Angelo von Maginisha ================================================================================ Kapitel 6: Kleine Funken ------------------------ Michael erwachte früh am nächsten Tag. Die Morgendämmerung war kaum heraufgezogen und eigentlich wollte er sich gerade noch einmal umdrehen, als er ein Geräusch hörte. Mit einem Mal war er hellwach. Gabriella lag noch neben ihm in tiefem Schlummer, aber es gab ja noch jemanden im Haus. Jemanden, der offensichtlich bereits wach war. Leise erhob Michael sich und ging zur Tür. Dort angekommen stutzte er kurz. Hatte er die gestern Abend offengelassen? Er erinnerte sich nicht. Mit einem Kopfschütteln tat er die Überlegung ab und trat in den Flur. Er warf einen Blick in Angelos Zimmer, aber das Bett war leer. Auch im Bad war niemand und so nahm er die Treppe nach unten ins Wohnzimmer. Schon während er die Stufen hinabstieg, konnte er Angelo sehen. Der Junge saß draußen auf der Terrasse auf dem Boden, die Füße an den Körper gezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Als Michael die Tür weiter aufschob, reagierte er nicht. „Hey“, rief Michael leise. „Du bist aber früh wach.“ Langsam erhob Angelo den Blick. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. „Was ist los? Du siehst furchtbar aus.“ Angelo wandte sich wieder dem Garten zu. Tautropfen benetzten die Rasenfläche. „Ich konnte nicht schlafen.“ „Warum nicht?“ Michael erhielt keine Antwort außer einem leichten Schulterzucken. Er seufzte lautlos. Das hier war schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte. Michael ging zu Angelo und hockte sich neben ihn. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte ihn leicht am Arm. Als der Junge nicht reagierte, legte er die ganze Hand darauf. Die Haut war eiskalt. „Wie lange sitzt du schon hier?“ Wieder keine Antwort. Michael befühlte seine Beine und die Füße. Auch sie waren viel zu kühl. „Du musst reinkommen, sonst wirst du dich erkälten.“ Als Angelo immer noch nicht reagierte, wurde es Michael zu bunt. „Also entweder du stehst jetzt freiwillig auf oder ich packe dich und trage dich rein. Du hast die Wahl. Hier lasse ich dich auf jeden Fall nicht sitzen.“ Angelo sah zu ihm auf. Michael konnte sehen, dass er mit sich rang. Es machte ihn rasend. Warum tat Angelo das? Warum kam er nicht einfach mit ins Haus. Warum sagte er nicht, was ihn bedrückte? Weil du es ihm verboten hast, flüsterte eine kleine Stimme in seinem Kopf. Plötzlich ergab die geöffnete Schlafzimmertür einen Sinn, die Ringe unter Angelos Augen, die Tatsache, dass er hier saß, statt es sich drinnen bequem zu machen. Der Junge hatte so verzweifelt versucht, alles richtig zu machen. Aber es war nicht genug gewesen. Er hatte nicht bekommen, was er gewollt hatte. Auch der Abend, der Michael so wunderbar vorgekommen war, musste für ihn sehr anstrengend gewesen sein. Er und Gabriella waren eine Einheit und Angelo … er war allein gewesen. Natürlich hatte Michael sich wegen Gabriella dazu verpflichtet gefühlt, sich so zu verhalten. Er hatte es genossen, dass seine Frau ihn nach wie vor in ihre Nähe ließ. Das alles beim Alten geblieben war. Aber er hatte nicht darüber nachgedacht, wie das für Angelo war. Er war ihm ausgewichen, aus Angst seine Frau vor den Kopf zu stoßen und hatte dabei Angelo verletzt. Als ihm das bewusst wurde, hätte er sich am liebsten selbst geohrfeigt. Aber davon wäre es auch nicht besser geworden. Er musste sich jetzt um Angelo kümmern. „Komm“, sagte er bewusst sanfter als zuvor. „Wir gehen rein und …“ Er hob die Schultern und sah Angelo bittend an. Der musterte ihn für einen Augenblick, bevor er die ausgestreckte Hand ergriff und sich hochziehen ließ. Gemeinsam gingen sie nach drinnen, wo Michael eine Decke von der Sofalehne nahm und Angelo in eine Ecke der Couch bugsierte. Er setzte sich dicht neben ihn, legte sich seine Beine über den Schoß und wickelte ihn in die Decke ein. Anschließend legte er den Arm um Angelo und drückte ihn an sich. „So. Und so bleiben wir jetzt, bis dir wieder warm ist.“ Er merkte, dass Angelo immer noch angespannt war. Fast so, als würde er dem Frieden nicht trauen. Michael seufzte. „Hey, es tut mir leid, okay? Ich dachte, es läuft gut. Ich … ich habe nicht gemerkt, dass es gestern Abend für dich so schwer war.“ Angelo zögerte noch einen Augenblick, bevor er seinen Kopf gegen Michaels Schultern lehnte. „Das war es nicht. Es war … schön. Ich mag deine Frau. Aber …“ Er sprach nicht weiter. „Aber was? Komm schon, Angelo. Wenn das hier funktionieren soll, musst du mit mir reden.“ Er spürte, wie Angelo unter der Decke kleine Kreise mit dem Zeigefinger auf seine Brust malte. „Ich … ich habe euch gehört, als ihr … euch vereint habt.“ Michael durchfuhr es siedend heiß. Das hatte Angelo mitbekommen? Für ihn war das nur natürlich gewesen, dass er mit Gabriella schlief. Das taten sie immer, wenn er von einer Reise zurückkam. Aber das Angelo sie gehört hatte, war ihm unangenehmer, als er angenommen hatte. Er leckte sich über die Lippen. „Und … wie war das für dich?“ Angelo drängte sich noch ein wenig enger an ihn. Seine Stimme war fast nicht zu hören, als er antwortete. „Es hat wehgetan. Tief drin. Ich war …“ „Eifersüchtig?“ „Ja.“ Er zögerte, bevor er leise hinzufügte: „Ich wäre gerne dabei gewesen.“ „Dabei gewesen?“ Michael lachte auf. „Was redest du denn da?“ Angelo antwortete nicht, sondern fuhr nur fort, Kreise auf Michael zu malen. Nach einer Weile hob er den Kopf und sah ihn an. „Bist du böse?“ Anscheinend meinte Angelo das doch ernster, als er angenommen hatte. Michael überlegte. Natürlich war er nicht böse. Er war … überrascht. Bisher waren die Grenzen klar definiert gewesen. Es hatte seine Frau auf der einen und seine Ausflüge nach Las Vegas auf der anderen Seite gegeben. Doch jetzt waren diese Grenzen verwischt. Er selbst war derjenige gewesen, der die Regeln geändert hatte, ohne auch nur eine der anderen Parteien vorher zu fragen, was sie davon hielt. Durfte er sich da beschweren, wenn diese es genauso handhabten? Ihm wurde bewusst, dass Angelo ihn immer noch ansah. Er legte ein Lächeln auf. „Ich bin nicht böse. Aber du bist müde und frierst. Wärm dich erst mal auf und wir sehen später weiter.“ „Ist gut, Michael.“ Angelo legte seinen Kopf wieder auf seine Schulter und rückte noch ein wenig näher. Michael strich ihm langsam mit der Hand über die Beine, während er sich gegen ihn lehnte und ebenfalls die Augen schloss. Es fühlte sich gut an, so dazuliegen. Irgendwie vertraut.     Er musste eingedöst sein, denn als er das nächste Mal die Augen öffnete, stand Gabriella am Absatz der Treppe. Sie trug den knielangen Morgenmantel aus dunkelroter Seide, den er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, und musterte ihn mit unergründlicher Miene. Michael warf einen Blick auf Angelo. Offenbar war der Junge eingeschlafen. Er lächelte seine Frau ein wenig schief an. „Hey, Baby. Ich wollte dich nicht wecken.“ „Das hast du nicht.“ Gabriellas Stimme war schwer zu deuten. Er atmete tief durch. „Magst du herkommen?“ Es war eine Einladung. Er wollte keine Mauern errichten und die Grenzen nicht neu ziehen, ohne Gabriella zu fragen, wo sie sie haben wollte. „Ich störe nicht?“ „Was? Nein! Nein natürlich nicht. Komm her.“ Gabriella kam tatsächlich zu ihm herüber und setzte sich auf das gegenüberliegende Sofa. Michael seufzte. Er kam sich vor wie bei einem Drahtseilakt, bei dem er unweigerlich versagen würde. „Ich hab gemeint, dass du zu mir kommen sollst.“ Jetzt war es an Gabriella zu seufzen. „Und wo soll ich sitzen? Bei euch ist kein Platz für mich.“ Michael überlegte. Es stimmte schon. Wenn sie sich neben ihn setzte, würde sie sich unweigerlich mit Angelo ins Gehege kommen. Trotzdem ließ ihn der Gedanke nicht so recht los. Sie könnte vielleicht neben ihm sitzen auf der anderen Seite und … Ach es war zu verrückt. Er lächelte entschuldigend. „Du hast recht. Tut mir leid. Ich … es war nur … Ich hab nur laut gedacht.“ Er sah auf Angelo herab. „Und was mache ich jetzt mit ihm? Ich würde gerne mit dir frühstücken, aber ich denke, Angelo sollte noch ein wenig schlafen. Er sah gar nicht gut aus, als ich ihn heute Morgen gefunden habe. Hatte wohl eine ziemlich unruhige Nacht. Aber wenn ich ihn jetzt in sein Bett bringe, wird er wach werden.“ Michael wusste nicht, warum er das gesagt hatte. Er kam sich feige vor, dass er sich so vor einer Entscheidung drückte. Aber gleichzeitig war Gabriella die Einzige, mit der er darüber reden konnte. Mit der er darüber reden sollte, abgesehen von Angelo vielleicht. Gabriella schien zu überlegen. „Dann bring ihn doch in unser Bett. Vielleicht schläft er da besser.“ Michael sah seine Frau erstaunt an. Hatte sie das jetzt gerade tatsächlich vorgeschlagen? Sie schmunzelte. „Na man sagt doch, dass Welpen besser schlafen, wenn sie einen vertrauten Geruch in der Nase haben. Vielleicht funktioniert das ja auch mit diesem kleinen Streuner.“ Michael fühlte eine vertraute Wärme in sich aufsteigen. Das war sie, seine Frau. Die schönste und großherzigste Frau, die er kannte. Die immer zu ihm stand, egal was er tat. Er liebte sie so sehr. „Okay, ich versuch's. Und wenn er aufwacht?“ „Dann frühstücken wir eben zu dritt.“ Gabriella zeigte ein tapferes Lächeln. Angelo hatte wirklich recht. Seine Frau war eine Piratin. „Bis gleich“, hauchte er und griff unter Angelos Beine, um ihn hochzuheben und nach oben zu bringen.   Im Schlafzimmer schob er zunächst die Decke mit dem Fuß zur Seite, bevor er den Jungen sanft auf seiner Seite des Bettes ablegte. Angelo bewegte sich leicht und seine Augenlider begannen zu flattern. „Sch“, machte Michael und legte sich schnell neben ihn, bevor er aufwachen konnte. Er streichelte langsam über Angelos Rücken und küsste ihn auf die Stirn. „Ich bin ja da. Du kannst ruhig weiterschlafen.“ „Michael“, murmelte Angelo. Er öffnete die Augen einen Spalt breit und lächelte, bevor er sie wieder schloss und sich enger an Michael kuschelte. Der betrachtete ihn und fühlte, wie erneut ein warmes Gefühl in seiner Brust entstand. „Was machst du nur mit mir“, flüsterte er und hätte ihn am liebsten geküsst und mehr. Aber jetzt und hier war weder die Zeit und der Ort dafür. Also drückte er nur noch einmal kurz seine Lippen auf Angelos blonden Schopf, bevor er sich, möglichst ohne allzu viele Erschütterungen zu verursachen, erhob, vorsichtig die Decke über den Jungen ausbreitete und leise zur Tür hinausschlich. Er lehnte sie lediglich an und ging dann die Treppe hinunter.   Gabriella stand in der Küche und war dabei, das Frühstück vorzubereiten. Er trat hinter sie und legte die Arme um sie. „Guten Morgen. Noch einmal.“ Sie ließ sich rückwärts in seine Umarmung sinken. „Schläft er?“, fragte sie und fuhr fort, das Obst kleinzuschneiden, das er gestern eingekauft hatte. „Ja, wie ein Baby. Dein Trick hat funktioniert.“ „Fein.“ Sie sah ihn über die Schulter hinweg an. „Was möchtest du essen? Ich könnte dir ein Omelette machen?“ „Nein danke, ich nehme nur Toast. Hab irgendwie keinen Hunger.“ Sie lächelte ein bisschen verschmitzt und drehte sich zu ihm herum. „Ach, keinen Hunger? So so. Ich glaube, das hatten wir schon mal.“ Er blinzelte überrascht. „Was meinst du?“ „Na, ich erinnere mich an einen Kerl, der bei unserem ersten Date keine drei Bissen herunterbrachte, weil er so nervös war.“ Michael lachte. „Natürlich war ich nervös. Ich hatte eine superheiße Braut aufgegabelt, die noch dazu vier Jahre älter war als ich. Wer wäre da nicht nervös gewesen?“ „Aufgegabelt? Das habe ich irgendwie anders in Erinnerung.“ Sie schenkte ihm einen prüfenden Blick. „Und jetzt? Warum bist du jetzt nervös?“ Er seufzte. „Das weißt du doch genau.“ „Ja, aber ich will es von dir hören.“ Er seufzte noch einmal. „Weil du recht hattest. Weil das mit Angelo irgendwie … anders ist als bisher. Weil ich Angst habe, einem von euch wehzutun. Weil … weil ihr beide wichtig seid.“ Gabriella sah ihn einen Augenblick lang an, bevor sie nickte. „Ich hatte gehofft, dass du das sagst.“ „Was?“ „Hättest du mir jetzt beteuert, dass du nur mich liebst und Angelo nur ein Spielzeug für dich ist, hätte ich es nicht glauben können. Und ich hätte gefürchtet, dass du ihm umgekehrt das Gleiche erzählst.“ „Aber … wie soll das funktionieren?“ Sie atmete hörbar aus. „Das weiß ich auch nicht. Nachdem du heute morgen nicht da warst, wollte ich erst sauer sein. Es war eigenartig, dich mit ihm zu sehen. Aber dann fiel mir ein, wie es damals war. Erinnerst du dich? Bevor du mir erzählt hast, was los ist, hatten wir so gut wie keinen Sex mehr miteinander. Ich dachte, du findest mich nicht mehr attraktiv. Dass du eine andere hättest. Aber mit der Zeit habe ich verstanden, dass das nicht das Problem war. Du hast nur deine Bedürfnisse unterdrückt und damit auch das, was wir miteinander hatten. Ich denke, mit der Liebe wäre es ganz genauso. Wenn ich dich jetzt aus einem ersten Impuls heraus zwingen würde, dich für einen von uns zu entscheiden, würde am Ende niemand gewinnen und jeder wäre allein. Aber das will ich nicht. Ich will dich, Michael. Ich will, dass du glücklich bist. Und Angelo macht dich glücklich.“ Michael spürte, wie seine Augen zu stechen begannen. Das alles war so wunderbar, dass er es nicht in Worte fassen konnte. Er sah, dass auch Gabriellas Augen schimmerten. Also nahm er sie in die Arme und hielt sie ganz fest, bis er das Gefühl hatte, dass keiner von ihnen beiden gleich in Tränen ausbrechen würde. Er atmete tief durch. „Ich glaube, ich brauche jetzt einen Kaffee.“ Sie schniefte ein wenig. „Ich hatte zwar an Grappa gedacht, aber Kaffee wird es wohl tun.“ Er lachte und gemeinsam machten sie sich daran, den Frühstückstisch zu decken.     Gabriella beobachtete Michael. Er saß auf der anderen Seite des Tisches und bestrich gerade einen Toast mit Marmelade. Das allein war schon bemerkenswert, denn normalerweise bevorzugte Michael sein Frühstück herzhaft. Aber die Art und Weise, wie er es tat, war irgendwie … bezaubernd. Sie fand kein anderes Wort dafür. Es war, als hätte jemand die Zeit zwölf Jahre zurückgedreht. „Gibst du mir mal die Butter?“ Er sah auf und lächelte sie an, bevor er ihrer Bitte nachkam. Ob ihm wohl klar war, wie sehr er momentan strahlte? Es war nichts, worauf man wirklich den Finger legen konnte, aber es war unbestreitbar da. Plötzlich war sie glücklich, ein Teil davon sein zu können. Vielleicht hätte sie wütend sein sollen, aber wenn sie sah, wie gut ihm Angelo tat, konnte sie nicht anders, als sich mit ihm zu freuen. Außerdem konnte man sich schließlich nicht aussuchen, wann und in wen man sich verliebte. Wäre es so gewesen, wären sie und Michael vermutlich nie ein Paar geworden. Wie hätte sie ihm daraus also einen Strick drehen können? „Möchtest du zuerst ins Badezimmer oder soll ich?“ Michaels Frage riss sie aus ihren Überlegungen. Sie sah in ihre Tasse. „Geh du ruhig. Ich trinke noch meinen Kaffee aus.“ Er stand auf und drückte ihr noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er nach oben ging. Sie konnte hören, wie er die Dusche anstellte. Die Vorstellung, dass er sich jetzt gerade auszog, gefiel ihr irgendwie. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht überlegt, sich zu ihm zu gesellen. Plötzlich versetzte ihr dieser Gedanke einen kleinen Stich. Sich um eine weitere Person Gedanken machen zu müssen, war nicht nur angenehm. Aber sie konnte Angelo dafür nicht hassen. Er war ebenso wie sie alle irgendwie in diese Situation hineingeraten und nun würden sie das Beste daraus machen müssen.   Gabriella ließ den Frühstückstisch, wie er war. Immerhin würde Angelo auch noch etwas essen wollen, wenn er aufwachte. Sie würde sich ein paar Sachen aus dem Schlafzimmer holen und dann unten duschen. Auch hier wieder eine Einschränkung Angelo zuliebe. Normalerweise war es nicht notwendig, sich darüber Gedanken zu machen, ob sie hier im Haus unbekleidet herumlief. Aber schließlich wollte sie den Jungen ja nicht verschrecken. Als sie die Schlafzimmertür öffnete, sah sie, dass Michael die Vorhänge nicht zugezogen hatte. Die Sonnenstrahlen fielen durch die weißen Stores, die ihnen tagsüber als Sichtschutz dienten. Bei ihren Bekannten hatte diese Eigenart, die Gabriella aus ihrer Heimat mitgebracht hatte, immer wieder für Erstaunen gesorgt, aber sie konnte sich an diese nackten Fenster, wie ihre Nachbarn sie hatten, einfach nicht gewöhnen. Ihr Blick glitt von den Fenstern zum Bett. Es war nach wie vor unordentlich und entsprach weder dem italienischen noch dem amerikanischen Standard, denn es besaß zwei Decken, in die sich jeder von ihnen einwickeln konnte. Sie hatte dieses Prinzip während eines Urlaubs kennen und lieben gelernt. Jeder, der einmal versucht hatte, Michael nachts eine Decke wieder abzuringen, wäre ihrer Meinung gewesen, dass dies die einzig wahre Art zu schlafen war. Unter einer dieser Decken lag nun Angelo. Das hieß, nicht wirklich darunter. Der Junge hatte sich freigestrampelt und lag bäuchlings halb auf der Decke. Es sah aus, als würde er sie umarmen. Gabriella trat an das Bett und betrachtete ihn. Gestern waren ihr vor allem seine Augen aufgefallen, aber jetzt konnte sie ihn zum ersten Mal im Ganzen betrachten. Sie musste zugeben, dass das, was sie sah, ihr gefiel. Michael hatte einen guten Geschmack. Angelo hatte nicht nur ein hübsches Gesicht, sondern auch wundervolle Hände, einen nicht uninteressanten Körperbau und einen wirklich niedlichen Hintern. Ach du meine Güte, schoss es ihr durch den Kopf. Was denke ich denn da? Ich bin schließlich eine verheiratete Frau. Da kann ich wohl kaum … Sie unterbrach sich. Konnte sie nicht? Immerhin tat ihr Mann das andauernd. Oder nicht andauernd, aber zumindest ab und an. Sie selbst hatte allerdings noch nie den Drang verspürt, sich außerhalb ihrer Beziehung umzusehen, auch wenn Michael ihr diese Freiheit natürlich eingeräumt hatte. Der Gedanke war ihr bisher nur nie wirklich attraktiv vorgekommen. Doch wenn sie den jungen Mann auf ihrem Bett jetzt so betrachtete …   Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Angelo hatte sich bewegt und ein Wimmern von sich gegeben. Vorsichtig trat Gabriella noch einen Schritt näher. Ob er schlecht träumte? Sie versuchte, einen Blick auf sein Gesicht zu werfen, konnte aber nichts erkennen, da er es in der Decke vergraben hatte. „Angelo?“, fragte sie leise. Ob sie ihn wecken sollte? Nein, lieber erst mal sehen, was mit ihm los war. Vielleicht ging der Traum ja vorbei, ohne dass er aufwachte. Gabriella ging um das Bett herum und erklomm es von der anderen Seite. Langsam schob sie sich näher an Angelo heran, der jetzt angefangen hatte, sich stärker zu bewegen. Er krallte seine Finger in die Bettdecke, presste sich dagegen und stöhnte leise. Gabriella gefror in der Bewegung. Dieses Stöhnen war eindeutig nicht angsterfüllt gewesen, sondern … Oh Gott! Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie den Jungen an, dessen Bewegungen jetzt plötzlich sehr eindeutig waren. Die schnellen, flachen Atemzüge, das Stöhnen, die Art und Weise, mit der er seine Lenden nach unten presste. Gabriella spürte, wie sich ihr eigener Herzschlag beschleunigte und ein verräterisches Kribbeln über ihren Körper huschte. Das durfte doch nicht wahr sein. Sie … Sie musste hier schnellstens weg. Bevor er auf wachte. Bevor er … Auf einmal rollte sich Angelo auf den Rücken. Gabriella stockte der Atem. Sie wollte nicht hinsehen, aber ihr Blick wurde magisch von der Stelle angezogen, an der sich eine deutliche Ausbuchtung in Angelos Kleidung befand. Himmel, er war tatsächlich erregt. Sehr erregt. Er stöhnte erneut, seine Hüfte bäumte sich auf und dann … Es war wie ein Unfall. Sie konnte einfach nicht aufhören hinzusehen. Selbst als der feuchte Fleck auf seiner Hose größer wurde, fand sie nicht die notwendige Willenskraft, um sich endlich zu bewegen. In diesem Moment schlug er die Augen auf. Ihre Blicke trafen sich und auch wenn Angelo immer noch halb im Land der Träume weilte, so wusste Gabriella doch, dass er sie gesehen hatte. Sie konnte nicht mehr einfach so verschwinden. „Ich ...“, begann sie und wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Atem ging immer noch schnell. Angelo richtete sich auf. Als er sich hingesetzt hatte, glitt sein Blick zu seinem Schritt. Er sah Gabriella an und dann wieder nach unten. Auf seinem Gesicht stand Unverständnis. „Ich …“, begann sie erneut. Fast hätte sie gelacht. Wäre dies ein Film, wäre an dieser Stelle wohl der Satz 'Es ist nicht das, wonach es aussieht' gefallen. „Du hattest einen Traum“, sagte sie und versuchte locker zu klingen. „Kein Grund zur Beunruhigung. Das passiert manchmal.“ Er nickte langsam, dann sah er sich um. „Warum bin ich hier?“ „Ich habe Michael gesagt, er soll dich hierher bringen, damit du noch ein wenig schlafen kannst.“ Angelo schaute auf das Bett. Seine Hand glitt langsam über das weiße Laken. In seinem Blick lag etwas, das sie nicht so recht zu deuten wusste. Er wirkte fast ein wenig andächtig. „Ich habe davon geträumt“, murmelte er leise. Unter halb gesenkten Lidern sah er zu ihr auf. „Ist es unangebracht, davon zu träumen?“ „Wovon?“ Führte sie dieses Gespräch gerade tatsächlich mit dem Liebhaber ihres Mannes? „Davon in diesem Bett zu liegen.“ Gabriella wollte gerade etwas erwidern, als er hinzufügte: „Mit euch.“ „Mit … uns?“ Sie hatte die Worte gehört, aber der Sinn wollte nicht so recht in ihren Kopf vordringen. Sie wich vor ihm zurück. „Ich glaube, ich sollte gehen. Ich werde …“ „Gabriella!“ Angelo sah sie bittend an. „Falls ich etwas Falsches gesagt habe, tut es mir leid. Es ist nur so …“ Er suchte nach den passenden Worten. Sie stand vor dem Bett und drückte sich die Fingernägel in die Handflächen. Am liebsten wäre sie jetzt wieder zu ihm geklettert und hätte ihn in den Arm genommen. Stattdessen setzte sie ein Lächeln auf. „Nein, es ist okay. Du kannst ja nichts dafür, dass ich … dass wir …“ Sie brach ab, presste die Lippen aufeinander und schloss für einen Moment die Augen. Die Situation war eigenartig, aber sie würde es nicht besser machen, wenn sie jetzt panisch reagierte. Außerdem wollte sie nicht, dass Angelo ein schlechtes Gewissen hatte. Der Junge hatte nun wirklich genug durchgemacht. Und was war schon dabei? Er hatte einen feuchten Traum gehabt. In ihrem Ehebett. Kein Grund zur Beunruhigung. Sie öffnete die Augen wieder und sah, dass Angelo jetzt am Rand des Bettes saß. Er hatte ihr den Rücken zugedreht und starrte auf den Fußboden. In diesem Moment tat er ihr wirklich leid. Wahrscheinlich war ihm das Ganze sehr unangenehm und er würde wohl kaum wollen, dass Michael davon erfuhr. Also ging sie um das Bett herum und berührte ihn sanft an der Schulter. „Angelo?“ Er hob den Kopf und seine blauen Augen sahen sie an. Für einen Moment vergaß sie, was sie hatte sagen wollen. Er war so schön. Fast hätte sie ihm über die Wange gestreichelt, aber sie fing ihre Hand noch im letzten Moment ab. Tief durchatmen! „Möchtest du duschen? Ich bringe dir ein paar alte Sachen von Michael und stecke deine in die Wäsche. In Ordnung?“ Er nickte und wollte schon aufstehen, als sein Blick an ihr herabglitt. Sie wurde sich bewusst, dass der Gürtel ihres Morgenmantels sich gelockert hatte. Darunter kam das schwarze Negligee zum Vorschein, das sie in der Nacht getragen hatte. Der tiefe, spitzenbesetzte Saum entblößte einen Gutteil ihrer Brüste. Gabriella wagte nicht, sich zu bewegen und auch Angelo schien völlig gefangen von dem, was er sah. Mit leicht geöffneten Mund starrte er sie an und Gabriella konnte sehen, wie seine Augen dunkler wurden. Fast erwartete sie, dass er gleich die Hand ausstrecken würde und … Sie blinzelte und räusperte sich. „Ich glaube, du gehst jetzt besser nach unten. Ich … ich komme gleich nach und bringe dir, was du brauchst.“ Er sah auf und brauchte einige Augenblicke, bevor er reagieren konnte. „Ja, ist gut“, antwortete er und sie konnte hören, dass da etwas in seiner Stimme war. War es Bedauern? Sie lächelte ihm aufmunternd zu, bevor sie sich entschieden umdrehte und begann, im Wandschrank nach etwas passendem zu suchen. Sie spürte, wie er sie immer noch ansah. Seine Augen schienen über ihren Körper zu gleiten und sie bildete sich fast ein, die Berührung wirklich fühlen zu können. Als er endlich den Raum verließ, atmete sie erleichtert auf.   Sie hatte gerade eine alte Jeans und ein noch älteres T-Shirt ganz hinten aus dem Schrank gekramt, als plötzlich die Tür aufging und Michael hereinkam. Gabriella stieß einen kleinen Schrei aus. Ihr Herz raste und sie starrte ihren Mann aus großen Augen an. „Äh … buh?“, machte er und lachte ein wenig gekünstelt. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“ „Ja, nein, ich … ich habe nach Sachen für Angelo gesucht. Du hast mich nur erschreckt.“ Michael sah zum Bett. Ob er erkennen konnte, was sich hier abgespielt hatte? „Wo ist er?“ „Wer? „Na Angelo.“ „Ach so.“ Gabriella zwang sich ebenfalls zu einem Lachen. „Der ist unten. Er duscht. Würdest du ihm wohl das hier bringen?“ Sie hielt ihm die Kleidung hin und bekam dafür einen eigenartigen Blick. Er zögerte noch kurz, bevor er ihr die Sachen abnahm und sie auf das Bett legte. „Ich ziehe mich vielleicht vorher lieber an“, sagte er und ging betont langsam zum Kleiderschrank. Es schien fast, als würde er auf etwas warten. Als er sein Handtuch ablegte und begann, in seine Shorts zu schlüpfen, begriff sie auch endlich, worauf. Er hatte gehofft, dass sie sagen würde, dass er die Sachen gleich nach unten bringen solle. Aber sie hatte gestern gesagt, dass sie nicht wollte, dass er hier mit Angelo … Jetzt allerdings musste sie zugeben, dass die Vorstellung der beiden zusammen nicht unbedingt etwas war, dass sie abschreckte. Im Gegenteil. Sie leckte sich über die Lippen. „Vielleicht solltest du nochmal nachsehen, ob er auch wirklich ein Handtuch hat. Ich bin mir gerade nicht sicher, ob unten noch welche sind.“ Michael drehte sich halb herum und sah sie an. „Er wird vermutlich schon unter der Dusche stehen, wenn ich nach unten komme.“ Sie gab sich ahnungslos. „Ach, meinst du? Das könnte natürlich sein. Ist das denn ein Problem?“ Er blickte ein wenig unbehaglich zur Seite. „Ich weiß nicht. Es könnte eins werden. Ich meine, wenn du nicht willst, dass ich … und er …“ Gabriella atmete tief durch. „Ich glaube, ich war da etwas vorschnell. Mir hätte klar sein sollen, dass das nicht so einfach sein wird. Und ich bestimme die Regeln ja nicht allein. Wenn du also zu ihm gehen möchtest, bin ich damit einverstanden.“ „Im Ernst?“ Der Ausdruck, der auf seinem Gesicht erschien, zeigte ihr, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. „Ja, es ist mein voller Ernst. Aber bitte sieh zu, dass die Fenster geschlossen sind. Nicht dass die Nachbarn noch in Ohnmacht fallen, wenn sie davon was mitbekommen.“ Mit zwei Schritten war Michael bei ihr und hatte sie gegen den Schrank gepresst. Seine Lippen fanden ihre zu einem tiefen Kuss. „Oh, Baby“, stöhnte er und sie spürte, wie seine Hände sich unter ihren Morgenmantel schoben und ihre Brüste liebkosten. „Wenn du wüsstest, wie sehr du mich anmachst.“ Seine Hände wanderten langsam tiefer, doch sie stoppte ihn, bevor er weiter als bis zu ihrem Bauch kommen konnte. „Hattest du nicht gerade vor, jemand anderen zu beglücken?“ Er blinzelte überrascht. „Ja, ähm, also ...“ Mit einer entschlossenen Geste zog sie den Morgenmantel wieder zusammen, befreite sich aus seiner Umarmung und gab ihm noch einen Klaps auf den Po. „Na los, beeil dich, sonst ist er fertig, bevor du runterkommst.“ Er drückte ihr noch einen Kuss auf die Lippen, fast so, als könne er sich immer noch nicht trennen, bevor er in Richtung Tür lief. Als er fast dort angekommen war, rief sie ihn noch einmal zurück. Mit einem Schmunzeln deutete sie auf das Bett. „Die Sachen, Michael. Du hast sie liegenlassen. Und denk an ein Handtuch.“ „Handtuch, ja natürlich“, murmelte er, bevor er sich endgültig zur Tür hinaus trollte. Als sie hörte, wie er die Treppen hinunterging, schüttelte sie lachend den Kopf. „Er hat das Handtuch vergessen.“ Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie es ihnen noch bringen sollte. Allerdings war sie sich ziemlich sicher, dass unten tatsächlich noch ausreichend Handtücher vorhanden waren. Es wäre nur eine Ausrede gewesen. Trotzdem spielte sie noch mit dem Gedanken, als sie selbst endlich ins Bad ging und sich dort auszog, um zu duschen. Während sie unter dem warmen Wasserstrahl stand und das nach Magnolien und grünen Äpfeln riechende Duschgel auf ihrem Körper verteilte, weilten ihre Gedanken immer noch bei den beiden Männern. Was sie wohl gerade taten? Würden sie sich anfassen? Streicheln? Küssen? Vielleicht sogar … Eigentlich erwartete sie jeden Augenblick, dass die Eifersucht ihr hässliches Haupt erhob. Stattdessen fühlte sie nur unbefriedigte Neugier und noch etwas anderes. Wie von selbst glitt ihre Hand zwischen ihre Beine und fand dort weitaus mehr als nur Wasser und Seife. Mit reibenden Bewegungen wusch sie sich, bis die Spuren ihrer Erregung beseitigt waren. Ich werde mit ihnen darüber reden müssen, dachte sie noch, bevor sie das Wasser abstellte und aus der Dusche trat. Möglichst bald.         Der Schraubenzieher in Marcus’ Hand war fast so lang wie sein Unterarm. Es war kein besonders gutes Werkzeug, sondern lediglich ein billiges Utensil aus dem Baumarkt, das er sich besorgt hatte, um seine Tür zu reparieren. Er war gerade dabei, die letzte Schraube des neuen Scharniers festzuziehen, als er die Stimme hörte. „Hallo, Marcus.“ Seine Finger schlossen sich fester um den roten Plastikgriff. Der Drang, ihn dem Mann, der nur knapp zwei Meter von ihm entfernt auf der Galerie stand, in den Hals zu rammen, war für einen Moment übermächtig. Er wusste, dass er es nicht schaffen würde. Dazu waren die Reflexe seines Gegenübers zu gut. Trotzdem war die Vorstellung reizvoll. Er atmete tief durch und vollführte die letzte Drehung, bevor er aufstand und sich zu seinem Vater umdrehte. Der sah noch genauso aus, wie er ihn in Erinnerung hatte. Relativ groß, schlank, mit ebenso dunklen Haaren wie er selbst, glattrasiert, Mittelklasse-Anzug und mit dem gleichen, gutmütig herablassenden Gesichtsausdruck, den Marcus ihm so gerne aus dem Gesicht gewischt hätte. Der Mann musterte ihn für einen Moment. „Bist groß geworden.“ Marcus schnaubte. „Oh bitte, verschone mich. Ich hab dich nicht angerufen, um über alte Zeiten zu plaudern.“ „Und doch beschäftigen sie dich noch.“ Sein Gegenüber sah ihn prüfend an. „Du hast mir immer noch nicht verziehen.“ „Natürlich nicht“, brauste Marcus auf. „Du hast meine Mutter umgebracht!“ Der Mann räusperte sich. „Vielleicht sollten wir dieses Gespräch lieber nach drinnen verlagern. Darf ich reinkommen?“ Marcus Finger malträtierten den Griff des Schraubenziehers. „Bitte“, presste er zwischen den Zähnen hervor und trat von der reparierten Tür zurück. Sein Vater nickte ihm noch einmal zu, bevor er an ihm vorbei in den Flur trat. Jetzt. Jetzt hätte er es versuchen können. Der Rücken war ungeschützt und vielleicht war er schnell genug, um … „Du hattest Besuch“, sagte sein Vater und schnupperte. „Dämonen. Hast du deswegen angerufen?“ Er drehte sich so unvermittelt um, dass Marcus fast in ihn hineingerannt wäre. Für einen Augenblick konnte er ihn riechen. Diese Mischung aus Styrax und weißem Sandelholz, der allen Engeln anhaftete. Nicht, dass Marcus bisher viele von ihnen getroffen hatte. Aus gutem Grund wohlgemerkt. Meist machte er, sobald er ihre Aura bemerkte, schon auf dem Absatz kehrt und versuchte, möglichst viel Abstand zwischen sich und die Gotteskrieger zu bringen, die unerkannt auf der Erde wandelten. Die so taten, als wären sie ganz normale Menschen, und sich in das Schicksal der Welt einmischten. „Möchtest du darüber reden?“ Wieder dieser nachsichtige Blick. Er spürte, wie ihm der Schraubenzieher aus der Hand genommen wurde. „Du siehst aus, als könntest du einen Tee vertragen. Soll ich dir einen machen?“ Marcus wollte erwidern, dass er sich zum Teufel scheren sollte. Wortwörtlich. Aber er konnte es nicht. Stattdessen nickte er. Sein Vater verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln. „Du weißt, dass es ein Unfall war.“ „Du meinst, dass ich ein Unfall war.“ Ein Seufzen antwortete ihm. „Wenn du es so ausdrücken willst: Ja. Es war nie geplant, dass deine Mutter und ich … Es hätte gar nicht passieren dürfen. Du weißt, dass Engel keine Begierde dieser Art empfinden.“ Markus presste die Kiefer aufeinander und sah zu, wie sich sein Vater wie selbstverständlich in seiner Küche zu schaffen machte. „Ja, das weiß ich“, knurrte er. „Es lag an dem Sukkubus, der dich angegriffen hat. Aber warum hast du dich nicht von ihr ferngehalten, als du infiziert wurdest? Warum bist du zu ihr zurückgegangen? Du hättest einfach warten können, bis die Wirkung des Gifts dich krepieren lässt.“ „Weil ich sie geliebt habe. Und weil ich nicht wusste, dass ich der Versuchung so wenig würde widerstehen können.“ Kalte Wut stieg in Marcus auf. Er wünschte sich den Schraubenzieher zurück. „Aber warum hast du sie dann geschwängert?“, schleuderte er ihm ins Gesicht. „Du hättest wissen müssen, dass sie die Geburt nicht überlebt. Himmel, wir leben im 21. Jahrhundert. Heutzutage gibt es Verhütung, verdammt noch mal.“ Jetzt war es an seinem Vater, verlegen zu Boden zu sehen. „Du hast recht. Ich war töricht. Aber du solltest nicht fluchen.“ „Ha!“, machte Marcus und ignorierte die Tasse, die sein Vater ihm reichen wollte. „Warum denn nicht? Weil der Big Boss dann böse wird? Was will er denn machen? Mich mit einem Blitz erschlagen? Den Boden aufreißen und mich verschlingen lassen? Oder eine neue Sintflut wie die, die damals alle Nephilim von der Erde getilgt hat, weil ihr Engel wie die Heuschrecken über menschliche Frauen hergefallen seid?“ „Ach das war ein ...“ „Unfall?“ Marcus schrie jetzt. „Komm mir bloß nicht damit. Diese ganze Geschichte um die Essenz von Lilith ist doch eine einzige Ausrede. Niemand hat das Zeug je zu Gesicht bekommen. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen darüber.“ „Es gab sie“, erwiderte der Mann, der immer noch mit der Tasse in der Hand in der Türöffnung stand. „Und nicht einmal die stärksten von uns konnten sich der Wirkung entziehen. Sie hat diejenigen, die von ihr betroffen waren, in unersättliche Bestien verwandelt. Nicht wenige von ihnen haben sich nie wieder von der Wirkung erholt. Sie sind gefallen und …“ „Verschone mich damit, Vater!“ „Erik.“ Marcus blinzelte überrascht. „Was?“ „Mein Name. Du kannst mich Erik nennen. Oder Erithriel, wenn du denn darauf bestehst.“ Marcus’ Gesicht verfinsterte sich. „Warum sagst du mir das?“ „Weil du kein kleiner Junge mehr bist, der sich schreiend und um sich tretend auf den Boden wirft, nur weil er seinen Willen nicht bekommt. Du bist zu einem Mann herangewachsen, Marcus. Zu einem Mann, auf den deine Mutter sicherlich stolz wäre, wenn sie dich jetzt sehen könnte. Und ich schwöre dir, wenn ich könnte, würde ich mit Freuden mein Leben für ihres hergeben. Aber ich kann nicht. Ich darf es nicht. Du weißt, was dann passiert.“ „Ja. Du fällst und die dunkle Seite erhält einen neuen Krieger für die letzte Schlacht.“ Er schnaubte abfällig. „Obwohl ich nicht glaube, dass du eine große Bereicherung für sie wärst. Du bist kein besonders mächtiger Engel.“ Erik verzog das Gesicht. „Autsch. Aber das habe ich wohl verdient.“ Er sah sich in der verwüsteten Wohnung um. „Erzählst du mir jetzt, warum du angerufen hast? Unser letzter Kontakt ist immerhin schon eine Weile her.“ „7 Jahre“, gab Marcus zurück. Es kam ihm immer noch nicht lange genug vor. Aber sein Vater … Erik hatte recht, er konnte es sich nicht leisten, wegen seines persönlichen Grolls auf die einzige Hilfe zu verzichten, die er bekommen würde. Nicht schon wieder. „Hier waren tatsächlich Dämonen“, erklärte er und wies auf die Gestalt, die unter einem alten Bettlaken neben seinem Sofa lag. „Das da ist … war ein Balam. Eine Mischung aus Mensch und Jaguar.“ Erik nickte. „Hab von denen gehört. Unangenehm mit den Krallen und Zähnen und so.“ Er stutzte. „Hast du den etwa alleine erledigt? Ich dachte ...“ „Was? Dass ich zu schwach dazu bin? Sollte man annehmen, oder? Keine übermenschlichen Kräfte, nur ein bisschen außersinnliche Wahrnehmung und leicht beschleunigte Wundheilung. Du warst nicht eben großzügig bei der Weitergabe deiner Fähigkeiten.“ „Aber wie konntest du dann den Balam erledigen?“ „Hab ihm den Kopf weggesprengt. Scheint eine relativ effektive Methode zu sein.“ Eriks Mundwinkel zuckten. „Also ist doch alles unter Kontrolle. Du lebst, ein Dämon weniger, wo liegt also das Problem?“ „Das Problem liegt darin, dass er nicht allein war. Er wurde von einer Rotte Cadejo begleitet.“ „Diese Hunde-Dämonen? Das erklärt den Gestank. Aber warum beunruhigt dich das?“ „Weil sie aussahen wie normale Menschen.“ Erik atmete hörbar ein. Marcus bemerkte es mit grimmiger Zufriedenheit. „Und das ist noch nicht alles“, fuhr er fort. „Ich hatte mich mit Salz geschützt, aber der Anführer … Er hat den Schutzkreis einfach durchbrochen. Es war so, als wäre der Zauber vollkommen wirkungslos.“ Hinter Eriks Stirn schien es zu arbeiten. „Das sind allerdings beunruhigende Neuigkeiten. Und du bist dir ganz sicher, dass es Dämonen waren?“ „Ja, ich habe gesehen, wie er sich verwandelt hat. Aber das ist noch nicht alles.“ Marcus machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. „Sie jagen einen Engel.“ Eriks Kopf ruckte nach oben. „Was sagst du da?“ „Sie jagen einen Engel“, wiederholte Marcus. „Glaube ich zumindest. Ich … ich habe ihn gesehen. Irgendwas an ihm ist seltsam. Ich konnte keinerlei Spuren göttlicher Macht an ihm wahrnehmen. Keine Aura, kein Geruch, nichts. Und doch hat er ein riesiges Engelsschild beschworen, als ich ihn angegriffen habe.“ „Du hast ihn angegriffen? Bist du wahnsinnig? Er hätte dich töten können.“ Marcus wusste, dass Erik recht hatte. Ein Nephilim wie er wurde als Abscheulichkeit angesehen und von den Kriegern der himmlischen Heerscharen getötet, sobald sie einen entdeckten. Allein die Tatsache, dass er einfach nicht besonders talentiert und deshalb nie aufgefallen war, hatte ihm vermutlich bisher das Leben gerettet. Im direkten Kontakt mit einem Engel jedoch würde dieser sofort merken, was er vor sich hatte, und wäre verpflichtet, ihn zu liquidieren. „Du hättest mich auch töten können damals“, sagte er plötzlich. „Warum hast du es nicht getan?“ Er sah, wie Erik seinem Blick auswich. „Ich wollte es. Als ich von dir erfuhr, wollte ich es zu Ende bringen. Das Zeugnis meines Versagens tilgen. Aber ich konnte es nicht. Du warst noch so jung und du hattest … du hast ihre Augen. Ich habe es nicht übers Herz gebracht.“ „Stattdessen hast du beschlossen, dich mir zu offenbaren und mich umfassend über diese ganze Scheiße, die zwischen Himmel und Hölle abläuft, zu informieren. Wenn du das nicht getan hättest, wäre ich jetzt nicht hier mit einem toten Balam in meinem Wohnzimmer.“ Jetzt lächelte Erik wieder. „Darf ich dich daran erinnern, dass du derjenige warst, der mich damals gerufen hat. Du wolltest Antworten und Antworten hast du bekommen. Ich kann nichts dafür, dass sie dir nicht gefallen. Das ist das Problem mit euch Menschen. Ihr …“ „Wenn du jetzt irgendeinen dämlichen Spruch zum Baum der Erkenntnis machst, probiere ich aus, wie lange Engel ohne Kopf überleben.“ Sein Vater lachte auf. „Du bist wirklich ein zorniger, junger Mann, Marcus. Aber sei’s drum. Wir haben größere Probleme. Wenn du sagst, dass mit diesen Dämonen etwas nicht stimmt, werde ich dem nachgehen. Aber zunächst einmal werde ich mich um diesen verirrten Engel kümmern. Hast du eine Ahnung, wo ich ihn finden kann?“ Marcus ging zum Schreibtisch, schrieb eine Adresse auf einen Zettel und reichte sie Erik. „Die einzige Spur, die ich habe, führt hierher zu einem gewissen Michael Thompson. Er hat den Engel mitgenommen, als ich versucht habe, ihn zur Rede zu stellen.“ Erik nickte und steckte die Adresse ein. „Gut. Ich werde sehen, was ich tun kann. Mir ist zwar nicht bekannt, dass einer von uns zur Erde gesandt werden sollte, aber wenn du sagst, dass es sich um einen Engel handelt, dann glaube ich dir. Wir werden dafür sorgen, dass er wieder dorthin zurückkommt, wo er hingehört.“ Er näherte sich Marcus, der unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Das Letzte, was er wollte, war eine väterliche Umarmung oder etwas in der Art. Er hatte nichts mit diesem Mann zu schaffen und je weniger er ihn an sich heranließ, desto besser. Man sah ja, was das seiner Mutter eingebracht hatte. Erik verzog keine Miene, aber Marcus sah trotzdem, dass er enttäuscht war. Er seufzte leise. „Also gut, wie du willst.“ Sein Vater wandte sich zum Gehen, aber in der Tür blieb er noch einmal stehen. Er sah Marcus an. „Tu mir einen Gefallen, Sohn. Halte dich von diesen Dämonen fern. Ich weiß, dass du darauf brennst, dich zu rächen. Aber diese Rache wird dich mehr kosten, als du wahrhaben willst. Ich würde nur ungern irgendwann gegen dich antreten müssen.“ Marcus nickte lediglich, doch kaum, dass Erik verschwunden war, konnte er den Funken des Widerwillens spüren, den die Worte seines Vaters in ihm gesät hatten. Sicherlich, diese Dämonen waren eigenartig, aber sie waren auch verwundbar. Und wenn sein Vater zuerst diesen Engel suchte, würden die Dämonen vielleicht ungeschoren davonkommen. Das konnte er nicht zulassen. Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck ging er zum Bücherregal und suchte darin nach einem bestimmten Buch. Als er es gefunden hatte, nahm er auf dem Sofa Platz und begann zu lesen.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)