Angelo von Maginisha ================================================================================ Kapitel 8: Unangenehmer Besuch ------------------------------ „Sind Sie Michael Thompson?“ Der Mann auf der anderen Seite der Tür musterte ihn mit einem geschäftsmäßigen Interesse, bei dem sich unweigerlich Michaels Nackenhaare aufstellten. Er war fast ebenso groß wie er selbst, aber schmaler gebaut, hatte dunkle, glattgelegte Haare und trug einen Anzug, der geradezu offiziell schrie. Es hätte nicht die Marke gebraucht, die er Michael unter die Nase hielt, um ihn erkennen zu lassen, dass er es nicht mit einem Höflichkeitsbesuch zu tun hatte. „Agent Erik Hawthorne. FBI. Ich denke, wir sollten uns unterhalten.“ Sein Gegenüber setzte ein unverbindliches Lächeln auf. „Darf ich reinkommen?“ „Nein.“ Michael hatte unweigerlich seine Muskeln angespannt, als der Agent auf ihn zugekommen war. Für einen Moment lag offene Feindseligkeit in der Luft und es hätte Michael nicht gewundert, wenn der Mann eine Waffe gezogen hätte, um sich Zugang zum Haus zu verschaffen. Dann jedoch hob er beschwichtigend die Hände und trat einen Schritt zurück. „Ich glaube, hier liegt Ein Missverständnis vor. Ich bin nur hier, um mit Ihnen zu reden.“ Er sah sich um, bevor sein Blick wieder zu Michael zurückwanderte. „Wollen Sie dieses Gespräch wirklich vor Ihrer Haustür führen?“ „Ich will dieses Gespräch überhaupt nicht führen“, knurrte Michael „Was wollen Sie überhaupt von mir?“ Wieder antwortete ihm ein aalglattes Lächeln. „Ich denke, das wissen Sie genau, Mr. Thompson. Mir wurde zugetragen, dass Sie gestern Morgen in eine Schießerei in Las Vegas verwickelt waren. Sie sind von dort geflohen, aber Sie waren nicht allein. Der junge Mann, der bei Ihnen war …. Ich bin auf der Suche nach ihm. Wenn Sie ihn mir aushändigen, kann das hier alles vollkommen ohne Papierkram über die Bühne gehen. Ich nehme ihn mit und Sie bekommen Ihr Leben zurück. Ganz unkompliziert.“ Das Gefühl in Michaels Nacken wurde stärker, aber er zwang sich, ganz ruhig zu bleiben. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Hier ist niemand außer mir und meiner Frau.“ Er machte Anstalten, die Tür wieder zu schließen, aber die Stimme des Agents hielt ihn auf. „Wenn ich Sie wäre, würde ich das nicht tun.“ Michael verharrte mit der Tür in der Hand. Erstaunlich helle Augen musterten ihn. „Noch kann das Ganze glimpflich über die Bühne gehen, Mr. Thompson. Eine Sache zwischen Ihnen und mir. Aber wenn sie nicht kooperieren, bin ich gezwungen, andere Maßnahmen zu ergreifen. Also seien Sie vernünftig und holen sie den Jungen her. Es wäre das Beste für alle Beteiligten.“ Die Worte des Mannes ließen Michael innerlich die Fäuste ballen. Er hatte natürlich gewusst, dass sie sich irgendwann der Realität stellen mussten, aber er hatte eigentlich gedacht, dass er Zeit und Ort dazu selbst auswählen würde. Dass das Schicksal jetzt so unvermittelt an seine Tür klopfte, missfiel ihm sehr. Außerdem mochte Michael die Art des Mannes nicht. Er erinnerte ihn zu sehr an die Polizisten, die ihn damals vernommen hatten. Selbstgerechte Arschlöcher, deren Meinung bereits feststand, bevor sie ihre Frage überhaupt zu Ende gestellt hatten. Er wandte sich ab. „Vielen Dank, aber ich glaube, ich kann sehr gut selbst entscheiden, was das Beste für mich ist.“ „Ach ja?“ Die ohnehin nur mühsam gespielte Freundlichkeit war mit einem Mal aus Agent Hawthornes Miene gewichen und hatte gleichgültiger Herablassung Platz gemacht. „Dann ist es also das Beste für Sie, wenn man Sie morgen in Handschellen abführt? Und Ihre Frau ebenfalls? Wollen Sie das wirklich riskieren, Mr. Thompson? Für einen Jungen, den Sie kaum 48 Stunden kennen? Den Sie nach geltender Rechtslage entführt haben? Sie wissen sicherlich, dass das eine schwere Straftat ist. Das wird Sie Ihren Job kosten. Ihre Frau die Lizenz. Wollen Sie das wirklich?“ Michael ballte die Fäuste. „Wollen Sie mir etwa drohen?“ Sein Gegenüber kräuselte die Lippen. „Nein, Mr. Thompson. Ich will sie lediglich warnen. Der Junge wird mit uns gehen auf die eine oder andere Weise.“ Er wartete noch einen Augenblick ab, aber da Michael keine Anstalten machte, Angelo zu holen, seufzte er schließlich. „Wie Sie wollen, Mr. Thompson. Dann sehen wir uns also morgen früh.“ Der Mann drehte sich um und ließ Michael stehen. Der wäre ihm am liebsten hinterhergelaufen und hätte ihm eine verpasst. Stattdessen steckte er die Hände in die Hosentaschen, um sich selbst davon abzuhalten. „Damit kommen Sie nicht durch“, rief er ihm hinterher und kam sich in der gleichen Sekunde lächerlich vor. Agent Hawthorne blieb stehen und drehte sich noch einmal zu Michael herum. „Da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher. Gerade Sie müssten doch wissen, wie so was läuft.“ Er lächelte. „Einen schönen Tag noch.“   Michael sah dem Mann zu, wie er in seinen Wagen stieg und davonfuhr. Als er am Ende der Straße abbog, löste er sich endlich aus der Starre, die ihn bei den Worten des Agents überfallen hatte. Natürlich wusste er, wie es war, gegen Windmühlen zu kämpfen. Wie es war, wieder und wieder seine Unschuld zu beteuern, und doch überall nur auf Mauern aus Unverständnis und taube Ohren zu stoßen. Zuzusehen wie derjenige, der einem wichtig war, zwischen den Mühlsteinen der Gerechtigkeit zermalmt wurde auf der Suche nach der sogenannten Wahrheit. Er unterdrückte den Wunsch, die Haustür ins Schloss zu werfen oder mit der bloßen Faust gegen die Wand zu schlagen. Das würde nichts bringen außer unnötigen Schmerzen. Die Zeit, da er sich in so etwas flüchten konnte, waren unwiederbringlich vorbei.   Mit schweren Schritten ging er die Treppe hinauf und schob die Tür zum Schlafzimmer auf. Gabriella hatte sich inzwischen etwas übergezogen und saß mit Angelo zusammen auf dem Bett. Als Michael eintrat, stand sie auf. „Wer war das und was hat er gewollt?“ „Angelo“, antwortete er mit Grabesstimme. „Er hat gesagt, er wolle ihn mitnehmen und nach Hause bringen.“ Sein Blick fiel auf den Jungen, der ihn ängstlich ansah. „Er hat auch gesagt, wenn wir ihm Angelo nicht geben, würde er morgen wiederkommen und uns wegen Entführung verhaften.“ Michael seufzte schwer. „Vielleicht … vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn ...“ „Nein!“ Angelo war aufgesprungen. In seinem Gesicht stand ungewohnte Entschlossenheit. „Ich gehe nicht zurück.“ Michael hob die Augenbrauen. „Dann weißt du, woher du kommst?“ Angelos Blick begann zu flackern. „Nein. Aber ich weiß, dass ich nicht mit diesem Mann mitgehen darf. Etwas Furchtbares wird dann passieren.“ „Und was ist, wenn du hierbleibst?“ Michael merkte, wie er langsam lauter wurde. „Was willst du denn machen, wenn morgen das FBI vor der Tür steht, um uns Handschellen anzulegen? Willst du die dann auch mit großen, traurigen Augen ansehen und darauf hoffen, dass sie einfach so wieder abziehen? Tut mir leid, wenn ich dir das sagen muss, aber so läuft das nicht. Die spielen das Spiel nicht nach deinen Regeln. Die nehmen sich einfach, was sie wollen, und lassen dich in den Trümmern zurück. So läuft das in der Welt.“ „Dann gehe ich weg.“ Angelos Unterlippe zitterte. „Ich … ich will nicht, dass euch etwas passiert, aber ich kann nicht zurückgehen. Bitte, Michael, es geht nicht. Das musst du mir glauben.“ „Ach, muss ich das? Willst du mir jetzt auch noch Vorschriften machen? Wer weiß, vielleicht hast du mich ja doch belogen. Vielleicht hast du einfach nur einen Dummen gesucht, der auf dein hübsches Gesicht reinfällt, damit du dich aus dem Staub machen kannst, weil Mommy und Daddy dir kein Pony gekauft haben.“ „Michael!“ Gabriellas Stimme zerschnitt den Raum. „Jetzt ist es aber genug. Siehst du nicht, dass du ihm Angst machst?“ In der Tat war inzwischen alle Farbe aus Angelos Gesicht gewichen. Es tat Michael weh, ihn so zu sehen, aber er wusste, dass er jetzt nicht nachgeben durfte. Das hatte ihn ja erst in diese beschissene Lage gebracht. Weil er sich hatte einlullen lassen. Weil er nicht nachgedacht hatte und gehofft hatte, dass doch irgendwie alles gut werden würde. Aber das wurde es nicht. Das wurde es nie. Am Ende gewannen immer die anderen. Und war es nicht auch das Beste für Angelo? Der Junge musste doch erfahren, wo er herkam und was mit ihm passiert war. Und so gerne Michael ihm dabei geholfen hätte, er konnte es nicht. Er hatte sich eingebildet, dass er es konnte, aber er war kein Arzt, kein Polizist, kein Held. Er war nur ein einfacher Vertreter, der sich eine Zeit lang wie Superman gefühlt hatte, weil ein hübscher Junge mit großen, blauen Augen ihn angehimmelt hatte. Aber er war nicht Superman. Kein einsamer Held, der irgendwo im luftleeren Raum existierte und tun und lassen konnte, was er wollte. Er hatte eine Frau, der er verpflichtet war. Und er konnte Gabriella unmöglich zumuten, das Gleiche durchzumachen wie er damals bei der Sache mit Jeff, nur weil er sich weigerte, Angelo der Polizei zu übergeben. Er konnte sie nicht beide retten.   Michael presste die Kiefer aufeinander. Am liebsten hätte er seine bösen Worte wieder zurückgenommen, aber was hätte das gebracht? Es änderte nichts daran, dass Angelo sie verlassen musste. Das Ganze war von vornherein eine Schnapsidee gewesen. All die Begründungen, die er sich selbst geliefert hatte, waren nichts als Hirngespinste gewesen. Ja, er hatte ein paar Schlägern eins auf die Nase gegeben und damit vielleicht Angelo vor einer sehr unangenehmen Erfahrung bewahrt, an die er sich wahrscheinlich nicht einmal wirklich erinnert hätte. Aber mehr brachte er doch nicht zustande. Das, was Angelo jetzt brauchte, war etwas anderes. Etwas, das Michael ihm nicht geben konnte. Sie waren tatsächlich alle besser dran, wenn er ging. Michael wandte sich ab. „Ich gehe nach unten.“ Hinter sich hörte er ein Geräusch, das verdächtig nach einem Schluchzen klang, aber er drehte sich nicht um. Er war sich sicher, dass Gabriella sich darum kümmern würde. Er schämte sich dafür, dass es so war, aber wenn es Angelo half, ihn für ein Arschloch zu halten, dann würde er das eben ertragen.   Der restliche Abend verlief größtenteils schweigend. Gabriella machte zwar den einen oder anderen Versuch, ein Gespräch mit ihm anzufangen, aber er blockte sie ab. Er wollte nicht darüber reden. Insgeheim gab seine Frau ihm vermutlich sogar recht, denn sonst, da war er sich sicher, hätte sie ihm längst eine Lösung an den Kopf geknallt und verlangt, dass er sie durchzog. Aber von ihr kam nichts und so herrschte auch zwischen ihnen beiden gedrücktes Schweigen. Angelo ließ sich nicht blicken, sondern verkroch sich in seinem Zimmer und kam nicht einmal zum Essen herunter. Michael sah, dass Gabriella ihm einen Teller nach oben brachte. Der vorwurfsvolle Blick, den sie ihm zuwarf, als sie wieder die Treppe hinunterkam, sprach Bände. „Er weigert sich zu essen. Du solltest mit ihm reden.“ „Da gibt es nichts zureden. Er wird fortgehen und das war’s.“ „Ist das dein letztes Wort?“ „Mein allerletztes.“ Sie seufzte und schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr. Er nahm einen Schluck von dem Bier, dass er sich aufgemacht hatte, und starrte auf den Fernseher. Er hatte keine Ahnung, was er sich da ansah, aber das bunte Flimmern lenkte ihn davon ab, weiter darüber nachzudenken, was morgen passieren würde. Es fühlte sich an, als würde jemand sein Herz langsam in kleine Streifen schneiden. Aber er wusste einfach, dass er nicht nachgeben durfte. Er musste dafür sorgen, dass Angelo sein altes Leben wieder zurückbekam. Das war er ihm schuldig.         Gabriella erwachte mit dem Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie schlug die Augen auf und sah sich um. Michael lag neben ihr und schnarchte ein wenig. Er war erst lange nach ihr ins Bett gekommen und sie hatte sich nicht umgedreht, als er sich neben sie gelegt hatte. Ihr Mann war es somit nicht gewesen, der sie aus dem Schlaf geholt hatte. Plötzlich sah sie die schmale Silhouette, die in den Schatten vor dem Bett ausharrte und in ihre Richtung sah. „Angelo?“, flüsterte sie. Michael musste ja nicht unbedingt mitbekommen, dass er hier war. „Sì“, kam es leise aus der Dunkelheit. „Ich … ich wollte dich nicht wecken.“ „Schon in Ordnung. Ich komme.“ Gabriella erhob sich und folgte Angelo, der sie draußen auf dem Flur mit gesenktem Kopf erwartete. Als sie sah, dass er vollkommen bekleidet war, runzelte sie die Stirn. „Was wird denn das, wenn es fertig ist?“ Als er nicht antwortete, zählte sie zwei und zwei zusammen. „Du wolltest weglaufen?“ „Ja. Nein! Ich weiß nicht. Ich … ich wollte vor allem, dass Michael nicht mehr wütend auf mich ist.“ Er klang so verzweifelt, dass es Gabriella das Herz zusammenzog. Sie strich ihm über den Arm. „Er ist nicht wütend auf dich“, versuchte sie zu erklären. „Er ist nur wütend, weil er nicht weiß, was er tun soll. Er will dir helfen, aber er hat keine Ahnung, wie er das anstellen soll. Und ich, ehrlich gesagt, auch nicht.“ Gabriella hatte nicht gedacht, dass Angelo den Kopf noch tiefer hängen lassen konnte, aber er brachte es trotzdem fertig. „Ich mache euch nur Ärger.“ „Nein, das tust du nicht. Du bist ja nicht absichtlich in diese Lage geraten.“ Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. „Und was, wenn doch?“ Die Frage ließ sie aufhorchen. Wusste Angelo etwa mehr, als er zugeben wollte? Sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. An Schlaf war jetzt ohnehin nicht mehr zu denken. „Ich hole mir was zum Anziehen und dann erzählst du mir alles, was du weißt. Egal, wie unwichtig es dir erscheint. Vielleicht kriegen wir dieses Rätsel ja doch noch gelöst.“ Angelo nickte und schlich wie ein geprügelter Hund zurück ins Gästezimmer.   Als sie sich zu ihm gesellte, saß er auf dem Bett und blickte mit starrem Gesicht zu Boden. Sie ließ sich neben ihn sinken und versuchte so aufmunternd wie möglich zu klingen. „So, jetzt mal raus mit der Sprache. Was weißt du denn alles noch?“ Er atmete tief durch, bevor er begann zu erzählen. „Das Erste, an das ich mich erinnere, ist ein helles Licht. Nichts weiter, nur Licht. Keine Bilder. Und dann … dann falle ich. Es fühlt sich furchtbar an. Als würde etwas aus mir herausgerissen und in alle Winde verstreut. Das Gefühl ist wie Feuer und Eis und reißt mich entzwei und ich kann nicht einmal schreien, weil es so wehtut. Es ist, als würde ich sterben. Schließlich schreie ich doch, aber es ist niemand da, der mich hört. Ich kann nur noch hoffen, dass es irgendwann vorbei ist.“ Er erschauerte unter der Erinnerung. Gabriella griff nach seiner Hand, um sie festzuhalten. Seine Finger waren kühl und klamm, aber sie drückte sie trotzdem. Er schickte ihr einen dankbaren Blick. „Als nächstes verspüre ich Schmerzen. Nicht die Agonie, die ich vorher gefühlt habe, sondern echten Schmerz. Es ist rau und kalt und ich versuche, irgendwie die Augen zu öffnen, aber da sind plötzlich Stimmen und Schritte. Jemand lacht und auf einmal hält mich jemand fest. Er zieht mich nach oben und zwingt mich, den Kopf in den Nacken zu legen. Irgendetwas wird gegen meine Lippen gepresst. Flüssigkeit läuft in meinen Mund und ich … ich kann nicht anders, als sie zu schlucken. Als ich das getan habe, lassen sie mich los. Sie lachen wieder. Ich weiß, dass ich eigentlich verstehen müsste, was sie sagen, aber meine Ohren sind noch taub von meinen eigenen Schreien. Ich bitte sie aufzuhören, aber sie lachen nur weiter. Sie schlagen mich. Und dann fängt das Feuer an, in meinem Inneren zu wüten. Ich … ich habe keine Ahnung, was das ist. Ich weiß nur noch, dass ich jemanden suchen muss. Dass es unbedingt notwendig ist, dass ich ihn finde, aber das wird plötzlich alles unwichtig, weil ich nur noch … ich will nur noch ...“ Angelo verstummte und atmete angestrengt durch den Mund. Gabriella beugte sich zu ihm. „Was wolltest du?“ „Ich wollte … ich wusste in dem Moment nicht, was ich wollte. Ich habe es nicht verstanden, aber ich ...“ Er schloss die Augen. „Ich wollte, dass mich jemand berührt, so wie Michael es getan hat. Dass er dafür sorgt, dass das Feuer verschwindet, bevor es mich aufrisst. Ich konnte an nichts anderes mehr denken und als er dann kam, da wusste ich plötzlich, dass er derjenige war, auf den ich gewartet habe. Aber ich konnte es ihm nicht sagen. Ich konnte nur noch … ich wollte nur noch ...“ Gabriella unterbrach ihn. Sie erinnerte sich noch daran, was Michael über den Zustand gesagt hatte, in dem er Angelo gefunden hatte. „Du musst es nicht erklären, ich verstehe schon. Aber was bringt dich jetzt zu der Annahme, dass du irgendeine Schuld an all dem hast?“ Angelo atmete noch einmal tief durch. „Ganz am Anfang, als ich noch in dem Licht war, da … da wollte ich fallen. Ich bin freiwillig gegangen.“ Gabriella dachte einen Augenblick darüber nach. „Das heißt, du wolltest all diese Schmerzen erleiden? Wer um Himmels willen sollte so etwas wollen? Und warum?“ Angelo sah sie unglücklich an. „Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht mehr. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass es kein Zufall war, dass ich Michael getroffen habe. Irgendjemand hat dafür gesorgt, dass das passiert.“ Gabriella lachte auf. „Dann hätte derjenige dir vielleicht eine Anleitung mitgeben sollen, was du tun musst und an wen du dich wenden sollst. Meine Güte, Angelo, das klingt alles viel zu verrückt, um wahr zu sein.“ Sie schwieg einen Augenblick, aber die Frage, die ihr durch den Kopf ging, musste sie einfach stellen. „Warum hast du es uns nicht schon früher gesagt?“ „Ich war mir ja selbst nicht sicher, was ich davon halten soll. Und ich hatte Angst, dass ihr mich wegschickt. Dass Michael mich nicht mehr mag.“ Er vergrub den Kopf in den Händen. „Aber jetzt ist alles so furchtbar und dieser Mann will mich mitnehmen und ich weiß einfach, dass ich das nicht zulassen darf. Es ist so, wie ich die Männer in dem Restaurant einfach verstanden habe. Es ist da in meinem Kopf, aber ich komme nicht heran. Nicht ohne Hilfe. Das macht mich verrückt.“   Gabriella wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie war sich sicher, dass Angelo glaubte, dass er die Wahrheit sagte. Aber diese Wahrheit war womöglich noch eine Nachwirkung der Drogen. Oder von etwas, das ihm vorher widerfahren war. Etwas, dass alle seine Erinnerungen ausgelöscht hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie man so etwas behandelte, aber dafür gab es bestimmt Ärzte. Psychologen und so weiter. Ihnen blieb im Grunde keine Wahl, als ihn zur Polizei zu bringen. Allein die Tatsache, dass er so verzweifelt daran festhielt, dass das nicht ginge, ließ sie diese Entscheidung immer wieder anzweifeln. Sie seufzte. „Dich einfach wegzuschleichen, ist auf jeden Fall keine Lösung.“ Er ließ wieder den Kopf hängen. „Ich weiß.“ „Am besten legst du dich hin und schläfst noch ein wenig. Der Tag Morgen wird anstrengend werden. Aber was auch passiert, wir werden nichts unversucht lassen, um dir zu helfen.“ Er sah sie dankbar an und wurde im nächsten Augenblick ein wenig verlegen. „Würdest du vielleicht … würdest du noch ein bisschen bei mir bleiben?“ „Natürlich. Los, ab ins Bett mit dir. Ich bleibe, bis du eingeschlafen bist.“ Sie sah, dass er lächelte, bevor er sich zusammenrollte und den Kopf gegen ihren Oberschenkel legte. Gedankenverloren strich sie ihm mit der Hand durch das Haar. Wie es wohl in seinem Kopf aussah? Vermutlich herrschte da ziemliches Chaos. Verdenken konnte sie es ihm nicht. Auch ihr schwindelte von dem, was er ihr erzählt hatte. Jemand sollte Angelo zu Michael geschickt haben? Aber warum? Welches Interesse hatte dieser FBI-Agent an ihm? Ging es da wirklich nur um einen Jungen, der von zu Hause weggelaufen war oder steckte mehr dahinter? Und warum weigerte sich Angelo so hartnäckig, mit ihm zu gehen. Aus ihrer Sicht schien es dafür keinen Grund zu geben, es sei denn, er war in etwas Illegales verwickelt oder hatte zu Hause eine ungebührlich hohe Strafe zu erwarten. Da ihm jedoch die Erinnerung an sein Elternhaus fehlte, entbehrte auch diese Möglichkeit im Grunde jeglicher Logik. Irgendein Teil fehlte an diesem Puzzle und Gabriella konnte sich einfach nicht erklären, was es sein konnte.         Michael tastete im Dunkeln nach Gabriella. Er hatte einen wirren Traum gehabt, an dessen Ende sie ihn angebrüllt und mit Angelo nach Italien zurückgegangen war. Normalerweise gab er ja nicht viel auf Träume, aber heute ließ dieser ihn zusammen mit dem vorangegangenen Streit nicht wieder einschlafen. Ganz entgegen seiner Erwartung fand er die andere Seite des Bettes verlassen. Er wartete eine ganze Weile, aber Gabriella tauchte nicht wieder auf. Michael versuchte, sich einfach wieder umzudrehen, aber der Schlaf wollte nicht mehr zu ihm kommen. Sein Wecker zeigte Viertel nach zwei. „Ach verdammt“, knurrte er und befreite sich aus der Decke. Dann würde er eben noch das Bier wegtragen und es anschließend noch einmal versuchen. Vielleicht würde ihm dabei ja auch seine Frau begegnen.   Als er aus dem Badezimmer kam, sah er zu Angelos Zimmertür. Dahinter regte sich nichts. Dafür glaubte er plötzlich, etwas aus dem unteren Stockwerk gehört zu haben. Er ging zum Treppenabgang und lauschte. Aus der Tiefe strich lediglich ein kühler Luftzug um seine Füße. Ansonsten war es vollkommen still. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass da unten jemand war. Ob sich Gabriella noch etwas zu trinken geholt hatte? Langsam begann er, die Treppe hinunterzusteigen. Im Wohnzimmer und der Küche konnte er niemanden entdecken, aber als sein Blick auf die Terrassentür fiel, bildete sich ein eisiger Klumpen in seinem Magen. Er war sich ziemlich sicher, dass er sie am Abend zuvor geschlossen hatte, doch jetzt stand die Tür einen Spalt breit auf. Es waren also entweder Einbrecher im Haus oder jemand hatte die Tür von innen geöffnet. Aber wer und warum? Zögernd und jedes überflüssige Geräusch vermeidend schlich er weiter nach unten. Am Fuße der Stufen blieb er stehen und horchte wieder. War da nicht ein Geräusch gewesen? Wenn er hätte raten müssen, hätte er gesagt, dass es von draußen kam. Irgendjemand schlich durch den Garten. Michael wusste, dass es nicht klug war, was er gerade tat. Sollte es sich wirklich um einen Einbrecher handeln, täte er wohl gut daran, die Polizei zu rufen. Allerdings waren uniformierte Beamte gerade in etwa das Letzte, was er im Haus haben wollte. Vielleicht gab es ja auch noch eine andere Erklärung für die geöffnete Tür. Trotzdem war es vielleicht ratsam, einem möglichen Gegner nicht völlig wehrlos entgegenzutreten. Michael sah sich um und griff nach dem silbernen Kerzenleuchter, der auf dem Küchentresen stand. Es sah ein wenig lächerlich aus – schließlich hatte Michael nicht vor, den Einbrecher zu einem romantischen Diner einzuladen – aber das Ding war schwer genug, um es jemandem über den Schädel zu ziehen. Das musste ausreichen. Die improvisierte Waffe vor sich haltend schob er die Tür zum Garten noch etwas weiter auf und trat hinaus.   Draußen war es stockfinster. Der Mond hatte sich hinter dicken Wolken verkrochen und die Straßenbeleuchtung war längst erloschen. Lediglich die diffuse Lichtverschmutzung, die das Leben in einer Großstadt so mit sich brachte, ließ ihn gerade noch die Umrisse der Bäume erkennen. Die kühle Nachtluft strich über seine Haut und sorgte dafür, dass eine Gänsehaut über seinen Körper kroch. Es roch nach Tau und nassem Gras. Die Geräusche, die er hörte, kamen ihm vage bekannt vor, aber erst als er sah, woher sie kamen, wurde ihm klar, worum es sich handelte. Es jemand am Pool. Aber wer sollte sich zu dieser nachtschlafenden Zeit dort herumtreiben? Vorsichtig mit den Füßen vorwärts tastend ging Michael weiter, den Kerzenleuchter im Anschlag. Als er fast an der dunklen Wasserfläche herangekommen war, flammte plötzlich die Poolbeleuchtung auf. Geblendet schloss Michael für einen Moment die Augen und blinzelte gegen die auf ihn eindringende Helligkeit an. „Was zum …?“ Er schirmte die Augen ab und konnte nun endlich etwas erkennen. Im Pool schwamm zwischen den aufsteigenden Dunstschwaden des beheizten Beckens eine Gestalt. Sie drehte ihm den Rücken zu und ihre langen Haare rollten sich in geschmeidigen, dunklen Locken um ihren Kopf. Michael lachte erleichtert auf. „Gabriella? Baby, du hast mich erschreckt. Komm schon, lass uns wieder ins Bett gehen.“ Seine Frau antwortete nicht, sondern ließ sich nur weiter treiben. Unter der Wasseroberfläche konnte Michael nicht viel erkennen, aber er wusste, dass sie normalerweise beim Baden einen roten Bikini trug. Jetzt jedoch waren ihre Schultern unbedeckt und wie es aussah, trug sie auch sonst nicht viel am Leib. Er trat noch einen Schritt näher. „Schatz? Ist alles in Ordnung?“ Wieder antwortete sie nicht. Plötzlich kamen ihm Zweifel, dass es sich bei der Badenden wirklich um Gabriella handelte. War die Frau dort nicht etwas größer? Ihre Hüften ausladender? Außerdem war es sowieso sehr unwahrscheinlich, dass Gabriella mitten in der Nacht in den Pool stieg. Es musste sich also um eine Fremde handeln. Michael räusperte sich. „Äh, Miss? Würden Sie bitte aus dem Wasser kommen? Das hier ist Privatbesitz.“ Er stellte fest, dass er wie einer dieser fetten Wachleute in Horrorfilmen klang, die kurz darauf von irgendeiner blutrünstigen Bestie ins Dunkel gezerrt und in Stücke gerissen wurden. Zurück blieb meist nur die Taschenlampe oder in seinem Fall wohl eher ein Kerzenleuchter. Ein Lachen erklang aus dem Pool. Es war ein heller, perlender Laut, der ihm einen Schauer über den Rücken schickte. Einen angenehmen Schauer. „Te estaba esperando“, wisperte die Frau und ihr Tonfall war leicht und verführerisch. „Ven acá!“ Er verstand die Worte nicht, aber ihr Sinn hatte wohl doch irgendwie einen Weg in sein Gehirn gefunden. Ohne sein Zutun, fingen seine Füße an, sich auf die Unbekannte zu zu bewegen. Sein Blick klebte an dem Körper, der unter der Wasseroberfläche entlangstrich. Die Frau gluckste amüsiert und schwamm ein Stück auf die andere Seite des Pools, wo sie sich mit den Armen auf den Rand stützte und sich aus dem Wasser hob. Jetzt konnte er erkennen, dass sie tatsächlich noch ein dünnes, weißes Leibchen trug, das jedoch in seinem Zustand mehr enthüllte als es verdeckte. Michael fühlte, wie er schluckte. „Sie … Sie müssen wirklich gehen“, versuchte er es noch einmal, aber seine Stimme war auffallend dünn. Wie unter Zwang setzte er einen Schritt vor den anderen. „Ven acá“, wiederholte die Frau und Michael leistete ihrer Bitte nur zu gerne Folge. Er wollte sie berühren, ihre wundervolle, weiße Haut, die Brüste, die sich rund und voll gegen die Dunkelheit abzeichneten, den wohlgeformten Hintern, der fast so perfekt war die der von seiner Frau … Gabriella! Nur eine Armeslänge von der geheimnisvollen Schönheit entfernt blieb Michael wie angewurzelt stehen. Was tat er hier? Diese Frau war eine Einbrecherin, auch wenn sie fast nackt war. Entschlossen packte er den Kerzenleuchter fester. „Sie werden jetzt sofort von hier verschwinden, sonst ...“ Erneut vernahm er ein Lachen, doch dieses Mal überlief ihn bei dem Geräusch ein kalter Schauer. Es klang wie ein heiseres Gurgeln. Noch bevor er darauf reagieren konnte, hatte die Gestalt sich zu ihm herum gedreht und Michael wich entsetzt zurück. Dort, wo ein hübsches Gesicht hätte sitzen sollen, glotzte Michael die deformierte Schnauze eines toten Pferdes entgegen. Sie war übersät mit Narben, das Fleisch blutig und eingerissen. Quer über die Blesse zog sich eine eiternde Wunde und aus dem borkenbesetzten Maul ragten schwarze, abgebrochene Zähne hervor. Grünlicher Speichel tropfte von der wulstigen Unterlippe und die Augen leuchteten unter einem unheimlichen grauen Feuer.   Mit einem Laut des Entsetzens stolperte Michael rückwärts. Das Wesen wieherte auf und setzte ihm nach. Es griff nach Michael und die monströse Schnauze schnappte mit den verrottenden Zähne nach ihm. Er entging einem Biss nur mit Mühe und wurde sich endlich des Kerzenleuchters wieder bewusst. Er holte aus und schlug damit nach dem Pferdewesen. Es wich aus und sprang ihn im nächsten Augenblick an. Die Waffe wurde aus seiner Hand geprellt und flog in hohem Bogen davon, bevor sie sich ein ganzes Stück entfernt in den aufgeweichten Rasen grub. Michael wurde zu Boden geworfen und dann war die Kreatur über ihm. Spitze Fingernägel bohrten sich in seine Haut und ein Gewicht drückte seine Brust zusammen. Stinkender Atem rollte über ihn hinweg und ließen ihn würgen. Er wollte schreien, aber er konnte nicht. Wieder kamen die Zähne des Wesens mit unglaublicher Geschwindigkeit näher. Dieses Mal zielten sie auf seine Kehle. In seiner Not griff Michael mit bloßen Händen zu und versuchte, die geifernde Schnauze von sich wegzudrücken. Seine Finger bohrten sich in das viel zu weiche Fleisch. Er fühlte, wie es unter seinem Griff nachgab. Matschige Fasern und schleimige Flüssigkeit klebten an seinen Händen, während der jetzt halb knöcherne Schädel immer noch versuchte, ihm die Gurgel zu zerbeißen. Schon spürte er, wie seine Hände von den glatten Knochen abglitten, die Zähne sich unaufhaltsam seinem Hals näherten. „Nein!“ Der Schrei schien von weit weg zukommen. Michael sah kaum, wie sich ihnen jemand näherte. „Angelo, komm zurück!“ Das war Gabriella! Er musste sie warnen, musste dieses Wesen von ihr fernhalten. Er musste ...   Plötzlich wurde das Gewicht von ihm herunter gestoßen. Der Druck auf seiner Brust wich und Michael konnte endlich wieder frei atmen. Hustend und würgend kam er auf die Knie und sah, wie sich Angelo dem Wesen in den Weg stellte. In seiner Hand hielt er den silbernen Kerzenleuchter. Die Pferdefrau wieherte noch einmal schrill, bevor sie plötzlich ihre menschliche Stimme wiederfand. Das liebliche Säuseln wirkte bizarr anhand der blutigen Schnauze, aus der es hervordrang. „Que bonito eres", gurrte das Wesen und kicherte mädchenhaft. Lasziv strich es sich über die Brüste und machte einen Schritt auf Angelo zu. „Quieres divertirte conmigo?“ „Lárgate!“, bellte Angelo und hob drohend den Kerzenleuchter. Die Pferdefrau kam näher. Sie schnalzte mit der Zunge und warf die Haare in den Nacken. Es war ein groteskes Bild. „Angelo, pass auf!“ Michael wollte aufspringen, aber das Pferdewesen war schneller. Es bleckte die schwarzen Zähne und duckte sich. Mit einem Satz war es an Angelo vorbei und steuerte wieder auf Michael zu. Der riss die Arme hoch und im nächsten Moment blendete ihn ein grelles Licht ein. Er hörte die Pferdefrau aufwiehern und etwas schlug schwer auf dem Boden auf. Ein hoher Klagelaut gellte durch die Nacht und ließ Michael die Hände auf die Ohren pressen. Es klang wie ein Pferd, dem man bei lebendigem Leib die Eingeweide rausriss. Als er hinsah, hielt sie sich den Oberschenkel. Unter ihren Fingern quoll grünliches Blut hervor. Michaels Blick raste zu Angelo, der in eine Aura aus weißem Licht getaucht war. Statt des Kerzenleuchters hielt er auf einmal ein Schwert in der Hand. „Lárgate!“, schrie Angelo noch einmal und hob drohend die Waffe, als wolle er dem Wesen im nächsten Moment den hässlichen Kopf vom Rumpf schlagen. „Lárgate y que jamás vuelvas!“ Die Pferdefrau heulte und spuckte, aber als Angelo einen Schritt auf sie zumachte, kroch sie schleunigst rückwärts. In den toten Augen schien plötzlich Angst zu stehen. „Te lo vas a arrepentir!“, jaulte sie, bevor sie sich aufrappelte und hinkend und stolpernd in der Dunkelheit verschwand.   Sie war kaum außer Sicht, als Angelo zu schwanken begann. Das Licht um ihn herum verlosch mit einem Flackern und das Schwert entglitt seiner Hand. Im nächsten Moment gaben seine Knie unter ihm nach. Michael kam gerade noch rechtzeitig, bevor er mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. „Angelo“, keuchte er und drehte den Jungen herum. Dessen Gesicht war leichenblass und schweißüberströmt. Sein Puls raste und seine Augen waren weit aufgerissen. „Oh Gott, Michael, was ist hier passiert?“ Gabriella stand wie aus dem Nichts neben ihm und griff nach Angelos Stirn. Er zuckte zusammen und wand sich in Michaels Arm. „Schnell“, sagte sie mit fester Stimme „Wir müssen ihn reinbringen, bevor dieses … Ding zurückkommt.“ Michael überlegte nicht lange. Er hob Angelo auf seine Arme und trug ihn, so schnell es ging, zum Haus. Dort legte er ihn auf das Sofa und ließ sich daneben auf die Knie sinken. In seinem Kopf drehte sich alles und er hatte das Gefühl, den Gestank der Pferdefrau immer noch in der Nase zu haben. „Angelo“, rief er. „Angelo hörst du mich?“ Gabriella kam mit einem Glas Orangensaft aus der Küche und drängte sich neben Michael. „Hilf mir, ihn in eine aufrechte Position zu bringen. Er muss das hier trinken.“ Michael tat, was sie verlangt hatte. Er legte den Arm in Angelos Nacken und zog ihn hoch. Im nächsten Moment presste Gabriella das Glas gegen Angelos Lippen. Er bäumte sich auf und warf den Kopf zur Seite. Der Inhalt des Glases schwappte zum Teil heraus und befleckte sein T-Shirt. „Ach verdammt“, fluchte Gabriella und schien fieberhaft zu überlegen. Sie sah Michael an. „Los, halt ihn fest.“ „Was?“ „Mach endlich.“ Widerwillig gehorchte Michael. Er spürte, wie Angelo sich aus Leibeskräften wehrte, während er seine Arme und Beine fixierte und Gabriella beruhigend auf ihn einredete. Erst, als die ersten Tropfen des Saftes irgendwie in seinen Mund geraten waren, erlahmte seine Gegenwehr plötzlich. Im nächsten Moment begann Angelo gierig zu trinken. Nach ein paar Zügen lehnte er sich in Michaels Arm zurück. Er atmete flach und hatte die Augen geschlossen. Michael konnte spüren, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb hämmerte. Unwillkürlich drückte er ihn ein wenig an sich und legte seinen Kopf gegen die verschwitzten, blonden Locken.   „Okay, das sollte reichen.“ Gabriella ließ das Glas sinken und stellte es sehr sorgfältig auf den Tisch. Als sie sich wieder umdrehte suchte sie Michaels Blick. Er saß mit Angelo im Arm da und starrte zurück. Niemand sagte ein Wort. „Was … was war das?“, brachte Michael nach einer schieren Ewigkeit heraus. „Unterzuckerung“, antwortete Gabriella. „Ich hab das schon mal während einer Führung erlebt.“ Er schüttelte den Kopf. „Du weißt, was ich meine." Sie sah ihn an und er bemerkte, dass sie immer noch ihr Nachthemd trug. Hatte sie geschlafen? Wo war sie gewesen? „Wir müssen …“ Er verstummte. Er hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun mussten. Er war von etwas angegriffen worden, dass es eigentlich nicht geben konnte. In ihrem eigenen Haus. Garten. Und Angelo, er hatte … Michaels Kopf weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Plötzlich erhob Gabriella sich. Er sah, wie sie zur Terrassentür ging, die sie in der Eile offen gelassen hatten. Doch statt sie zu schließen, machte sie Anstalten, in den Garten zu gehen. „Gabriella! Nicht!“ Plötzlich war die Panik wieder da. Das Grauen. Er wollte aufspringen, aber sie hob die Hand. „Ich bin gleich wieder da.“ Kraftlos ließ sich Michael zurück auf das Sofa sinken. Angelos Körper lag schwer in seinen Armen. Er zog ihn an sich.   Die Augenblicke dehnten sich zu Ewigkeiten. Michael konnte nicht viel mehr tun, als die dunkle Glasscheibe zu fixieren und darauf zu warten, dass Gabriella zurückkam. Endlich schälte ihre Gestalt sich aus der Dunkelheit. Michael atmete auf. Seine Frau trat durch die Tür und schob sie zu. Als sie sich umdrehte, sah er das Schwert in ihrer Hand. Sie kam zur Couch zurück und legte es auf den Tisch, bevor sie sich ihm gegenüber setzte. Da lag die Waffe jetzt neben dem leeren Glas und schimmerte silbrig im Licht der Deckenbeleuchtung. Michael hatte keine Ahnung von Schwertern. Das Ding sah aus, als wäre es aus irgendeinem Mittelalterfilm und war etwas länger als sein Arm. Am geriffelten Griff, der für mehr als eine Hand Platz bot, saß eine leicht geschwungene Querstange, in deren Mitte ein blassblauer Stein eingelassen war. Um die Einfassung rankten sich goldene Ornamente. Die Klinge wurde im unteren Drittel ein wenig breiter, bevor sie sich zum Ende hin wieder verjüngte und in einer scharfen Spitze endete. An der Schneide klebte noch das grüne Blut der Alptraumkreatur. „Das war mal ein Kerzenleuchter“, sagte Michael und konnte den Blick nicht davon abwenden. Gabriella starrte ebenfalls darauf, doch im Gegensatz zu Michael, dessen Kopf wie leergefegt war, schien es hinter ihrer Stirn zu arbeiten. „Ich gehe packen“, verkündete sie plötzlich und stand auf. „Was?“ Michael blinzelte überrascht. Hatte er sich gerade verhört? „Wir müssen hier weg“ , erklärte seine Frau und wirkte auf einmal als wisse sie, was sie tue. „Wir brauchen Kleidung, Bargeld, etwas zu essen. Wir nehmen mein Auto, das ist schneller und vollgetankt." Michael sah sie an wie eine Erscheinung. „Und wo willst du hin?“ „Keine Ahnung“, antwortete sie und wirkte dabei nicht minder entschlossen. „Aber hier können wir nicht bleiben. Was auch immer da draußen war, es wird zurückkommen. Das oder andere Dinge, die ich mir gar nicht ausmalen will. Außerdem steht hier morgen früh das FBI auf der Matte und ich habe nicht vor, ihnen zu erklären, warum unser Rasen voller Kampfspuren und Monsterblut ist. Ganz abgesehen hier von.“ Sie deutete auf das Schwert. „Aber Angelo …“ Er kam nicht weiter. „Angelo ist zu dir gekommen, Michael, damit du ihn beschützt. Vor dem da oder vor anderem. Er hat es mir selbst gesagt. Es war kein Zufall, dass ihr euch getroffen habt. Er hat dich gesucht.“ „Damit ich ihn beschütze?“ Michael konnte es immer noch nicht glauben. Wenn er sich richtig erinnerte, war Angelo derjenige gewesen, der ihm gerade das Leben gerettet hatte. „Ja, genau.“ Gabriellas Gesicht wurde weicher. „Denn das ist es, was du tust. Du beschützt Leute. Er braucht dich. Ich weiß nicht, warum ich mir dessen so sicher bin, aber für mich besteht kein Zweifel daran. Nenn es weibliche Intuition, wenn du willst. Ich denke, Angelo hat eine Aufgabe und er braucht unsere Hilfe, damit er sie bewältigen kann. Also werde ich jetzt nach oben gehen, eine Tasche packen und dann verschwinden wir von hier.“ Sie verzog den Mund noch einmal zu einem schmalen Lächeln, bevor sie die Treppe hinauf ging. Michael blieb mit Angelo zurück und versuchte zu begreifen, was seine Frau ihm gerade gesagt hatte. Angelo hatte ihn gesucht? All das sollte kein Zufall gewesen sein? Sein Kopf schwirrte durch die pure Möglichkeit, dass das tatsächlich stimmte. Andererseits war das auch nicht weniger wahrscheinlich als mitten in der Nacht von einer Frau mit einem Pferdekopf angegriffen zu werden. Oder Kerzenleuchter, die sich plötzlich in Schwerter verwandelten.   Angelo bewegte sich in seinem Arm. „Michael?“ Seine Stimme war ein heiseres Krächzen. „Ja, ich bin da““, versicherte Michael ihm und verstärkte seinen Griff um den schmalen Körper. „Ich bin da und passe auf dich auf.“ Er spürte, wie Angelo lächelte. „Danke“, flüsterte er, bevor sein Kopf wieder gegen Michaels Schulter sank. Der sah auf ihn herab und fühlte seine Brust anschwellen. Er konnte nicht sagen, dass ihm irgendwas von dem gefiel, was ihm heute Nacht passiert war. Aber die Tatsache, das Angelo bei ihm bleiben würde, war gut. Er spürte es tief in sich drin. „Ich hätte dich nie allein lassen sollen“, wisperte er und küsste Angelos Stirn. „Verzeih mir.“ Angelo antwortete nicht. Er war bereits eingeschlafen.   Als Gabriella die Treppe hinunter kam, trug sie zwei große Taschen und außerdem noch Michaels Kleidung auf dem Arm. Er beeilte sich, Angelo auf dem Sofa abzulegen, bevor er aufsprang, um ihr zu helfen. Schnell schlüpfte er in seine Hosen und brachte anschließend die Sachen zum Auto. Es war gut, etwas tun zu können. Draußen begannen bereits trotz der anhaltenden Dunkelheit die ersten Vögel zu singen. Er nahm Gabriella die dritte Tasche ab, in der sie eilig einige Vorräte zusammengeworfen hatte, und stellte sie hinter den Fahrersitz. Als nächstes ging er Angelo holen und legte ihn auf die Rückbank. Das längliche Paket, um das Gabriella eine Decke gewickelt hatte, schob er ganz unten in den Kofferraum. Als er sich hinter das Steuer setzen wollte, hielt seine Frau ihn auf. „Du gehst nach hinten zu Angelo. Ich will, dass jemand bei ihm ist, wenn er aufwacht.“ Michael zögerte einen Augenblick, bevor er die Autotür losließ und sich neben Angelo auf den Sitz glitt. Er bettete den Kopf des Jungen auf seinem Schoß, während Gabriella bereits den Motor anließ. Als sie aus der Einfahrt fuhren, sah er noch einmal zum Haus zurück. Auf einmal erschien es ihm seltsam fremd. Fast so, als würde jemand anderes hier wohnen. Vielleicht stimmt das ja auch, dachte er und versuchte das Gefühl zu ignorieren, dass dabei in seinem Magen entstand. Das hier machte ihm Angst und gleichzeitig hatte sich nie etwas richtiger angefühlt. Er atmete tief durch, bevor er seine Augen nach vorn richtete. Gabriella warf ihm im Rückspiegel einen Blick zu und ihr schien es ähnlich zu gehen. „Wir schaffen das“, sagte sie und er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er konnte nur hoffen, dass sie recht hatte.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)