Angelo von Maginisha ================================================================================ Kapitel 21: Gewebte Angst ------------------------- Die Sonne war bereits untergegangen, als sie am Universitätsgelände ankamen. Das Gebäude mit den großen Glasfronten, auf das sie sich zubewegten, lag fast vollkommen im Dunkeln. Nur an den Notausgängen waren noch die bekannten, grünen Leuchttafeln erkennbar. Aus der Ferne wirkte es, als würden sie von einer Vielzahl trüber Augen angestarrt. Gabriella schüttelte sich unter dem Eindruck. Sie sah zu Michael und Angelo, die neben ihr über den inzwischen leeren Campus wanderten. Die beiden hatten ihr erzählt, was heute Morgen im Büro von Jeffs ehemaliger Professorin vorgefallen war. Gabriella hatte ihnen zugestimmt, dass das Verhalten der Dame mehr als verdächtig war. Das Treffen, das sie vorgeschlagen hatte, konnte eigentlich nur eine Falle sein. Aus diesem Grund hing auf Michaels Rücken die Sporttasche, die er vor ihrer Abfahrt noch gepackt hatte. Darin befanden sich Waffen. Waffen! Eine rostige Heckenschere, die er irgendwo in der Garage ausgegraben und in zwei Teile zerlegt hatte. Den Nachmittag hatte er mit Angelo zusammen verbracht, um die Kanten der Schere zu schleifen. Das Ergebnis war etwas, das Gabriella erneut schaudern ließ, wenn sie nur daran dachte. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese improvisierten Mordwerkzeuge würde einsetzen können. Ursprünglich hatte Angelo auch noch sein Schwert mitnehmen wollen, aber es hatte nicht in die Tasche gepasst und Michael hatte Gabriellas Auffassung geteilt, dass es unklug war, mit der Waffe in der Hand zu dem Treffen zu gehen. Angelo hatte sich ihrem Rat zwar gebeugt und die Waffe im Auto gelassen, aber Gabriella hatte deutlich gesehen, dass ihm das Ganze nicht schmeckte. Ihr, wenn sie ehrlich war, auch nicht. Ihr Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken, dass sie womöglich tatsächlich würden kämpfen müssen. Erinnerungen an die Begegnung mit dem Dämon in ihrem Garten gruben sich ihren Weg an die Oberfläche. Trotzdem ging sie weiter. Ihre Schritte erzeugten kaum Geräusche auf den Gehwegplatten. Sie hatte sich entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit flache Turnschuhe und eine Hose angezogen, die ihr genug Bewegungsfreiheit gab. Sie hoffte nur, dass diese Maßnahmen sich als überflüssig erweisen würden.   „Dort hinten geht es rein.“ Gabriella versuchte, an Michaels Stimmlage etwas abzulesen, aber er schien lange nicht so beunruhigt zu sein wie sie. Machte sie sich zu viele Gedanken? Als ihr Blick zu Angelo wanderte, war sie jedoch gleich wieder in Alarmbereitschaft versetzt. Er sah ernst aus, angespannt. Sein Gesicht wirkte auf eigenartige Weise älter, reifer, fast so als ob … „Angelo?“ Er sah auf und senkte im nächsten Augenblick schuldbewusst die Augen. „Ich hab nur mal kurz nachgesehen, ob ich was Ungewöhnliches erkennen kann.“ Sie ersparte sich eine Bemerkung dazu, dass er mit seinen Kräften lieber haushalten sollte. „Und?“ Er schüttelte den Kopf. „Nichts.“ „Mhm.“ „Nun macht euch nicht verrückt“, mischte sich jetzt Michael ein. „Immerhin sind wir zu dritt. Wir sind in der Überzahl und sie offenbar kein Dämon. Was soll also passieren?“ Gabriella hatte keine Antwort auf diese Frage. Nur ein ungutes Gefühl, dass ihr über den Rücken hinauf bis in den Nacken krabbelte und sich dort hartnäckig festbiss.   Als sie das Gebäude betraten, wurde das Gefühl mit jedem Schritt stärker. Unruhig sah sie sich um. Wurden sie beobachtet? Aus den Schatten heraus angestarrt? War da nicht ein Wispern zu hören? Ein Huschen und Trippeln? Oder bildete sie sich das alles nur ein? Sie rückte ein Stück näher an Michael heran und sah sich in der Empfangshalle um, die jetzt still und dunkel vor ihnen lag. Nicht einmal das Wasserspiel, das einen zentralen Punkt in der weitläufigen Halle bildete, war eingeschaltet. Irgendwo meinte sie jetzt tatsächlich etwas zu hören. Ein Summen, das langsam näher kam. Ein unförmiger Schatten geisterte über die Wand, kam näher und näher und …   Im nächsten Moment ließ Gabriella geräuschvoll die Luft entweichen. Dort schob eine Reinigungskraft eine dieser großen Maschinen, die gleichzeitig saugten und wischten, vor sich her. Der Boden dahinter glänzte feucht. Der Mann, der die Maschine bediente, beachtete sie nicht weiter, sondern zog einfach weiter in der Halle seine Kreise. Wie es aussah, würde er noch eine Weile brauchen. Irgendwie beruhigte Gabriella der Gedanke, dass sich außer ihnen noch jemand im Gebäude befand.   „Wo ist denn nun diese Professorin? Ich dachte, wir wären verabredet.“ Michael wollte ihr gerade antworten, als ein leises ‚Pling’ die Ankunft eines Aufzugs ankündigte. In der dunklen Wand der Halle öffneten sich eine Tür und eine Frau in einem grauen Kostüm trat aus der hell erleuchteten Kabine. Gabriella wusste sofort, um wen es sich handelte. Die Beschreibung, die die beiden Männer ihr geliefert hatten, traf zu hundert Prozent zu. Eine Tatsache, die Gabriella für einen Augenblick stutzen ließ. Natürlich legte sie selbst ebenfalls Wert auf ein gepflegtes Äußeres, besonders bei Kundenterminen. Gleichzeitig war ihr jedoch klar, dass selbst bei der allerbesten Vorbereitung, niemand nach einem kompletten Arbeitstags noch so aussehen konnte wie die Dame, die da gerade auf sie zukam. Immerhin machte es den Anschein, dass sie bis gerade noch gearbeitet hatte. Trotzdem sah sie aus, als wäre sie gerade frisch gephotoshopt worden. Sogar ihr Make-up war tadellos. „Mr. Thompson“, sagte sie mit einem Lächeln auf den roten Lippen, das wie mit einem Zirkel gezogen wirkte. Sie reichte Michael die Hand, bevor sie sich Gabriella zuwandte. „Und sie müssen Mrs. Thompson sein. Ich bin erfreut Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Wieder streckte sie ihre Hand aus und Gabriella ergriff sie automatisch. Schmal und kühl legten sich die Finger der Professorin um ihre. Die Berührung hatte etwas Unangenehmes, Zwingendes. Gabriella hätte ihre Hand am liebsten wieder zurückgezogen. „Gleichfalls“, presste sie stattdessen hervor. Die schräg stehenden Augen ihres Gegenübers musterten sie intensiv, bevor sie sich abrupt auf Angelo richteten. „Ah, du bist auch gekommen. Sehr schön. Dann kann die Führung ja beginnen.“ Die Frau wandte sich wieder den Aufzügen zu. „Wollen wir?“ „Bitte nach Ihnen“, antwortete Michael und warf Gabriella hinter dem Rücken der Professorin einen fragenden Blick zu. Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Die Abneigung, die sie gegen die Frau empfand, war nicht rational. Sie wollte nicht als hysterisch dastehen, nur weil deren Perfektion sie einschüchterte.   In der Kabine war genug Platz für sie vier. Gabriella kam sich trotzdem vor wie in einer Falle, als sich die stählernen Türen vor ihr schlossen. Ein letzter Blick auf die Außenwelt, bevor sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte. Sie fuhren nach unten. „Die neuen Laborräume wurden teilweise unterirdisch angelegt“, erklärte die Professorin. „Das ist zwar nicht so hübsch wie mein Büro, das Sie heute morgen besichtigt haben, aber da wir Wissenschaftler ohnehin immer nur auf unsere Arbeit schauen, brauchen wir eigentlich keine Fenster.“ Sie lachte ein perlendes Lachen, in das Michael und Angelo mit einfielen. Auch Gabriella bemühte sich um ein Lächeln, aber es war deutlich angestrengter als das ihrer beiden Begleiter. Hör auf so stutenbissig zu sein, herrschte sie sich selber an. Es besteht überhaupt kein Grund dazu.   Trotzdem blieb das Gefühl der Verunsicherung bestehen, als sie den Fahrstuhl wieder verließen und in einem langen, von unzähligen Türen unterbrochenen Gang standen. Der größte Teil davon wurde von einer Glastür abgetrennt, auf der ein großes Biohazard-Zeichen angebracht war. „Ab hier wird es ernst“, erklärte die Professorin und wies auf die Tür. „Da in den Laboren momentan nicht gearbeitet wird und alle Proben ordnungsgemäß verschlossen sind, besteht quasi keine Gefahr. Ich muss Sie jedoch trotzdem bitten, Ihre Tasche hier abzustellen. Universitätsfremde Personen sind hier eigentlich nicht erlaubt und wir wollen doch nicht, dass nachher etwas fehlt.“ Sie lächelte und trotzdem war Gabriella sofort klar, dass hier kein Verhandlungsspielraum bestand. Michael sah sie ein wenig unsicher an. „Was meinst du, Schatz, willst du vielleicht hier auf die Sachen aufpassen, während Angelo und ich das Labor besichtigen?“ Gabriella ahnte, was er vorhatte. Allerdings sah es so aus, als wäre die Tür mit einer Art elektronischem Schloss gesichert. Wenn sie hierblieb, wäre sie trotz der Waffen nutzlos. Schlimmer noch, sie würde sich mutterseelenallein in diesem kahlen, kalten Flur die Beine in den Bauch stehen, während da drinnen wer weiß was passierte. Auf gar keinen Fall! „Ach was, wir lassen sie einfach hier stehen. Es wird sie schon niemand klauen.“ Gabriella lachte, aber es klang selbst in ihren Ohren künstlich. Die Professorin hingegen nickte zustimmend. „Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben. Die Vordertür wird um diese Uhrzeit verriegelt. Keiner kann das Gebäude betreten. Es ist niemand da außer uns.“ Die Worte, so beruhigend sie auf den ersten Blick wirken mochten, ließen eine Gänsehaut über Gabriellas Arme hinaufwandern. Als sie gekommen waren, war die Tür noch offen gewesen. Wer hatte sie inzwischen verschlossen? Der Reinigungsmann? Hatte er inzwischen Feierabend gemacht und war ebenfalls gegangen? Mit einem letzten, skeptischen Blick ließ Michael die Tasche in einer Ecke des Flurs zu Boden gleiten. Es klirrte ein wenig darin, als die Scherenteile gegeneinanderstießen. Gabriella beobachtete die Professorin, aber ihr makelloses Gesicht zeigte keinerlei Reaktion. Wie eine Maske, schoss es Gabriella durch den Kopf.   „Sind Sie bereit?“ Der Tonfall der Professorin war fröhlich, ihre Miene ebenfalls, und doch hatte Gabriella das Gefühl, als wäre sie gerade gefragt worden, ob sie den Kopf lieber nach rechts oder nach links aufs Schafott legen wolle. „Natürlich“, antwortete Michael an ihrer Stelle. Die Professorin tippte eine Zahlenkombination in das Tastenfeld neben der Tür, es klickte und im nächsten Moment schwang die Tür nach außen auf. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“ Von wollen kann keine Rede sein, dachte Gabriella, während die durch die Tür trat, die sich sogleich wieder hinter ihnen schloss. Einmal mehr hatte sie das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Hier drinnen war es still, nur die Schritte der hochhackigen Schuhe der Professorin hallten von den Wänden des Ganges wieder. „Wir können nicht alle der Labore betreten, aber durch die Sichtöffnungen in den Türen haben Sie einen guten Blick auf unsere Möglichkeiten. In diesem Labor wird beispielsweise auf dem Gebiet der Biokompatibilität geforscht. Es wird heutzutage immer leichter, biologische Vorgänge mit elektronischen Geräten zu unterstützen. Damit diese nicht vom Körper abgestoßen werden, forschen wir hier daran, möglichst nebenwirkungsfreie Werkstoffe zu entwickeln. Professor Edwards hat eine Methode entwickelt, mittels derer Implantate mit einer körpereigenen Proteinschicht umhüllt werden. Das Implantat wird so an das Empfängergewebe angepasst und es kommt zu weniger Abstoßungsreaktionen.“ Gabriella warf einen Blick in das Labor. Auf einem Werktisch stand ein großes Mikroskop, an den Wänden waren Kühlschränke mit durchsichtigen Glasfronten aufgestellt und im Hintergrund stand ein Konvolut von Glasflaschen mit verschiedenen Flüssigkeiten. In einer Nische an der Wand entdeckte sie eine Kochplatte. Bevor sie sich jedoch noch weiter umsehen konnte, war die Professorin bereits zum nächsten Raum gegangen. „In diesem Labor werden die Geräte entwickelt, die später den Patienten eingesetzt werden sollen. Herzschrittmacher, Insulinpumpen und so weiter. Inzwischen gibt es sogar Geräte, die die Gehirnfunktion unterstützen, indem sie die elektrische Reizweiterleitung übernehmen. Es ist wirklich faszinierend, was sich alles im menschlichen Körper ersetzen lässt.“ Sie lächelte, doch ihr Gesicht blieb wieder seltsam starr dabei. Gabriella bekam mehr und mehr den Eindruck, das hinter den vielen, unverständlichen Worten, eine tiefere Bedeutung steckte, die sie nicht verstand. So als redete die Professorin von etwas, das sich noch unter der Oberfläche befand; eine schreckliche Wahrheit verhüllt von einem hauchzarten Schleier gut gewebter Lügen. Sie merkte, dass sie bei ihren Überlegungen irgendwie den Anschluss verpasst hatte und beeilte sich, zu den anderen aufzuschließen, die bereits vor dem nächsten Labor standen.   „Mit den zunehmen Möglichkeiten der Zellreproduktion unter in vitro Bedingungen, mit der heutzutage bereits ganze Organe hergestellt werden können, kommt dieser Sparte eine besondere Bedeutung zu. Es gibt einfach viel zu wenig Spenderorgane. Mit Hilfe unserer Forschung wird es in Zukunft möglich sein, dieses Hindernis zu umgehen. Wer weiß, vielleicht werden wir irgendwann mal in der Lage sein, ganze Körper herzustellen. Damit könnte es möglich sein, nahezu ewig zu leben.“ „Das klingt irgendwie gruselig“, sagte Gabriella, bevor sie es verhindern konnte. Die Professorin lächelte nachsichtig. „Nicht alle teilen unseren Optimismus diese neuen Technologien betreffend. Ich werden Ihnen daher vielleicht noch etwas anderes zeigen. Wenn Sie mir folgen wollen?“ Sie wies einladend auf eine Tür ganz am Ende des Ganges. „Hier hinten befinden sich die Räume, in denen ich meine Forschungen betreibe. Mein Fachgebiet ist dabei die Signaltransduktion.“ „Ähm, ohne jetzt dumm wirken zu wollen, aber was heißt das?“ Michael wirkte ein wenig verlegen, als er die Frage stellte. Wieder lachte die Professorin ein glockenhelles Lachen. „Das hat nichts mit Dummheit zu tun, Mr. Thompson. Fragen Sie ruhig. Signaltransduktion bedeutet, dass eine Zelle auf ein äußeres Signal, wie etwa einen physikalischen oder chemischen Reiz, eine interne Reaktion zeigt. Während einzellige Lebewesen noch direkt auf solche Stimmulation reagieren, erfordern mehrzellige Organismen ein gewisses Maß an Zellkommunikation. Wie diese funktioniert und beeinflusst werden kann, damit beschäftige ich mich. Oder anders gesagt, ich kann Ihnen genau erklären, warum Ihnen beim Geruch eines saftigen Steaks das Wasser im Mund zusammenläuft oder warum beim Anblick Ihrer reizenden Frau Ihr Herz anfängt schneller zu schlagen.“ Gabriella entging der Blick, den ihr die Professorin dabei angedeihen ließ, nicht. Sie war sich sicher, dass, wenn sie nicht dabei gewesen wäre, sich das Beispiel der Frau sie selbst bezogen hätte. Gabriella konnte förmlich hören, wie diese Person schamlos mit ihrem Mann flirtete und der dabei nicht einmal merkte, wie sie ihre Fäden um ihn herum spann, bis er schließlich zappelte wie eine Fliege im Netz. Es ist fast eigenartig, dass sie Angelo so ignoriert. Immerhin soll er doch angeblich ihr zukünftiger Student sein. Sollte sie nicht versuchen, ihn für das Studium zu begeistern? Stattdessen konzentriert sie sich darauf, Michael zu bezirzen. Noch dazu, während ich daneben stehe. Warum?   Die Professorin hatte jetzt die Tür zu dem bisher größten Raum geöffnet. Zu Gabriellas Erstaunen befanden sich an einer Wand des Raum mehrere Käfige, in denen sich Mäuse, Ratten und sogar Kaninchen befanden. „Sie machen hier Tierversuche?“ Gabriellas Widerwillen gegen die Frau verstärkte sich noch. Die Professorin reagierte gelassen. „Ja, das tun wir. Nervenreaktionen lassen sich leider nur bedingt an isolierten Zellen erforschen. Ich versichere Ihnen jedoch, dass den Tieren hier kein Leid geschieht. Die Schmerzforschung findet in einer der medizinischen Facheinrichtungen statt.“ Wenig überzeugt nahm Gabriella noch einmal die Käfige in Augenschein. Die Tiere wirkten tatsächlich wohlgenährt und nicht etwa lethargisch oder räudig. Ein weißes Kaninchen sah sie aus runden Knopfaugen an, während es an seiner Wasserflasche nibbelte. Sie lächelte unwillkürlich und wollte sich gerade dem nächsten Gitter zuwenden, als sie erstarrte. Statt weiterer Gitterstäbe befand sich hier eine Glasscheibe und dahinter … „Ieh, was ist das denn?“ Gabriella verzog das Gesicht. „Was denn?“ Die Professorin kam auf sie zu. Sie lachte, als sie sah, wo Gabriella stand. „Ah, Sie haben meine Maskottchen entdeckt. Darf ich vorstellen, das sind einige Exemplare der Nephila clavata, eine japanische Seidenspinnenart. Ein Freund hat sie mir geschenkt. Sie sind hübsch, nicht wahr?“ Hübsch war nicht gerade das Wort, das Gabriella bei diesen Viecher als Erstes in den Sinn kam. Schaurig, eklig oder widerwärtig hätten da eher an erster Stelle gestanden. Die Spinnen hatten einen fast drei Zentimeter langen Hinterleib, der auf der Oberseite ein auffälliges grün, gelbes Punktmuster aufwies und an der Unterseite einen tiefroten Fleck hatte. Der Kopf war mit silbergrauen Haaren besetzt und die Beine … die Beine waren einfach nur furchtbar. Gelb und schwarz gestreift war jedes von ihnen etwa dreimal so lang wie der Körper der Spinnen. Es ließ sie seltsam fragil und gleichzeitig gefährlich wirken. So als würde sie einen jeden Moment anspringen.   „Entschuldigen Sie meine Neugier, Professor Yoshizono, aber müssten die Labore nicht irgendwie größer sein?“ Michael sah sich um und Gabriella fiel erst jetzt auf, wie schmal und beengt das alles hier auf ihn wirken musste. Er war immerhin ein ganzes Stück größer als sie und die Professorin. Auch Angelo stand ihm in Masse um Einiges nach. Die Professorin kicherte albern. „Ach, jetzt haben Sie mich erwischt, Mr. Thompson. Das hier sind natürlich nicht die offiziellen Labore, in denen die Studenten arbeiten. Hier unten hat jeder aus dem Kollegium sein eigenes, kleines Reich. Ursprünglich war tatsächlich geplant, das natürliche Höhlensystem, das nach dem Brand entdeckt wurde, für den Bau einer weitreichenden Laboranlage der Physikalischen Fakultät zu nutzen. Leider stellte sich heraus, dass die Felsformationen nicht tragfähig genug waren. Man hat deswegen nur einen sehr kleinen Teil erschlossen. Der Rest ist immer noch im Originalzustand.“ „Sie meinen, es gibt hier unterirdische Höhlen?“ „Ja, in der Tat. Sie sind sogar zugänglich. Wollen Sie sie sehen?“ Michael warf Gabriella und Angelo jeweils einen fragenden Blick zu. Alles in Gabriella sträubte sich, Ja zu sagen. Trotzdem nickte sie langsam, ebenso wie Angelo, der immer noch auf die Spinnen hinter der Glasscheibe starrte. Die Professorin nahm das mit einem glatten Lächeln zur Kenntnis. „Gut, dann folgen Sie mir doch bitte. Ich denke, wir werden nicht weit gehen. Nur einen kleinen Blick, damit man in etwa eine Vorstellung hat.“   Die andere Frau ging zu einer Tür an einer Seite des Labors, die Gabriella bisher nicht aufgefallen war. Sie fügte sich nahezu nahtlos in die Wand ein und gab jetzt, da sie geöffnet wurde, den Blick auf einen kleinen Gang frei, an dessen Ende eine stählerne Luke zu sehen war. Gabriella musste an ein U-Boot denken. „Wir müssen den Eingang zu den Höhlen leider sehr dicht verschließen, da es bei starken Regenfällen manchmal zu Wassereinbrüchen kommt. Dann wird ein Teil der Höhlen überflutet und das wollen wir natürlich nicht in unseren Laboren haben.“ „Sicher nicht“, gab Michael zurück und wies auf die Tür. „Soll ich sie öffnen?“ „Wenn Sie so freundlich wären.“   Die Professorin trat zur Seite und ließ Michael vorbei, der sich sogleich an dem Rad zu schaffen machte, das den Türmechanismus betätigte. Gabriella meinte, ein hohles Klacken zu hören, als sich der Riegel zurückschob und Michael die Luke öffnete. Dahinter gähnte ein schwarzes Loch. Interessiert steckte Michael seinen Kopf hinein. „Hier drinnen ist es ganz schön finster. Wir werden Lampen brauchen.“ „Wenn Sie den Schalter neben der Tür betätigen würden? Wir haben in der ersten Höhle einige Lampen angebracht. Die sollten eigentlich ausreichen, um einen Eindruck zu bekommen.“ Tatsächlich flammten im Inneren der Höhle Lichter auf. Gabriella trat ein wenig näher und ein Schwall kalter Luft schlug ihr entgegen. Sie fröstelte. „Wir werden nicht lange bleiben“, sagte eine Stimme direkt neben ihr und als sie sich umdrehte, stand dort die Professorin. „Na los, Mrs. Thompson. Sie wollen die Höhlen doch auch sehen, oder?“ Die dunklen Augen der Frau schienen bis in ihr Innerstes zu schauen. Irgendwo in der Schwärze meinte Gabriella etwas aufblitzen zu sehen, doch das verschwand ebenso schnell wieder, wie es gekommen war. Im nächsten Moment beobachtete sie sich dabei, wie sie bereits durch die Luke hinein in die Finsternis kletterte. Hinter ihr kam Angelo durch die halbrunde Öffnung, dicht gefolgt von der Professorin, die ihn sanft aber bestimmt weiterschob. „Nur noch ein Stück“, sagte sie lächelnd. „Es ist nur noch ein kleines Stück.“       Erithriel hielt neben der grauen Limousine, zu der ihn der GPS-Tracker gelotst hatte. Der Wagen stand auf einem Parkplatz der Universität. Der Rest des Platzes lag relativ verlassen da, wenn man von einem schon etwas in die Jahre gekommenen Pickup in rostigem Dunkelgrün absah, der ein wenig abseits stand. Kein Mensch war zu sehen und auch sonst regte sich nicht viel auf dem Parkplatz. Wo waren der Gefallene und seine Begleiter hingegangen? Und was wollten sie hier?   Erithriel stieg aus und sah sich um. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte eines der Gebäude hier in der Nähe in Schutt und Asche gelegen. Der Kollege von der Brandermittlung, den er seit gestern erfolglos versuchte zu erreichen, hatte ihn damals hinzugezogen, um eine zweite Meinung einzuholen. Das Feuer, das damals hier gewütet hatte, war nicht eindeutig dämonischen Ursprungs gewesen. Trotzdem hatte es einige Ungereimtheiten gegeben, die es von einem normalen Brand unterschieden hatten. Zum Beispiel die Tatsache, dass das Feuer quasi überall zugleich ausgebrochen war. Auch waren nirgendwo Spuren von Brandbeschleunigern oder Sprengstoff feststellbar gewesen. Sie hatten gesucht und gesucht, waren aber nicht in der Lage gewesen, die Brandursache zu lokalisieren. Am Ende hatten sie den Fall geschlossen, ohne ihn aufzuklären. Erithriel erinnerte sich daran, wie unbefriedigt ihn dieses Ergebnis zurückgelassen hatte. Er erledigte seine Aufgaben gerne gründlich.   Sein Blick glitt über die Silhouetten der Gebäude und blieben an einem großen Komplex mit auffälligen Glasfronten hängen. Es schien neuerer Bauart zu sein und stand anscheinend genau an dem Platz, an dem damals die Ruine gelegen hatte. Erithriel blieb stehen und musterte das Gebäude misstrauisch. Sollte es möglich sein, dass sie ausgerechnet hierher gekommen waren? Zu welchem Zweck?   Als er so weit herangekommen war, dass er bereits sein Spiegelbild in den dunklen Glasfronten sehen konnte, blieb er stehen und sandte seine Sinne aus. Der obere Teil des Gebäudes war tatsächlich vollkommen leer. Im Kellergeschoss hingegen konnte er drei … nein vier Lebenszeichen ausmachen. Eines davon war jedoch seltsam unscharf. Fast so, als ob … „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“ Erithriel drehte sich zum dem Mann herum, der ihn angesprochen hatte. Er trug eine graue Uniform mit einem Namensschild, das ihn als „Andrew“ auswies. Der Schlüssel in seiner Hand ließ vermuten, dass er der Besitzer des Pick-ups war. Reinigungspersonal, beschloss Erithriel im Stillen. „Ja, das können Sie in der Tat. Mein Name ist Erik Hawthorne, FBI. Ich bin auf der Suche nach jemandem.“ Er zog seine Marke, die von seinem Gegenüber ehrfürchtig begutachtet wurde. Solche Typen waren meist leicht zu beeindrucken. Zumindest schätzte er diesen hier nicht so ein, als würde er gerne oder oft mit dem Gesetz in Konflikt kommen. „Und wen?“, fragte Andrew und spielte nervös mit den Autoschlüsseln. „Hier sind schon alle weg.“ „Ach tatsächlich. Dabei war ich verabredet. In diesem Gebäude.“ Erithriel wies hinter sich. „Es sollten eigentlich noch mehr Leute kommen. Zwei Männer, einer ziemlich groß, der andere kleiner und blond. Dazu eine recht attraktive Dame etwa in meinem Alter.“ Auf Andrews Gesicht erschien ein Grinsen. „Der heiße Feger? Ja, die hab ich gesehen. Waren mit dieser Professorin verabredet. Kann mir ihren Namen nie merken. Sie hat gesagt, ich könne ruhig abschließen, wenn ich mit der Halle fertig bin. Hab ich gemacht und wollte jetzt eigentlich nach Hause.“ Erithriel setzte ein Lächeln auf. „Dann haben Sie also einen Schlüssel?“ Andrew nickte. „Wären sie dann wohl so freundlich, mich hineinzulassen? Ich bin ohnehin spät dran und eine Klingel gibt es ja sicherlich nicht.“ Andrew schüttelte den Kopf. Er schien nachzudenken. „Sie hat nicht gesagt, dass noch jemand kommt. Ich könnte Schwierigkeiten bekommen.“ Erithriels Lächeln verschwand. „Sie könnten auch Schwierigkeiten bekommen, wenn Sie mich nicht hineinlassen. Behinderung einer FBI-Ermittlung ist durchaus ein Strafbestand, Andrew. Überlegen Sie sich gut, ob Sie das riskieren wollen.“ Der Mann zögerte noch einen Augenblick, bevor er einen weiteren Schlüsselbund herauszog und in Richtung Eingangstür voranging. „Na schön, ich lasse Sie rein. Aber wehe Sie verraten jemandem, dass ich das war. Ich habe wirklich keine Lust, mich mit der japanischen Lady anzulegen. Die hat ganz schön Haare auf den Zähnen, das können Sie mir glauben.“ Etwas an den Worten des Mannes ließen Erithriel stutzig werden. Er ging im Geiste noch einmal den ungelösten Brandfall durch. „Mit 'japanische Lady' meinen Sie nicht zufällig Professor Maomi Yoshizono?“ „Ja genau, so heißt sie.“ Andrew sah ihn verblüfft an. „Kennen Sie sie?“ Erithriel antwortete nicht. Er kannte diese Dame allerdings. Sie hatte sich damals eine Weile mit ihm unterhalten, ihm Fragen zu seiner Arbeit gestellt. Es war ihm ungewöhnlich vorgekommen, dass sie so ein Interesse an ihm gezeigt hatte, aber er hatte es im Zuge der Ermittlungen einfach wieder vergessen. Bis jetzt. Das sind ein paar Zufälle zu viel, beschloss er, während er von Andrew ins Gebäude eingelassen wurde. Irgendetwas stimmt hier nicht und ich werde herausfinden, was das ist.       Michael kam nicht umhin, von der Höhle beeindruckt zu sein. Vor ihm breitete sich ein flaches Felsplateau aus, dessen Ränder sich ebenso wie die Ausmaße der Decke irgendwo in der Dunkelheit verloren. Eine kleine Stimme versuchte ihm zuzuwispern, dass diese Höhle eigentlich gar nicht unter das Gebäude passen dürfte, aber er ignorierte sie. Vielleicht täuschte der Eindruck von Größe und Weite auch und das, was er für einen riesigen Raum hielt, war in Wahrheit nicht viel mehr als eine kleines Felsausbuchtung, die genau dort endete, wo er es nicht mehr sehen konnte. Allerdings fühlte es sich nicht so an. Es fühlte sich groß an. Sehr groß sogar. „Was hatten Sie gesagt, wann diese Höhlen entdeckt wurden?“ „Nach dem Brand. Ein Bagger hat bei den Aufräumarbeiten ein Loch in die Höhlendecke gerissen und wurde dann halb vom Erdboden verschluckt.“ „Aber hätte das nicht bereits bei der Erschließung des Geländes entdeckt werden müssen?“ Er hörte Professor Yoshizono in seinem Rücken lächeln. „Das andere Gebäude war sehr alt, Mister Thompson. Als es gebaut wurde, gab es noch keinen so fortschrittlichen Untersuchungsmethoden.“ „Aber das alte Gebäude hatte doch auch einen Keller, oder?“ „Wie kommen Sie darauf?“ Er drehte sich jetzt herum und sah, dass sie immer noch an der Einstiegsluke stand. Im Gegenlicht konnte er nicht viel mehr als ihren Umriss erkennen. „Ich hatte davon gehört“, gab er ausweichend zurück. Ihm fiel plötzlich auf, dass sie sich zielsicher in eine Falle hatten manövrieren lassen. Wenn sie jetzt die Luke schloss, wären sie hier gefangen. Wie hatte das passieren können? „Professor Yoshizono?“ Angelo meldete sich plötzlich zu Wort. „Diese Spinnen, die sie da haben. Haben die auch noch einen Trivialnamen?“ Wieder hörte Michael ein Lächeln in ihrer Antwort. „Ich weiß nicht, ob es eine passende englische Bezeichnung gibt, aber in meiner Heimat nennen wir sie Jorō-Gumo. In Ihre Sprache übersetzt hieße das wohl so viel wie Prostituierten-Spinne.“ „Mhm“, machte Angelo. „Ich glaube, ich habe das Wort schon einmal gelesen. Allerdings hatten die dafür verwendeten Kanji eine andere Bedeutung. Die Übersetzung des Wortes, das ich gesehen habe würde bezirzende Braut bedeuten.“ Erneut lächelte Professor Yoshizono. Michael konnte sich nicht erklären, warum er das wusste. Vielleicht, weil sie eigentlich immer lächelte. Es schien ihr natürlicher Gesichtsausdruck zu sein. „Ist das so?“, fragte sie gedehnt. „Nun, dann lass mich dir versichern, dass beides richtig ist. Obwohl Wissenschaftler für die Bezeichnung der Spinnen in der Regel Katakana verwenden, damit man sie nicht verwechselt.“ „Verwechselt womit?“ Michael hörte ein leises Lachen. „Das weißt du doch schon längst, nicht wahr?“ „Angelo, was ist hier los?“ Gabriellas Stimme klang plötzlich alarmiert. Michael konnte ihre Umrisse links neben sich in der Dunkelheit sehen. Er wollte zu ihr gehen, aber Angelo war schneller. Seine Gestalt flammte auf und tauchte die gesamte Höhle in helles Licht. Im Widerschein der blauweißen Lichthülle konnte Michael zum ersten Mal die kompletten Ausmaße erkennen. Die Höhle war tatsächlich groß und auf ihren Wänden … „Was ist das?“ Michaels Augen irrten über die grob behauenen Felswände, die über und über mit leuchtenden Schriftzeichen bedeckt waren. Sie ähnelten denen, die Angelo bei ihnen zu Hause an den Türen angebracht hatte, und gleichzeitig wirkten sie auf perfide Weise verdreht und bösartig. Er kam jedoch nicht dazu, sich weiter darüber Gedanken zu machen, weil Angelo plötzlich gequält aufschrie.   Michael wirbelte herum und sah, wie sich etwas um seine Arme und Beine gewickelt hatte. Schattenhafte Tentakel, die einem dunkel glühenden Kreis entsprangen, in dessen Mitte Angelo stand. Er zog und versuchte sich zu befreien, aber je mehr er sich wehrte, desto mehr schienen die Tentakel ihn nach unten zu ziehen. Schließlich brach er in die Knie. „Angelo!“, rief Gabriella. Sie wollte zu ihm eilen, doch Michael hielt sie im letzten Moment zurück. Er wies auf die Frau, die immer noch in der Türöffnung stand. Im Licht der Engelsrüstung wirkten ihre Gesichtszüge wie mit der Schere geschnitten. Ihre dunklen Augen hatten sich auf Angelo gerichtet und ihr Mund war zu einem höhnischen Grinsen verzogen. „Sieh an, ich hatte also doch recht.“ Sie kam einen Schritt näher und betrat die Höhle jetzt vollständig. Langsam schob sie die Stahltür hinter sich zu. „Hast du wirklich gedacht, mir könnte die Anwesenheit eines Engels entgehen? Ich habe euch studiert, musst du wissen. Ganze Abhandlungen über die Physiologie von euch Himmlischen habe ich verfasst. Wobei ich zugeben muss, dass du mir einige Rätsel aufgibst. Am Anfang habe ich dich für einen ganz normalen Menschen gehalten, obwohl ich an dir keinerlei Schutzzauber ausmachen konnte. Das ist äußerst ungewöhnlich. Aber ich bin mir sicher, dass ich dieses Rätsel werde ergründen können, wenn ich dich erst Stück für Stück auseinander genommen habe.“ „Du wirst nicht gewinnen!“ Angelos Stimme verriet seine Anstrengung. „Ich weiß, was du bist.“ „Ich wäre enttäuscht, wenn es anders wäre. Sag mir, was mich verraten hat. Ich war mir sicher, dass ich dich getäuscht hatte.“ Ihre Hand glitt zu ihrem Ausschnitt, wo sie nach dem Anhänger griff, der an der goldenen Kette um ihren Hals hing. „Dieses Amulett absorbiert eigentlich alle Spuren, die ich in dieser Form noch an mir trage. Keine verräterischen Spiegelbilder oder Schatten, keine dunkle Aura. Ich konnte sogar die Engel täuschen, die hier aufgetaucht sind. Sie haben gesucht und gesucht, aber gefunden haben sie nichts. Nicht beim ersten und auch nicht beim zweiten Mal. Also sag mir, was mich verraten hat.“ „Die Spinnen“, presste Angelo hervor. „Als ich sie sah, erschienen viele Dinge plötzlich in einem neuen Licht. Ich brauchte nicht einmal meine Kräfte, um zu wissen, was du bist.“   Michael sah von der Professorin zu Angelo und wieder zurück. „Ich verstehe nicht. Was meinst du damit, was sie wirklich ist?“ Noch bevor Angelo antworten konnte, hatte sich Professor Yoshizono wieder in Bewegung gesetzt. Ihre Finger spielten mit dem Amulett um ihren Hals. Die goldene Kette glitzerte im Licht von Angelos Engelsleuchten. „Wissen Sie, Mr. Thompson, in meinem Land gibt es eine Legende. Es heißt, wenn eine Jorō-Gumo ein Alter von 400 Jahren erreicht, verwandelt sie sich. Sie wird von einer normalen Spinne zu etwas anderem. Einem Yōkai. So nennen wir bei uns die Wesen, die Sie wohl als übernatürlich bezeichnen würden. Die Jorō-Gumo erhält dann die Fähigkeit, sich in eine wunderschöne, junge Frau zu verwandeln. Ihre Beute sind ab diesem Zeitpunkt nicht länger Insekten, sondern junge Männer auf der Suche nach Liebe. So wie Ihr Freund, Mr. Thompson. Oder darf ich Sie Michael nennen? Er hat das auch immer getan, wenn er von Ihnen sprach.“ „Sie … du hast ihn gekannt.“ „Natürlich.“ Sie lächelte immer noch, während sie langsam auf ihn zukam. „Er war ein gutaussehender, junger Mann. Ich hätte mich gerne näher mit ihm beschäftigt. Leider war er so furchtbar neugierig. Hat seine Nase in Sachen gesteckt, die ihn nichts angingen, und in meinen Unterlagen herumgeschnüffelt. Er muss gedacht haben, dass ich das nicht merken würde. Aber mein Büro ist nie unbewacht, Michael. Nicht einmal, wenn es leer erscheint.“   Sie hatte den Arm ausgestreckt und Michael sah mit Grausen, wie eine dieser langbeinigen Spinnen über ihren Arm krabbelte. Auch auf ihrer Kleidung erschienen auf einmal welche von diesen seltsam fragil und gleichzeitig gefährlich wirkenden Krabbeltieren. Sie krochen über ihren Körper, während sie immer noch lächelte. „Meine kleinen Freunde haben mir davon erzählt, dass er uns auf den Fersen ist. Dass er die Pläne für Maschine entdeckt hat, die ich gebaut habe. Er wollte jemandem davon erzählen. Da wusste ich, dass ich etwas unternehmen muss.“ Michael wurde kalt. Er zitterte am ganzen Körper, während er die Fäuste ballte. „Du … du hast ihn … umgebracht?“ „In der Tat, das habe ich. Es war nur schade, dass ich ihn nicht mitnehmen konnte. Sein Körper hätte mich für Wochen gesättigt. Er war so groß und stark. Aber am Ende hat ihm das gar nichts genützt.“ „Du Monster!“ Michael schwitzte. Am liebsten hätte er sich auf die Frau gestürzt, doch etwas hielt ihn immer noch zurück. Er konnte sich einfach nicht überwinden, sie anzugreifen. Sie sah so klein und verletzlich aus. Als sie sein Zögern bemerkte, lachte sie glockenhell und drehte sich zu Gabriella herum. „Siehst du, wie hilflos dein Mann ist? Es ist doch immer das Gleiche, nicht wahr? Da versuchen sie uns weiszumachen, dass sie es sind, die die Welt beherrschen, doch in Wirklichkeit ist es immer eine Frau, die die Fäden in der Hand hält. Ein Wort, ein Blick, ein Augenaufschlag und sie liegen uns zu Füßen wie kleine Hunde, die gestreichelt werden wollen. Es wäre erbärmlich, wenn es nicht so amüsant wäre.“ Gabriella verzog das Gesicht vor Abscheu. „Menschen sind keine Spielzeuge, du widerliches Insekt.“ Ein Lachen antwortete ihr. „Und ob sie das sind. Sie sind nur leider so zerbrechlich.“ „Ich gebe dir gleich mal zerbrechlich.“ Noch bevor Michael reagieren konnte, war Gabriella auf einmal auf die Jorō-Gumo zugesprungen, hatte mit der Faust ausgeholt und zugeschlagen. Der Kopf der japanischen Frau flog zur Seite und Michael meinte, ein Knacken zu hören. Gabriella fluchte und hielt sich die verletzte Hand, während ihr Gegenüber anfing zu lachen. Die Jorō-Gumo hob den Kopf und fasste sich an die Nase. Ein feines, rotes Rinnsal lief daraus hervor. Als sie das Blut an ihren Fingern sah, streckte sie die Zunge heraus und leckte es ab. Sie grinste. „Sieh mal an. Das kleine Frauchen hat Krallen. Aber du bist keine Herausforderung für mich.“ Sie bellte einen Befehl auf Japanisch und schon begannen die kleinen Spinnen, von ihr herunter und auf Gabriella zuzukriechen. Die schrie auf und sprang zurück. Immer mehr von den achtbeinigen Krabblern strömten unter der Kleidung der Jorō-Gumo hervor, bis Gabriella von ihnen umzingelt war. „Lass sie in Ruhe!“ Angelo versuchte, gegen seine Fesseln aufzubegehren, aber die Schattententakel banden ihn nur noch fester. Michael hörte ihn schmerzerfüllt keuchen. Die Jorō-Gumo lachte. „Du wirst es nicht schaffen, dich daraus zu befreien, mein kleines Engelchen. Ich habe diese Falle so modifiziert, dass sie jeden von euch festhält, egal wie stark er ist. Sie speist sich aus deinen eigenen Kräften. Je stärker du dich dagegen wehrst, desto tiefer wirst du hinein gezogen. Du kannst nicht entkommen.“ Sie lachte und drehte sich zu Michael herum. „Und jetzt zu dir.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)