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Angelo

von

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Jäger und Beute

Ein Wagen bog in die Straße ein und glitt nahezu lautlos an den Häusern der Menschen vorbei. In einigen Fenstern brannte schon Licht. Einzelne, kleine Leuchtfeuer im Grau der schwindenden Nacht. Der Fahrer hielt ein Stück entfernt vom Haus der Thompson und kurz darauf wurde eine Wagentür geöffnet. Eine Gestalt stieg aus und ging langsam ein Stück den Weg entlang, bis sie stehenblieb und den Blick nach oben richtete.

Lange wird es nicht mehr dauern, dachte Erithriel. Der Zugriff war im Morgengrauen geplant. Ein Team war bereits auf dem Weg hierher, um Michael Thompson, seine Frau und den unbekannten Engel in Gewahrsam zu nehmen.

Er seufzte leise. Eigentlich wäre es ihm lieber gewesen, so ein unangenehmes Szenario zu vermeiden. Allerdings war es unabdingbar, dass er diesen fremden Engel festsetzte, bevor noch Schlimmeres geschah. Allein die Tatsache, dass sein Kommen keiner Stelle bekannt gewesen war, die Erithriel kontaktiert hatte, war äußerst bedenklich. Genauer genommen legte es einen sehr, sehr unerfreulichen Schluss nahe, nämlich den, dass die es mit einem Gefallenen zu tun hatten. Einem Engel, der sich entgegen des göttlichen Willens zur Erde gestürzt hatte. In diesem Fall war es ihre Aufgabe, ihn unschädlich zu machen. Eine schreckliche Bürde, die jedoch notwendig war, um größeres Übel abzuwenden. Zum Glück war dies, soweit er wusste, seit Urzeiten nicht mehr vorgekommen.

Ich hoffe nur, dass wir eine andere Erklärung finden, dachte er bei sich, aber im Grunde glaubte er nicht daran. Warum wohl sonst sollte dieser Engel vor ihm fliehen, statt sich hilfesuchend an ihn zu wenden? Zumal er anscheinend in einem solch geschwächten Zustand war, dass Marcus nicht einmal hatte erkennen können, dass es sich überhaupt um einen Engel handelte. Wenn er also nicht gefunden werden wollte, konnte das nur bedeuten, dass er sich gegen den Willen Gottes gestellt hatte und somit ein Feind der himmlischen Ordnung war. Alles andere war ausgeschlossen.
 

Erithriels Blick wanderte wieder zum Haus der Thompsons, dass immer noch dunkel und seltsam ruhig dalag. Anscheinend hatten die Bewohner trotz der vor ihnen liegenden Ereignisse einen guten Nachtschlaf. Das war fast schon bewundernswert. Es sei denn …

Misstrauisch ging er näher und sandte seine Sinne aus. Er empfing keinerlei Lebenszeichen. Wie es aussah, waren die Thompsons ausgeflogen.

Sein Gesicht verdunkelte sich. Mit dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet. Im Gegenteil war er sich ziemlich sicher, bei diesem Menschen gestern einen Nerv getroffen zu haben.
 

Warum also sind sie verschwunden. Was ist seit gestern Nachmittag passiert, dass …

Er unterbrach sich, als er plötzlich etwas auffing, das ihm gar nicht gefiel. Mit einer unguten Vorahnung begann er, um das Haus herum in Richtung Garten zu gehen. Als er um die Ecke kam, blieb er wie angewurzelt stehen. Vor ihm lag ein Schlachtfeld.

Auf dem Boden gab es eindeutige Spuren eines Kampfes. Platt gewalztes Gras, aufgewühlte Erde, zertrampelte Blumen. Es schien ein kurzes aber heftiges Gefecht gewesen zu sein. Das, was jedoch seine Aufmerksamkeit fesselte, war die Wolke feinen Silberstaubs, die flimmernd und flirrend über dem nassen Gras schwebte. Fast so, als könne er es nicht glauben, hob er eine Hand und streckte sie nach den winzigen Partikeln aus. Trudelnd wichen sie ihm aus und setzten unbeirrt ihren Tanz fort. Erithriel sog scharf die Luft ein.

Was hat er getan?

Sein Blick richtete sich wieder gen Boden. Er schritt auf die Stelle zu, wo die Spuren am deutlichsten waren. Akribisch suchte er jeden Quadratzentimeter ab, bis er schließlich fand, was er suchte. Er kniete sich hin und fuhr mit dem Finger über eine Stelle, an der grünliche Flüssigkeit das Gras benetzte. Er steckte den Finger in den Mund, verzog angeekelt die Lippen und spuckte aus. Kein Zweifel. Ein Dämon war in diesen Kampf verwickelt worden. Und der Engel, den er suchte, hatte ihn offenbar verletzt oder sogar getötet. Das an sich war noch kein Grund zur Beunruhigung. Es war eine Aufgabe, die sie als Engel wahrnahmen. Das Problem an der Sache stellte das Maß an Magie dar, die er dafür benutzt hatte. Die ganze Luft war von ihren Überresten durchsetzt. Was immer er getan hatte, es waren dabei gewaltige Mengen an Energie freigesetzt worden.

Idiot, dachte Erithriel und bereute es, sich gestern nicht doch gewaltsam Zutritt zum Haus verschafft zu haben. Normalerweise verletzte er keine Menschen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Es war ihre Aufgabe, sie zu beschützen und nicht, sie umzubringen. Aber wenn sich jemand ihm so offensichtlich in den Weg stellte, hätte er eigentlich keine Gnade zeigen sollen. Vor allem nicht bei der Tragweite der Ereignisse. Er hatte trotzdem versucht, eine friedliche Lösung herbeizuführen und war ganz offensichtlich gescheitert. Mit dem Ergebnis, dass jetzt alles nur noch komplizierter war. Nun musste er nicht nur diesen Engel finden, er würde auch dafür sorgen müssen, dass das Ganze nicht an die Öffentlichkeit geriet. Wenn dieser Narr weiter so verschwenderisch mit seinen Fähigkeiten umging, würde es nicht lange dauern, bis irgendjemand darauf aufmerksam wurde. Normalerweise war Engelsmagie für Menschen unsichtbar, aber bei der puren Menge an Energie, mit der der fremde Engel hier um sich geworfen hatte, ließen sich visuelle Effekte nicht vermeiden. Effekte, auf die Menschen zumeist mit Hysterie reagierten. Das Letzte, was sie brauchen konnten, war öffentliche Aufmerksamkeit.

Ich frage mich nur, warum er das gemacht hat.

Es stand außer Frage, dass der Engel und vielleicht auch seine menschlichen Begleiter angegriffen worden waren. Den Spuren nach zu urteilen hatte es sich jedoch nur um einen einzelnen Gegner gehandelt. Um ihn in die Flucht zu schlagen, hätte ein viel geringerer Zauber ausgereicht. Die meisten Dämonen waren ohnehin feige und zogen sich beim geringsten Anzeichen von Widerstand zurück. Was also hatte den Engel veranlasst, so dermaßen überzureagieren? Zumal er so geschwächt war. Ein derart mächtiger Zauber musste ihn fast ausgebrannt haben. Warum benahm er sich so unvernünftig? Das alles erschien keinen Sinn zu geben.

Wie er es auch drehte und wendete, Erithriel blieb nichts anderes übrig, als die drei Flüchtigen zur Fahndung auszuschreiben. Die Identität und die Motive dieses Engels mussten ans Licht gebracht werden, bevor noch weiterer Schaden entstand.

Mit entschlossenem Gesicht drehte er sich herum und stapfte zurück zum Auto. Während er ging, zog er sein Handy aus der Tasche und begann zu wählen. Dieser Engel musste gefunden werden und zwar so schnell wie möglich. Koste es, was es wolle.
 


 


 

„Ihr habt mich rufen lassen, Herr?“

Alejandro kniete mit gesenktem Kopf auf dem Boden, während er das sagte. Er hatte lernen müssen, dass sein Meister es trotz seines gefälligen Äußeren nicht liebte, von seinen Untergebenen angestarrt zu werden.

„In der Tat. Du schuldest mir einen Engel, Alejandro. Ich darf annehmen, dass du ihn inzwischen eingefangen hast, ja?“

Die Stimme war wie Samt und Seide. Sie schmeichelte seinen Sinnen und weckte in ihm den Wunsch, sich seinem Herrn zu Füßen zu legen, um sich zwischen den Ohren kraulen zu lassen.

„Alejandro? Ich habe dich etwas gefragt.“

Er zuckte zusammen. Unaufmerksam zu werden, war ebenfalls etwas, dass man in Anwesenheit seines Meisters nicht tun sollte. So etwas konnte einen leicht den Kopf, zumindest aber andere, wichtige Gliedmaßen kosten. Und Alejandro wusste, womit sein Herr dabei am liebsten anfing.

„Es gab … einige Schwierigkeiten bei der Beschaffung.“

„Schwierigkeiten?“ Die Stimme probierte das Wort, als wäre es ein besonders vollmundiger Wein. „Welche Art von Schwierigkeiten? Als du mir das letzte Mal davon berichtet hast, klangst du zuversichtlich. Du hast behauptet, einen Engel gefunden zu haben. Rein zufällig hat er sich ausgerechnet dein Revier ausgesucht, um vom Himmel zu fallen. Tja und dann? Hast du ihn laufen lassen. Einfach so.“

„Das stimmt nicht, Herr“, wagte er zu widersprechen, obwohl er wusste, dass auch das nur sehr ungern gesehen wurde. „Ich habe ihm etwas von der Sukkubus-Essenz verabreicht, die Ihr mir gegeben habt. Ihr wolltet, dass ich sie an einem Engel teste.“

„Das ist richtig“, erwiderte sein Meister in einem Ton, der an das sanfte Schnurren einer Katze erinnerte. „Ich wollte, dass du für mich herausfindest, ob die Konzentration inzwischen stark genug ist.“

„Oh, das ist sie. Das ist sie!“

„Unterbrich mich nicht!“

Er zuckte zusammen, als die Katze mit ihren Klauen ausholte und ihm einen blutigen Striemen quer über die Nase verpasste, nur um dann übergangslos wieder in ein Schnurren zu verfallen.

„Aber, mein lieber Alejandro, statt nun die Gelegenheit zu nutzen, uns dieses süße Geschöpf zu eigen zu machen, hast du was getan?“

Alejandros Nasenspitze berührte fast den Boden. „Wir haben ihn bei dem Menschen gelassen, Herr. Wobei das eigentlich nicht meine Entscheidung war. Kemen war derjenige, der … „

Kemen ist aber nicht hier. Kemen ist tot. Ein Zwischenfall, der sich, nebenbei bemerkt, ebenfalls unter deiner Verantwortung ereignete. Sag, Alejandro, weißt du eigentlich, warum du der Anführer deiner Rotte bist?“

Alejandro atmete tief durch. „Ja, Herr, Ihr habt es mir gesagt.“

„Wiederhole es für mich.“

„Weil ich nicht der Beste bin.“

„Lauter.“

„Weil ich nicht der Beste bin.“

Er spürte ein sanftes Tätscheln auf seinem Kopf, während er weiter auf die Füße seines Meisters starrte.

„Richtig, mein kleiner Cadejo. Du bist in allem maximal der Zweitbeste. Und weißt du, warum du trotzdem der Anführer bist? Weil der Zweitbeste sich immer mehr anstrengen wird als der Rest. Weil er rücksichtslos durchgreifen wird, wenn jemand versucht, ihm seine Position streitig zu machen und die Tatsache, dass dies permanent geschieht, macht ihn so gut. Aber weißt du … ein richtiger Anführer hätte wohl Kemen zu mir geschickt, nachdem er sich diese Fehlentscheidung geleistet hat. Stattdessen kamst du selbst und hast dich von mir dafür bestrafen lassen. Warum, frage ich mich, ist das so?“

Alejandro merkte, wie er begann, schneller zu atmen. Die Stimme seines Meisters war jetzt ganz nah an seinem Ohr.

„Kann es sei, dass du es liebst, von mir bestraft zu werden?“

„Nein, Herr, natürlich nicht. Ihr seid grausam, wenn Ihr straft.“

„Und doch habe ich gesehen, wie du hart geworden bist, als ich dich ausgepeitscht habe das letzte Mal. Gib es ruhig zu. Eine Lüge würde ich nämlich sofort erkennen.“

Alejandros Atemzüge waren jetzt mehr ein heiseres Keuchen, als er fühlte, dass sich eine Hand auf seinen Hintern legte und langsam tiefer wanderte. Er stöhnte, als sie ihm brutal zwischen die Beine griff.

„Siehst du, ich habe es ja gesagt. Du stehst darauf, vor mir im Staub zu kriechen und zu winseln. Du liebst es vielleicht sogar so sehr, dass du absichtlich Fehler machst.“

„Nein Herr.“ Er konnte nur noch wimmern, während die Hand erbarmungslos zudrückte.

„Vielleicht sollte ich dir dieses schöne Spielzeug wegnehmen, was meinst du? Würde das deinem Gehorsam neuen Auftrieb verleihen?“

„Nein, Herr, bitte. Ich … ich weiß, wo der Engel ist. Ich hatte bereits jemanden geschickt, um ihn zu holen.“

Der Griff um sein Glied wurde nicht gelockert, aber sein Meister drückte auch nicht fester zu.

„Wen hast du geschickt?“

„Eine Cegua, Herr. Sie wird den Mann erledigen und den Engel zu uns bringen. Ich habe sie angewiesen, ihm kein Haar zu krümmen.“

„Und warum bist du nicht selbst gegangen?“

Der Schmerz zwischen seinen Beinen stieg wieder an und er unterdrückte nur mit Mühe ein Aufjaulen.

„Weil … weil …“

Er brachte es nicht fertig, es auszusprechen. Verbissen blinzelte er gegen die Tränen an, die drohten, sich in seinen Augen zu sammeln.

„Weil du zu schwach bist?“, bot sein Herr ihm an und Alejandro nickte dankbar. „Weil du dich beim ersten Mal schon hast von dem Menschen übertölpeln lassen? Weil du eben nur ein erbärmlicher, kleiner Halbdämon bist?“

„Ja, Herr“, flüsterte er heiser. „Aber ich bringe Euch diesen Engel, versprochen. Er soll ganz Euch gehören.“

„So ist es brav, das wollte ich hören. Denn du weißt ja, was passiert, wenn du es nicht tust.“

Sein Meister drückte noch einmal kräftiger zu, bevor er ihn endlich losließ.
 

Alejandro wagte nicht, sich zu bewegen. Zwischen seinen Beinen pulsierte es und das nicht nur vor Schmerzen. Aber er rührte keinen Finger und wartete nur ab, während sein Herr an ihm vorbei ging und sich auf dem weichen Lehnstuhl niederließ, auf dem er so gerne saß. Alejandro wusste, wie er dabei aussah. Er hatte ihn oft genug beobachtet. Heimlich natürlich. Die Art und Weise, wie er sich auf dem roten Samt rekelte, ein Bein über die Armlehne gelegt und seinen makellosen Körper zur Schau stellend, hatte etwas an sich, dass den Wunsch in Alejandro weckte, zu diesem Stuhl zu kriechen und sich gebrauchen zu lassen auf welche Weise auch immer es seinem Herrn und Meister gefiel. Notfalls hätte er sich damit zufrieden gegeben, dass dieser seine Füße auf ihm ablegte, wenn er ihn nur in seine Nähe ließ.

Er hörte, wie sein Meister die Luft einsog.

„Du stinkst bis hierher nach Geilheit“, urteilte er und schnippte mit den Fingern. „Los, bring mir etwas zu trinken.“

„Sofort Herr.“

Eilig rappelte Alejandro sich auf und hastete zu dem kleinen Tisch, auf dem verschiedene Karaffen standen. Er wusste, er würde keine Anweisung kriegen, welches Getränk er bringen sollte. Wenn es das falsche war, würde er jedoch bestraft werden. Er überlegte kurz und wählte die Kristallflasche mit dem französischen Rotwein, den sein Herr am liebsten trank. Seine Hände zitterten, als er etwas davon in ein bauchiges, mit roten Steinen besetztes Glas goss. Mit gesenktem Blick eilte er zurück zum Stuhl.

Schlanke Finger legten sich um den Kelch des Glases, das er selbstverständlich nur am Stiel gefasst hatte, damit sein Meister es ihm abnehmen konnte, ohne ihn berühren zu müssen. Das Glas und die Hand verschwanden aus seinem Gesichtsfeld. Eisern hielt er den Kopf weiter gesenkt, um nicht etwa einen unerlaubten Blick zu riskieren. Auf diese geringe Entfernung hätte sein Herr das sofort bemerkt.

„Mhm, vorzügliche Wahl. Das hast du gut gemacht, Alejandro. Und jetzt lauf und besorg mir diesen Engel.“

„Natürlich, Herr“, hauchte er und wusste nicht, ob er dankbar für das Lob oder enttäuscht über die ausgebliebene Strafe sein sollte. Andererseits sollte er die Geduld seines Meisters heute vielleicht nicht überstrapazieren. Am Ende büßte er dabei wirklich noch einen Schwanz ein.
 

Er öffnete ohne Umschweife die dunkle Holztür, die zum Arbeitszimmer seines Herrn führte, trat hindurch und schloss diese wieder, ohne ein Geräusch zu verursachen. Dabei bemühte er sich, die Fassung wiederzufinden, die er da drinnen kurzzeitig verloren hatte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sein Herr sich so etwas wie ein Vorzimmer anschaffen können, in dem er einen Augenblick Atem schöpfen konnte, bevor er sich wieder den Blicken der anderen präsentieren musste. Aber es musste eben ohne gehen.

Drei Paar Augen starrten ihn neugierig an.

„Und? Wie ist es gelaufen?“, wollte Hugo wissen.

„Geht dich einen feuchten Scheißdreck an“, knurrte Alejadro und fletschte zur Bekräftigung die Zähne. „Sagt mir lieber, ob die Cegua schon zurück ist.“

„Die Pferdefresse?“, fragte Paco und grinste breit. „Ist schon vor ’ner halbe Stunde wiedergekommen.“

„Und das sagt ihr mir erst jetzt? Idioten, alle miteinander. Nichts als Hundeflöhe im Kopf. Wenn ihr nicht schon kastriert wärt, würde ich das selbst machen und zwar mit einem rostigen Teelöffel.“

Er schubste Luis, den dritten der Runde, der immer noch dämlich glotzte, zur Seite und machte sich auf den Weg in den Keller. Das hieß, in den Keller unter dem Keller, besser bekannt als „das Verlies“. Schon von weitem konnte er die klagenden Laute hören, die durch die steinernen Gänge hallten. Begleitet wurden die schaurigen Klänge von einem Geruch, der einen Abdecker hätte vor Ekel erblassen lassen.

Als er die Zelle erreichte, in der ein Abwasserkanal entlangfloss, sah er auf dem Boden eine Gestalt liegen. Sie ähnelte vom Körper her einer nur leicht bekleideten Frau, während ihr Kopf der eines verottenden Pferdes war. Aus dem ohnehin schon deformierten Gebilde blitzten weiße Knochen hervor.

„Ah, Tila. Wie schön, dass du es einrichten konntest“, plauderte er scheinbar harmlos und trat durch die Gittertür. Drinnen angekommen ließ er den freundlichen Ton fallen. „Wo ist der Engel?“

Sie fauchte bedrohlich. „Dein beschissener Engel hat mich beinahe umgebracht. Du hast gesagt, er ist ungefährlich und dann? Zieht er auf einmal ein Schwert und hackt mich damit fast in Stücke. Ich konnte gerade noch so fliehen.“

„Fliehen?“ Alejandro blinzelte ein paar Mal. „Das heißt, du hast ihn nicht mitgebracht?“

„Hast du Tomaten auf den Ohren? Nein, natürlich nicht. Stattdessen habe ich das hier.“ Die Cegua hob ihr Bein, auf dem ein langer Schnitt prangte. Die Wundränder waren schwarz und und klafften auseinander, als sie sie losließ. Darunter wurde fauliges Gewebe sichtbar, aus dem grünes Blut sickerte. Alejandro merkte, wie seine Halsschlagader zu pochen begann. Er hatte keinen Engel. Er hatte verfickt nochmal keinen Engel und diese Kuh wagte es, ihm noch etwas vorzujammern. Knurrend hob er die Lefzen.

„Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Ich will, dass du mir diesen Engel beschaffst. Ansonsten brauchst du gar nicht erst wiederzukommen.“

„Ach, und wer hätte dir dann erzählen sollen, dass dieses blonde Bengelchen nicht so wehrlos ist, wie du angenommen hast? Damit habe ich mir die Belohnung, die du mir versprochen hast, allemal verdient.“

Alejandro starrte sie aus hasserfüllten Augen an. Hatte sie jetzt tatsächlich gesagt, dass sie bezahlt werden wollte? So ein dreistes Verhalten konnte er sich nicht bieten lassen. Langsam griff er in seine Hosentasche und holte einen Gegenstand heraus. Es war ein kleines Metallrohr, ungefähr so lang wie sein kleiner Finger. Es hatte an einem Ende ein Loch und im oberen Drittel eine schräge Einkerbung. Langsam hob es es an die Lippen.

„Du willst eine Belohnung? Dann sollst du sie bekommen.“

Mit einem Lächeln pustete er dreimal kurz in das Rohr.

Die Cegua starrte ihn an und ihn ihrem hässlichen Gesicht stand Unverständnis. Erst, als sie das Hecheln und das sich nähernde Klappern hörte, das von hufbesetzten Pfoten herrührte, wurde ihr Ausdruck panisch.

„Nein!“, wieherte sie und sprang auf, um sich auf ihn zu stürzen. „Das war so nicht abgemacht. Du hinterhältiges Stück Scheiße, ruf sofort die Hunde zurück.“

Er grinste und im schwachen Licht der Kellerbeleuchtung leuchtete sein Goldzahn auf. „Ich fürchte, das kann ich nicht. Sie warten schon lange darauf, sich mal wieder so richtig auszutoben. Außerdem weißt du doch, was man über große, böse Hunde sagt. Die wollen nur spielen.“

Immer noch grinsend wandte er sich ab und trat in den Gang, während drei schwarze Schatten an ihm vorbei in die Zelle vordrangen. Von drinnen hörte man ein Pferd in Todesangst wiehern.

„Lasst sie leiden, Jungs. Ich möchte ihre Schreie bis oben hören.“
 

Tatsächlich begleitete ihn die süße Musik des Schmerzes bis er wieder vor der Tür seines Herrn stand. Dort angekommen, zögerte er plötzlich. Er hatte eigentlich vorgehabt, ihm vom Versagen der Cegua zu berichten und davon, dass er sie gleich dafür bestraft hatte. Allerdings ging ihm jetzt auf, dass dies auch bedeutete, dass er selbst seinen Auftrag immer noch nicht erfüllt hatte. Sein Meister würde sehr, sehr ungehalten darüber sein, wenn er ihm sagte, dass er noch länger würde warten müssen. Aber nur so ungehalten, dass er ihn bestrafte oder so ungehalten, dass er ihn ernsthaft verletzte? Das Risiko bestand durchaus. Aber wurde es wirklich besser, wenn er mit den schlechten Neuigkeiten noch länger hinter dem Berg hielt? Zumal er keine Ahnung hatte, wie er dem Engel beikommen sollte. Er brauchte die Hilfe seines Meisters. Langsam hob sich seine Hand zur Türklinke.
 

Im Inneren erwartete ihn wie zuvor ein warmes Halbdunkel. Im Kamin brannte ein Feuer und warf einen flackernden Schein auf die unzähligen Bücherregale, die nur einen Bruchteil des Wissens, das sein Herr besaß, fassen konnten. Auf dem Fußboden lag ein üppiger, dunkelroter Teppich, die Möbel waren aus dunklem, fast schwarz erscheinenden Holz, die Decke mit ebensolchem Holz vertäfelt. Einzig das Mondlicht, das durch die großen Sprossenfenster hereinfiel, war silbrig, und doch hatte man fast den Eindruck, dass es kurz hinter der Scheibe abbrach, als fürchte es sich, die Höhle seines Herrn zu betreten. Der Mann selbst saß in eine enge, schwarze Hose und ein Hemd der gleichen Farbe gekleidet in seinem Stuhl und hatte sich scheinbar seit Alejandros Weggang nicht bewegt. Sein Blick war in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Er wirkte wie eine Statue.

Nach einer Weile nahm er einen Schluck von seinem Wein und sagte mit schleppender Stimme: „Ich hoffe, du hast einen guten Grund dafür, meine Ruhe schon wieder zu stören.“

„Ja, Herr“, antwortete Alejandro und senkte den Kopf tiefer. „Die … die Cegua ist zurück.“

„Und hat sie den Engel mitgebracht?“

„Nein, Herr.“

Im nächsten Moment fand er sich gegen die Wand gedrückt wieder, mit der Hand seines Meisters an seiner Kehle. Spitze Nägel gruben sich in die empfindliche Haut und die dunkeln Augen seines Herrn durchbohrten ihn förmlich.

„Und warum belästigst du mich dann mit deiner Anwesenheit, anstatt dort draußen nach dem zu suchen, was ich dir aufgetragen habe, mir zu beschaffen?“

Alejandro wollte antworten, aber die Hand an seinem Hals unterband jegliche Lautäußerung. Er versuchte zu atmen, sich zu rechtfertigen, aber er konnte nicht. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Sein Herr würde ihn umbringen. In seiner Wut würde er nicht mehr darüber nachdenken, ob ihm Alejandro noch irgendwie nützlich sein konnte. Er würde ihn erdrosseln und dann, ohne mit der Wimper zu zucken, durch irgendeinen anderen Emporkömmling ersetzen, der ebenso wie er sein Glück vermutlich nicht würde fassen können.

Als seine Füße den Kontakt zum Boden verloren, begann er zu zappeln. Er wollte nicht sterben. Er wollte seinem Herrn weiter dienen. Ohne zu überlegen griff er sich an den Hals und versuchte, den steinernen Griff zu lösen, der ihn gefangen hielt.

Sein Gegenüber lächelte spöttisch.

„So, du willst also leben? Dann frage ich mich, warum du so dumm bist, mich dermaßen wütend zu machen.“

Im nächsten Augenblick war die Hand von seiner Kehle verschwunden und Alejandro sackte hustend und um Atem ringend auf dem Boden zusammen. Er wagte nicht, den Blick zu heben. Die Enttäuschung, die ihn in den wunderschönen Augen seines Meisters erwarten würde, war mehr, als er gerade ertragen konnte.

„Herr, ich bitte Euch. Ich wollte euch nicht erzürnen. Aber die Cegua, sie hat berichtet, dass der Engel sie angegriffen habe. Sie hat gesagt, er hätte ein Schwert gehabt.“

„Ein Schwert?“ Der Tonfall seines Meisters ließ auf Interesse schließen. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren.

„Ja, Herr, ein Schwert.“

„Wie sah es aus?“

Alejandro blinzelte verblüfft. „Ich … ich weiß nicht. Herr. Ist das wichtig?“

Ein Schnauben antwortete ihm. „Ob es wichtig ist? Natürlich ist es wichtig. Also geh los, und frage dieses Frauenzimmer, was sie gesehen hat.“

Alejandro wurde kalt.

„D-das geht nicht, Herr. Ich … ich habe sie umbringen lassen.“

„Was?“ Für einen Augenblick schien sein Meister erneut die Fassung zu verlieren. Alejandro duckte sich und erwartete jeden Augenblick, geschlagen oder getreten zu werden. In diesem Zustand war sein Herr unberechenbar.
 

Unzählige Augenblicke lang passierte gar nichts, dann hörte er, wie sein Meister begann, im Zimmer umherzugehen. Anscheinend dachte er nach. Das war gut … vermutlich. Wenn er nachdachte, würde er ihn nicht umbringen. Vorsichtig wagte Alejandro es, den Blick ein wenig zu haben.

Sein Herr hatte tatsächlich die perfekt geschwungenen Augenbrauen zu einer grüblerischen Miene verzogen und die aristokratische Stirn unter den dunklen Haaren in Falten gelegt. Plötzlich ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und und sein Gesicht verfinsterte sich noch einmal. Sein Blick richtete sich wieder auf Alejandro, der nicht in der Lage war, den Kopf schnell genug wegzudrehen. Wie hypnotisiert blieb er sitzen und starrte seinen Herrn an.

„Weißt du, was mir an dieser Sache nicht gefällt?“, fragte sein Meister, aber er war nicht so dumm, darauf zu antworten. Er wusste, dass sein Meister nur mit ihm sprach, um seine eigenen, großen Gedanken zu ordnen und nicht etwa, weil er annahm, dass Alejandro ihm, bei seinen Überlegungen von irgendeinem Nutzen sein konnte. Er hätte sich vermutlich auch mit der Standuhr unterhalten können, die hinten im Raum stand und mit schweren Pendelschlägen das Verrinnen der Zeit anzeigte.

„Als du mir berichtet hast, dass dieser sogenannte Engel keinerlei Gegenwehr gezeigt hat und euch quasi schutzlos ausgeliefert war, hatte ich so meine Zweifel, ob du wirklich einen Engel gefunden hattest. Du hast selbst gesagt, dass sein Ankunftsort zwar voller Spuren göttlicher Macht war, ihm selbst aber nichts davon anhaftete. Und ich dachte mir: Gut, es wird so sein, dass er erst wieder Zugang zu seinen Kräften finden muss. Von einer rein astralen Erscheinung in das Gefängnis einer irdischen Gestalt gepresst zu werden, ist keine angenehme Erfahrung. Sie geht mit einem Verlust eines Teils der Macht einher, der äußerst schmerzhaft ist. Sicherlich, man erholt sich davon, man kann wieder zu Kräften kommen, aber der Vorgang, der dich von einem nahezu gottgleichen Wesen zu einem sich im Staub windenden Wurm macht, übersteigt fast das Maß dessen, was man aushalten kann.“

Sein Herr ballte die Hand zur Faust, als könne er so darin einen unbekannten Gegner zerquetschen. Als er weitersprach, war seine Stimme voller Bitterkeit.

„Das war seine Rache dafür, dass wir uns gegen ihn erhoben hatten. Dass wir gewagt hatten, zu zweifeln an seiner Allmacht und Allwissenheit. Weil wir die uns von ihm verliehene Fähigkeit, eigenständig zu denken, genutzt haben, um Kritik zu üben an seinem Projekt, den Menschen. Diese mickrigen Kreaturen, die er erschaffen hat, um sich an ihnen zu erfreuen. Als wären wir nicht genug gewesen. Als hätte unsere Perfektion ihn gelangweilt, unserer Ergebenheit ihm nicht ausgereicht. Er brauchte die Schwachen, die Unvollkommenen, die Missgeburten, um sich auch ihrer Liebe zu versichern. Ich sage dir, Gott ist ein narzisstisches Arschloch.“

Er grinste jetzt und auf seinem schönen Gesicht lag echte Erheiterung.

„Aber wir haben es geschafft, seine Kreaturen gegen ihn zu richten. Selbst die schier unendlich erscheinende Anzahl der Dämonen und Engel ist begrenzt und wenn einst die letzte Glocke läutet, wären wir hoffnungslos in der Unterzahl gewesen. Doch jetzt, sieh uns an. Wir holen auf, mein kleiner Cadejo. Mit jeder Seele, die wir erobern, wächst unsere Armee und wenn die letzte Schlacht einst kommt, dann wird es nicht die Schar der Engel sein, die triumphieren wird. Dann werden wir den Himmel einnehmen und er wird einsehen müssen, dass wir ihn geschlagen haben. Wir werden Gott von seinem Thron stürzen und es wird glorreich sein.“

„Das hört sich wundervoll an“, wagte Alejandro einzuwerfen. Der Anblick seines Meisters, der unter einem dunklen Feuer zu erglühen schien, ließ freudige Erregung durch seinen Körper wandern. Vielleicht, vielleicht würde er ja sogar …

Der Gedanke verlor jeglichen Bedeutung, als sich auf einmal wieder harte Augen in seine bohrten.

„Doch jetzt berichtest du mir, dass ein verdammter Krieger zur Erde geschickt wurde? Nicht einer von diesen Wischi-Waschi-Schutzengeln, die kaum mehr als eine Maus mit ihren Fähigkeiten in die Flucht schlagen können, sondern ein gottverdammter Gotteskrieger mit einem gottverdammten Schwert? Hast du eigentlich eine Ahnung, was das heißt?“

Alejandro schüttelte nur stumm den Kopf.

Sein Herr ließ hörbar die Luft entweichen. „Ich auch nicht. Es macht nämlich keinen Sinn, einen solchen aller seiner Fähigkeiten zu berauben. Sicherlich, die Menschen halten die Anwesenheit eines mächtigen Engels nur sehr schwer aus. Der Anblick des Göttlichen lässt sie zwar in Ehrfurcht erstarren, aber es macht sie auch verrückt. Hat ne Weile gedauert, bis er das herausgefunden hatte. Und jetzt setzt er den Menschen seine Englein nur noch in der handzahmen Version vor. Man fragt sich wirklich, warum diese Idioten das eigentlich noch mitmachen. Spätestens jetzt müssten sie doch merken, dass sie nur noch die zweite Geige spielen, aber nein, es wird ja weiterhin schön gekatzbuckelt, während die Menschen … aber lassen wir das.

Fakt ist, dass ein Krieger nur dann zur Erde geschickt würde, wenn wirklich eine echte Bedrohung vorliegt. Würden wir einen der Leviathane befreien und auf die Welt loslassen … na sagen wir mal, das wäre eventuell ein Grund. Ansonsten bleiben die schön da oben hocken und warten auf Armageddon, damit sie endlich mal wieder was zu tun haben. Früher, ja, da gab's ab und an nochmal ein Gemetzel zwischen uns und denen, aber heutzutage geht es nur noch darum, möglichst viele, menschliche Seelen zu sammeln. Man könnte sich fast die alten Zeiten zurückwünschen …“
 

Für einen Augenblick schwieg sein Herr, scheinbar versunken in Erinnerungen. Alejandro nutzte die Zeit, um ihn zu betrachten. Er war wirklich schön. Es fiel nicht schwer, ihn sich vorzustellen, wie er einst in seiner Engelsgestalt ausgesehen haben mochte. Fast hätte er diesem Gott dankbar sein können, dass er ihn gestürzt hatte, damit Alejandro jetzt hier bei ihm sitzen und ihn ansehen konnte. Ein schlanker Zeigefinger legte sich gegen den perfekten Mund seines Meisters und er sagte in nachdenklichem Ton:

„Die Frage, die sich also stellt, ist, warum Gott nicht einfach einen weiteren Engel der unteren Ordnung geschickt hat, statt einen der hohen zu rupfen wie eine Weihnachtsgangs. Wenn er wirklich ein Krieger war, müssen die Schmerzen unvorstellbar gewesen sein. Der Prozess müsste ihn schier wahnsinnig gemacht haben. Welchen Nutzen sollte das haben? Was verspricht sich der Alte davon?“

Die dunklen Augen richteten sich jetzt wieder auf Alejandro, dessen Herz in freudiger Erwartung zu pochen begann,

„Ich verstehe es nicht, aber ich habe vor, es herauszufinden. Also, mein kleiner Cadejo. Ich will diesen Engel, koste es, was es wolle. Du bekommst von mir dafür, was immer notwendig ist. Alles. Aber geh und finde ihn.“

Alejandro konnte sich gar nicht schnell genug verbeugen. „Sehr wohl, Herr. Er soll Euch gehören. Aber … ich werde Hilfe brauchen“

Sein Meister lächelte hintergründig und entblößte dabei einen etwas zu spitzen Eckzahn. „Natürlich, mein Lieber. Du wirst alle Unterstützung bekommen, die du brauchst. Ich habe da schon jemanden im Auge."


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hey, ihr Lieben!

Dieses Mal ein etwas kürzeres Kapitel. Ich hatte die nächste Szene schon fertig geschrieben, aber nun muss ich noch etwas daran ändern und mit ihr wäre das Kapitel auch sehr, sehr lang geworden, von daher dachte ich mir, ich gönne euch einfach mal ein schnelleres Update. Ich hoffe, ihr könnt das verzeihen. ^_~

Zauberhafte Grüße
Mag Komplett anzeigen

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