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Angelo

von

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Stille Wasser

Es war eigenartig, nach Hause zu kommen. Obwohl Gabriella diejenige gewesen war, die vorgeschlagen hatte, dass sie die Nacht hier verbringen sollten, kam es ihr vor, als beträte sie ein fremdes Haus. Als wären die Leute, die hier gewohnt hatten, verschwunden.

Vielleicht dauert es nur eine Weile, dachte sie bei sich. So wie wenn man nach einem Urlaub nach Hause kommt und sich erst mal wieder daran gewöhnen muss, dass der Alltag einen wieder hat. Das Problem war nur, dass sie den Alltag irgendwo auf dem Weg verloren hatten und nichts mehr so war wie zuvor. Die letzten drei Tage hatten ihr Leben und das, an was sie bisher geglaubt hatte, so gründlich durcheinandergeworfen, das sie vermutlich nicht einfach so zurückkehren konnte. Nie wieder. Es hätte ihr Angst machen sollen, aber das tat es nicht. Es fühlte sich trotz allem richtig an. So richtig wie lange nicht mehr.

 

„Ich werde mich mal ans Durchforsten der Unterlagen machen“, verkündete Michael und ging mit vollen Armen an ihr vorbei. Ihm schien die Surrealität der Situation gar nicht aufzufallen.

Gabriella sah sich noch einmal in dem Heim um, das sie vor nicht einmal 48 Stunden glaubte für immer zu verlassen. Da war noch das Glas auf dem Couchtisch, aus dem sie Angelo den Saft eingeflößt hatten. Der Schrank, den sie vergessen hatte zu schließen, als sie die Vorräte eingepackt hatte. Durch die Terrassentür sah man Teile des Gartens. Das Gras hatte sich inzwischen wieder aufgerichtet, aber wenn man wusste, wonach man suchen musste, sah man noch Spuren des Kampfes mit der Cegua.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Was, wenn die Dämonen sie erneut angriffen? Sie bezweifelte, dass ihnen von den Engeln eine unmittelbare, körperliche Gefahr drohte – sie waren immerhin die Guten, nicht wahr? – aber die Dämonen würden nicht so zimperlich sein, wenn sie erneut versuchten, Angelo in ihre Fänge zu bekommen. Sie mussten sich dagegen schützen.

„Ich werde mich an den Computer setzen“, verkündete sie. „Im Internet gibt es doch bestimmt Anleitungen, wie man Dämonen und böse Geister abwehrt. Wenn wir heute Nacht gut schlafen wollen, wäre es mir lieber, wenn wir vorbereitet wären.“

Michael nickte nur, während er bereits in die Tiefen seiner Recherche abgetaucht war.

Angelo hingegen blieb ein wenig unschlüssig zwischen ihnen stehen. „Und was soll ich tun?“

Gabriella lächelte. „Du kannst mit mir kommen. Zu zweit finden wir vielleicht schneller etwas.“

Er nickte und folgte ihr den Flur bis zu ihrem Arbeitszimmer. Gabriella öffnete die Tür und trat beiseite. „Willkommen in meinem kleinen Reich.“

Neugierig sah Angelo sich um.

„Es ist hübsch“, sagte er. „Hell und geräumig. Du hast viele Bücher.“

Gabriella lachte. „Das meiste davon sind irgendwelche Bestimmungen und Gesetzestexte und in den Ordnern da unten habe ich die bearbeiteten Angebote abgelegt. Meist treffe ich mich mit meinen Kunden ja außer Haus, aber manchmal führe ich auch hier Beratungen durch.“

Sie wies auf die kleine Sitzgruppe, die dem halbrunden Schreibtisch gegenüber stand. Auf der gläsernen Tischplatte war ein Arrangement aus Steinen und künstlichen Blumen aufgestellt.

„Am besten setzt du dich da hin. Ich werde den Laptop rüberholen.“

Sie warteten, bis das Gerät hochgefahren war, und starrten dann gemeinsam auf die Vielzahl von Seiten, die ihnen das World Wide Web ausspuckte.

Gabriella runzelte die Stirn, während sie las. „Auf antike Schutzamulette mit Aufschriften aus aramäischem Ziegenblut werden wir wohl verzichten müssen. Gibt es nicht irgendwelche Hausmittel gegen Dämonen? So wie Knoblauch, der Vampire fernhalten soll?“

Angelo beugte sich vor und überflog die Überschriften.

„Nimm mal diese da.“

Gabriella rief die entsprechende Seite auf. „Okay, das klingt schon vielversprechender. Weihwasser, Salz, bestimmte Schriftzeichen, die man an Türen und Fenstern anbringt. Meinst du, dass das hilft?“

„Wir könnten es auf jeden Fall probieren. Hast du denn Weihwasser?“

Gabriella schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider nein. Meine Großmutter hatte früher welches in ihrer Speisekammer stehen und hat davon immer einen Tropfen ins Essen getan. Das hat mich als Kind sehr fasziniert, auch wenn ich lange geglaubt habe, das es sich dabei um Weichwasser handelt, dass man ins Essen geben muss, damit es weich wird.“ Sie lächelte und seufzte anschließend. „Aber jetzt werden wir wohl erst mal ohne auskommen müssen. Genug Salz müsste allerdings da sein. Wir könnten Streusalz nehmen. Davon müssten wir noch eine ganze Menge in der Garage haben.“

Angelo hatte derweil angefangen weiter zu lesen. „Hier steht, dass Dämonen kein Eisen vertragen. Wir sollten dir und Michael eine entsprechende Waffe besorgen. Nur für den Fall. Und Weihwasser. So etwas sollte doch in einer Kirche zu bekommen sein.“

Gabriella nickte langsam. Sie sah Angelo von der Seite an und stellte fest, dass er gerade verändert wirkte. Sein Gesicht war ernst, die Stirn gerunzelt, die Augen konzentriert auf das gerichtet, was er las. Er nahm ihr die Maus ab und scrollte selbstständig durch den Text; schien das dort Geschriebene förmlich aufzusaugen. Schließlich nickte er.

„Ich werde mich um die Schriftzeichen kümmern. Die meisten davon kenne ich. Es sollte mir möglich sein, sie in der richtigen Reihenfolge anzubringen, um einen effektiven Schutz zu gewährleisten.“

Er blickte auf und blinzelte. Der Ausdruck aus seinem Gesicht verschwand. „Was ist?“

„Nichts“, log Gabriella, besann sich dann jedoch eines Besseren. „Du wirkst sehr … überzeugend. Als wüsstest du, was du tust.“

Angelo sah zur Seite. „Nicht wirklich. Es ist mehr eine Ahnung davon, dass ich all das einmal gewusst habe. Aber ich kann nicht leugnen, dass es sich gut anfühlt, nicht nur durch die Gegend zu stolpern und dauernd Hilfe zu brauchen.“

Gabriella musterte ihn einen Augenblick lang. „Denkst du das? Dass du hilflos bist?“

Angelo sah sie immer noch nicht an. Sein Gesichtsausdruck machte es ihr schwer, etwas daran abzulesen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er ihr etwas verschwieg. Aber was war der Grund dafür? War es aus Scham? Aus – vielleicht sogar falscher – Rücksichtnahme? Oder gab es noch einen anderen Grund? Einen, der sich ihrem Horizont entzog? Wollte er deswegen nicht darüber reden? Und sollte sie ihn jetzt ermuntern sich ihr zu öffnen, oder akzeptieren, dass er seine Gedanken offenbar für sich behalten wollte?

 

Gabriella beschloss, nicht weiter in ihn zu dringen.

„Sollen wir mit den Befestigungsmaßnahmen anfangen?“, fragte sie stattdessen und bemerkte, wie so etwas wie Erleichterung über seine Züge huschte.

„Ja, das wäre sicherlich gut. Ich werde etwas brauchen, mit dem ich die Sigillen anbringe. Hast du Farbe?“

Sie sah sich auf dem Schreibtisch um und hielt einen Textmarker hoch. „Meinst du, der reicht?“

Angelo besah sich den grünen Stift. „Ich glaube, besonders traditionell ist der nicht, aber er wird wohl gehen. Oder sollen wir … einfach nur das Salz anbringen? Vielleicht reicht das ja schon.“

Gabriella schüttelte den Kopf und drückte ihm den Marker in die Hand. „Ich würde mich wirklich besser fühlen, wenn du diese Zeichen an die Türen malen würdest.“

Er sah sie einen Augenblick lang unsicher an, bevor sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen stahl. „Okay, ich mach’s. Schaden kann es auf jeden Fall nicht.“

„Bestimmt nicht.“

Gabriella sah zu, wie er gleich damit anfing, für sie unverständliche Zeichen und Symbole auf dem Fußboden vor der Tür anzubringen, die von ihrem Büro aus in den Garten führte. Er wirkte hochkonzentriert und würdigte sie keines weiteren Blickes. In diesem Augenblick war sie sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

 

Sie brauchten eine ganze Weile, um alle Eingänge mit Salz und schützenden Schriftzeichen zu versehen. Als sie fertig waren, ließ sich Gabriella erschöpft auf das Sofa fallen. Michael hatte inzwischen alle möglichen Papiere auf dem Couchtisch verteilt.

„Hast du etwas finden können?“, fragte Gabriella und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Salz durch die Gegend zu schleppen war anstrengender gewesen, als sie gedacht hatte.

„Noch nicht. Ich bin gerade bei den Studienunterlagen angekommen. In der ersten Kiste waren größtenteils ältere Sachen. Dinge aus seiner Kindheit oder unserer Zeit an der Highschool.“

Gabriella musste nicht fragen um zu wissen, dass sich Michael sicherlich ein wenig länger mit diesen Sachen beschäftigt hatte, als eigentlich notwendig gewesen wäre. Sie nahm jedoch Abstand davon, ihm Vorwürfe zu machen. Der Tag war ohnehin bereits so weit vorangeschritten, dass sie alle weiteren Aktionen auf morgen würden verschieben müssen.

„Ah, hier, das sieht gut aus“, verkündete Michael plötzlich und hielt ein Blatt Papier hoch. „Das ist sein Kursplan mit den entsprechenden Themengebieten und Lehrkräften. Na schauen wir mal.“

Er überflog die Liste und blieb irgendwann an einem Namen hängen.

„Hier, das muss sie sein“, rief er. „Maomi Yoshizono. Vorlesung für Zellbiologie. Es ist die einzige Frau, die hier auftaucht, also ist die Auswahl wohl nicht besonders groß.“

Wortlos sahen sie alle drei die Liste in Michaels Händen an.

„Und jetzt?“, wagte Gabriella irgendwann zu fragen. „Gehen wir da morgen hin und fragen sie, ob sie etwas mit Jeffs Tod zu tun hat? Oder mit diesen Maschinen, von denen wir nicht einmal wissen, ob sie überhaupt existieren?“

Michael atmete hörbar aus. „Ich weiß nicht. Vielleicht … vielleicht wäre es klüger, wenn wir sie eine Weile beobachten. Sehen, was sie tut, wo sie hingeht, mit wem sie sich trifft.“

„Du willst sie observieren?“ Gabriella verzog das Gesicht. „Ich bin mir nicht sicher, ob wir das hinkriegen. Wir sind nicht das FBI. Das wir, nebenbei bemerkt, immer noch im Nacken haben.“

Michael nickte langsam. „Du hast Recht. Also werden wir es wohl doch auf dem direkten Weg versuchen müssen. Aber wir brauchen eine Geschichte.“

„Wie wäre es mit einer Gedenkfeier?“, ließ sich Angelo vernehmen. Er saß auf dem Sofa ihnen gegenüber und hatte die Beine angezogen. „Du könntest sagen, dass ihr Erinnerungen aus seinem Leben zusammensucht und sie deshalb um ihre Mithilfe bitten.“

Michael runzelte die Stirn. „Das ist gar keine so schlechte Idee. Aber was, wenn sie sich gar nicht mehr an ihn erinnert?“

„Hast du ein Foto?“

Gabriella sah, wie Michael zögerte, bevor er ein der Kisten öffnete. Mit einer fast schon andächtig wirkenden Bewegung holte er ein Bild heraus.

„Das hier war zwischen seinen Zeugnissen versteckt. Ich wusste nicht, dass es noch existiert.“

Fast schien es, als wolle Michael das Bild nicht loslassen, doch dann gab er sich einen merklichen Ruck und reichte es über den Tisch. Angelo sah es lange an.

„Das seid ihr beide, nicht wahr?“, fragte er schließlich.

„Ja, das ist nach dem ersten offiziellen Spiel entstanden, in dem Jeff als Quarterback aufgestellt war. Die Menge hat damals getobt und als die zweite Halbzeit vorbei war, sind unzählige Zuschauer auf das Spielfeld gestürmt. Irgendeiner wollte unbedingt ein Foto machen und Jeff hat mich einfach mit ins Bild gezerrt.“

Gabriella nahm das Foto, das Angelo ihr reichte. Darauf war Michael noch in seiner Footballuniform zu sehen und neben ihm der unantastbare Jeff im gleichen Outfit. Er hatte den Arm um Michael gelegt und hielt ihn fest, während er in die Kamera grinste und den Daumen in die Luft reckte. Man konnte ihm ansehen, wie sehr er den Sieg genoss, die Aufmerksamkeit und vielleicht auch den Freund an seiner Seite. Wenn Gabriella bedachte, was sie von den beiden wusste, war die letzte Beobachtung vielleicht gar nicht mal so weit hergeholt. Sie ahnte, dass sie und Michael sich sicherlich nie getroffen hätten, wenn Jeff nicht ums Leben gekommen wäre, aber plötzlich bereute sie, dass sie ihn nie kennengelernt hatte. Er war sicherlich ein netter Kerl gewesen.

„Gut“, sagte sie, um die eigenartige Stimmung in ihrem Inneren nicht zu sehr an die Oberfläche kommen zu lassen. „Dann tischen wir der Dame morgen also ein schönes Märchen auf. Und bis dahin?“

„Wir könnten uns noch um die Waffen und das Weihwasser kümmern“, schlug Angelo vor. Als Michael daraufhin fragend die Augenbrauen hob, erklärte Angelo ihm, was sie herausgefunden hatten. Als er fertig war, nickte Michael.

„Ich glaube, in der Garage könnte sich vielleicht etwas passendes finden, das sich als Waffe verwenden lässt. Aber Weihwasser?“

Angelo hatte auch darauf eine Antwort. „Wenn die Angaben stimmen, die ich im Internet gefunden habe, gibt es jeden Tag um 17.15 Uhr eine Messe in der Cathedral of the Madeleine gleich hier in der Nähe. Danach sollte es möglich sein, den Padre auf das Weihwasser anzusprechen. Wenn du möchtest, begleite ich dich.“

Beim letzten Satz hatte er Gabriella angesehen und sie musste zugeben, dass sie dieser plötzliche Aktionismus von Angelos Seite schon ein wenig überraschte. Trotzdem lächelte sie.

„Gut. Dann gehen wir also heute Abend in die Kirche.“

 

 

 

Er war zu früh dran. Alejandro wusste es und verharrte unschlüssig am Ende des wackeligen Anlegestegs, der zu einer verfallenen Hütte gehörte, die wie eine fette Kröte ein wenig oberhalb der Hochwassermarkierungen saß. Der Schatten der Bäume, deren Wurzeln nackt über dem braunen Wasser des Flußlaufs hingen und sich wie bleiche Finger tief in den Uferschlamm bohrten, ließen die Umrisse des Gebäudes fast vollkommen mit dem Hintergrund verschwimmen. Hätten sich die Touristen, die manchmal das Sumpfgebiet in ihren lächerlichen, bunten Nussschalen durchquerten, in den von Untiefen und unwegsamen Stellen durchzogenen Seitenarm verirrt, so hätten sie wohl Abstand davon genommen, sich dem Gebäude zu nähern. Es hatte eine ungute Aura, die nicht von ungefähr kam. Alejandro hingegen war mit voller Absicht hierhergekommen, denn er wollte etwas von der Kreatur, die im Inneren der windschiefen Hütte hauste.

In dem Sack, der neben ihm auf dem Boden lag, begann sich etwas zu regen. Schwächliches Gejammer wurde laut. Vor einiger Zeit war es noch ein ausgewachsenes Gebrüll gewesen, aber er hatte dem Inhalt des Sacks schon bald klar gemacht, dass er besser nicht seine Ohren strapazierte. Auch jetzt brauchte es nur einen kleinen Puff, bis das Jammern auf ein Minimum zusammenschrumpfte.

Er blickte von dem Sack zum Horizont, dem sich die Sonne einfach nicht nähern wollte. Dabei wartete er doch schon so lange. Den halben Tag war er ziellos durch die Gegend gelaufen und hatte versucht, sich einen Plan zu überlegen, wie er den Engel finden konnte, den sein Herr von ihm verlangte. Es war keine leichte Aufgabe, aber er war wild entschlossen es hinzubekommen. Selbst wenn er sich dem Monster stellen musste, das dort in den Schatten lauerte.

Wieder ein Blick zur Sonne, die wie angeklebt am Himmel hing. Verdammt, er würde es jetzt riskieren. Dann war eben noch nicht die dämliche Dämmerung angebrochen. Er hatte einfach keine Zeit, um noch länger zu warten. Alejandro packte den Sack und warf ihn sich über die Schulter. Die schwere Fracht darin gab ein Winseln von sich, aber er zischte sie bedrohlich an, sodass sie bald wieder den Mund hielt. War sicherlich besser, wenn die Cuca nicht gleich hörte, dass er kam.

 

Als er die Hütte erreichte, zögerte er noch einmal. Ein intensiver Modergeruch strich um seine Nase und über ihm baumelten verschiedene Amulette am Dachrand der Hütte. Holz, Federn und vor allem aber Knochen hingen dort und gaben trotz des fehlenden Windes schaurige Töne von sich. Schmale, weiße Knochen, wie von kleinen Tieren oder eben … Kindern. Ein hohläugiger Schädel schien ihn auszulachen, als seine Hand wenige Zentimeter vor dem grünbesetzten Holz der Tür verharrte. Was, wenn sie schlechte Laune hatte? Wobei der Gedanke lächerlich war. Die Cuca hatte immer schlechte Laune. Es war quasi ihr Wesenszug, der ganz zu ihrem liebreizenden Äußeren passte. Aber es half nichts. Er brauchte eine Hexe und das hier war die beste, die er bekommen konnte. Entschlossen klopfte er gegen die Tür.

Von drinnen war kein Laut zu hören. Sollte sie etwa nicht zu Hause sein? Aber sie verließ ihre Behausung nur nachts. Das war der Grund, warum er hergekommen war, noch bevor es vollkommen dunkel wurde. Angst hatte er natürlich nicht vor der alten Vettel. Nun, vielleicht ein bisschen. Immerhin hätte sie ihm mit einem Biss den Kopf von den Schultern holen können.

Er wollte gerade erneut klopfen, als er von drinnen Geräusche vernahm. Knarrende Bodendielen und das Schaben von Schuppen, die über grob bearbeitetes Holz glitten. Er hörte, wie sich etwas der Tür näherte und schloss instinktiv die Hand fester um den Sack. Er beinhaltete immerhin seine Eintrittskarte.

„Wer ist da?“ Eine Stimme wie das Knarren einer uralten Weide im Wind, bei dem sich unwillkürlich seine Nackenhaare aufstellten und sein Instinkt ihm riet, von der Tür wegzutreten und sehr, sehr schnell zu laufen.

„Ich bin’s. Alejandro. Lass mich rein.“

Von drinnen kam keine Antwort. Hatte sie ihn gehört? Er wollte gerade noch einmal klopfen, als sich die furchtbare Stimme wieder erhob.

„Ich habe noch keine Sprechstunde“, erklärte sie und ließ dabei ein unwilliges Fauchen hören. „Komm später wieder.“

„Ich habe keine Zeit, mit dir Spielchen zu spielen“, blaffte er. „Los, mach auf. Ich hab dir auch was mitgebracht.“

Einen Augenblick später wurde der Riegel zurückgeschoben, der die Tür verschloss, und das morsche Holz schwang nach innen auf. Dahinter konnte man nichts außer schummriger Dunkelheit und einen großen Schatten erkennen, der unweit der Tür lauerte. Gelbe Augen glommen unheilvoll auf.

„Etwas mitgebracht?“, zischelte die unförmige Gestalt. „Ist es das, wonach es riecht?“

„Natürlich“, versicherte er und hielt den Sack hoch. „Frisch gefangen. Lag einfach so da in seinem Kinderwagen und wollte nicht schlafen. Es fehlte nur noch die Schleife.“

„Ich hoffe, es ist nicht aus der Gegend.“ Misstrauen schwang plötzlich in der knurrigen Stimme mit.

„Nein, natürlich nicht. Ich bin doch kein Amateur. Hab’s in der Nähe der Grenze von einem fetten weißen Pärchen gekrallt. Die werden jetzt wahrscheinlich alle Hebel in Bewegung setzen, um ihr Schätzchen wiederzubekommen, aber hier werden sie nicht danach suchen. Ich verspreche es dir.“

„Mhm, na gut, dann komm rein. Wenn du so einen Leckerbissen mitgebracht hast, will ich mal nicht so sein. Aber tritt dir die Füße ab.“

Er ersparte sich einen Kommentar dazu, dass der Matsch an seinen Stiefeln wohl eher zur Sauberkeit des Hütteninneren beigetragen hätte, und streifte ein paar Mal alibimäßig über das Ding vor der Tür, das einmal eine Fußmatte gewesen sein mochte, inzwischen allerdings nur noch ein zerfranster Dreckhaufen war.

Kaum, dass er durch die Tür getreten war, wurde ihm der Sack auch schon aus den Händen gerissen. Raue, schuppige Haut streifte dabei die seine. Anschließend hörte er, wie krallenbewehrte Hände den Strick, der den Sack zusammenhielt, einfach zerrissen. Schnuppernd steckte die Cuca ihre Schnauze in den Sack.

„Mhm, sehr gut. Den hebe ich mir für später auf.“ Sie blinzelte ihn an. „Also schön, was willst du?“

„Ich brauche eine Auskunft.“

Seine Augen gewöhnten sich langsam an das schummrige Dämmerlicht, das von einem fast schon heruntergebrannten Herdfeuer herrührte. Darüber hing ein großer Kessel, über dessen Rand übelriechende Dämpfe wallten, nur um dann zähflüssig über den Boden zu kriechen, bevor sie irgendwo in den Ritzen versickerten. Er musterte die Gestalt, die ihm gegenüber stand. Auf ihrem länglichen Kopf saß eine fleckige Kapuze, gefolgt von einer Art Kutte, die jedoch kaum in der Lage war den massigen Leib zu bedecken, der sich schuppig und muskelbepackt unter dem Stoff spannte. Über den Boden wischte ein langer Schwanz.

„Du hättest dir was überziehen können“, knurrte er und wies auf einen Haken, an dem ein hellbraunes Etwas hing. Man hätte es auf den ersten Blick für ein dreckiges Laken oder einen Umhang halten können, aber wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass es sich um eine menschliche Haut handelte. Ein Frauenkörper, von Kopf bis Fuß aufgeschlitzt und ausgenommen, bis nur noch die äußere Hülle übriggeblieben war. Das ehemals sicherlich hübsche Gesicht war nurmehr eine starre Maske, die unter einem Wust von schwarzen Haaren verborgen lag.

„Ach“, machte die Cuca, „'s ist bequemer ohne. Das Ding juckt und kneift in letzter Zeit so und warum soll ich’s mir nicht gemütlich machen, wenn ich zu Hause bin.“

Sie grinste ein zähnestrotzendes Lächeln, das zimperlichere Gemüter sicherlich halb zu Tode erschreckt hätte.

„Wahrscheinlich bist du einfach zu fett geworden“, rutschte ihm heraus. Er erntete ein Fauchen.

„Nun werd mal nicht frech, Bürschchen. Die gute, alte Mama Sita hat noch jeden um den Finger gewickelt, wenn sie es wollte. Also komm mir nicht mit fett. Du hast dich nur zu sehr an die Gesellschaft der Menschen gewöhnt, das ist es.“

Ihr Schwanz kratzte über den Boden, als sie sich schwerfällig in einen Schaukelstuhl sinken ließ. Ihre Hände suchten in den Tiefen ihres Gewands nach einer Pfeife, die sie zunächst umständlich stopfte und anzündete, bevor sie ihn wieder eines Blickes würdigte. Ihre gelben Echsenaugen ruhten auf ihm wie eine schwere Decke.

„Das war schon damals dein Problem. Du hast immer viel zu viel Gefallen an deinen kleinen Spielkameraden gefunden, die ich für dich gefangen und hierher gebracht habe. Erinnerst du dich? Einmal hast du sogar geflennt, als ich einen von ihnen zu Eintopf verarbeitet habe. Hast dich geweigert, davon zu essen. Du warst schon immer ein schwieriges Kind.“

„Das ist lange her“, murrte er und bemühte sich, dabei nicht allzu ungeduldig zu klingen. „Wirst du mir nun helfen?“

„Wir werden sehen.“ Sie zog an ihrer Pfeife, sodass die übelriechenden Schwaden daraus die abgestandene Luft innerhalb der Hütte noch mehr verpesteten. „Also sag mir, was den teuren Günstling des hochwohlgeborenen Erzdämons in meine bescheidene Hütte treibt. Du musst ziemlich verzweifelt sein, wenn du den ganzen Weg hierher auf dich genommen hast. Bist doch sonst eher in schickeren Gegenden unterwegs, hab ich gehört.“

„So, hast du gehört? Und was erzählt man sich sonst noch so?“

Das Alligatorgesicht der Cuca verzog sich erneut zu einem Grinsen. „Ist das die Auskunft, für das du mir das kleine Schätzchen da hinten mitgebracht hast? Wenn ja, hab ich wohl ein gutes Geschäft gemacht. Allzu viele Gerüchte kommen hier bei mir nämlich nicht an. ’S ist ruhig geworden. Fast schon zu ruhig. Man könnte denken, dass dein Herr etwas ausheckt.“

„Ich darf nicht darüber reden“, wich er der implizierten Frage aus. In der Welt der Schatten gab es grundsätzlich nichts umsonst und oft war der Preis, den man dafür bezahlen musste, höher als der offensichtlich verlangte. Irgendwo gab es immer einen Pferdefuß.

„Fein, also kein Plauderstündchen. Na dann rück mal raus mit der Sprache. Wo drückt denn der Schuh?“

Er sah sich in der Hütte um, aber es gab keine weitere Sitzgelegenheit. Also blieb er stehen, während ihn die schuppige Hexe aufmerksam musterte und Rauchwolken an die Zimmerdecke pustete.

„Ich suche jemanden. Einen Engel.“

Die Cuca blinzelte träge und nahm einen neuen Zug aus ihrer Pfeife. „Ich glaube, ich habe neuerdings was mit den Ohren. Hast du gerade Engel gesagt?“

„Ja.“

Sie paffte noch einmal, bevor sie anfing zu lachen. Es war ein Laut, der einem gewöhnlichen Menschen das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Einen Engel?“, fragte sie erneut und wischte sich mit dem Zipfel ihrer dreckigen Kutte über die Augen. „Ach, das war ein guter Witz. Mal abgesehen davon, dass ich mich von den Burschen an deiner Stelle so weit wie möglich fernhalten würde, welchen Grund hättest du, einen finden zu wollen?“

„Das braucht dich nicht zu interessieren. Ich will ihn einfach finden, verstanden?“

Sie fing an, sich mit einer ihrer gelben Klauen zwischen den noch gelberen Zähnen zu pulen und spuckte schließlich etwas auf den Boden, das dort ein leises Klappern verursachte.

„Der saß mir schon den ganzen Tag quer“, grunzte sie, bevor sie ihn wieder mit ihrem stechenden Blick durchbohrte. „Du sagst also, du willst einen Engel finden. Nun, dann sage ich dir, dass das nicht möglich ist. Um jemanden zu finden, brauche ich etwas von der betreffenden Person. Blut oder Haare zum Beispiel. Aber um das zu bekommen, müsstest du den Engel wohl zuerst einmal haben, was dann wiederum deinen Besuch hier sinnlos machen würde. Oder unmöglich, da er dich vermutlich abgeschlachtet hätte, wenn du auch nur in seine Nähe kommst.“

Sie grinste wieder ein zahnvolles Grinsen. „Sieht so aus, als hätte ich mir mein Abendbrot ziemlich leicht verdient.“

Er ballte die Hand zur Faust. „Das gilt nicht, wir hatten noch keinen Handel. Du hast ja nichts dafür getan.“

Die Augen der Alligatorhexe glommen unheilvoll auf. „Vorsicht, kleiner Alejandro. Du bist zwar kein Kind mehr, aber ich könnte mir denken, dass du nachts manchmal auch wach in deinem Bettchen liegst. Und wenn du nicht willst, dass die gute Mama Sita dich da einmal besuchen kommt, zollst du mir lieber etwas mehr Respekt.“

„Und du solltest dich besser nicht mit mir anlegen, sonst lässt dir mein Herr den Bauch aufschlitzen und ausstopfen wie ein gewöhnliches Sumpfkrokodil. Du kennst doch seine Sammlung?“

In einem Raum seines Anwesen hatte sein Herr eine beeindruckende Ausstellung von verschiedenen Wesen, die es gewagt hatten, seinem Willen nicht zu gehorchen. Es gab dort übersinnliche Wesen aus aller Herren Länder angefangen von einem dreiköpfigen, russischen Drachen bis hin zu winzigen Pixies, die sein Herr in gläsernen Schaukästen ausgestellt hatte wie andere Leute Schmetterlinge.

„Habe davon gehört“, knurrte sie. „Na schön. Hast du irgendeine Idee, wie du an ein Stück von diesem Engel herankommen könntest?“

Er schwieg und wandte den Kopf ab. Natürlich war es nicht so einfach. Wäre ja auch zu schön gewesen. Aber vielleicht … Seine Augen verengten sich, als ihm eine Idee kam.

„Wie steht es mit einem getragenen Kleidungsstück? Würde das ausreichen?“

Die Cuca knirschte mit den Zähnen, während sie auf ihrer Pfeife herumkaute. „Könnte klappen. Es muss nur wirklich getragen sein, andernfalls ist die Spur darauf zu schwach. Aber wie willst du denn daran kommen, ohne den Engel vorher zu finden?“

Alejandro musste sich beherrschen, um nicht über das ganze Gesicht zu grinsen. Sein neuer Plan war wirklich absolut narrensicher. „Das lass mal meine Sorge sein. Ich werde die Klamotten besorgen und du machst mir einen Aufspürzauber. Abgemacht?“

„Mhm“, brummte sie. „Abgemacht. Aber ich werde noch ein paar Zutaten brauchen. Das wird dich einiges mehr kosten als das da.“

Sie deutete auf den Sack, der sich inzwischen nur noch schwach regte.

Er funkelte sie einen Augenblick lang an, bis er schließlich nickte und sich geschlagen gab. Ihm blieb einfach keine Wahl.

„Wie viel?“ fragte er und versuchte nicht allzu beeindruckt zu klingen, als sie ihren Preis nannte.

 

 

 

Michael nestelte am Kragen seines Hemdes herum. Das Ding war ziemlich eng, aber Gabriella hatte darauf bestanden, dass sie sich angemessen kleideten, bevor sie in die Kirche gingen, selbst wenn sie nicht am Gottesdienst teilnehmen würden.

„Es ist eine Frage des Respekts“, hatte sie gesagt und ihm das Hemd herausgelegt, das er mit langem Gesicht angezogen hatte. Auch Angelo, der neben ihm ging, sah aus wie aus dem Ei gepellt. Wobei ihm das ja irgendwie nie schwerzufallen schien. War vielleicht so ein Engelding.

Als das Kirchengebäude in Sicht kam, musste Michael zugeben, dass es schon irgendwie beeindruckend war. Hellgraue Steine bildeten die Fassade, die sich rechts und links des Mittelteils mit dem großen, blütenförmigen Fenster zu zwei üppig verzierten Türmen in die Höhe reckten. Da gab es eine Unzahl von Erkern und Spitzdächern, die sich wie Spielzeuge aneinanderreihten, und an den Ecken saß jeweils eine dieser Wasserspeierfiguren, die Michael mit mittelalterlichen Gruselfilmen verband. Momentan jedoch waren diese überflüssig, da nur die letzten Strahlen der Frühlingssonne durch die hellgrünen Blätter der die Kathedrale umgebenden Bäume schien. Auf dem großen Tor mit dem Spitzbogen, das den Eingang zu dem beeindruckenden Bauwerk bildete, strömten gerade die Gläubigen heraus. Anscheinend hatten sie das Ende der Messe günstig abgepasst.

Da sich die Menschenmassen auf den Treppen, die vom Eingang der Kathedrale zum Gehweg herunterführten, stauten, stellten sie sich ein wenig abseits des Weges auf und warteten dort ab, dass sich der Strom der Kirchgänger verringern würde. Michael ließ seine Augen noch einmal über die üppige Fassade gleiten, bevor er sich Angelo zuwandte. Der hatte den Blick ebenfalls nach oben gerichtet und betrachtete eingehend das Bauwerk.

„Nicht übel, was?“, sagte Michael.

Angelo antwortete nicht und reagierte erst, als Michael ihn anstieß.

„Entschuldige, ich war in Gedanken“, murmelte er und beeilte sich Gabriella zu folgen, die bereits die Stufen zum Kircheneingang erklommen hatte. Sie öffnete gerade eine der hölzernen Türen, als Angelo unvermittelt stehenblieb.

„Ich komme nicht mit“, sagte er.

Michael sah ihn erstaunt an. „Was? Warum nicht?“

„Ich …“ Angelo senkte den Kopf. „Ich glaube, ich bin dort drinnen nicht willkommen. Es wäre nicht richtig, ein Haus des Herrn zu betreten, nachdem ich ihn so hintergangen habe.“

„Hintergangen?“ Michael schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie kommst du denn jetzt darauf? Ich dachte, wir hätten das geklärt.“

Angelo lächelte traurig. „Ja, das hatten wir. Und ich sehe die Argumente, die du aufführst. Ich habe tatsächlich nicht vor, jemandem zu schaden, aber …“ Er brach ab und schwieg für einen Augenblick, bevor er leise fortfuhr. „Ich habe mich trotzdem gegen ihn gewandt. Vermutlich gab es Gründe dafür, aber die hatte Luzifer ebenfalls. Und auch er sah sich im Recht. Wer sagt, dass meine Motive nicht weniger selbstsüchtig waren als seine? Wer sagt, dass ich nicht ebenso in Versuchung bin? Ich … ich kann es spüren. Den Wunsch, mächtiger zu sein. Mehr tun zu können. Mich wieder in den Status zu erheben, den ich einst hatte. Der mir erlaubt, mehr zu sein als … das hier.“

Er wies an sich herab.

„Kommt ihr?“ Gabriella hatte immer noch die Kirchentür in der Hand.

Michael sah zu ihr herüber und machte ein entschuldigendes Gesicht. „Gleich, Schatz. Ich … wir brauchen hier noch einen Moment. Magst du schon mal vorgehen?“

Sie runzelte ein wenig die Stirn und warf noch einen Blick auf Angelo, bevor sie leicht nickte und die Kathedrale betrat. Michael drehte sich wieder zu Angelo herum.

„Angelo, ich … ich kann mir nicht vorstellen, wie das für dich ist. Halte mich jetzt meinetwegen für einen einfältigen Trottel, aber im Grunde genommen ist es mir vollkommen egal, dass du ein Engel bist. Es spielt für mich keine Rolle und ich kann damit auch relativ wenig anfangen. Das ist eher Gabriellas Spezialgebiet. Sie kennt sich mit diesem ganzen Kram aus und ihr könntet vermutlich stundenlange Gespräche über irgendwelche Glaubensdinge führen. Ich kann das nicht. Aber ich weiß, dass ich dich sehr mag. So wie du bist und nicht irgendeine Wunschvorstellung von dir, die du in deinem Kopf hast. Also hör auf, dich deswegen so fertigzumachen. Und komm mit rein. Das ist auch nur ein Haus. Ein großes, ziemlich schickes Haus, aber doch nur ein Haus.“

Angelo biss sich auf die Lippen und sah ihn unter den gesenkten Lidern heraus an. „Denkst du wirklich, dass ich …“

„Ja, das denke ich. Nun komm schon. Es wird dich nicht gleich der Blitz treffen, wenn du einen Fuß über die Schwelle setzt. Glaub mir, ich kenne mich da aus. Ich bin auch schon in Kirchen gewesen und lebe immer noch.“

Michael lachte und streckte die Hand aus. Zögernd ergriff Angelo sie und ließ sich nun endlich in Innere der Kirche ziehen.

 

Als sie aus dem Halbdunkel des Vorraums traten, musste Michael sein Urteil die Kirche betreffend noch ein wenig revidieren. Das hier war nicht nur ein ziemlich schickes, sondern ein unglaublich beeindruckendes Haus. Reich geschmückte Säulen in leuchtendem Violett, Gold und Grün stützten die hohe Decke mit zahlreichen Spitzbögen, deren Ränder ebenfalls in satten Farben bemalt worden waren. Bunte Glasfenster mit den unterschiedlichsten Motiven, deren Details Michael schier überwältigten, wurden nur noch vom dem riesigen Bild überstrahlt, das den Raum über dem weißen Marmoraltar überspannte. Ein zentrales, goldenes Kreuz unter einem tiefblauen Sternenhimmel wurde flankiert von zahlreichen prächtig gekleideten Gestalten, über denen Engelschöre schwebten. An der Decke gab es ebenfalls ein in Rot- und Goldtönen gehaltenes Bild, das etliche dieser geflügelten Gestalten zeigte, und auch die Wände wurden von unzähligen, biblischen Motiven geschmückt, die im Licht der Deckenleuchten und goldenen Kerzenleuchter auf ihren Betrachter herabstrahlten. Es war absolut gigantisch und für einen Augenblick blieb Michael einfach geblendet stehen ob der Pracht und Fülle. Das alles ließ ihn unwillkürlich so etwas wie Ehrfurcht empfinden. Selbst die Luft, die er atmete, schien hier drinnen irgendwie langsamer zu fließen und mit mehr als Sauerstoff und einem Hauch von Weihrauch getränkt zu sein.

Er sah zu Angelo hinüber und bemerkte, dass dieser ebenso gebannt nach oben starrte. Das Licht, das durch die Fenster fiel, tauchte seine Gestalt in ein buntes Farbenspiel, und Michael hätte schwören können, dass er ein Lächeln gesehen hatte, das jedoch ebenso schnell wieder verschwand, wie es gekommen war.

Es ist, als wäre er nach Hause gekommen, nur um festzustellen, dass sein Zimmer bereits anderweitig vergeben wurde, schoss es Michael durch den Kopf. Bevor er jedoch Angelo anbieten konnte, dass er auch draußen warten konnte, kam Gabriella bereits in Begleitung eines älteren Mannes auf sie zu.

„Reverend, das hier sind mein Mann Michael und unser gemeinsamer Freund Angelo. Das hier ist Reverend Peters. Er hat die heutige Messe gehalten und war so freundlich, uns ein wenig seiner Zeit zu schenken.“

Michael musterte den Mann mit den schlohweißen Haaren und dem rötlichen Gesicht, der sie freundlich anblickte. Er trug eines dieser weiten Gewänder und einen mit goldenen Symbolen bestickten Schal, der bestimmt irgendeine Bedeutung hatte. Darunter sah Michael schwarze, blank polierte Schuhe. In diesem Moment war er froh, dass Gabriella auf gepflegter Garderobe bestanden hatte.

„Ihre Frau sagte mir, dass Sie mit einer Bitte an mich herantreten wollten.“

Michael brauchte einen Augenblick um zu verstehen, dass er angesprochen worden war.

„Ähm ja, wir … wir wollten …“ Hilfesuchend sah er zu Gabriella. Warum hatte sie das dem Geistlichen denn nicht erklärt? Konnten sie dem Mann einfach so auf die Nase binden, dass sie Weihwasser brauchten, um damit Dämonen zu bekämpfen?

Der Reverend, der immer noch auf eine Antwort zu warten schien, begann auf einmal, an Michael vorbeizusehen. Als Michael sich umdrehte, entdeckte er Angelo, der an eine Absperrung getreten war, die rund um ein großes Marmorbecken gelegt war. Es sah ein wenig aus wie eine in den Boden eingelassene, kreuzförmige Badewanne. Daneben stand ein kleineres Becken, das aus dem gleichen, Material mit grünen und blauen Einlegearbeiten gefertigt war. Angelo blickte in das Becken hinab, als würde er dort etwas sehen.

„Mein Sohn, kann ich dir helfen?“, fragte der Reverend vorsichtig.

„Ist das geweihtes Wasser?“, wollte Angelo wissen.

„In der Tat“, bestätigte der Geistliche. „Die meisten Taufen finden heutzutage bereits im Kindesalter statt. In dem Fall wünschen die Eltern zumeist nur ein Übergießen des Kopfes. Wir sind allerdings auch in der Lage Ganzkörpertaufen durchzuführen, seit wir im Zuge einer Renovierung das neue Taufbecken anlegen ließen.“

„Das heißt, Sie haben größere Vorräte Heiligen Wassers?“ Angelo blickte jetzt auf. „Wir brauchen etwas davon.“

Die Augenbrauen des Reverends wanderten nach oben. „Nun, diese Bitte ist nicht ungewöhnlich. Einige Gläubige hegen den Wunsch, etwas davon mit nach Hause zu nehmen. Aber darf ich trotzdem fragen, zu welchem Zweck Sie das Wasser verwenden wollen?“

Angelo sah nach oben zu den Deckenmalereien, von denen die Engelsgesichter zu ihnen herabblickten. „Glauben Sie an Gott, Padre?“

Der Geistliche lachte freundlich. „Nun, natürlich tue ich das.“

„Und wie steht es mit dem Bösen? Dem Teufel und seinen Dämonen?“

Michael hörte Reverend Peters seufzen. „Diese Frage ist sicherlich nicht so leicht zu beantworten. Ich …“

Angelo ließ sich nicht beirren. „Heißt es nicht, Jesus habe Maria von Magdala sieben Dämonen ausgetrieben, woraufhin sie ihm nachfolgte und eine seiner treuesten Anhängerinnen wurde? Und wurde nicht diese Kirche ihr zu Ehren errichtet? Ich habe ihren Namen draußen auf dem Schild gesehen und überall hier gibt es Bilder von ihr.“

Der Geistliche schien ein wenig verwirrt, bevor er wieder ein Lächeln aufsetzte. „Das ist richtig. Doch viele sind der Meinung, dass diese Dämonen eher sinnbildlich gemeint sind. Wir können nicht irgendwelche Sagengestalten dafür heranziehen, um unsere Fehler und Sünden zu erklären. Die Gestalten aus den Geschichten sind eher als Gleichnis gedacht für das Unrecht, das wir alle zu tun in der Lage sind.“

Angelo sah Reverend Peters geradeheraus an. „Sind sie nicht. Sie existieren ebenso wie Sie und ich es tun. Und deswegen brauchen wir das geweihte Wasser. Um sie im Schach zu halten. Wir benötigen eine Waffe gegen die Anhänger Luzifers.“

Michael hielt unbewusst den Atem an. Das hatte Angelo doch jetzt nicht gerade wirklich gesagt, oder? Der Reverend würde sie jetzt vermutlich entweder auslachen oder gleich hinauswerfen. Er hub bereits an, ihnen ihre Bitte zu verweigern – Michael sah es in seinen Augen – als Angelo etwas tat. Es war nicht wirklich sichtbar, mehr ein Gefühl, aber Michael spürte deutlich, dass sich etwas änderte. Auch das Gesicht des Reverends wurde mit einem Male bleich. Er schlug ein Kreuzzeichen.

„Heilige Mutter Gottes. D-das ist … du bist …“ Er sprach es nicht aus, doch Michael war klar, dass er Angelo als das erkannt hatte, was er wirklich war. War Angelo denn verrückt geworden? Auch Gabriella schien mit dieser Entwicklung nicht gerechnet zu haben.

„Reverend Peters, es tut mir wirklich leid. Wir wollten Sie nicht erschrecken. Es ist nur so, dass wir …“

Sie verstummte, als ihr auffiel, dass der Geistliche ihr gar nicht zuhörte. Sein Blick war immer noch starr auf Angelo gerichtet. Im nächsten Moment verging die eigenartige Beklemmung, die Michael erfasst hatte.

Angelo senkte den Kopf. „Ich … es tut mir leid, ich hätte das nicht tun sollen.“

Er drehte sich auf dem Absatz herum und stürmte aus der Kirche. Michael sah Gabriella einen Augenblick lang hilflos an, bevor er ihm folgte.

 

Als er vor die Kirche kam, war Angelo verschwunden. Michael fluchte innerlich und sah sich nach allen Seiten um. So weit konnte er unmöglich in der kurzen Zeit gekommen sein, wenn ihm nicht spontan Flügel gewachsen waren. Wo also steckte der Bursche?

Michael lief ein Stück den Gehweg entlang bis zur Kreuzung, konnte dort aber niemanden entdecken, der Angelo ähnlich sah. Er machte kehrt und ging zurück in die andere Richtung, als er plötzlich eine Gestalt entdeckte, die auf den Stufen eines Nebengebäudes kauerte. Als er näherkam, erkannte er, dass es Angelo war. Mit wenigen Schritten war er bei ihm.

„Was sollte das gerade? Dem Reverend zu drohen war das Dümmste, was du machen konntest. Willst du etwa, dass sie uns einsperren?“, herrschte er ihn an. Allerdings tat ihm sein schroffer Ton in dem Moment leid, als er Angelos Gesicht sah. Er sah aus wie das personifizierte, schlechte Gewissen.

„Es tut mir leid“, sagte Angelo leise. „Ich … ich habe mich hinreißen lassen. Es war nur so … Ich wollte, dass er uns glaubt. Ich habe … ich habe ihn sehen lassen, was ich bin. Ich war mir sicher, dass er es erkennen würde. Aber es war falsch von mir. Ich hätte ihn nicht zwingen sollen.“

Michael wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Statt Angelo weiter Vorhaltungen zu machen, setzte er sich neben ihn.

„Nein, das hättest du nicht“, sagte er. „Aber wir machen alle mal einen Fehler. Diese ganze Engelsache ist schließlich noch neu für dich.“

Angelo sagte nichts. Er drückte sich nur enger an Michael und der legte schließlich den Arm um ihn und gemeinsam warteten sie darauf, das Gabriella zurückkam, nachdem sie hoffentlich alles wieder halbwegs gerade gebogen hatte, was Angelo angestellt hatte.



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