zaubererschaft zu verhindern. Dadurch veränderte sich die Sichtweise grundlegend, wie Sie sich sicher vorstellen können.“ „Ja, soweit habe ich es verstanden“, bestätigte ich. „Ich verstehe nur nicht, warum man nicht die Forschung von Hexen und Magiern aus dem Ausland zurate zieht. Die haben die Tierwesen doch bestimmt schon sehr detailliert beschrieben?“ Ich wollte den Namen Newt Scamander nicht wörtlich in den Mund nehmen. Einerseits, weil ich nicht wieder so ein Übelkeitsgefühl bekommen wollte wie in dem Moment, als ich Harry Potter gegenüber der Bülow erwähnt hatte. Andererseits, weil ich damit vielleicht etwas lostrat, wovon ich jetzt noch nicht wissen konnte, ob es sich positiv oder negativ auswirken würde. Die Heimlichtuerei, die Dr. Müller mir bezüglich deutschen und nicht-deutschen Zauberern an den Tag legte, wirkte auf mich mehr als nur verdächtig. Ich beschloss, der Sache bei Gelegenheit auf den Grund zu gehen. Vielleicht stand ja etwas in der viel gepriesenen Enzyklopädie. „Ähm, nun ja. Das werden Sie noch früh genug erfahren. Jedenfalls, wir hoffen, dass wir durch Ihre Arbeit unserer Enzyklopädie einen weiteren wichtigen Baustein hinzufügen können. Das Thema Tierwesen ist dort ein weißer Fleck auf der Landkarte.“ „Ich freue mich, wenn ich etwas zum Gemeinwohl beitragen kann“, sagte ich pflichtschuldig. „Gut gut, das freut mich zu hören. Da wir soweit das Wichtigste geklärt haben, entlasse ich Sie für heute. Waltraud wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Ihre Sachen sowie eine Ausgabe unserer Enzyklopädie haben wir, wie erwähnt, schon hinbringen lassen.“ Wir erhoben uns alle von unseren Plätzen und gingen zur Tür des Büros. „Ach, eine Sache noch“, fügte Dr. Müller hinzu. „Bevor Sie sich ins offene Feld begeben, sollten Sie die wichtigsten Zaubersprüche auf unserem Übungsplatz probieren. Der befindet sich im dritten Untergeschoss und ist mit einem beachtlichen Raumausdehnungszauber ausgestattet. Das Gelände innerhalb des Zaubers ist fast so groß wie die Fläche der Uckermark, aber bei weitem abwechslungsreicher. Neben einem Strand- und einem Waldareal gibt es auch ein kleines Gebirge. Und natürlich Gebiete, die Dörfern und Städten ähneln. Dort sollten Sie auf jeden Fall trainieren.“ Ich nickte. „Guten Abend, meine Liebe. Waltraud, wir sehen uns dann morgen.“ „Es ist zwei Uhr in der Früh“, konterte Frau von Bülow. „Oh, schon so spät? Wie die Zeit vergeht! Na ja, dann sehen wir uns später.“ Frau von Bülow verdrehte die Augen und schob mich nach draußen auf den Gang. „Arbeitet er immer so spät?“, fragte ich, als wir beim Aufzug angekommen waren. „Ständig. Er ist ein Workaholic.“ Bertie kam mit dem Aufzug angerauscht und fuhr mit uns ins vierte Untergeschoss hoch. „Es wohnen noch einige andere Ministeriumsmitarbeiter hier, Sie sollten sich also entsprechend leise verhalten. Ausschweifende Parties sind verboten, aber gegen einen geselligen Abend hat der Zaubereiminister in der Regel nichts einzuwenden. Wenn die Arbeit nicht darunter leidet, natürlich“, erzählte mir Frau von Bülow auf dem Weg zu meinem Zimmer. Wir blieben vor einer Holztür auf der linken Seite des Gangs stehen. „Also, da wären wir.“ Frau von Bülow kramte ihren Zauberstab hervor und hielt ihn auf das Schlüsselloch. „Alohomora!“ Die Tür öffnete sich auf magische Weise. „Äh, gibt es keinen Schlüssel?“ „Doch, aber den müssen Sie sich morgen in der Registratur abholen. Um die Zeit ist dort niemand mehr.“ „Und man kann die Zimmer einfach so aufzaubern?“ „Die nicht bewohnten schon. Sie sollten sich in der Enzyklopädie aber das Kapitel über den magischen Datenschutz anschauen, dort gibt es auch einen Unterpunkt zum Thema Verschließzauber.“ Ich sah Frau von Bülow sprachlos an. „Was?“ „Also, Sie wollen mir allen Ernstes erzählen, dass es in der Buchsammlung ein Kapitel über Schließ- und Öffnungszauber gibt? Was bleibt denn dann geheim, wenn jeder die Zaubersprüche nachlesen kann?“, fragte ich überfordert. „Lesen Sie das Kapitel, dann wissen Sie mehr. Und jetzt rein mit Ihnen. Wenn Sie meinen Rat hören wollen, versuchen Sie zu schlafen, zu essen und dann erst auf den Übungsplatz zu gehen. Eine andere Reihenfolge macht um diese späte Uhrzeit keinen Sinn.“ „Ja.“ Ich trat an Frau von Bülow vorbei in das Zimmer. „Und denken Sie an Ihren Decknamen. Das können Sie morgen an der Rezeption erledigen, die kümmern sich dann um die Änderung der Akten.“ „Ist gut. An wen darf ich mich wenden, wenn ich Hilfe brauche?“ „Generell erst einmal an die Rezeption. Die hilft Ihnen bei allerlei Fragen zum Ministerium weiter. Diese befindet sich im ersten Untergeschoss. Dort befindet sich auch die Ministeriumsbibliothek, in der Sie im frei zugänglichen Bereich Bücher ausleihen können. Wenn Sie abteilungsspezifische Hilfe benötigen, gehen Sie zu Dr. Müller.“ „Und wenn ich Ihre Hilfe benötige?“, hakte ich nach. „Die werden Sie nicht brauchen, außer Dr. Müller ist außer Gefecht gesetzt. Dann schicken Sie mir eine Eule. Aber nur dann!“ Ich war zu müde, um sie anzugrinsen. „Ist gut.“ „Also dann, auf gute Zusammenarbeit“, wünschte mir Frau von Bülow, wandte sich um und ging. Ich sah ihr erschöpft hinterher und beschloss, den Rat der Hexe zu befolgen, und fiel ins Bett. Binnen weniger Sekunden war ich eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)