Der letzte Zug von Charly89 (Nachts in der Endstation) ================================================================================ Kapitel 1: Silvesterabend ------------------------- Dunkelheit und Kälte kämpfen um die Vorherrschaft. Der Wind treibt kleine Flocken über den Bahnsteig. Wild tanzen sie durcheinander, schlagen Haken und Loopings. Immer weiter treibt sie der Wind, lässt sie nicht den Boden berühren, lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Wilder tanzen die Flocken. Abrupt endet ihr Spiel mit dem Wind. Die weißen Sterne verfangen sich in Dunkelheit, sterben in schwarzem Haar und tropfen auf den kalten Boden. Ein Signal ertönt, schneidet durch die kalte Stille. Die schwarzhaarige Dunkelheit huscht aus dem Schatten. Noch bevor sich die Türen schließen, ist die junge Gestalt im Bauch der stählernen Rettung. Ein weiteres Signal ertönt. Schnaufend setzt sich der Schienenkoloss in Bewegung. Träge bewegt er sich vorwärts. Ein letztes Zischen und die Schneeflocken sind wieder mit dem Wind allein, setzten ihr ewiges Spiel fort. Er sitz allein, ganz hinten im Abteil. Sein Blick ist starr nach draußen gerichtet. Die schwarzen Augen betrachten teilnahmslos die vorbei huschenden Lichter. Niemand ist hier. Alle sind bei ihren Familien oder Freunden. Wütend ballen sich die Hände des Jungen zu Fäusten. Familie. Er ist auch bei seiner Familie gewesen, doch jetzt ist er hier. Er wendet den Blick ab, sieht auf seine Hände. Einatmen; eins … zwei … drei … Ausatmen; eins … zwei … drei … Seine Hände entspannen sich wieder. Sich nicht mehr aufregen. Wie oft hat er sich das schon vorgenommen? Zu oft. Es ist eine Farce. Er weiß es, er kennt sich zu gut. Kontrolle ist wichtig für ihn. Hat er sie nicht, wird er unruhig. Wird er unruhig, regt er sich auf. Regt er sich auf, wird er wütend. Also hat er dafür gesorgt, die Kontrolle zu haben. Er hat sie auch immer, über sich selbst und über sein Umfeld. Heute hatte er sie nicht. Fassungslos stand er im Hausflur und hatte seine Eltern beobachtet, wie sie den unerwarteten Besuch begrüßten. Herzlich begrüßten. Unweigerlich kroch Unruhe in seine Knochen. Der Blicke des Jungen geht wieder durch die gläserne Trennwand. Trüb betrachten seine schwarzen Augen die Außenwelt. Die Lichter sind weniger geworden. Der Zug ist bereits aus dem Zentrum heraus, durchquert stoisch die eisige Nacht, durchpflügt die Stille des Außenbezirkes. Sein Bruder nahm ihn in den Arm. Erzählte von 'sich freuen', 'lange nicht gesehen' und 'groß geworden bist du'. Sasuke fühlte sich dem Tode nahe. Sein Herz stolperte unaufhaltsam. Jeden Moment würde es stehen bleiben, da war er sich sicher. Leider tat es ihm den Gefallen nicht. Etwas Feuchtes läuft über seine Wange. Sein diffuses Spiegelbild zeigt ihm was es ist. Kein geschmolzener Schnee, nein. Die nasse Spur beginnt an seinem Auge. Sie ist salzig, das weiß er, ohne sie zu kosten. Seine Familie saß zusammen, dass taten sie schon seit zwei Jahren nicht mehr. Seit sein Bruder fort war, war alles anders. Vater war anders. Mutter war anders. Sasuke war anders. Jetzt war sein Bruder wieder da. Vater war wie früher. Mutter war wie früher. Und er? Er war immer noch anders, weil für ihn Alles anders war, seit zwei Jahren. Die Unruhe aus seinen Knochen wanderte in seine Nerven, es regte ihn auf. Seine Hände sind wieder geballt und zittern. Der ganze Junge bebt. Einatmen; eins … zwei … drei … Ausatmen; eins … zwei … drei … Seine Hände entspannen sich nur langsam, sie schmerzen fürchterlich. Die letzten wenigen Lichter sind verschwunden. Die Dunkelheit herrscht jenseits des Zugs. Nichts ist da draußen, nur Dunkelheit. Sie saßen beim Essen. Itachi erzählte. Mutter und Vater hörten gespannt zu. Sie folgten jedem seiner Worte, himmelten ihn an. Er hatte das früher auch, jetzt nicht mehr. Seit zwei Jahren nicht mehr. Sein Bruder hatte ihn allein gelassen, einfach so. Itachi war ausgezogen, in eine andere Stadt, viele Stunden entfernt. Er hatte ihn einfach allein gelassen mit all den Anforderungen und Erwartungen ihrer Eltern. Die Empfindungen seiner Nerven schlichen in sein Gehirn, Wut kochte hoch. Die ewige Dunkelheit der Außenwelt entzieht ihm die Kraft, lässt seine Lider schwer werden. Müde legt er den Kopf an das kalte Glas, es kühlt ihn und seine Emotionen. Er stand am Tisch, schrie und tobte. Beschimpfte Vater. Beschimpfte Mutter. Am meisten beschimpfte er seinen Bruder. Sasuke schmiss einen Teller. Das Porzellan zerbrach, die Scherben fielen klirrend auf den Boden. Er schmiss ein Glas und noch einen Teller, ließ seiner Wut freien Lauf. Sanft kommt der Stahlkoloss zum Stehen. Er hat sein Nachtquartier erreicht. Hier wird er ruhen und Kraft tanken für den nächsten Tag. Müde zischt er noch einmal, lässt alle Anspannung fahren. Die Tür zum Kopf des Riesen geht auf. Der Herr des Zuges verlässt seinen Platz. Routiniert geht er jedes Abteil ab. Sammelt ein, was keiner vermisst und findet etwas. Ganz genau betrachtet er seinen Fund. Viel hat er schon erlebt, in all den Jahren, mit seinem riesigen stählernen Freund. Viele Dinge hat er gefunden, die niemand mehr wollte. Viele Dinge hat er gefunden, bei denen er dachte, es würde sie jemand vermissen. Bei diesem Fund weiß er, dass er vermisst wird, da ist er sich ganz sicher. Er zieht das Handy aus seiner Tasche, ein letzter Anruf dieses Jahr noch. Seine Schulter drückt. Müde knurrt der junge Schatten. Wieder drückt seine Schulter. Die Augenlider bewegen sich träge nach oben, die halbe Strecke haben sie geschafft. Es ist hell Außerhalb, aber nicht grell, eher diesig. Verschwommen erkennt Sasuke einen Waggon. Wo ist er? Wieder drückt seine Schulter. Erschrocken fährt der Junge hoch, dreht den Kopf und drückt sich gleichzeitig in die Ecke zwischen Polster und Scheibe. Ihm gegenüber steht der Herr dieses Schienenkolosses. Sein Gesicht versteckt unter einem Mundschutz, die schwarzen Augen interessiert auf ihn gerichtet und die Haare machten den Eindruck, als haben sie mit dem Wind gespielt, wie die Schneeflocken vor ein paar… Minuten? Stunden? „Endstation, junger Mann.“ Die Stimme des Herrn ist freundlich, seine Augen zeigen ein Lächeln. Sasuke entspannt sich, scheint der Mann doch wohlgesonnen. Kurz zieht sich die die Stirn des jungen Schatten in Falten, der Herr des Zuges kommt ihm bekannt vor. Wie ein Traum, man erinnert sich vage, doch die Bilder nehmen keine feste Gestalt an. Wortlos richtet sich der Mann mit dem wilden Haar auf. Er wirkt gelassen und dennoch strahlt er Stärke aus. Sein wacher Blick ruht auf dem Jungen. „Komm.“ Der Herr wendet sich ab, geht das Abteil zurück. Verwirrt sieht ihm der Junge nach. Der Mann verlässt den Zug, ohne sich umzudrehen und sich zu vergewissern, dass sein Gast ihm folgt. Ohne Eile erhebt sich Sasuke, gemächlich geht er dem Fremden hinterher. Der Mann steht zwischen seinem stählernen Freund und dessen Bettnachbar. Die Hände ruhen in den Taschen seiner Hose. Missmutig zieht er die Augen zusammen. Die Endstation ist kein Ort für einen Jungen, sie ist ein Ort der Ruhe und des Alleinseins. Der junge Schatten verlässt den Zug, der Mann hört es. Das Metall der Stufen erzeugt Geräusche, die hier keiner hören möchte. Von irgendwo her ertönt ein Zischen, eine Beschwerde über den ungewohnten Lärm. Der Herr der Endstation setzt sich wieder in Bewegung. Sanft sind seine Schritte auf dem feuchten Beton, er möchte niemanden stören. Der junge Schatten hinter ihm möchte stören, er hört es. Jeder Schritt hallt unangenehm in der Stille. Obwohl dumpf im Ton, klingelt es in den Ohren. Der Junge wollte unbedingt stören, da ist sich der Mann sicher. Weiterhin wortlos bringt er seinen jungen Gast in einen kleinen Raum. Fenster zu allen Seiten lassen die Welt herein und trenne sie dennoch ab. Eine Tasse mit dampfenden Inhalt findet ihren Weg auf den Tisch. Die schwarzen Augen des Jungen sehen den Herrn dieses trostlosen Ortes an. Immer noch wirkt der Fremde bekannt, nicht nur in seiner Gestalt. Ein Junge am Silvesterabend allein in einem Zug, wie viele wären derart gelassen? Wie viele würden den Gefunden nicht mit Fragen überschütten? Der Mann mit dem wilden Haar lässt sich am Tisch nieder. Sein Blick, wach und freundlich, ruht immer noch auf dem Gast. Sasuke erwidert ihn, desinteressiert und emotionslos. Einatmen; eins … zwei … drei … Ausatmen; eins … zwei … drei … Der Junge spürt die Unruhe in seinen Knochen. Besonnen, wie in Zeitlupe, setzt der Mann seine Hand in Bewegung. Bedacht wandert sie zu seiner Brusttasche. Er fördert ein kleines Buch zu tage. Ohne darauf zu achten wo, schlägt er es auf und wendet seinen Blick von dem jungen Störenfried ab. Stille kehrt ein. Der dampfende Inhalt der Tasse erkaltet. Der junge Schatten kann seinen Blick nicht abwenden. Er starrt den Herrn der Züge an. Er will das der Mann auf ihn reagiert, er will das er ihn etwas fragt, ihn vielleicht sogar anschreit, doch nichts geschieht. Einatmen; eins … zwei … drei … Ausatmen; eins … zwei … drei … Die Unruhe kriecht in seine Nerven, die Enden beginnen zu flimmern, regen seinen Verstand auf. Still vergeht die Zeit, sie dämmert dahin. In die Stille mischt sich ein leises Geräusch. Das alte Dach lässt die Außenwelt in das Innere der Halle. Tropfen für Tropfen. Der Herr dieses Ortes lässt seine Gedanken in die weite Ferne schweifen. Seite für Seite. Der junge Störenfried lässt seine Wut in die Fäuste. Zentimeter um Zentimeter. Das Buch wird zugeschlagen, wie ein Pistolenschuss hallte es durch die Stille. Wach und freundlich sieht der Mann den Jungen an. Immer noch wortlos erhebt er sich und verlässt den kleinen Raum. Still wandert er zum Ende der Halle und bleibt stehen. Verwirrt sieht Sasuke dem Mann hinterher. Was stimmt nicht mit ihm? Oder ist der junge Schatten selbst das Problem? Nicht mehr aufregen ... Er selbst hat es in der Hand und nur er. Wie oft stand er sich schon selbst im Weg? Nur weil er wieder die Kontrolle verloren hat. Müde blickt er auf seine Hände hinab. Itachi. Nach zwei Jahren haben sie sich heute wiedergesehen. Statt sich zu freuen, ist er ausgeartet. Statt seinem Bruder um den Hals zufallen, hat er ihn mit Vorwürfen überschüttet. Nicht mehr aufregen... Die Wut weicht zurück. Zentimeter um Zentimeter. Die erregten Nerven beruhigen sich. Sekunde um Sekunde. Der junge Schatten erhebt sich. Sanft sind seine Schritte geworden, stören nicht mehr die Nachtruhe der Stahlriesen. Sie verlassen die Halle. Steigen die eiserne Leiter empor. Knartschen und Knietschen hallen durch die eisige Nacht. Dunkel ist die Welt hier draußen. Auf dem Dach weht der Wind, kalt umspielt er die beiden Besucher. Zieht und zerrt an ihnen, als wolle er sie vertreiben von diesem Ort. „Ist das die Stadt?“ Ruhig ist die Stimme des jungen Schatten, ehrfürchtig blickt er in die Ferne. Am Horizonte der Dunkelheit erheben sich Berge aus Licht, sie funkeln und flackern. „Hm.“ Der Herr der Endstation klingt verträumt. Oft steht er hier und sieht der Welt zu. Nimmt still Anteil an ihr, ohne sie zu stören. „Gleich.“ Der Junge sieht den Mann an, hebt fragend die Augenbraue. Das Gesicht seines Gastgebers zeigt keinerlei Regung, wie sein eigenes. Ein Krieg bricht los. Der jährliche Kampf des Lichtes gegen die Dunkelheit beginnt. Mit lautem Getöse zieht das Licht in die Schlacht. Runde um Runde lässt es seine Pfeile in den Himmel wandern. Feuerblumen drängen sich in die Nacht. Glitzernde Wolken knistern in die Stille. Ehrfurcht und Bewunderung teilen sich das Dach, sehen dem ewigen Kampf zu. Das Licht schwindet, es verliert an Kraft, es kann nicht gewinnen. Immer ruhiger und ruhiger wird die Schlacht. Wie oft hat er diesen Kampf schon gesehen? Doch nie die wahre Bedeutung begriffen. Eine ewige Auseinandersetzung. Das Licht verliert, Jahr für Jahr und dennoch gibt es nicht auf. Stellt sich im nächsten Jahr wieder der Herausforderung und im darauf Folgendem. Und er? Er hat aufgegeben, ohne einen Kampf, ohne es richtig versucht zu haben. Eine Hand legt sich auf die Schulter des Jungen. Erstaunt blickt er zur Seite. Der Herr der Züge steht abseits, seine Augen auf das Verglühen der letzten Lichter gerichtet. Starr wendet sich der junge Schatten um. Zwei schwarzen Augen, die den seinen gleichen, sehen in an. Zwei Arme, die den seinen gleichen, umfassen ihn. Die Brust an die er gedrückt wird, gleicht auch der seinen, nur deren Inhalt unterscheidet sich. Das Herz des Jungen stolpert überfordert vor sich hin. Das Herz des großen Bruders schlägt ruhig. „Danke, Kakashi.“ Die Worte sind Stumm, verformen nur die Lippen von Itachi, denn selbst ein Schrei wäre untergangen in dem tosenden Schluchzen des jungen Schatten. Knartschen und Knietschen hallen durch die eisige Nacht. Die Brüder verlassen das Dach, verlassen diesen trostlosen Ort. Kehren zurück zu ihrer Familie und werden es besser machen dieses Jahr. Sie werden es sich versprechen, sich schwören und am Ende wird doch wieder alles anders sein. Ein ewiger Kampf. Dieses Jahr wird der junge Schatten auch kämpfen, mit allem was er hat. Er wird sein Bestes geben, wie sein Bruder. Schweigend betrachtet der Mann mit dem wilden Haar die neue Dunkelheit. Sie ist immer anders nach dem Kampf. Sie ist dunkler und eisiger. Seine Augen, wach und freundlich, wandern über den dunklen Horizont. „Frohes neues Jahr, Kakashi.“ Tonlos sind seine Worte, er will die Ruhe der Züge nicht stören. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)