Angelo von Maginisha ================================================================================ Kapitel 3: Zwischen den Fronten ------------------------------- „So, Schluss für heute. Sag Wright, dass wir reinkommen.“ Ted Carter setzte den Blinker und fuhr in die nächste Seitenstraße, die sie zurück zum Revier bringen würde. Gehorsam griff Marcus nach dem Funkgerät. „Wagen 12 auf dem Rückweg.“ Es knisterte, bevor die dunkle Stimme des riesigen Schwarzen aus dem Lautsprecher drang. Andere mochten sich an der Bezeichnung stören, aber Jim Wright anders als „schwarz“ zu bezeichnen, wäre einfach so gewesen, als behaupte man, dass Gras nicht grün und der Himmel nicht blau sei. „Okay, bringt ihr Frühstück mit? Ich verhungere.“ „Klar, machen wir“, antwortete Marcus mit einem Seufzen. Er hatte das Schild des Donutladens schon von Weitem leuchten sehen. Carter parkte den Wagen und schnallte sich ab. „Für dich heute auch was, Reed?“ Marcus schüttelte den Kopf. „Nur Kaffee. Ich will gleich noch die Berichte fertig machen.“ Carter lächelte gutmütig. „Ich bin wirklich ein Glückspilz, dass sie mir so ein Arbeitstier als Partner verpasst haben. Also schön, einmal Kaffee ohne alles.“ Marcus nickte noch einmal und sah seinem Kollegen nach, der im Inneren des Ladens verschwand. Er bildete sich ein, den Geruch des Backwerks bis hierher riechen zu können und konnte nicht verhindern, dass ihm trotz seiner gegenteiligen Beteuerung das Wasser im Mund zusammenlief. Er liebte Süßigkeiten. Als Kind hatte er Tonnen von dem Zeug verschlungen, aber seit er herausgefunden hatte, woher diese Neigung stammte, hatte er Abstand davon genommen. Jetzt aß er nur noch Kuchen, wenn es sich nicht vermeiden ließ.   Die Tür des Donutladens öffnete sich wieder und Carter trat mit einem großen Karton auf dem Arm heraus. Als er näher kam, sah Marcus, dass er offensichtlich schon zugelangt hatte. Der Bauch unter der sandfarbenen Uniform kam nicht von ungefähr. „Du hast Puderzucker am Bart“, wies er seinen Kollegen auf die verräterischen Spuren hin, während er seinen Kaffee entgegennahm. Carter sah in den Rückspielgel und fuhr ein paar Mal mit den Fingern über den graumelierten Schnauzer. „Muss mir ja eins von den Schätzchen reservieren, sonst futtert mir Torres wieder alle weg. „Warum kaufst du nicht einfach mehr von der Sorte?“ „Weil es hier ums Prinzip geht. Ich bin der Dienstältere, also darf ich auch zuerst meinen Donut aussuchen.“ Marcus versuchte, nicht mit den Augen zu rollen. Er mochte Ted Carter, der eigentlich Theodor hieß und schon seit den Zeiten seinen Dienst in Las Vegas versah, als das Wünschen noch geholfen hatte. Er war ein anständiger Kerl, der allerdings für Marcus’ Geschmack ein paar Mal zu oft ein Auge zudrückte. Vermutlich überlebte man nicht so lange in dieser Stadt, wenn man es nicht tat. Vor allem nicht, wenn man wie Marcus mehr sah als normale Menschen. „War ne verrückte Nacht, oder?“ Carter hatte den Streifenwagen wieder in den Verkehr eingegliedert und fuhr ein wenig schneller, als eigentlich erlaubt war. Ein altes Pferd, das den Stall schon riechen konnte. „Erinnerst du dich an den Verrückten, der nicht von der Laterne herunterkommen wollte? Ich sag dir, das war ne Schau. Ne halbe Stunde hat der da oben gehangen. Oder den Kerl, den wir nördlich des Strips aufgegriffen haben? Den mit dem Jungen ohne Schuhe. Also in dessen Haut möchte ich morgen nicht stecken. Meine Elizah würde mir die Hammelbeine langziehen, wenn ich einen meiner Neffen so abstürzen lassen würde.“ Marcus lachte pflichtschuldig, wurde aber schnell wieder ernst. Der Zwischenfall, der sich am Anfang ihrer Schicht ereignet hatte, war ihm allerdings im Gedächtnis geblieben, wenngleich auch aus anderen Gründen als seinem Kollegen. Er war sich sicher, dass dieser Michael Thompson sie nach Strich und Faden belogen hatte, aber das war es nicht, was ihn stutzig gemacht hatte. Das, was ihn an der Sache beunruhigt hatte, war der unverkennbare Geruch von Dämonen gewesen, der den beiden angehaftet hatte.   Zuerst hatte Marcus gedacht, dass er es mit mindestens einem Exemplar dieser Kreaturen zu tun haben musste. Er hatte genauer hingesehen, aber keine weiteren Anzeichen entdecken können bis auf diesen penetranten Gestank nach Schwefel, verbranntem Haar und einer eigentümlichen Note, die ihn an Ziegenpisse hatte denken lassen. Bemerkenswert war jedoch, dass dieser Thompson nichts davon erwähnt hatte. Dafür gab es zwei Möglichkeiten: Entweder hatte er es nicht bemerkt, was bei der Penetranz des Gestanks eigentlich unmöglich war, da er auf einen engen, vermutlich sogar direkten körperlichen Kontakt hindeutete, oder er hatte es verschwiegen. Das wiederum warf die Frage auf, warum er das getan hatte. Hatte er etwas mit den Dienern des Bösen zu tun? Machte er mit ihnen Geschäfte? Da wäre er beileibe nicht der Erste. Und wie passte der Junge in die Geschichte hinein?   Als sie das Revier erreichten, gab es ein großes Hallo und Carter musste mehr als eine Hand beiseite schlagen, um den Karton mit den Donuts überhaupt in den improvisierten Pausenraum zu gelangen. Mit einer entschiedenen Geste stellte er die Schachtel neben die altersschwache Kaffeemaschine, die an guten Tagen die Zubereitung von etwas erlaubte, das Marcus als Zumutung zu bezeichnen pflegte. Er hob seinen Kaffeebecher und tippte sich an die Stirn. „Bin dann mal am Schreibtisch.“ Carter winkte huldvoll mit einem halben Donut. „Überarbeite dich nicht. Du weißt, dass du eigentlich bereits Feierabend hast.“ Marcus machte ein spöttisches Geräusch. „Als wenn es so was in Vegas wirklich geben würde.“ Das dröhnende Gelächter seines Kollegen begleitete ihn noch in den Gang hinaus, von dem die verschiedenen Büroräume abzweigten. Er hatte einen Platz ganz hinten in einem der Glaskästen, die von allen hier liebevoll „Affenställe“ genannt wurden. Manchmal fragte er sich, auf welcher Seite der Scheibe eigentlich die größeren Affen saßen. Routiniert ließ er auf dem Weg einen Blick zu den Annahmeschaltern gleiten. Dort draußen saßen jetzt nicht mehr viele Wartende und er wollte sich schon abwenden, um endlich die Berichte über die Einsätze der Nacht anzufertigen, als ihm plötzlich ein Geruch in die Nase stieg. Ein Geruch, den er heute Nacht schon einmal gerochen hatte. Dämonen, schoss es ihm durch den Kopf. Eigentlich nichts ungewöhnliches, das kam in Las Vegas öfter vor. Doch diese spezielle Duftnote war schon sehr charakteristisch. Vor allem, wenn man sie innerhalb so kurzer Zeit gleich zweimal roch. Marcus blieb stehen, um diejenigen, die auf der anderen Seite der dicken Panzerglasscheiben ihre Anliegen schilderten, ins Auge zu fassen. Da war eine ältere Dame, die gerade ihre gewaltige Handtasche nach irgendetwas durchforstete. Ein Mann mit einem Basecap, der sein Auto als gestohlen meldete, und ein Mann mit schwarzen Haaren, dunklem Teint und einem Goldzahn, der die Hilfsbeamtin auf Marcus’ Seite des Schalters gewinnend angrinste. „Schätzchen, ich will doch nur wissen, ob ihr wisst, wo er hingebracht wurde. Das kann doch nicht so schwierig sein herauszufinden.“ Die Hilfsbeamtin, die Marcus als Dorothy kannte, hob eine Augenbraue. „Also zunächst mal bin ich nicht Ihr Schätzchen, Sir. Und zweitens habe ich schlichtweg keine Meldung vorliegen, die zu Ihrer Beschreibung passt.“ „Aber ich habe doch genau gero... gesehen, dass er in einen Streifenwagen gestiegen ist. Irgendeiner von euch muss ihn also geschnappt haben.“ Dorothy seufzte abgrundtief. „Wann und wo war das denn?“ Der Mann mit dem Goldzahn nannte eine Adresse, die Marcus aufhorchen ließ. Das war die Gegend, in der sie diesen Michael Thompson aufgegriffen hatten. Ob der Kerl hier auch in die Sache verwickelt war? Das würde den Gestank erklären. Aber was wollte er hier? Allem Anschein nach war auch er ein Mensch, selbst wenn die Duftnote, die von ihm ausging, noch um einiges penetranter war als von den beiden anderen. „Das war heute Abend so gegen zehn, schätze ich. Könnte auch etwas später gewesen sein“, erklärte der Mann, dessen Akzent Marcus inzwischen irgendwo nach Mittelamerika eingeordnet hatte. Dorothy seufzte erneut, als säße sie auf dem Grund eines sehr, sehr tiefen Brunnens. „Sir, ich habe wirklich noch keine Meldung vorliegen. Wenn Sie uns eine Telefonnummer dalassen, können wir Sie im Fall der Fälle anrufen.“ „Was?“ Der Goldzahn verschwand zusammen mit dem Lächeln. „Das heißt, ich soll jetzt einfach rumsitzen und Däumchen drehen? Wollt ihr mich verarschen?“ Dorothy zuckte nur mit den Schultern. „Tut mir leid, Sir, so sind die Vorschriften. Einen schönen Tag noch.“ Sie drückte den Knopf, der die nächste Nummer an ihrem Display aufleuchten ließ. Ein Mann mit einem blauen Auge stand auf und kam mit hoffnungsvollem Gesicht zum Schalter. Er und Dorothy hatten allerdings ihre Rechnung ohne den Goldzahn gemacht. Der richtete sich jetzt zu seiner nicht eben stattlichen Größe auf und zischte wütend: „Irgendwer hat meinen Ángel und ich will wissen, wohin ihr ihn gebracht habt.“ Dorothy ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ich sagte doch bereits, dass wir Sie anrufen ...“ „Jetzt hör mir mal zu, du Schlampe“, fauchte der Mann wütend und entblößte dabei sein komplettes Gebiss. Er stützte sich auf den Tresen und Marcus konnte im Aufschlag seines karierten Hemdes ein Tattoo erkennen, das sich um seinen Hals wand. Es war eine Kette, deren Glieder in Flammen standen. „Wenn Sie nicht auf der Stelle gehen, werde ich Sie hinausbringen lassen, Sir“, drohte Dorothy und Marcus sah sich genötigt einzugreifen. Er wollte wissen, was hier gespielt wurde. „Gibt es Probleme?“ Er trat hinter Dorothy in die Kabine und stemmte die Hände in die Hüften. Der geifernde Mann auf der anderen Seite der Scheibe schien wenig beeindruckt. Dorothy hingegen war ihre Erleichterung anzusehen. „Officer Reed, dieser Herr möchte gerade gehen, glaube ich. Wenn Sie ihn vielleicht hinausbegleiten würden?“ „Was ist denn sein Problem?“ Marcus konnte sehen, dass ihr sein Vorgehen nicht schmeckte. Sie blätterte jedoch trotzdem gehorsam in ihren Unterlagen. „Eine Vermisstenmeldung. Ein blonder Mann, Anfang 20, ca. 1,80 m. Ist seit Anfang des Abends verschwunden. Ich habe ihm schon gesagt, dass er ...“ Marcus achtete nicht mehr auf sie. Sein Blick richtete sich auf den Mann mit dem Goldzahn. „Und in welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Vermissten?“ Der Goldzahn blinzelte verblüfft. „Verhältnis? Er ist, mein … äh … mein Neffe. Zweiten Grades. Mütterlicherseits.“ Marcus glaubte ihm kein Wort. Trotzdem war er sich sicher, dass der Mann diesen Angelo suchte. Aber er hatte ihn anders genannt. Ángel. Das spanische Wort für Engel. Das war für Marcus Geschmack ein wenig zu viel des Zufalls. Irgendetwas an der Sache stank ganz gewaltig. „Wir haben den Jungen, den Sie suchen, in Gewahrsam genommen. Er wird die Nacht in einer Zelle des Clark County Detention Center verbringen ebenso wie sein Begleiter.“ Marcus beobachtete die Reaktion des Mannes auf diese Ankündigung. Er schien außer sich, aber nicht überrascht. Allem Anschein nach wusste er von Thompson, was Marcus’ Verdacht erhärtete. „Was? Das kann doch nicht sein. Ich will meinen … äh … Neffen sofort wiederhaben.“ Marcus schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Sir, aber dem Jungen wird ein nicht unerheblicher Fall von Trunkenheit zur Last gelegt. Wir behalten ihn hier, bis er wieder ausgenüchtert ist.“ „Trunkenheit?“ Die Zunge des Goldzahns schien ihre Schwierigkeiten mit dem Wort zu haben. Er kaute es durch wie einen Kaugummi, bevor er es Marcus wieder vor die Füße spuckte. Ein Grinsen überkam sein Gesicht. „So kann man das natürlich auch nennen.“ Dorothy wollte gerade etwas sagen, aber Marcus brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Was er jetzt brauchte, war vor allem Zeit. Wenn dieser Kerl dachte, dass er den Jungen eingesperrt hatte, würde er vorerst nicht weiter nach ihm suchen. Eine Gelegenheit, die Marcus zu nutzen gedachte. „Wie meine Kollegin schon sagte, können Sie uns gerne eine Telefonnummer hinterlassen, dann rufen wir Sie an, wenn er entlassen wird.“ Der Goldzahn knurrte noch etwas Unfreundliches, bevor er Dorothy eine Nummer diktierte. „Ich brauche noch einen Namen“, sagte die und sah ihn erwartungsvoll an. Der Mann hob die Oberlippe und entblößte erneut seine Zähne. „Alejandro.“ „Und wie weiter?“ Dorothy hob abwartend den Kugelschreiber. „Nichts weiter. Wird ja wohl reichen, um mich anzurufen, oder nicht? Dazu braucht ihr ja wohl keinen Stammbaum von mir.“ Dorothy rang sich ein Lächeln ab. Partner der Gesellschaft, so lautete schließlich das Motto der Polizei in Las Vegas. Eine Farce, die sich irgendwelche oberen Etagen ausgedacht hatten, die von den wahren Zuständen auf den Straßen keine Ahnung hatten. Hier herrschte ein Krieg, bei dem die andere Seite verstärkt angefangen hatte, foul zu spielen. Marcus hatte sich daher mit voller Absicht nach Las Vegas versetzen lassen. Er wusste, dass seine speziellen Talente hier mehr gebraucht wurden als anderswo. Jetzt gerade schien er auf der richtigen Spur zu sein. Der Goldzahn erhob sich und musterte Marcus noch einmal. Für einen Augenblick stand offene Feindseligkeit in seinem Blick, bevor er sich abwandte und sich nach draußen trollte. Marcus folgte ihn mit den Augen, bis er die Meldestelle verlassen hatte, dann wirbelte er herum und ließ die immer noch reichlich verwirrte Dorothy zurück, um dem Mann zu folgen. Er musste durch einige Flure und einen langen Kellergang, bis er die Rückseite des Gebäudes erreichte. Vorsichtig öffnete er die Tür und versicherte sich, dass ihn niemand beobachtete, bevor er hinaus in die Dunkelheit des Hinterhofs schlüpfte. Hier draußen roch es nach Müll und anderen Dingen, über die sich Marcus lieber keine allzu großen Gedanken machte. Er nutzte die großen Container, um sich in ihrer Deckung bis zur Ecke zu schleichen, um dort um die Ecke zu spähen. Tatsächlich konnte er den Goldzahn entdecken, der sich im ärgerlichem Stechschritt den Bürgersteig entlang bewegte. Dabei sprach er wütend auf sein Handy ein. Marcus konnte die Worte nicht verstehen, wohl aber erkennen, dass es ganz offensichtlich um den vermissten Jungen ging. Anscheinend herrschte wirklich größeres Interesse an ihm. Vielleicht eine Entführung mit Lösegeld? Aber wer steckte dahinter? Die Mexikanische Mafia kam ihm in den Sinn. La Eme, wie sie auch genannt wurde, hatte entgegen dem, was der Name vermuten ließ, nicht viel mit den Kartellen jenseits der südlichen Staatsgrenze zu schaffen, sondern stellte vielmehr die wohl größte Organisation krimineller Machenschaften innerhalb der US-amerikanischen Gefängnismauern dar. Mitglieder wurden in der Regel mithilfe von Tattoos kenntlich gemacht. Auch der hispanische Einschlag des Mannes würde dazu passen. Allerdings war Marcus keine Bande bekannt, die eine brennende Kette als Symbol trug. Zudem lag Las Vegas nicht innerhalb ihres bevorzugten Einsatzgebiets, das sich zumeist auf Südkalifornien und große Teile von Texas erstreckte. Dazu kam noch die Sache mit dem eigenartigen Geruch. Marcus wurde das Gefühl einfach nicht los, dass hinter diesem schmierigen Kerl irgendetwas anderes stecken musste als „nur“ die Mafia.   Goldzähnchen hatte sein Gespräch inzwischen beendet und ihm war anzusehen, dass er über dessen Verlauf nicht eben glücklich war. Er fluchte und schien kurz davor, das Gerät in die Ecke zu schmeißen, bevor er sich eines Besseren besann und es einsteckte. Immerhin glaubte er ja, dass ihn morgen die Polizei darauf anrufen würde, um ihm den Jungen auszuhändigen. Marcus wollte schon aufatmen, als der Mann begann, direkt auf die Stelle zuzusteuern, an der er sich versteckt hatte. Eilig zog sich Marcus ein Stück zurück und drückte sich an die Wand hinter dem Müllcontainer. Die Schritte des Mannes kamen näher. Er ging an dem Versteck vorbei, ohne seinen Beobachter zu bemerken. Der war einerseits erleichtert, andererseits fragte er sich, was der Goldzahn hier wollte. Er konnte kaum hoffen, von dieser Seite in das Police Department hineinzukommen, denn die Tür, durch die Marcus gekommen war, ließ sich von dieser Seite nicht öffnen. Während Marcus noch überlegte, erklang plötzlich ein Jaulen, als hätte jemand einen Hund getreten. Die Schritte des Goldzahns waren verstummt, stattdessen konnte Marcus jetzt ein Hecheln hören und klackernde Laute, die langsam näher kamen. Eine Welle von Dämonengestank überrollte ihn. Es kratzte im Hals und biss in den Augen. Marcus blinzelte angestrengt, als sich ein vierfüßiger Schatten seinem Versteck näherte und mit eigenartig hoppelnden Schritten an ihm vorbeihuschte. Erst, als das Tier in das Licht der nahegelegenen Straßenlaterne trat, konnte er erkennen, um was es sich handelte. Auf den ersten Blick schien es ein ganz gewöhnlicher Straßenhund zu sein, wie es sie hier in der Gegend zu Dutzenden gab. Als Marcus genauer hinsah, konnte er jedoch die düstere Aura erkennen, die das Tier umgab. Um seinen Hals wanden sich die Glieder einer Kette, die unter einem inneren Feuer zu glühen schienen. Der Hund witterte kurz in seine Richtung und knurrte leise. Unwillkürlich hielt Marcus den Atem an und schloss die Augen. Er hörte den Hund noch einmal niesen, dann entfernten sich die merkwürdigen, klackernden Geräusche. Als sie endgültig verklungen waren, kletterte Marcus wieder aus seinem Versteck und sah sich nach dem Goldzahn um. Der Mann war verschwunden. Stattdessen führte von dem Platz, wo Marcus ihn als letztes vermutet hatte, eine schmale Fährte in Richtung Straße. Marcus ging in die Knie und musterte die Spur. Wo er eigentlich Pfotenabdrücke vermutet hatte, sah er jetzt ganz deutlich Hufspuren vor sich. „Was hat das nur zu bedeuten?“, murmelte Marcus vor sich hin. Er war sich jetzt ziemlich sicher, dass es sich bei dem Mann um eine Art Dämon handelte. Aber selbst, wenn einige dieser Kreaturen für kurze Zeit die Illusion einer menschlichen Gestalt erzeugen konnten, so hätte Marcus seine wahre Form eigentlich trotz der Verkleidung erkennen müssen. Somit war dieser Dämon entweder mächtiger, als Marcus zunächst angenommen hatte, oder etwas sehr, sehr Seltsames ging hier vor. Sollte dieser Dämon tatsächlich so stark sein, wie es momentan scheint, hat es keinen Sinn, ihm zu folgen. Allein und ohne anständige Waffen komme ich gegen ihn nicht an. Bleibt also noch die zweite Partei in diesem Spiel. Thompson und dieser eigenartige Junge. Marcus sah auf die Uhr. Es war kurz nach sechs. Am Horizont kündigte sich bereits der Sonnenaufgang mit leuchtenden Orangetönen an. Wenn er sich jetzt noch umzog und sein Auto holte, das in einer nahegelegenen Tiefgarage stand, würde er mindestens eine weitere, halbe Stunde verlieren. In der gleichen Zeit konnte er zu Fuß am Hotel sein. Zwar ging in der Regel in Las Vegas niemand zu Fuß, wenn es sich vermeiden ließ, aber in diesem Fall beschloss Marcus eine Ausnahme zu machen. Solange er die Uniform noch anhatte, würde ihm schon niemand einen Strafzettel wegen unerlaubten Überquerens einer Fahrbahn verpassen.           Michael erwachte von einem Knistern. Er blinzelte und brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, wo er war. Ach ja, das Hotelzimmer in Vegas … der gestrige Abend. Er schloss die Augen wieder und atmete tief durch, als erneut dieses Geräusch erklang. Es klang wie … Er richtete sich auf. Sein Blick irrte durch das Zimmer und blieb an der Gestalt hängen, die auf dem Boden saß, nackt wie Gott sie geschaffen hatte, und seinen Musterkoffer ausräumte. Als Angelo bemerkte, dass er beobachtet wurde, hob er den Kopf. Mit großen, blauen Augen sah er zu Michael auf, während er kaute. Er schluckte und wartete kurz, bevor er erneut in die Tüte griff und sich etwas des Inhalts in den Mund beförderte. Michael hob die Augenbrauen. „Hast wohl Hunger gehabt?“ Angelo nickte und wirkte dabei etwas ertappt. Michael lachte leicht. „Das verstehe ich. Aber bist du wirklich der Meinung, dass Gummibärchen ein geeignetes Frühstück sind?“ Angelo schluckte erneut, bevor er antwortete. „Ich mag den Geschmack“, sagte er mit ernstem Gesichtsausdruck. „Die Pfirsiche waren auch gut, aber die Beeren haben an den Zähnen geklebt mit diesen kleinen Perlen, deswegen habe ich sie nicht aufgegessen.“ Michaels Augenbrauen wanderten noch höher. „Willst du mir etwa erzählen, dass das bereits deine dritte Tüte ist?“ Angelo zog den Kopf zwischen die Schultern und sah aus wie das personifizierte, schlechte Gewissen. „Eigentlich die vierte. Ich hab mit den Kirschen angefangen.“ Für einen Augenblick war Michael sprachlos. Dann jedoch kam Leben in ihn. Er schlug die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und war mit zwei Schritten bei Angelo. Mit strenger Miene nahm er ihm die Tüte ab. „Du wirst dich noch übergeben, wenn du den ganzen Süßkram in dich reinstopfst.“ „Aber er schmeckt gut.“ „Trotzdem. Das ist ...“ Plötzlich blieb Michael das Wort im Halse stecken. Die ganze Situation war so surreal, dass er einfach nicht wusste, was er jetzt sagen oder tun sollte. Er hatte diesen Jungen … ja was eigentlich? Gerettet? Aufgelesen? Sie hatten Sex gehabt, zumindest beinahe, und jetzt, jetzt stand er hier vollkommen nackt und hielt eine angefangene Tüte Gummitierchen in der Hand. Selbst der Bär auf der Packung schien irgendwie höhnisch zu grinsen. „Das geht einfach nicht“, schloss er seinen angefangenen Satz lahm. Er seufzte und legte die Tüte beiseite. Dann ging er zu seinem Koffer und holte frische Unterwäsche heraus. Während er sich anzog, hörte er, wie Angelo sich hinter ihm bewegte. Als er kurz über die Schulter blickte, sah er, wie sich auch der Junge etwas anzog. Anscheinend war ihm der Gedanke vorher nicht gekommen. Also vielleicht doch kein religiöser Spinner. Aber woher kommt er? Wo sind seine Eltern, seine Familie? Und was mache ich jetzt mit ihm? Ich kann ihn doch nicht einfach wieder auf die Straße setzen. Und das gestern … Ich hätte verhindern müssen, dass das passiert. Michael griff nach einem Polo-Shirt und zog es sich über den Kopf, bevor er in seine Hose stieg wie ein Ritter in seine Rüstung. Er presste die Lippen aufeinander und überlegte. Ob er das Thema noch einmal anschneiden sollte? Angelo hatte gesagt, es wäre in Ordnung gewesen, aber das schlechte Gewissen nagte an Michael. Er hatte die Lage des Jungen ausgenutzt, da biss die Maus keinen Faden ab. Auch wenn er vielleicht die bessere Alternative zu diesen Grobianen gewesen war, die sicherlich wer weiß was mit dem Jungen angestellt hätten. Trotzdem sollte er vielleicht noch etwas dazu sagen, oder nicht? Er räusperte sich. „Also, Angelo ... Ich darf dich doch Angelo nennen?“ Der Junge nickte und sah ihn aufmerksam an. Zum Michaels Glück war er inzwischen ebenfalls wieder vollständig bekleidet. „Wegen gestern … Ich … Ich wollte nur, dass du weißt ...“ Er verstummte, als Angelo sich auf ihn zu bewegte. In den Augen des Jungen lag ein eigenartiger Ausdruck, den Michael nicht so recht zu deuten wusste. Doch noch bevor er weitersprechen konnte, traf ihn Angelos körperliche Präsenz wie ein Hammerschlag, der sein Herz stolpern ließ. Wie war er nur so schnell so nahe gekommen? Michael meinte die Wärme spüren zu können, die sein Körper ausstrahlte, roch die Süße seines Atems, der über sein Gesicht streifte. Er konnte förmlich schmecken, wie es wäre, ihn zu küssen. Konnte die glatte Haut fühlen, die festen Muskeln, die langen Glieder, die sich um ihn schlangen und ihn vollkommen vereinnahmten. Die Weichheit der blonden Locken, als er seine Finger darin vergrub. Er spürte Angelos Haut unter seinen Lippen, die über den jungen Körper glitten und jeden Quadratzentimeter von ihm liebkosten, während sie langsam tiefer wanderten. Er meinte die samtene Härte in seiner Hand wahrzunehmen, glaubte die Laute zu hören, die Angelo von sich geben würde, das Salz und leichte Bitterkeit auf der Zunge zu schmecken, wenn er ihn in sich aufnahm. Und dabei würde es nicht bleiben. Danach würden sie … Michael atmete erschrocken ein und wich einen Schritt zurück. Er merkte, dass sich seine aufwallende Erregung bereits körperlich manifestiert hatte, und er wusste, dass, wenn er nicht schnell etwas dagegen unternahm, er wieder schwach werden würde. Irgendetwas an Angelo zog ihn an wie die Motte das Licht. Doch er wusste, dass er dem nicht nachgeben durfte. Es wäre nicht richtig. Nicht, weil Angelo es nicht wollte. Michael sah es in seinem Blick, dass er sich nur zu gern wieder Michaels Führung anvertraut hätte. Und er wäre vorsichtig mit ihm; er würde ihm nie wehtun. Aber das hier war anders als zuvor. Es war nicht einfach nur Sex. Michael wusste nicht, warum er sich dessen so sicher war, aber ihm war klar, dass, sollte er jetzt tatsächlich die Hand ausstrecken und Angelo berühren, würde daraus etwas erwachsen, dass er nicht kontrollieren konnte. Etwas, nach dem er sich gleichzeitig sehnte und es fürchtete. Denn er konnte das nicht. Es ging nicht. Er hatte es versprochen.   Mit einer fast schon rüden Bewegung wandte er sich ab und trat ans Fenster. Er spürte Angelos Blick auf sich und bemerkte mit Erstaunen, dass sein Hals wie zugeschnürt war und etwas in ihm beinahe körperlich schmerzte. Es fühlte sich an, als würde gerade etwas Unbezahlbares zwischen seinen Fingern hindurch gleiten und er … er machte keinerlei Anstalten, es aufzuhalten. Weil er nicht konnte. Nicht durfte. Er hatte es Gabriella versprochen. „Angelo, ich … ich muss dir etwas sagen.“ Er hörte die Worte, die aus seinem Mund kamen, und doch konnte er nicht wirklich glauben, dass er sie aussprach. Das hatte er noch nie getan. Es war nicht notwendig gewesen. Er hatte immer dafür gesorgt, dass die Fronten geklärt waren, bevor er sich auf jemanden einließ. Das hatte er dieses Mal versäumt. Ein fataler Fehler, wie er jetzt feststellen musste. „Ich … ich bin … ich habe ...“ Es fiel ihm so schwer, es zu sagen. Es war, als würde man mit einem Schlachtermesser hinter dem Rücken vor einem knuddeligen, weißen Kätzchen stehen, das einen mit großen Augen ansah und eine Streicheleinheit erwartete, während man vorhatte, es bei lebendigem Leibe zu häuten. Michael fühlte Übelkeit in sich aufwallen. Er trat noch näher ans Fenster und sah hinaus. Im Licht der aufgehenden Sonne konnte er die vorbeifahrenden Autos beobachten, die alle ihrem eigenen Ziel entgegenstrebten. Die Menschen dort unten hatten keine Ahnung davon, welche Tragödie sich hier hinter dem Fenster im fünften Stock gerade abspielte. Wie er dabei war, die Hoffnungen eines jungen Mannes mit drei einfachen Worten in nichtige Fetzen zu zerreißen. Unter anderen Umständen hätte er vermutlich über die Melodramatik seiner Worte gelacht, aber er wusste, dass es in diesem Fall die Wahrheit war. Er wusste, dass Angelo verstehen würde, was es hieß, wenn er ihm offenbarte, dass er …   Michaels Gedanken kamen zu einem abrupten Halt, als sein Blick an einer Gestalt hängen blieb, die sich zielstrebig auf das Hotel zubewegte. Michael hätte von hier oben eigentlich nicht erkennen sollen, dass es so war. Allerdings waren anhand der frühen Stunde nicht eben viele Passanten unterwegs und so wusste er mit untrüglicher Sicherheit, dass der Mann, der sich dort gerade in zügigem Tempo näherte, hierher kam. Genauer gesagt zu ihm und Angelo, denn Michael hatte ihn erkannt, obwohl das auf die Entfernung eigentlich nicht möglich sein sollte. Es war der junge Polizist, der sie am Vorabend fast verhaftet hatte. Michaels Herz begann zu klopfen. Er drehte sich zu Angelo herum. „Schnell, wir müssen hier weg.“ Der Junge schien anhand des plötzlichen Themenwechsels verwirrt. „Weg? Wohin?“ „Pack deine ...“ begann Michael, bevor ihm einfiel, dass Angelo ja nichts bei sich gehabt hatte. Also griff er kurzerhand nach seinem eigenen Kram und stopfte ihn mit fast schon brutaler Gewalt in seinen Koffer und ließ das Schloss zuschnappen. Er schlüpfte in seine Schuhe und öffnete die Tür. „Komm, wir gehen.“ „Wohin?“, fragte Angelo erneut, aber Michael antwortete ihm nicht. Stattdessen griff er nach seinem Handgelenk und zerrte ihn nicht eben sanft hinter sich her in den Hotelflur. Seine Gedanken rasten. Der Polizist würde gleich hier sein. Vermutlich hatte er das Hotel bereits betreten und war auf dem Weg zu den Aufzügen. Wenn sie dort hinunterfuhren, würden sie ihm direkt in die Arme laufen. Also wandte sich Michael nach links, wo ein Schild darauf hinwies, dass dieser Ausgang nur im Notfall zu benutzen war. Das hier ist ein Notfall, entschied Michael und drückte die schwere, stählerne Tür auf. Er schob Angelo in das Treppenhaus und gleich noch ein Stück die Treppe hinunter. „Schnell“, wies er ihn an. „Nach unten und dort wartest du.“ Anglo sah ihn aus großen Augen an, bevor er nickte und sich umwandte und begann, vorsichtig die Treppe hinabzusteigen. Sein Knöchel machte ihm anscheinend immer noch zu schaffen, aber darauf konnten sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Michael verharrte derweil an der Tür. Er lauschte in den stillen Hotelflur, wo nichts zu hören war bis auf das leise Summen der Klimaanlagen. Erst, als ein Klingeln, die Ankunft des Aufzugs ankündigte, zog er die Tür bis auf einen Millimeter zu. Jemand verließ den Aufzug und bewegte sich durch den Gang. Michael hörte ein Klopfen. „Metropolitan Police Department. Mr. Thompson, sind Sie da? Öffnen Sie die Tür!“ Michael hatte genug gehört. Er ließ die Stahltür los, die lautlos ins Schloss glitt, und stürzte dann, so schnell er konnte, die Treppe hinunter. Er wusste, dass es irrational war, dass er vor der Polizei flüchtete. Er hatte nichts getan. Aber irgendetwas an diesem Mann beunruhigte ihn und er hatte das Gefühl, dass er Angelo um jeden Preis von ihm fernhalten musste. Beschützerinstinkt hatte es sein Coach manchmal genannt. Du wirst auf deiner Position niemals den Ruhm ernten, der dir zusteht. Alle schauen immer nur auf den Ball und nicht auf den Mann, der unter fünf anderen Spielern begraben am Boden liegt. Trotzdem bist du derjenige, auf den es ankommt. Deine Aufgabe ist es, den Ballträger zu beschützen, egal was passiert. Und Gnade Gott denen, die versuchen, dich daran zu hindern.   Michael erreichte den Fuß der Treppe, wo Angelo schon auf ihn wartete. Der Junge wirkte nicht halb so nervös, wie Michael sich fühlte. Er erlaubte sich ein kurzes Lächeln, bevor er die Tür zur Hotelhalle öffnete. Wie er gehofft hatte, war hier noch alles ruhig. Er hetzte zum Schalter und zog schon im Laufen seine Kreditkarte heraus. „Ich würde gerne auschecken. Raum 515.“ Der Portier – es war ein anderer als gestern Abend – sah gelangweilt von seiner Zeitschrift auf. Er legte sie mit einem Seufzen zur Seite und griff nach der Karte. „Hatte Sie etwas aus der Minibar, Mister ... Thompson?“ Er stutzte. „Hier war doch gerade ein Officer, der zu Ihnen wollte.“ Michael lächelte unschuldig. „War ein Missverständnis. Eine Verwechselung. Und keine Minibar.“ Der Portier musterte ihn einen Augenblick lang misstrauisch, beschloss aber anscheinend, dass ihn das nichts anging und er lieber zusah, dass das Hotel sein Geld erhielt. Mit einer routinierten Geste zog er die Karte durch das Lesegerät. „Wenn Sie dann hier unterschreiben würd...“ Michael riss ihm den Zettel aus der Hand und setzte eilig seine Unterschrift unter die Abrechnung. „Alles klar, vielen Dank und auf Wiedersehen.“ Er drehte sich herum und hörte in diesem Moment, wie der Aufzug das Erdgeschoss erreichte. Er griff mit einer Hand nach seinen Koffern, mit der anderen nach Angelos Hand. Wenn sie Glück hatten, würden sie die Hotelhalle noch rechtzeitig … „Mister Thompson?“ Verdammt. „Nicht umsehen, lauf einfach weiter“, zischte er Angelo zu, während er seine Schritte noch einmal beschleunigte. Noch 20 Meter bis zur Tür. „Halt! Stehenbleiben! Polizei!“ Zehn Meter. Durchhalten. „Bleiben Sie stehen oder ich schieße!“ „Lauf!“ Michael ließ alle Vorsicht fallen und begann zu rennen. Plötzlich krachte ein Schuss durch den Raum. Im gleichen Augenblick entglitt ihm Angelos Hand. Er hörte sich selbst irgendetwas rufen, stolperte, verlor fast das Gleichgewicht, schlitterte herum und sah nur noch, wie der Polizist sich plötzlich zu Boden fallen ließ und den Kopf in den Händen vergrub. Angelo hingegen stand hoch aufgerichtet, die Arme in seine Richtung ausgestreckt. Mit einem Satz war Michael bei ihm. „Bist du verletzt? Hat er dich getroffen?“ Angelo schüttelte nur stumm den Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Gesicht eine bleiche Maske. Er schwankte plötzlich. Seine Hand streckte sich nach Michael aus, der ihn auffing, bevor er zu Boden gehen konnte. „Bitte, bring mich hier weg“, murmelte er, bevor er das Bewusstsein verlor. Michael überlegte nicht lange. Er ließ die Koffer fallen, nahm Angelo auf seine Arme und verließ das Hotel, so schnell ihn seine Beine trugen. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, bewegte er sich über den Parkplatz zu seinem Wagen, fischte die Schlüssel aus seiner Hosentasche, bettete den bewusstlosen Jungen auf den Rücksitz, bevor er sich selbst auf den Fahrersitz schmiss und den Motor anließ. Mit quietschenden Reifen raste er vom Hof und nur ein letzter Rest von Vernunft ließ ihn gerade noch so daran denken, dass es ein Tempolimit gab, dessen Überschreiten ihm schneller, als ihm lieb sein konnte, den nächsten Polizisten auf den Hals hetzen würde. So fuhr er gerade eben so schnell, wie es erlaubt war, und warf dabei immer wieder einen Blick in den Rückspiegel, in dem glücklicherweise keinerlei Verfolger zu sehen waren. Erst, als er die Stadtgrenze hinter sich gelassen hatte und die weite Wüste Nevadas sich um ihn herum ausstreckte, fing sein Herzschlag langsam an, wie in ein normales Tempo zu verfallen. Gleichzeitig begann sein Gehirn wieder zur arbeiten. Was hatte er da gerade getan?     Stöhnend kam Marcus wieder zu sich. Vor seinen Augen tanzten bunte Punkte und die Umrisse seiner Umgebung wurden nur langsam wieder scharf. Er sah, dass sich jemand über ihn beugte. „Ist alles in Ordnung mit ihnen?“ Der Hotelportier. Marcus hob abwehrend die Hand. „Danke, es geht schon.“ Er setzte sich auf und blinzelte, bis die flimmernde Helligkeit wieder einem normalen Bild wich. Der gelangweilte Portier sah ihn mit erhobenen Augenbrauen an. „Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?“ „Ja doch.“ In Wahrheit war gar nichts in Ordnung. Als er in das Hotel gekommen war, hatte der Portier ihm versichert, dass Thompson noch nicht ausgecheckt hatte. Als er jedoch auf der entsprechenden Etage angekommen war, war die Tür nur angelehnt und das Zimmer verlassen gewesen. Er hatte noch nachgesehen, ob sich jemand im Bad versteckt hatte, aber ihm war schnell klargeworden, dass die Vögel das Nest bereits verlassen hatten. Also war er wieder nach unten gefahren, nur um in der Hotelhalle auf Thompson und den Jungen zu stoßen, die sich gerade aus dem Staub machen wollten. Sie hatten nicht auf seine Aufforderung stehenzubleiben reagiert. Er hatte nur einen Warnschuss abgeben wollen, hatte auf die Beine des Jungen gezielt und dann … dann war die Welt explodiert. Ein weißblaues Licht war wie aus dem Nichts erschienen und auf ihn zugerast. Marcus hatte noch versucht, sich zu schützen, aber gegen das strahlendhelle Gleißen hatte ihm das nichts genutzt. Es hatte seine Sinne betäubt und ihn für einen Augenblick vollkommen paralysiert. Als er wieder zu sich gekommen war, waren die Verdächtigen bereits geflohen.   Mit einem Stöhnen erhob er sich, um sich langsam in Richtung Ausgang zu schleppen. Als er kurz vor der Stelle war, an der der Junge gestanden hatte, fiel sein Blick auf einen kleinen Gegenstand, der vor ihm am Boden lag. Er bückte sich und hob ihn auf. Es war die Kugel, die er abgefeuert hatte. Sie war vollkommen plattgedrückt, als wäre sie gegen eine massive Wand geprallt. Er betrachtete das Stück Metall und plötzlich wusste er, was ihn erwischt hatte. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte nicht sein. Ein Engelsschild, dachte er. Warum kann der Junge einen Engelsschild beschwören? Noch dazu einen derart mächtigen? Wo bin ich hier nur hineingeraten? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)