Zum Inhalt der Seite

Rotkäppchen

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Triggerwarnung (seichte): Wer seelische Aufladungen mit einem der folgenden Themen hat, könnte sich im folgenden Kapitel (leicht) emotional aufgewühlt fühlen, seid also gewarnt und entscheidet selbst, ob ihr es lesen wollt
Magersucht, Essstörung, sexueller Missbrauch, Inzest


Für alle anderen: das wird keine dunkle Geschichte, keine Angst, diese Themen werden am Rand erwähnt … sehr am Rand

Desweiteren seid gewarnt vor folgenden Eventualitäten:

Tippfehler, peinliche Rechtschreibfehler die mich Zweifel aufkommen lassen, ob Deutsch wirklich keine Muttersprache ist, abenteuerlich gesetzte Kommata, seltsam gesetzte oder fehlender Worte, die von mehrfacher Satzumstellung zeugen (und das alles trotz mehrfacher Überarbeitung)

Verzeiht mir, ich bin einfach blind. Ich mache es nicht absichtlich. Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Viertes Kapitel: In dem die Welt Kopf steht

Viertes Kapitel: In dem die Welt Kopf steht

 

Was seltsame Tage anging, stach dieser aus der Masse hervor, wie ein winkendes Blatt in einer windstillen Baumkrone.

Die Nacht hatte den Morgen mit nebulösen Traumbildern eingeleitet, aus denen Nora immer wieder mit einem fiebrigen Gefühl und Knochen tiefem Frösteln aufgewacht war.

Das schrille Läuten des Telefons hatte sie letztendlich vollständig aus dem Schlaf gerissen und die Abruptheit hinterließ ein unterschwelliges Zittern in ihrem Körper, eine Art Desorientierung. Nora fühlte sich wolkig, zerzaust und unwohl. Wie von zu viel Alkohol, nur dass sie keinen getrunken hatte.

Eindeutig zu wenig Schlaf.

Aber Nora war nicht überrascht. Sie schlief fast nie wirklich gut. Nicht mehr, seit diesem Tag vor fast drei Jahren.

Seit dem fehlte etwas so Wichtiges wie Vertrauen in ihrem Leben.

Vertrauen in das Gute. Vertrauen, dass nicht einfach ein Feuer ausbrechen oder ein Blitz in ihrem Dach einschlagen würde.

Gedanken um Gedanken die sie sich täglich machte. Die sich die Hand gaben und gegenseitig jagten. Aufeinander aufbauten wie eine Zirkuspyramide, die gefährlich wankte und damit neue Sorgen mit sich brachte.

Manchmal konnte Nora ihren eigenen Gedanken nicht mehr folgen.

Das half nicht unbedingt beim Einschlafen.

Und beim Schlafen wohl auch nicht.

 

Seltsamerweise lag ihrem ungeplanten Weckruf dieselbe Ursache zugrunde, wie an der verschenkten Nacht.

Es waren nämlich zur Abwechslung mal keine Sorgen um Hannahs Sicherheit gewesen, die Nora wach gehalten hatten.

Sondern Erinnerungen.

Erinnerungen an einen Abend in ihrer Küche und die Präsenz eines Mannes, der sich eigentlich einschüchtern sollte.

Erinnerungen und ein Kribbeln, das Nora schon so lange nicht mehr gespürt hatte, dass sie es erst weit nach Mitternacht als Vorfreude identifizieren konnte.

Obwohl Nora das erst nicht verstand.

Zuerst war sie einfach wütend.

Auf Mrs. Kornicki und die unheilige Angewohnheit älterer Menschen, ungöttlich früh aufzustehen.

Nora, Darling, da sitzt einer dieser Männer auf ihrem Dach. Sie wissen schon, die aus dem Reservat. Ich dachte, das sollten sie wissen.“

Nach dem ersten Schrecken und ein paar beruhigenden Worten an ihre ältliche Nachbarin, wechselte Noras Wut in ein sehr viel zittrigeres Gefühl. Denn sie ahnte es zwar schon, aber sie war sich nicht sicher.

Und wenn ein Mann auf dem eigenen Dach saß, musste man sich versichern, dass er dorthin gehörte.

Nora hatte überlegt, ob sie eine Waffe suchen sollte.

Und verwarf diesen lächerlichen Gedanken als den lächerlichsten Gedanken, der ihr in den letzten Monaten gekommen war.

Sie hatte keine Waffe im Haus. Wenn man Küchenmesser nicht zählte. Und Nora zählte sie nicht, denn sie würde sich eher selbst verletzen, bevor sie sich damit verteidigen konnte. Außerdem steckte seit einem Selbstverteidigungkurs die tiefe (und wahrscheinlich gerechtfertigte) Angst in Nora, dass ein Angreifer ihr jede behelfsmäßige Waffe abnehmen würde, um sie damit zu verletzen.

Danke, Mom, für diesen hilfreichen Kursus.

Danke für diese glorreiche Idee.

Nora und ihr Blick auf die Welt – die nun gefährliche Welt – hatten sich nie davon erholt.

 

Nur Nora und ihr Morgenmantel also, also sie vorsichtig die Hintertür öffnete.

Dann folgte die zweite merkwürdige Episode dieses vielversprechenden Morgens.

Ein erneuter Gefühlswechsel.

Vorsicht, die in das eindeutige Blubbern von genervt umschlug. Was machte dieser übergroße Indianer-Gangster jetzt schon hier? Es war noch nicht mal richtig hell!

All die Frustration und der fehlende Kaffee kumulierten sich, als Nora merkte, dass sie nicht nur erleichtert war, dass kein Serienmörder auf ihrem Dach hockte, sondern ein kleines Winken von Freude willkommen hieß, dass es stattdessen Paul war.

Paul Lahote.

Einer dieser Männer aus dem Reservat.

Und was für ein Exemplar er war.

Er war so schnell, als er auf ihr Rufen reagierte und sich seitlich von ihrem Verandadach herunterschwang. Und so stattlich, wenn man ihn eine Weile nicht gesehen hatte.

Er bewegte sich so flink für jemanden so muskulösen, dass der Effekt kurzzeitig blendend war.

Ja, sie hatte sich gefreut. Nora hatte sich gefreut auf diesen Tag. Er hatte gesagt, er würde kommen und sie hatte sich wirklich darauf gefreut. Die Erkenntnis war … überraschend.

Warum eigentlich?

Trotz der kurzzeitigen und immer völlig unvorhersehbaren Episoden von purer, perplexer Adrenalinausschüttung und damit verbundenem nervösen Herzklopfen, hatte Nora sich ziemlich gut amüsiert. Paul Lahote hatte eine Art an sich, die es schwer machte, ihn einzuordnen.

Clever.

Er war clever.

Cleverer als man sehen konnte, etwas, das Nora das Gefühl gab, auf der Hut sein zu müssen. Trotzdem hatte sie sich wohl gefühlt. Die meiste Zeit. So sehr, dass es ihr nicht mal aufgefallen war. Nur, wenn sich dieses nervöse, hibbelige Ahnen anschlich, hatte der Kontrast dafür gesorgt, dass sie es begriff.

Sie fühlte sich wohl mit ihm.

Nora fühlte sich wohl mit einem aufgepumpten riesigen Indianer, den eine zwielichtige Aura umgab. Jemand über den sie rein gar nichts wusste, außer dass er mit eine Gang von anderen augepumpten, riesigen Indianer herumhing, die dafür verantwortlich waren, dass einige der Schüler, die zu betreuen ihr Job war, nicht mehr zur Schule kamen.

Oh und anscheinend fütterten sie den Jungen Steroide. Oder etwas anderes Illegales.

Ok, Nora wusste ein bisschen mehr als nur rein gar nichts.

Mein Dad starb, da war ich zwölf.

Das offene Vertrauen auf dem maskulinen Gesicht, in Bronze gegossen im indirekten Licht ihrer heimeligen Küche. Das Gefühl von Verbundenheit.

 

Es ging alles so schnell. Ihre Eindrücke rasten in ihr vorüber. Das Verstehen, das Überlegen. Springende Gedanken, denen Nora kaum hinterher kam.

Und dann das Merkwürdigste von allem.

Pauls Augen. Worte die kamen und abrupt versiegten.

Der Schock als sich ihre Blicke trafen.

Seine absolute Bewegungslosigkeit als er sie anstarrte. Einfach nur anstarrte.

Nora runzelte die Stirn, verwirrt und verunsichert.

„Paul? Alles ok?“

Sie machte einen Schritt nach vorn, sie hatte nicht vor, ihn zu berühren, aber irgendwas zog sie an.

Es war vorbei, bevor Nora begreifen konnte.

Paul machte einen stolpernden Schritt rückwärts, murmelte etwas, das Nora nicht verstand. Dann drehte er ihr den Rücken zu und rannte.

Er rannte.

Niemals zuvor hatte Nora jemanden rennen sehen. Nicht so.

Es war wie eine Parodie. Eine Parodie auf das Rennen anderer Menschen, die von diesem Tag, von diesem Anblick an, nur noch lächerlich im Vergleich wirken würden.

Nur dass Nora nicht nach Lachen zumute war.

Überhaupt nicht.

Sie stand einen Moment da. Unfähig sich zu rühren. Als hätte Paul im Fortlaufen nicht nur ihren Atem, sondern auch den Schlüssel mitgenommen, der zum Bewegen ihrer Beine nötig war.

Nora stand da und starrte ihm nach. Starrte in das gräulich, dämmrige Dickicht des nahen Waldes. Dort, wo Paul verschwunden war.

In diesem Moment dachte sie nicht darüber nach, wieso er nicht mit einem Auto her gefahren war – das einzige Detail, das sie an ihrer selbst zusammen gebastelten Geschichte, die sie für ihren Verstand erfand, später störte, nachdem sie seinen Truck in ihrer Einfahrt stehen sah.

In diesem Moment versuchte Nora vielmehr herauszufinden, wo das überwältigende Bedürfnis herkam, hinterher zu laufen.

 

 

Es war Mrs. Kornicki, die sie genauso vorfand. Immer noch auf der Veranda stehend, im Nachthemd und vor Kälte taub werdenden Zehen.

Selma, wie Mrs. Kornicki von Nora genannt werden wollte, kam um die Ecke gelaufen, rote Sneaker an den Füßen und ihren Hund auf dem Arm.

Nora zuckte zusammen.

Sie hatte nichts gegen Mrs. Kornicki.

Rein gar nichts.

Sie goss Noras Blumen, wenn sie es nicht konnte und kümmerte sich um die Post, wenn Nora mit Hannah nach Seattle musste.

Aber Nora hatte etwas gegen Selma Kornickis Hund.

Es war nichts Persönliches. Mrs. Kornickis Hund hatte Nora nie etwas getan.

Es war etwas Prinzipielles.

Nora hatte etwas gegen alle Hunde.

Seit der bärbeißige, stinkende Riesenhund, den ein Nachbar zur Pflege betreute, Nora angegriffen hatte, als sie gerade sechs Jahre alt war, hatte sie eine an den Kochen rüttelnde, Knie erweichende, Atem aussetzende, Panikattacke auslösende Angst vor allen Hunden.

Es half nicht, dass Nora den Angriff des Hundes durch ihr Kreischen zum Teil selbst verschuldet hatte. Man hatte sie vor dem Hund gewarnt und ihr erzählt, dass der Hund traurig und wütend war, weil man ihn schlecht behandelt hatte – Rettung aus illegalen Hundekämpfen – aber Nora hatte in ihrer kindhaften Unschuld gedacht, dass sie ihn aufheitern konnte.

Die Narbe an ihrem Schienbein mochte also zum Teile ihre Schuld sein. Aber das half nichts gegen die irrationale Angst, den allein der Anblick eines kleinen Hundes in ihr auslöste.

Größer und älter, wusste Nora, dass von den meisten Tieren keine Gefahr ausging. Und Mrs. Kornickis Spaniel war klein und für manche Augen bestimmt äußerst niedlich. Hannah zumindest fand das.

Aber Nora fühlte, wie sich ihre Wirbelsäule anspannte, als sie die aufgestellten Augen des Hundes sah.

Die Abwechslung tat gut, zumindest befand das ein kleiner rationaler Teil ihres Bewusstseins.

Konzentrier dich darauf.

Mrs. Kornickis Hund hatte die schlechte Angewohnheit, Nora von ihrem Misstrauen kurieren zu wollen. Das war das Allerschlimmste. Freundliche Hunde.

Nora erschauderte.

„Guten Morgen, meine Liebe.“

Selma Kornickis Stimme war weichgespült vom vielen Benutzen und strahlte beinahe vor amerikanischer Freundlichkeit. Eine der unzähligen Alltagsheldinnen dieses Landes.

Nora zwang sich zu einem Lächeln.

„Guten Morgen, Selma.“

Den Hund auf dem Arm deutete Mrs. Kornicki nach oben.

„Kein Mann mehr auf dem Dach?“

Nora schüttelte den Kopf.

„Kein Mann mehr auf dem Dach.“

Mrs. Kornicki nickte. Der Enthusiamus der Bewegung ließ die Ohren ihres Spaniels wackeln. Nora behielt ihn genau im Auge.

„Sag dem Kerl, dass ich das nächste Mal die Polizei rufe.“ Es war ein Gutes, dass Mrs. Kornicki noch nicht das Alter erreicht hatte, in dem sie einen Gehstock brauchte. Sie wäre eine beängstigende Figur. Verteidigerin der Nachbarschaft. Keine wilden Tiere oder perverse Mörder würden sich in diese Gegend trauen.

„Das ist nicht nötig, Selma“, sagte Nora. Sie wickelte den Morgenmantel enger um ihr Nachthemd. Es war kalt. Keine Überraschung was das anging. Es war verflucht noch mal Dezember. Und Nora hatte keine Schuhe an.

„Jemand wollte sich das Verandadach ansehen. Ich wusste davon. Es ist alles völlig legitim.“

Mrs. Kornicki betrachtete zuerst das Dach und dann Nora skeptisch. Selma Kornickis Augen waren stahlblau und verengten sich unter ergrauenden Augenbrauen.

„Um halb Sieben?“

Nora hob die Schultern. So unschuldig wie nur möglich.

„Frühaufsteher.“

„Du warst überrascht, als du meinen Anruf entgegen genommen hast.“

Nora seufzte.

„Sie haben mich geweckt, Selma. Ich war nicht ganz wach. Es tut mir leid, wenn ich Sie beunruhigt habe.“

Für gewöhnlich funktionierte die Technik. Ablenken durch einen versteckten Vorwurf, auf den nur jemand eingehen würde, der sich insgeheim schuldig fühlte.

So wie schulschwänzerische Schüler zum Beispiel. Nicht so Mrs. Kornicki, die die Rechtschaffenheit in Person war.

„Wo ist er denn jetzt?“

„Hm?“

Mrs. Kornickis Blick bekam eine ungeduldige Nuance.

„Der Arbeiter, Nora. Bist du immer noch nicht wach? Wo ist er?“ Sie deutete mit der freien Hand auf das Verandadach. Wieder wackelte der Hund auf ihrem Arm.

Nora spannte sich gegen den Impuls ein paar Schritte zurück zu treten.

„Er hat einige Werkzeuge vergessen, glaube ich.“ Sie runzelte die Stirn. Sie wusste selbst nicht, wann ihre Geschichte in eine Lüge abgeglitten war, allerdings wollte sie nicht länger in der Kälte stehen und von einem Spaniel begafft werden.

„Ist das sein Truck?“

Mrs. Kornicki nickte in Richtung der Vordertür. Nora folgte der Bewegung unbewusst. Natürlich sah sie nichts.

Paul war mit einem Truck gekommen?

Ihre Stirn runzelte sich weiter. Wieso sollte er zu Fuß gekommen sein? Es waren fünfzehn Meilen bis zum Reservat, natürlich war er mit dem Auto gekommen. Aber wieso hatte er es stehen lassen?

Der Gedanke führte sie zurück zu der bizarren Situation in der Mrs. Kornicki Nora angetroffen hatte.

Es war nur natürlich, dass Noras Konzentration wackelte.

„Kindchen?! Geht es dir gut?!“

Mrs. Kornicki klang nicht besorgt, viel mehr weiterhin ungeduldig. Ihre Worte schienen eine stille Aufforderung zu beinhalten. Nimm dich zusammen!

Nora versuchte sie zu befolgen.

Unglücklicherweise rutschte sie bei dem Versuch in das unschöne Gebiet rassenbedingter Vorurteile ab. Zumindest spielte sie denen von Mrs. Kornicki in die Karten und später würde Nora sich dafür schämen.

„Ich weiß auch nicht, Selma. Ich kenne ihn nicht gut. Jemand aus der Schule hat den Kontakt hergestellt und Sie wissen doch, wie die vom Reservat sind.“

Es war nur eine halbe Lüge.

Und Nora meinte auch eher, dass Ureinwohner manchmal dazu neigten, mysteriös und geheimniskrämerisch zu sein. Sie wusste es aus eigener Erfahrung. Wann immer sie Nachforschungen zum Fernbleiben von der Schule von Collin und den anderen anstellte, stieß sie auf eine Mauer aus Schweigen.

Aber sie ließ es absichtlich unausgesprochen, damit Mrs. Kornicki in die Falle ihrer eigenen gedanklichen Ergänzungen lief.

Und ein Dank an den Gott der Ausreden, funktionierte es.

 

Ein halbes Dutzend Verabschiedungen und guter Ratschläge später, schloss Nora die Hintertür und seufzte fröstelnd in die Ruhe ihres Wohnzimmers hinein.

Einen Augenblick blieb sie stehen und wartete. Wartete darauf, dass das seltsame Gefühl sich legte.

Das Gefühl das kein wirkliches Gefühl war, aber trotzdem irgendwie Eindruck hinterließ.

Etwas fühlte sich verändert an und Nora hatte keinen blassen Schimmer was oder auch nur wieso.

Die Nacht steckte ihr in den Knochen, sie fror und der Anblick eines Hundes am frühen Morgen war etwas, von dem sich Nora erst noch erholen musste. Adrenalin bildete immer noch kleine Bläschen in ihren Adern, die platzten, wenn sie zu sehr darüber nachdachte.

Ein Schauer huschte Noras Wirbelsäule hinauf.

Und dann war da noch Paul.

Paul Lahote.

Ein Mysterium von ganz eigenem Ausmaß.

In dem trüben Morgenlicht ihres unbeleuchteten Wohnzimmers, in der nachhallenden Stille der Ereignisse in die Nora hinein erwacht war, dröhnte eine Erkenntnis laut und deutlich.

Enttäuschung.

Sie war enttäuscht.

Enttäuscht darüber, dass er gekommen und nicht geblieben war.

Enttäuschung ergab sich, wenn Vorstellungen und Wünsche nicht erfüllt wurden.

Nora spürte, wie ihre Stirn sich runzelte.

Vorstellungen und Wünsche, die nicht erfüllt wurden.

Beinahe schmerzhaft langsam sammelte Nora die einzelnen Stränge in ihrem Bewusstsein, die zu dem Tag zurückführten, der den Anfang ihrer Überlegung bildete.

Ein Montag der wie jeder andere anfing und dann Panik und Wut und Verzweiflung in seine Stunden hinein wob und in einem merkwürdigen Deal endete.

Sie sammelte die Stränge und verfolgte sie. Erkannte den unterschwelligen Strom aus winzigen Gedanken, Sekunden nur, manchmal kaum präsent genug, dass sie ihr waches Bewusstsein erreichten.

Oh ja, Nora hatte an ihn gedacht. Nicht nur ein Mal.

Sie hatte gewartet. Und sie hatte erwartet.

Es war bizarr, dass sie nicht wusste, was genau sie erwartet hatte.

Jedenfalls nicht, dass er sie ansehen und sofort umdrehen würde. Nicht, dass er weg rennen würde, als hätte sie auf ihn geschossen.

Sie hatte sich mehr vorgestellt.

Sie hatte mit ihm sprechen wollen.

Sie hatte sich darauf gefreut, ihn wieder zu sehen.

 

Das sollte keine Überraschung sein.

Eine ganz normale menschliche Reaktion auf ein anderes menschliches Wesen, das nicht unsympathisch war.

Aber Nora reagierte für gewöhnlich nicht auf diese Weise.

Ab einem bestimmten Alter, ab einer bestimmten Größe und manchmal auch nach anderen Parameter, über die Nora sich noch nicht abschließend im Klaren war, reagierte sie auf Männer mit einer an Blindheit grenzenden Gleichgültigkeit, hinter der sich ein Muster verbarg.

Männer machten Nora nervös. Es sei denn sie waren junge oder alt.

Und irgendwann hatte sie sich unbewusst angewöhnt, die männliche Hälfte der Bevölkerung nur am Rande wahrzunehmen. Es sei denn, sie waren besonders auffällig und kratzten an einer anderen Säule des komplexen Palastes, der ihren Geist darstellte.

So wie zum Beispiel Paul.

Er war besonders auffällig. Äußerlich, sowie durch all die anderen Umstände.

Er lebte auf dem Reservatsland. Er war Teil der Gang, die so merkwürdig mit Noras Schulabgängern verwoben war.

Und er machte sie nervös. Er machte sie nervös, weil er so derartig weit außerhalb ihres Kontrollradius lag. Körperlich wie mental.

Er war ihr haushoch überlegen. In so vielen Aspekten.

Die unterschwellige Aggressivität, das vage Gefühl eines Dampfkochtopfes unter Druck und diese fast greifbare Intensität, die er zu haben schien, waren wie Wasabi auf einem ohnehin hitzigen Wesen.

Er war einfach … viel.

Zu viel für Nora. Viel zu viel.

Wieso also … wieso hatte sie sich gefreut? Wieso war sie nicht froh, dass er fort war?

Wieso fühlte sie sich in seiner Gegenwart nicht wie ein unsicherer, zitternder Kloß?

Stattdessen war es … erfrischend. Selbst die Nervosität.

Anders.

Nicht dämpfend. Sondern schärfend. Als würde sie … aufwachen.

 

Nora blinzelte.

Und bemerkte, dass sie ins Leere gestarrt hatte. Für weiß Gott wie lange.

Wie immer, wenn ihr die geballte Faust ihres zwischenmenschlichen Defizits im Kompartiment gegengeschlechtlicher Beziehungen ins Gesicht schlug, fühlte sie sich wie ein kleines, unreifes Mädchen. Wie ein Kind das am ersten Schultag vor einer Gruppe von Fremden stand.

Hilflos. Genervt von sich selbst. Und mit dem überstülpenden Verlangen der Situation schnell zu entkommen.

Wieso war es nicht einfach möglich, dass sie einen Kerl attraktiv fand? Selbst wenn er dominant schien und seine Präsenz herausfordernd war und er ein Riese.

Er musste es ja nicht erfahren.

Nora wusste, aus schmerzhaft vielen psychologischen Rollenspielen und Gruppentherapien, dass sie sich selbst gut genug im Griff hatte. Die meisten Menschen bemerkten nicht, dass sie innerlich zu einer Lache aus Unwohlsein zusammenschmolz, gegen die sie sich mit extra viel Kess nach außen stählen musste.

Die meisten Menschen hielten Nora entweder für völlig normal oder ein wenig steif. Und nervig. Die meisten fanden sie definitiv nervig.

Und so unnormal war ihr Problem gar nicht. Typische Schüchternheit gepaart mit einigen Vaterkonflikten. Daher das Vertrauensproblem in das männliche Geschlecht.

Eigentlich kein so großes Problem.

Aber seit Hannah …

Seitdem war es schlimmer geworden.

 

Hannah.

 

Es ist nicht deine Schuld.

Das Mantra, das ewige Mantra, eingetrichtert, analysiert, von tausenden Blickwinkeln beleuchtet.

Es ist nicht deine Schuld.

Und das ewige Zweifeln.

Wirklich?

Das ewige Flüstern, mal lauter, mal leiser, mal ganz versteckt und nicht zu entdecken und dann wieder stärker als zuvor, kumulierendes Echo im eigenen Fahrtwasser.

Du hast sie allein gelassen.

Du hast sie mit ihm allein gelassen.

Du warst nicht da.

Du warst fort.

 

Nora schluckte. Wappnete sich gegen das hilflose Gefühl, das sie überrollte, wann immer sie an ihre Schwester dachte. Das gegensätzliche Ziehen, eine schäumende Mischung aus Schuld und Wut und Liebe.

Ein ewiger Kampf. Schutz und Antrieb. Ein Heim schaffen. Liebe geben.

Das Wissen, Hannah los lassen zu müssen. Sie sanft zu schubsen. Den Problemen direkt in die Arme.

Immer und all gegenwärtig.

Jede Entscheidung ein vorsichtige Abwägen.

Manchmal schmerzte Noras Kopf schon vor all den Überlegungen.

Schlafen lassen oder wecken? Aktivität in den Tag bringen oder für Ruhe sorgen?

Mahlzeiten vorschreiben oder Hannah die Freiheit lassen, einen Appetit zu entwickeln, so dass sie mit dem Essen etwas Positives verband.

Hannahs Handy konfiszieren, damit sie nicht den ganzen Tag darauf starren konnte, einen Anruf erwartend, der nicht kommen würde.

Oder dem Typen das Haus abfackeln, der für den immer trauriger werdenden Gesichtsausdruck auf dem Gesicht ihrer kleinen Schwester verantwortlich war.

 

Hannahs Therapeutin vertrat die Ansicht, dass ein gut organisierter Tag bei der Regelung der eigenen Gefühle und Gedanken half. Disziplin und leichte Aktivität. Belohnung, Ruhe am Abend. Effektives Entspannen. Yoga. Muskelentspannung.

Kein Raum für geistige Trägheit und emotionale Löcher. Gefühle waren okay. Aber man sollte über sie sprechen. Sie nicht als Ausrede verwenden, um sich von der Welt abzuwenden.

Nun ja. Das funktionierte nur mittelprächtig.

Aber immerhin behandelte Dr. Wilters Hannah nicht wie eine Magersüchtige.

 

Hannahs Zustand war kompliziert. Sie hungerte nicht. Sie wollte nur nicht essen. Die Mahlzeiten verursachten ihr durchdringende Übelkeit, gegen die sie nur schwer ankämpfen konnte.

Sie litt nicht an einer gestörten Wahrnehmung. Hannah wusste genau, wie gefährlich dünn sie war. Sie kämpfte nicht gegen innere Dämonen, nicht gegen ein Leben, das die Oberhand hatte, setzte ihren Körper nicht als die einzige Figur auf den Spielplan, die sie kontrollieren konnte.

Hannah verschwand einfach. Sie verdorrte, vor Noras Augen.

Noras Bewältingungsmechanismus bestand darin Muffins in sich hinein zu stopfen.

Wo Hannah abmagerte, nahm Nora zu.

Man brauchte kein Genie zu sein, um zu sehen, dass sie sehr unterschiedlich waren.

 

Fast automatisch rührte sich wieder das Mantra in Noras Kopf.

Es ist nicht deine Schuld.

Tja. Das war ihre Arbeit in der Therapie. Es war nicht ihre Schuld. Niemand war Schuld.

An manchen Tagen kam Nora ganz gut damit zurecht.

An manchen anderen wollte sie in eine zwielichtige Ecke in einem sozial schwachen Stadtgebiet fahren und die nächste illegale Waffe kaufen, die man ihr unter die Nase hielt.

Nora würde sie nicht abfeuern können, egal wie verzweifelt und wütend sie manchmal war. Hass war ein Schwert, das man nur wirklich schwingen konnte, wenn man ignorant war.

Und Nora war vieles, aber nicht ignorant.

Nora verstand. Und sie hatte Mitleid.

Sogar mit dem traurigen Wesen, das Hannahs Vater war.

Ich hätte sie nie mit ihm allein lassen dürfen.

Nora ließ ihre Finger gedankenverloren über die Lehne des Ledersofas gleiten, das mittig in dem ruhigen Raum stand.

Ihr Wohnzimmer.

Ihr Heim.

Das Heim, das sie für Hannah erschaffen hatte. Damit sie einen Ort hatte, an dem sie heilen konnte. Heilen von Wunden, die die Menschen ihr zugefügt hatten, die sie hätten beschützen sollen.

Ein kleines Messer setzte scharfe Schnitte in Noras Brust. Ihr Kinn begann zu zittern und heiße Feuchtigkeit stieg ihr in die Augen.

Sie liebte ihre kleine Schwester. Hannah. Ihre wunderschöne, süße, fröhliche Schwester. In Noras Erinnerung immer noch das kleine, friedlich schlafende, rosa Bündel, das ihre Mutter nach sieben Monaten aufgeregten Wartens unter ihre Nase gehalten hatte.

Als Hannah geboren wurde, war Nora neun Jahre alt. Und sie hatte sofort ihr Herz an dieses winzige Baby verloren, das unendlich appetitlich roch und entzückende Geräusche machte.

Ihre kleine Schwester, die aussah wie ein lebendiges Püppchen. Daran hatte sie nie etwas geändert. Nicht an Noras schwellendem Herz, wenn sie in Hannahs blaue Augen sah, die in den letzten zwei Jahren ihren Glanz verloren hatten.

Nicht wenn sie ihre Schwester an sich drückte und ihren vertrauten Geruch einatmete, auch wenn Nora mittlerweile vorsichtig mit ihren Umarmungen sein musste, so zerbrechlich war Hannah geworden. Auch die unzähligen Fahrten zur Klinik, die sorgenvollen Telefonate und Sitzungen bei Psychologen änderten nichts daran. Jedes Lächeln ihrer Schwester, so selten sie auch geworden waren, bescherten Nora unendliches Glück.

 

Nora, Sie konnten es nicht wissen. Sie waren 19 Jahre alt und hatten gerade Ihre Mutter verloren. Sie waren selbst in einem verletzlichen Alter. Sie waren dabei, Ihr eigenes Leben zu beginnen.

Hannahs Vater war bis dahin immer eine vertrauensvolle, zärtliche Präsenz ihr ihrer beider Leben.

Hannahs Vater ist krank.

Sie haben die Anzeichen gesehen, sobald sie da waren.

Sie hätten nicht anders handeln können.

Sie hätten es nicht verhindern können. Keiner konnte das.

Je eher Sie diese furchtbare Tatsache akzeptieren können, desto besser.

 

All das und mehr. Eine neutrale Stimme in Noras Kopf konnte es mittlerweile nachvollziehen. All die Sitzungen. All die Worte. All die Rollenspiele und Fachtermini über die Nora am College selbst Abhandlungen geschrieben hatte.

Aber Hannah war ihre kleine Schwester. Ihr Baby. Ihr Püppchen.

Und Nora hatte zugelassen, dass man ihr weh tat. Weil sie fort gewesen war. Weil sie ihr eigenes Leben begonnen hatte.

Sie sind nicht ihre Mutter, Nora.

Nein. Aber ich hätte es sein sollen.

Das ewige Seufzen. Mitgefühl und Verständnis, ein kleines Bisschen Ungeduld. Die typische Mischung von Dr. Vanessa Wilters.

 

 

Es war besser gewesen. Für eine Zeit. Das Leben war in Hannahs Augen zurückgekehrt und die Übelkeit hatte sich verzogen.

Mädchenhaftes Gekicher hatte Noras Herz lauter schlagen lassen und für einige Monate schien es, dass Hannahs Wunden heilten.

Entzücktes Kreischen hatte das Haus erfüllt, ebenso wie das dunkel-krächzende Lachen eines stimmbrüchigen Teenagers.

Seth.

Sonniger, schlaksiger Seth.

Seth Clearwater, den Hannah bei einem Schulausflug, den sie als Noras Verwandte mit hatte besuchen dürfen, obwohl sie von zu Hause aus lernte, kennen gelernt hatte.

Mit dem ewigen Grinsen auf dem kupfrigem Gesicht, war seine sonniges Gemüt so positiv und strahlend, dass Hannah sich nicht nicht davon angezogen fühlen konnte.

Eine Regenwolke und die Sonne.

Die Wolke hatte keine Chance.

Bis die Sonne verschwand. Und nicht einmal eine Erklärung hinterließ. Kein Wort von Seth. Seit fast einem Jahr.

Der Tod seines Vaters, Hannahs Schmerz nicht für ihn da sein zu können. Dann fadenscheinige Ausreden. Besuche bei Verwandten. Krankheiten die sich lange hinzogen.

Und Gerüchte. Gerüchte, dass Seth nicht fort war, so wie es seine Mutter beteuerte, wenn Hannah anrief.

Und Hannahs Loch war wieder da.

Nicht tiefer als vorher – das zumindest war Dr. Wilters Einschätzung. Aber auch nicht flacher.

 

Dieses Verhalten passte nicht zu Seth.

Die Beiden waren unzertrennlich gewesen und Nora konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er Hannah so weh tun würde.

Es passte nicht.

Nicht zu Seth.

Nicht zu dem gutherzigen, freundlichen Jungen, den sie kennen gelernt und in ihr Haus eingeladen hatte. Dem Kakao aus der Nase spritze – eine Nebenwirkung von zu viel mülligem Nachmittagsfernsehen und zu viel Lachen.

Und der mit geduldiger Treue in das tiefe, dunkle Loch gespäht und die Schönheit hinter Hannahs schüchterner, trauriger Fassade gesehen hatte.

Seth hatte Hannah verstanden wie kein anderer und es geschafft sie ins Leben zurück zu holen.

Dafür würde Nora ihm auf Ewig dankbar sein.

Deswegen gab sie ihn nicht so einfach auf.

Etwas ging vor sich, etwas das ganz eindeutig nicht so unproblematisch war, wie es alle darstellten.

Sam Uhley hatte versucht Nora zu überzeugen, dass Seth nicht in Schwierigkeiten steckte. Und dabei hatte der riesige Kerl ein Gesicht gemacht wie eine Gewitterwolke. Nicht sehr vertrauenerweckend.

Er hatte sogar die Frechheit gehabt, zu erwähnen, dass es sich normalisieren würde. Und hatte dabei geschickt umschifft, überhaupt zu erklären, was es denn überhaupt war.

Nora war nicht überzeugt. Überhaupt nicht.

Und sie war nicht blöde.

Ganz egal wie einladend die Szene an Sam Uhleys riesigem Esstisch sich dargestellt hatte. Egal wie häuslich und nachbarschaftlich sich dessen Verlobte präsentiert hatte.

Etwas ging da vor sich. Nora wusste es einfach. Alle ihre Instinkte waren geweckt und Paul Lahote hatte es ihr in einer unbewussten Sekunde indirekt bestätigt.

Pass auf, wo du deine Nase hinein steckst, Rotkäppchen. Schon vergessen, wie das Märchen ausgeht?“

Unabhängig von dem dämlichen, sexistischen, vor Klischee ganz klebrigen Spitznamen den er ihr verpasst hatte, war Noras innerer Alarm angesprungen.

Und jetzt war sie entschlossener denn je, herauszufinden, was auf dem Reservatsland los war.

Es beeinflusste nicht nur ihr eigenes Leben. Es machte nicht nur ihre kleine Schwester unglücklich.

Es war Noras Job.

Sie war für das emotionale Wohlergehen der kleinen Schülerschar verantwortlich, die die Quileute Tribal School besuchte.

Und sie schuldete es Seth und Collin und Brady. Und Cuzon. Und Josh. Und Gabriel Cohen, der, wie es aussah, auch nicht wieder zur Schule kommen würde.

Aber es war nicht nur ihr Job.

Jemand wollte sie für dumm verkaufen.

Und ihre kleine Schwester war dabei verletzt worden.

Also war es persönlich.

Es bedeutete Krieg.

 

Aber sie war klein und alleine. Gegen eine Horde riesiger Muskelpakete und eine eingeschworene Gemeinschaft. Einen Stamm.

Und niemand schien sich Sorgen zu machen.

Es war nicht die traurige, aber dennoch normale Ignoranz desinteressierter, sozial schwacher Familien. So hatte sich die Stammesgemeinschaft von La Push nie dargestellt. Im Gegenteil.

Hier waren alle involviert.

Und überall wo Nora nachgefragt hatte, stieß sie auf dieselbe kalte Wand aus Schweigen.

Ein Nebel aus Ausflüchten und wortkargen Antworten, wenn Noras Fragen spezifischer wurden. Keiner der sonst so involvierten Erwachsenen schien sich zu sorgen, dass Kinder kategorisch der Schule fern blieben und sich stattdessen einer Gang zu wandten.

Und nicht nur die Eltern. Auch die Schulleitung.

Man hatte Nora höflich dazu geraten, die Sache ruhen zu lassen. Man würde bereits alle Maßnahmen ergreifen.

Man hatte sie weniger höflich darauf hingewiesen, dass Nora nicht alle Tatsachen bewusst waren.

Und geschwiegen, als Nora darum gebeten hatte, sie ihr dann darzulegen.

Man hatte sie sogar gefragt, ob sie nicht lieber eine andere Stelle antreten würde.

Seitdem hielt Nora sich in der Schule zurück.

Und auch bei den Eltern, denn die Gefahr, dass sie sich beim Prinzipal beschwerten und Nora dann ihren Job los wäre.

Das konnte sie nicht riskieren. Nicht, so lange das Rätsel ungelöst blieb.

 

Also musste sie ihre Taktik ändern.

Und dank Pauls seltsamen Verschwinden und seinem Versprechen sich um ihr Verandadach zu kümmern, hatte Nora einen Fuß in der Tür. Sie hatte einen Grund nach La Push zu fahren.

Der Gedanke an Paul ließ sie erschaudern.

Wieder überkam sie das seltsame Gefühl von Enttäuschung, dass sie für einen Moment ein wenig verwirrt hinterließ. Verwirrt und kalt.

Wieder erschauerte sie.

Stirnrunzelnd rieb sich Nora über die Arme. Eine ungewohnte Ungeduld erfüllte ihre Gliedmaßen. Ein schweres, zittriges Gefühl, wie überschüssige Energie, die abgebaut werden wollte. Nur dass gleichzeitig matte Trägheit an ihren Knochen zog. Die gleiche Schwere, die sie aus ihren Träumen mit in den Tag genommen hatte.

Vielleicht brütete sie eine Erkältung aus.

Sie würde einen Tee kochen.

Was half schon besser gegen innere Kälte und einen sich anbahnenden Infekt? Außerdem sollte sie sich Socken anziehen.

Und dann würde sie nachdenken.

So lange, bis sie einen Plan hätte.

 

 

 

 

„Hört er uns?“

Ein grunzendes Bekunden von Unwissen.

„Er hat sich seit Stunden nicht bewegt.“

„War ein ganz schöner Schock für ihn.“

Jemand lachte dunkel. „Das werd ich ihm auf Ewig unter die Nase reiben.“

„Pass auf, dass er dir nicht deine eigene Scheiße unter die Nase reibt.“

Jareds Stimme, die durch den Nebel flimmerte.

„Ich weiß nicht, ist das richtig so? Soll das so sein?“

„Woher zur Hölle soll ich das wissen?!“

War das Quil?!

Die Fragmente von Pauls Bewusstsein begannen sich wieder zu verknüpfen. Ein scharfer Impuls von etwas, das sich bekannt anfühlte, brannte an Zündschnüren und langsam flackerten Gedanken durch die dichte, stählerne Watte, die seinen Verstand und seine Sinne umwickelte.

Quil?!

Zuerst Freude. Quil war hier!

Dann eine Sense zwischen den Rippen.

Schmerz. Verrat.

Paul spürte seine Brust wieder. Und sein Herz. Das ihn mit einem heftigen Schlag ins Jetzt zurück beförderte.

„Weil du dich auch geprägt hast, du Hornochse.“

Embry.

Noch ein bisschen von Paul kämpfte sich zurück an die Oberfläche von Zeit und Raum.

Quil. Und Embry.

„Es ist für jeden von uns anders.“ Quil klang angespannt. „Hast du es nicht oft genug gesehen, du Gedanken-Spanner?!“

Paul verbesserte seinen Eindruck: Quil war wütend.

Ein empörter Laut und dann ein „Arschloch. Als ob ich mir diesen Hirnfick freiwillig antue.“

Pauls Sinne kehrten zurück. Langsam. Schwerfällig. Taub und prickelnd wie ein eingeschlafener Fuß und gleichzeitig hypersensibel.

„Hat er grade was gesagt?“

„Er hat das Gesicht verzogen, du Schwachkopf.“

„Hat er Schmerzen?“ Brady. Und dann erneut, dieses Mal panisch: „Tut es weh?!“

Ein dumpfer Schlag, gefolgt von Bradys Hey.

„Natürlich tut es nicht weh sich zu prägen.“ Wieder Quil. „Wahrscheinlich muss er nur furzen oder so was.“

„Lasst ihn in Frieden.“ Eine sanfte, ruhige Stimme. Emily. Wieder machte etwas in Paul einen Schlag. Etwas, das diesen Zustand aus Watte und Nebel nicht wollte.

Emilys Geruch kam näher. Paul machte einen Laut der Abwehr.

Das war nicht der Geruch, den er riechen wollte. Nicht so nah.

„Bist du ok, Pauli?“

Eine zarte Berührung an seiner Stirn, vor der er sich zurückzog.

Die Relikte von Paul wollten ihn zu einer Entschuldigung zwingen. Er wollte Emily nicht verletzen.

„In Ordnung. Schon verstanden.“ Emily seufzte. Ein weicher Atemwirbel, der auf Pauls schmerzhaft verfeinerten Geruchssinn traf.

Er begann zu würgen.

„Was ist los?!“ Eine Wolke aus Panik verdampfte in der Luft und machte Paul nervös. Das Scharren von vielen Füßen in unmittelbarer Nähe. Mehr als ein halbes Dutzend Herzen die schlugen. Aufregung in der Luft.

Seine Arme zuckten, dann sein Oberkörper, als die Empfindung dafür zurückkehrte.

Ein Rucken durchfuhr ihn und Pauls Kopf krachte gegen etwas Hartes.

„Hat er einen Anfall oder so was?!“

Eine schwere Hand packte ihn an der Schulter und hielt ihn fest.

„Beruhig dich, Mann!“

Paul musste sich nicht beruhigen. Er musste aus diesem Geschmiere aus Gerüchen heraus. Er musste wo anders hin. Er musste …

Zu Nora.

 

Pauls Augen flogen auf. Und die Welt raste in tausend einzelnen Eindrücken auf ihn zu.

Zu viel. Zu viel. Zu viel.

Sein Atem ging schnell und sein Kopf schmerzte von den Bildern, die er auf einmal zu verarbeiten versuchte.

Emily, die ein wenig abseits auf dem Boden kniete. Jared direkt neben Paul, die Hand auf seiner Schulter. Paul Blick harkte an dem vertrauten Anblick hinauf, klebte an dem familiären Gesicht fest. Ein Orientierungspunkt in dem drehenden Wirbel aus Welt und Zu Viel.

Bekannte Gesichter im Hintergrund, die klärende Präsenz des Alphas rechts von ihm.

„Hey, du bist zurück!“ Das enthusiastische, laute Jubeln ließ Paul zusammen zucken.

„Schnauze!“

„He, alles okay, Buddy!“ Jareds Stimme war tief und leise, ein Anker in der sich drehenden Welt, die keinen Sinn mehr machen wollte, egal wie Paul sich anstrengte.

Eine Welle von Übelkeit rollte über ihn hinweg und hinterließ ein kränkliches Gefühl von Schwindel und Schwäche.

„Es ist verwirrend, ich weiß.“

Wieder suchte Paul Jareds Blick. Seine Hand fand dessen T-Shirt und krallte sich daran fest.

Verständnis färbte Jareds vertrautes, freundliches Gesicht und seine Ruhe begann durch Pauls Haut in seine Knochen zu sickern.

„Du musstest es dir auch mal wieder schwerer machen, als eigentlich nötig, du alter Dickschädel.“

Dunkles Glucksen erklang um ihn herum. Ein beruhigendes Geräusch, das nach Kameradschaft schmeckte.

Paul drehte den Kopf und ließ seinen Blick über die Szene fliegen.

Sam und Emily, die vorsichtig aufstanden, Sorge auf beiden Gesichtern.

Brady und Collin, die mit Josh, Cuzon und Gabe etwas abseits standen.

Und links von Paul, Embrys grinsendes Gesicht, direkt neben Quils mürrischem.

Paul starrte die beiden an.

„Was macht ihr hier?!“ Seine Stimme klang überraschend normal, auch wenn er sich selbst darüber wunderte, dass die Worte überhaupt den Weg aus seinem zirpenden Kopf heraus gefunden hatten. Er hörte, wie Emily erstaunt einatmete. Wie lange war er in diesem halb komatösen Zustand gewesen? Und wieso?

Überraschung huschte synchron über alle Gesichter, dann verschränkte Quil demonstrativ die Arme vor der Brust, während Embry zu Boden sah.

„Immer noch so ein Arschlos, huh?“

„Nicht der richtige Zeitpunkt, Quil“, mahnte Sam von der Seite.

Pauls Augen wanderten von den zwei Verrätern zurück zu seinem Alpha. Nahm dessen angespannte Haltung wahr und den unterschwelligen Widerstand.

Etwas in Paul entspannte sich.

Was auch immer vor sich ging, Sam war nicht begeistert. Das genügte Paul.

Er ordnete die Anwesenheit der zwei Schwachköpfe als vorübergehen unwichtig ein.

Erst einmal musste er die Situation für sich selber klären.

 

Paul fühlte sich matt und dumpf. Verlangsamt. Als hätte er Wasser in den Ohren. Benommen schüttelte er seinen Kopf und machte Anstalten aufzustehen.

Sofort packte Jared ihn unter den Armen und zog. Bradys Hände waren ebenfalls da und hielten ihn.

Erstaunlicherweise brauchte Paul ihre Hilfe. Er schwankte, als er auf beiden Beinen stand.

„Was ist passiert?“ Er erinnerte sich an den Morgen. Die Euphorie die damit verbunden war und dann das knochentiefe Erschrecken.

Er erinnerte sich an blaue Augen. An Flammen und Eis am ganzen Körper, an schmerzhaftes Auftauen von etwas Tiefem.

Seele. Erkennen. Gier.

Seide.

Es waren keine Erinnerungen. Es waren Eindrücke. Verschmolzen mit Farben und Bildern und Gefühlen. Gerüchen.

Würzige Süße.

Nora.

Rotkäppchen.

Der Schock lähmte ihn und er war dankbar um die helfenden starken Arme seiner Brüder.

Paul hatte sich geprägt.

Wie konnte das funktionieren? Es war nicht das erste Mal gesehen, dass er ihr in die Augen sah.

War etwas falsch gelaufen?

Hatte er sich nicht richtig geprägt?

Nein. Nein, das konnte auch nicht sein.

Der Wolf war sich sicher. So verwirrt und benommen Paul auch war, der Wolf hatte keine Zweifel.

Der Wolf wusste es.

Und er war wütend.

Es war selten, dass ihre Gefühle nicht synchron verliefen, Pauls und die des Wolfes. Für gewöhnlich stimmten sie in so ziemlich allem überein.

Vielleicht war das die Ursache für seine Desorientierung. Seit seiner ersten Wandlung waren sie aufeinander geeicht, der Wolf Teil von Paul und kein eigenständiges Lebewesen. Paul war der Wolf.

Der Teil von ihm, der eins war mit den Legenden und Zaubern einer alten Welt. Die Magie seines Blutes und dem seiner Vorväter.

Pauls Wolf war Geist und Geschichte und Gene. Die animalische Seite eines jeden Mannes übernatürlich verstärkt und verfleischlicht.

Aber in diesem Moment fühlte es sich so an, als würde etwas Fremdes in seinem Körper wohnen. Ein Alien der ihn besetzte, ein besessener Geist, der ganz und gar nichts mit ihm gemein hatte.

Erneut wuschen Übelkeit und Schwäche über ihn hinweg.

„Dude, du siehst echt nicht gut aus.“ Pauls Blick flackerte zu Brady, der ihn verunsichert musterte. Große braune Augen in einem Gesicht, das viel zu kantig war für einen Sechzehnjährigen.

Er musste dem Kleinen Recht geben. Wenn er richtig lag, war das Schweiß, was er da auf seiner Oberlippe fühlte.

Tja, das hatte es auch schon eine Weile nicht mehr gegeben.

„Schaffst du es zum Sofa, Paul?“

Paul nickte, auch wenn er sich ganz und gar nicht sicher war und machte ein paar unbeholfene Schritte, immer noch gestützt von Jared und Brady. Die anderen teilten sich wie auf ein stummes Kommando, selbst Embry und Quil noch so sehr mit dem Rudel verwoben, dass die Bewegung so nahtlos und seidig wirkte wie immer.

Nicht wie immer, verbesserte Paul sich, wie früher.

 

Nicht nur Paul ächzte, als er in das Sofa sackte.

Jared faltete sich neben ihm zusammen, den Rücken an die Ecke der breiten Sitzlandschaft gelehnt.

Sam ging davor in die Hocke, die Stirn über dunkel schimmernden Augen in steile Falten gelegt.

Konzentriert betrachtete er Paul, der dessen Blick matt erwiderte.

„Rede mit mir, Paul, wie ist es passiert?“

Wie, nicht was.

Paul war der Fünfte von ihnen. Sie alle hatten es mittlerweile oft genug gesehen, um es zu erkennen.

Prägung.

Scheiße.

Paul atmete schwer aus und ließ den Kopf in den Nacken kippen.

„Fuck“, raunte er müde und rieb sich über die Augen. Jede kleine Erinnerung an die Geschehnisse brachten das Gefühl wieder. Ein kränkliches Absacken in seinen Gliedern, das Gefühl wie auf einer Achterbahn, kurz vor dem großen Sturz. Ein innerkörperliches Schwanken, wie ein Korken auf unruhigen Wellen. Und Kälte die brannte.

Ein Zittern vibrierte über seine Haut hinweg, wie tausend kleine Spinnen, die winzige Schlaghämmer als Beine hatten. Paul schüttelte sich.

Wieder war es Jareds überwarme Hand, deren fester Griff ihn erdete.

Paul stöhnte leise und schloss die Augen.

„Ich hab mich scheiße noch mal geprägt.“ Die Worte waren harsch, aber seine Stimme fehlte der nötige Biss. Paul presste die Zähne aufeinander. Er klang so weinerlich, dass es ihm auf ganz andere Weise weh tat. Er klang wie eine verdammte Pussy.

„Du musst dich konzentrieren, Paul. Was ist passiert? Warum ist es nicht schon vorher passiert?“

Paul öffnete die Augen. Sah direkt in Sams dunkle. So dunkel, dass sie im nachlassenden Nachmittagslicht – scheiße, so spät war es schon? – beinahe schwarz aussahen.

Alpha, raunte eine innere Stimme und Paul beruhigte sich.

Genug um sich aufzurichten und seine Gedanken zusammen zu kratzen.

„Wir waren dabei, als du sie das erste Mal gesehen hast. Was war da los? Warum ist es da nicht passiert?“

Jedes Murmeln, jedes Füßescharren war verstummt, das Gewicht jeder fokussierten Aufmerksamkeit auf Paul gedrückt.

Sie alle waren höchst interessiert.

Die Prägung war ein Mysterium. Jeder hatte seine eigenen Theorien, aber mit jedem Fall lernten sie mehr darüber.

Und wie es schien, musste Paul mal wieder eine beschissene Ausnahme bilden.

„Er hat sie vorher schon mal gesehen?“, fragte Quil und klang dabei fast so wie früher. Bevor Paul ihn einen beschissenen Verräter genannt hatte. „Und es ist nichts passiert?“

Er klang ungläubig. Und beinahe freundlich.

„Das stimmt nicht ganz.“

Die kurze Luftbewegung im Raum zeugte davon, dass sich alle zu Jared drehten. Selbst Paul öffnete die Augen.

Jared erwiderte die Blicke nachdenklich. Dann hob er die Schultern.

Er nickte kurz in Pauls Richtung.

„Er war ziemlich auf sie fixiert. Und es war … komisch.“

Sam betrachtete Paul schweigend. Die Windräder seiner Gedanken könnten eine ganze Stadt mit Strom versorgen, so schnell drehten sie sich.

Paul sagte nichts. Was gab es dazu schon zu sagen? Jared hatte Recht.

Paul war übermäßig auf Nora fixiert gewesen. Er hatte sich in diesem Moment nichts dabei gedacht, es einfach als seine typische Reaktion auf eine herausfordernde Präsenz wie ihre gesehen. Er reagierte häufig heftiger als die anderen.

Sein Blut sprudelte heißer und seine Kontrolle war nicht die Beste.

Es brachte ihn oft in Schwierigkeiten, aber so funktionierte er einfach.

Er kühlte genauso schnell wieder ab.

Also war das an sich nichts Außergewöhnliches gewesen. Und das andere … das Körperliche. Das hatte Paul auf eine zu lang andauernde sexuelle Trockenphase geschoben.

Verdammt, er hatte sich über sich selbst lustig gemacht.

Sie hatte ihn gereizt, ein paar seiner Saiten gezupft. Alles an ihm prickeln lassen und trotzdem eine verführerische Ruhe in ihm ausgelöst.

Trotz allem war nichts passiert.

 

Als sie an dem Abend als er das Fahrrad gebracht hatte, die Tür öffnete, ihre kleine Gestalt von sanftem Licht erhellt, war da nichts gewesen. Nichts außer Vorfreude und der lockende Cocktail, den Adrenalin in seinem Blut zusammenbraute.

Keine Schwindel erregende Heiß- und Kaltreaktion. Kein Zerreißen von Welten.

Paul hatte sie direkt angesehen und …

„Die Brille.“ Paul sah ruckartig auf. So schnell, dass selbst Sam kurz zusammenzuckte.

„Die Brille“, wiederholte er, immer noch zu sich selbst, während seine Gedanken sich überschlugen.

„Was?“

„Was quatschst du da, Alter?!“

Paul fixierte Sam. „Sie trägt eine Brille.“

Niemand rührte sich. Es war Emily, die zuerst sprach.

„Kann das etwas machen?“

Paul hob den Kopf. Sie stand ein wenig abseits, wahrscheinlich auf Sams Bitte hin. Sofort fühlte Paul sich schuldig. Das hier musste sie sehr aufregen.

Sie hatte so viel Scheiß erlebt, wegen dieses beschissenen Fluchs.

Wieder stach die Erkenntnis zwischen Pauls Rippen. Ein Messer mitten ins Fleisch.

Er wollte das nicht.

Nichts davon.

Er würde nicht jemand Unschuldigen mit in diese verdreckte Welt hineinziehen, mit der er klar kommen musste.

Wieder war es Emily, die etwas sagte.

„Aber sie trug keine, als sie hier war.“ Sie sah zu Sam, der ihren Blick sofort erwiderte, als er ihre Augen auf sich spürte.

Er nickte nachdenklich.

Aber Paul kannte die Antwort darauf. Es war ohnehin seltsam gewesen, dass ihm dieses Detail in Erinnerung geblieben war.

„Sie trug Kontaktlinsen“, murmelte er brüchig und schloss wieder die Augen.

In seinem Kopf hatte sich ein Bild zusammengesetzt. Eine wabernde Erklärung, die er gar nicht tiefer ergründen wollte, sondern einfach akzeptierte.

Er wollte nicht weiter darüber nachdenken.

Ihre Augen. Blickkontakt.

Die Prägung fand immer dann statt, wenn Blicke sich kreuzten.

Augen. Der beschissene Spiegel der beschissenen Seele.

Und anscheinend war das sehr buchstäblich zu sehen.

Es war Embry, der es mit seiner typischen Art das Offensichtliche auszusprechen, auf den Punkt brachte.

„Das ist echt kaputt.“

 

 

Sam brachte Paul dazu, die wenigen Momente vor der Prägung zusammenzufassen. Ab einem bestimmten Punkt musste Sam ein Alphakommando einsetzen, denn Paul versagte die Stimme.

Er wollte nicht darüber sprechen. Er wollte es einfach nur vergessen.

Er wollte es zumindest versuchen, so unwahrscheinlich diese Möglichkeit auch war.

Aber Befehl war Befehl, also kanalisierte Paul seine Energie in Richtung Worte und Sprache.

Irgendwann war es, als würde er sich selbst nicht mehr zuhören. Ab diesem Moment ging es leichter.

Umso irritierter war Paul, als Sam ihn unterbrach.

„Du hast dich geprägt und du konntest einfach gehen?“

Wie Blei sank Pauls Kopf in die Schale seiner Hände. Er wollte nicht daran denken. Die Übelkeit verschlimmerte sich jedes Mal, wenn er versuchte, aus seinen überhellen, gesplitterten Erinnerungen, ein sinnvolles Bild zusammenzufügen.

Er schluckte, die Bewegung träge und seltsam verspätet in der motorischen Umsetzung.

Einfach nun nicht gerade“, sagte er langsam. Er drehte den Kopf, als einige Sekunden in Schweigen dahin tickten. Die Blicke die er Sam und Jared tauschen sah, waren bedeutungsvoll, die Fähigkeit völlig wortlos miteinander zu kommunizieren, bei diesen beiden ersten Wölfen noch stärker ausgeprägt, als bei den anderen im Rudel.

„Aber du bist weg?“, fragte Sam schließlich, sein Gesicht auffallend frei von Emotionen. „Ohne etwas zu sagen?“

„Ohne etwas zu tun?“ Das kam von Jared, der wie immer ein beschissenes Pokerface hatte und offen glotzte.

Anspannung versuchte in Pauls Gesicht zu klettern, rutschte jedoch an der glatten Schlaffheit jeglicher Muskulatur in seinem Körper ab. In seltsam verdrehter Position, vorgebeugt und den Kopf in den Händen, sein Blick abwechselnd zwischen Alpha und Beta, bewegte Paul matt die Schultern.

Er verstand nicht, worauf sie hinaus wollten.

Scheiße, machte Sam sich etwas Sorgen, dass Paul unhöflich gewesen sein könnte?

„Ich weiß es nicht, okay?!“, blaffte er, ein wenig ernüchtert davon, wie erbärmlich es klang.

Ein kastrierter Wolf.

Scheiße!

Gepresst atmete Paul aus, während er sich aufrichtete. Es zumindest versuchte. Seine Mitte fühlte sich taub an. Und schwach. Als hätte sie keine Kraft seinen Oberkörper zu halten.

Es war ein Gefühl, das nichts mit Muskeln und Knochen zu tun hatte, sondern tiefer ging. Eine außerkörperliche Schwäche, die trotzdem ganz von Innen kam.

Paul lehnte sich gegen den stützenden hohen Rücken des Sofas, den Hinterkopf an der weichen Polsterung. Es fühlte sich gut an. Vertraut. Stabil.

„Vielleicht hab ich gesagt, dass ich weg muss. So `n Bullshit eben.“ Paul starrte geradeaus, das Rudel ein verschwommenes, dunkles Flimmern in seinem peripheren Sichtfeld. „Ich hab zumindest dran gedacht“, fügte er leiser hinzu. Das Problem war, dass er es nicht mehr genau wusste.

Scham war ölig und klebrig, ein Gefühl das er nicht abwehren konnte.

In diesem erschütternden Sturz aus seiner alten Welt in diese beschissene neue, hatte er keine Kontrolle gehabt.

Für gewöhnlich störte ihn das nicht. Meistens hatte er bedeutend mehr Spaß, wenn er die Kontrolle verlor.

Aber das war etwas anderes. Ein ganz anderes Kaliber. Es ließ ihn schwach wirken.

Hilflos wie ein blinder Welpe, ohne den Vorteil von entzückender Niedlichkeit.

Scheiße, er konnte sich nicht erinnern. Was hatte er gesagt?

Schlimm genug, wenn er sich wie ein jämmerlicher Weichling verkrochen hatte, mit so wenig Gewalt über seine Reaktionen, dass er nur hoffen konnte, nicht gesabbert zu haben.

Aber die Vorstellung dass etwas in seinem Verhalten eventuell das Rudel gefährden könnte…

Er wusste es nicht. Alles was er sah, wenn er versuchte sich zu erinnern, waren ihre Augen.

Gott, diese Augen.

Wieder walzte tonnenschweres Gerät an Übelkeit über Paul hinweg.

Ein Ächzen vibrierte ihn seinen Knochen, als die mittlerweile nicht mehr so fremde heiße Kälte durch ihn hindurch wirbelte.

„Gedacht?“, fragte Sam zögerlich. „Du hast gedacht? Dabei?“ Paul hätte sich vorstellen können, dass Sam den exakt gleichen Tonfall benutzen würde, um zu fragen:„Du hast eine Schnecke angezündet? Mit einem Korkenzieher?“

 

Quil gluckste, dabei kannte er nicht mal Pauls Gedanken.

Aber Paul kannte die von Sam. Nicht genau. Dafür bräuchte er den Wolf. Und eher würde er mit einem Blutsauger die Friedenspfeife rauchen und ihm danach die Eier lecken, als jetzt zu wandeln. Aber Paul kannte seinen Alpha.

Und mochte er auch noch so benebelt sein, er wusste, dass sein Alpha keinen schlechten Witz auf Pauls Kosten gemacht hatte.

Es ging um etwas anderes.

Er blinzelte langsam. Der Auftakt von einem weiteren Versuch Ordnung und Sinn in den hitzigen Schneesturm zu bringen, der Pauls Gedanken waren.

Er konzentrierte sich. Zerrte an den nebulösen Fetzen seines Gedächtnisses, zog sie aus dem Morast aus verblichenen Bruchstücken, die den heutigen Morgen pflasterten.

Zuerst sah er Sam, dann Jared an.

„Ein bisschen“, sagte Paul schließlich und beantwortete damit Sams Frage. „Nicht viel.“ Er stockte, als ihm so stark und plötzlich übel wurde, dass es sich anfühlte, als hätten sich seine Eingeweide mit einem Blitzschlag in eruptierende Kotze verwandelt.

Er sog abrupt Luft ein, um den Würgereflex zu unterdrücken, versuchte aber gleichzeitig darum herum zu sprechen. „Es war … schwierig.“ Paul legte die rechte Hand an den Bauch. Selbst für seine Verhältnisse fühlte sich seine Haut durch den Stoff des Shirts heiß an.

Für einen Moment wünschte er sich, er würde einfach endlich kotzen. Dann hätte er zumindest für einen Augenblick Ruhe vor diesem widerlichen Gefühl.

„Es ist ein Wunder“, sagte Sam, seine Stimme ernst und nachdrücklich, „dass du überhaupt einen Gedanken fassen konntest, der nicht sie war.“

 

Es traf Paul wie eine Lawine. Schnee und Eis traf auf brodelnde Lava und verdampfte in Millisekunden, die Gewalt der Wasserdampfexplosion so heftig, dass er für einen kurzen Moment nur Weiß sah. Die Welt wankte.

Nicht ein klarer Gedanke verblieb in Pauls Verstand. Alles war Farbe, alles war blendend hell, alles war Nora. In Facetten und Aspekten, aufgeteilt in tausend kleine Bilder, alle Bilder die er von ihr hatte.

Es waren zu viele. Und sie vermehrten sich. Verpaarten sich untereinander und gebaren Zukunft.

Zu viel. Zu viel. Es war viel zu viel.

Paul hörte ein Geräusch, ein Wimmern und Jammern und der letzte Rest Rationalität in ihm sagte, dass er selbst dieses Geräusch machte.

 

„Alter, der ist ganz schön hinüber.“

„Halt die Klappe Quil.“ Der dunkel drohende Ton des Alphas.

„Ist ja gut.“

„Es ist Wahnsinn. Wie hat er das geschafft?“ Jareds besorgte Stimme. „Er war den ganzen Abend bei ihr, ohne dass die Prägung sich durchgesetzt hat.“

Eine Pause entstand, in der Paul nichts weiter tun konnte, als sich nicht gegen das Leben zu wehren, das unaufhaltsam durch ihn hindurch strömte, ihn unbarmherzig weiter durch diese Folter zerrte.

Bewegungen um ihn herum. Rascheln von Kleidung, Scharren von Füßen. Herzschlag, Atemzüge.

„Und er hat ihr keine Zeit gegeben, sich zu setzen.“ Wieder Sam. Ernst. Ruhig. Aber sehr ernst.

„Was soll das bedeuten?“ Quils dunkles Schnarren war nun ebenfalls von Besorgnis geflutet. „Die Prägung hatte keine Zeit, sich zu setzen?“

„Er ist sofort abgehauen. Bam, deine Welt implodiert, zwei Pole werden zu einem, aber du rennst weg, bevor die Welt sich wieder neu ausgerichtet hat.“

„Ich versteh nich. Was ist los mit ihm?“ Embrys leisere Stimme, gedämpft wie durch eine Hand vor den Lippen.

Wieder eine Pause.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Sam schließlich, während Pauls Attacke so weit abebbte, dass er den Worten des Alphas folgen konnte.

„Ich glaube, er steckt fest.“

Diese Pause war anders als die davor. Verwirrung verstaubte die Luft und Vorahnung verdichtete sie zu einer dicken Masse, die man kaum atmen konnte. Schwer ruhte die Stille in dem Zimmer.

„Das heißt, er ist noch nicht geprägt? Nicht vollständig?“

Ein kurzer Hoffnungsschimmer regte sich in Paul.

Scharf wie ein Skalpell half es ihm, seine Gedanken zu sezieren und den Himmel wieder empor zu stemmen, der ihm über den Kopf gerutscht war.

„Ich weiß es nicht“, murmelte Sam und es klang, als wäre er von dem Rätsel nicht begeistert.

 

Quil stürmte durch das Absperrband der Situation, indem er sich auf das Sofa fallen und es erbeben ließ und dann seine große Klappe öffnete.

„Wer ist die Unglückliche eigentlich?“

Es war die Hoffnung auf einen Ausweg aus dieser dreckigen Misere, die Paul die mentale Kraft gab, sich gegen das erneute Schwanken in seinem Körper zur Wehr zu setzen. Zumindest ein bisschen.

Er musste sich nur ruhig verhalten.

Atmen.

Ein.

Aus.

Ein.

Aus.

Paul fand heraus, dass gleichmäßiges Atmen die Übelkeit vertrieb. Es war wie der Horizontblick bei Seekrankheit. Ein Ankerpunkt inmitten des Schwankens.

Um ihn herum war ein reger Wortwechsel entstanden, angeführt von Quil, dessen Tonfall immer ungläubiger wurde, während er den jüngeren Rudelmitgliedern immer neue Fragen stellte. Die erstaunlicherweise brav beantwortet wurden.

Paul war überrascht, dass sie es konnten. Bis ihm der Grund dafür einfiel.

Sie arbeitete an der Schule.

Die Schule, die die jungen Wölfe bis vor kurzem besucht hatten.

Langsam begann Paul sich auf das Gesprochene konzentrieren zu können.

Quil schien gerade verstanden zu haben, um wen es sich bei der Unglücklichen handelte.

„Aber … sie ist doch überhaupt nicht sein Typ.“

Die Worte formten sich zu langsam in Pauls Kopf. Er konnte nicht reagieren. Es war wohl besser so. Keine Kommentare über nen Typen, der sich auf ein Kind prägt.

Man scherzte nicht über die Prägung. Und man urteilte nicht. Es war eine Regel.

Und Quil konnte sich nur deswegen so nah an die Grenze bewegen, weil Sam abgelenkt war.

Emily war schon vor der Sache mit den Wölfen einer von Pauls loyalsten Verteidigern gewesen – und er brauchte dringend einen, bei dem ganzen Scheiß den er anstellte – und so stellte sie sich jetzt schützend vor ihn. Zumindest verbal.

„Und was soll Pauls Typ sein, Quil?“

Wenn Quil clever gewesen wäre, hätte er jetzt die Klappe gehalten. Em wurde nicht oft schnippisch, aber die Prägung war bei ihr ein empfindliches Thema. Kein Wunder. Es hatte ihr so viel Leid wie Freude bereitet und manchmal wusste Paul nicht, wie es ganz tief unter der offensichtlichen Liebe für Sam wirklich in ihr aussah.

Quil war nicht blöde. Aber manchmal etwas begriffsstutzig.

„Keine Ahnung. Blöd und sexy?“

Em schnaufte, noch bevor Paul sich angegriffen fühlen konnte. Warm erfüllte es seine Brust.

Danke, Em.

„Sei nicht so ein Klischee, Quil!“ Ihre sonst so sanfte Stimme war kantig und explosiv geworden. Ihre Worte kleine Kanonenkugeln. „Ich hasse so ein Gerede.“

Jemand boxte Quil, wahrscheinlich Jared, der ihm am nächsten saß. Paul hatte immer noch die Augen geschlossen und plante nicht, sie für so etwas Unwichtiges zu öffnen. Gerade hatte sich die Lage für ihn etwas beruhigt und seine Umgebung wurde wieder deutlicher.

„Ich meine nur“, begann Quil und die Luft tropfte beinahe von seinem greifbaren Zwang, die Welt mit den Mysterien seines Geistes zu beschenken.

„Sie sieht so...“, er zögerte und ausnahmslos alle im Raum hielten in angespannter Vorahnung den Atem an, als er sich schon wieder so nah an das heilige Thema Prägung heranwagte, „… zugeknöpft aus.“

Heikel, aber nicht skandalös abfällig und der Korpus angehaltener Atem entwich in einem Gleichklang windiger Erleichterung, genau in dem Moment, als Quil nachlegte.

„Und total frigide.“ Und damit war er geradewegs über die Grenze spaziert.

Embry und Brady stöhnten. Emily machte einen wütenden Zischlaut und Sam knurrte dunkel.

Auf Paul wirkten Quils Worte wie Meteoriten. Sie schlugen auf dem wackligen Fundament dieser neuen, elenden, Kopf stehenden Welt ein, in die sein Leben sich verwandelt hatte.

Sie explodierten und sprengten etwas von der Krankheit fort, die ihn befallen hatte.

 

Paul erkannte das Gefühl und klammerte sich daran wie ein Schiffbrüchiger an Treibholz. Es war Wut. Wut die mit dem vertrauten, seligen Feuer in ihm aufbrodelte und immer mehr von der verstörenden Kälte und der unerträglichen Übelkeit verdampfte.

Paul hieß sie willkommen wie einen lange vermissten Freund. Sie Fäuste zuckten, aber Jared – der wie ein Seismograph wusste was kommen musste – packte Paul am Arm und drückte ihn zurück in das Sofa.

Wut mochte gerade beginnen, ihn von der üblen Seuche zu befreien, die ihn in ihrer verseuchten Klaue gehalten hatte, aber sie konnte ihm nicht die körperliche Stärke geben, gegen Jareds Griff anzukommen. Kaum versucht, gab Paul schob auf.

Stattdessen konzentrierte er sich darauf, das bekannte Gefühl in seinem Körper auszubreiten. Schickte es in seine Beine und Arme, jeden noch so abgelegenen Winkel zwischen Muskeln und Sehnen, füllte sich mit seinem alten Gefühl von Selbst.

Die Veränderung war beruhigend. Er wurde wieder Paul.

Allerdings war es besorgniserregend, dass es Quils Worte waren, die diese erleichternde Verändern bewirkt hatten.

Es war der machtvolle Instinkt Nora zu verteidigen, zu beschützen, jedes Unheil, verbal oder physisch auszulöschen, der für diese Klärung sorgte.

Etwas Raues in ihm glättete sich, Ordnung kehrte zurück, Wände stützten sich und machten Platz für Paul. Für ihn und sein Wesen, seinen Charakter, seine Gedanken, Erinnerungen und Gefühle.

Jemand Schwächeres hätte vor Erleichterung heulen mögen.

Die Welt wankte nicht mehr.

Geräusche überlagerten sich nicht weiterhin zu einem deformierten Teppich, Gerüche kehrten in ihre normalen Ströme zurück.

Die merkwürdig brennende Kälte war fort und die Übelkeit verschwunden.

Vergessen. Verpufft. Nur der vage Eindruck als Stempel noch auf Pauls Knochen.

Er war wieder er selbst.

Und er war scheiße noch mal misstrauisch.

Quil hatte nichts gesagt, das Paul nicht auch gedacht hatte.

Bevor er es besser wusste.

Bevor er ihre nackte Zehen gesehen hatte und ihr aufgeplustertes Haar, wirr und sexy, die ganze Erscheinung das ganze Gegenteil von frigid.

Nervös und entspannt, leuchtend und zerzaust vom Schlaf. Mit einem herzzerreißenden Lächeln und einer betäubenden Süße.

Zugänglich. Weich. Weiblich.

Jemand mit dem man all seine Geheimnisse und Gedanken teilen, dem man den Kopf in den Schoß legen wollte, um dort die Augen zu schließen.

 

Paul stöhnte heiser.

Fuck!

Es hatte ihn so was von erwischt.

Scheiße!

Er hätte es so was von wissen sollen.

Wieso hatte er es nicht gewusst?

Alle Zeichen waren da gewesen. Und er hatte sich aus dem schlimmsten Anfall von Hirnverderbtheit dazu entschieden, sie zu ignorieren.

Um ihn herum wurde Quil mit Vorwürfen behagelt, aber Paul konnte nicht mal Befriedigung darin finden.

Er konnte nur daran denken, dass Quil genau das gesagt, was Paul selbst vorher gedacht hatte.

Und dass es irgendwie dazu geführt hatte, dass sich seine Welt wieder klärte.

Als hätte der quellende Zorn dazu geführt, dass Paul wieder denken konnte.

Das mit der Wut überraschte ihn nicht, es störte ihn, dass Quils Aussage diese Kraft hatte.

Dass seine Worte der Auslöser waren, wo sie doch exakt Pauls Gedanken entsprachen.

Der Impuls Quil dafür die Zähne mit TNT aus seinem dreckigen Mund zu sprengen und die Fetzen seiner Zunge als Trophäe an einer Kette zu tragen, kam dem verbleibenden rationalen Teil Pauls deswegen übertrieben vor.

Diesem rationalen Teil fiel auch auf, dass die neue Klarheit in seinem Kopf mit dem Instinkt Nora zu beschützen korrelierte.

Je mehr er dem nachgab, desto ruhiger wurde es in ihm.

Ein unguter Gedanke schlug in ihm Wurzeln. Paul folgte ihm in den Kaninchenbau, während er Emilys Worten lauschte.

„Ich weiß“, begann sie in diesem mütterlich genervten Tonfall, den sie nur anschlug, wenn sie wirklich angepisst war, „wir Frauen können uns nicht beschweren. Und ich werde euch nicht langweilen, in dem ich von Gleichberechtigung anfange.“ Ihre Stimme klang so brüchig wie der trocknende Sand einer Sandburg, was verhinderte, dass die groben Kerle um sie herum anfingen ihre typischen Witze zu reißen.

„Aber eine Lehrerin mit Haaren wie aus einer Shampoo Werbung und Augen wie ein Reh, wird in dieser Welt immer Schwierigkeiten haben, ernst genommen zu werden.“

Sie klang ein wenig atemlos.

Alle schweigen. Selbst Sam, der sonst eigentlich keine Sekunde brauchte, wenn es darum ging, sie zu beruhigen.

Vielleicht hatten die anderen auch Schwierigkeiten ihr zu folgen.

„Hä?“ Das war Quil.

Paul konnte hören, wie Emily die Augen verdrehte.

„Nora Taylor“, sagte sie angestrengt. „Sie ist eine junge arbeitende Frau, mit vielen attraktiven Attributen. Wenn sie die nicht ein wenig eintrübt, ist der erste Eindruck den sie macht, bestimmt nicht professionell.“

Kaum hatte sie abgesetzt zu sprechen, schien sie wie von selbst weiter zu reden.

„Und jeder Blinde sieht, dass preppy nicht ihr Stil ist. Es ist eine Fassade!

Emily schnaufte. „Die Welt ist viel zu oberflächlich, als dass man aussehen könnte wie ein Surfergirl, ohne dass man mit sexistischen Vorurteilen konfrontiert wird.“

Paul spürte wie Sam, der immer noch vor ihm kniete, immer unruhiger wurde, je mehr Emily sich aufregte.

„Ich kann es ihr nicht verübeln, dass sie dem entgehen will. Und vielleicht ist es eine Überraschung für dich, Quil Ateara, aber die Frauen auf diesem Planeten scheißen auf dein Urteil über sie.“

Die Atmosphäre im Raum änderte sich im Wechsel einer Sekunde zur anderen.

Emily hatte geflucht.

Emily fluchte nicht.

Nie.

Es war ihre erklärte Mission, sich wie ihrer aller Mutter aufzuführen und dazu gehörte ein allgemeiner Bann über allen Schimpfwörten. Den allgemein Bekannten, sowieso den kreativ und selten Eingesetzten.

Quil war nicht dämlich, aber ungefähr so empathisch wie ein Felsen, wobei die einzige Ausnahme Claire bildete. Obwohl das auch nur funktionierte, weil Quil zum Babysitter-Butler-Sklaven des kleinen Mädchens geworden war. Er tat einfach alles, was sie wollte. Da brauchte er nicht besonders emphatisch zu sein.

Paul war zwar ruppig und für gewöhnlich ein Arschloch, aber er war nicht annähernd so unsensibel. Selbst in seinem elenden Zustand wusste er, warum das Thema Emily so nahe ging.

Sam wusste es auch. Und Schuld und Scham schienen von ihm aufzusteigen, als wäre er ein Kochtopf mit sprudelndem Wasser.

Emily hasste es, wenn Menschen nach ihrem Äußeren beurteilt wurden. Egal wie diese Urteile ausfielen.

Jeder der sie ansah, konnte das verstehen, auch wenn niemand im Rudel die Narben auf ihrem Gesicht überhaupt noch wahrnahmen.

Die Welt da draußen, oberflächlich wie Em gesagt hatte, würde sie allerdings nie vergessen lassen, wie sie aussah.

Was Sam ihr angetan hatte.

 

Paul hätte diese spezielle Erinnerung daran, wieso er diese Prägung aufhalten musste, nicht benötigt. Aber sie half trotzdem, sein Hirn anzutreiben und das Problem zu lösen, das ihm wie ein Geier um den Kopf kreiste.

Sein Verstand fühlte sich immer noch träge an und an der Verknüpfung, die er sonst in wenigen Sekunden getan hätte, arbeitete sein Hirn für Minuten.

Kriechend langsam verbanden sich die Hinweise und die Erkenntnis, die wie ein Blitz sein sollte, kam wie ein Stromschlag.

 

„Sie ist keine Lehrerin, Emily“, sagte Collin unsicher. „Sie ist die-“

„Das ist doch überhaupt nicht der Punkt, Collin!“, fuhr Emily ihn an.

 

Pauls Misere hatte angefangen sich aufzulösen, als Rotkäppchen in den Mittelpunkt von etwas geschoben wurde, das ein überreagierendes, unter Prägung leidendes Hirn als Beleidigung auffassen würde.

Und die daraus resultierende Wut, hatte ihm Erleichterung und Klärung versprochen, also hatte Paul sich darauf gestürzt.

 

Im Hintergrund nahm Paul wahr, wie Collin zögerlich ankündigte, dass er noch etwas zu erledigen hätte. Ein weiteres Paar Füße folgte. Emily machte ein Geräusch, das genauso reuevoll wie wütend klang, dann verschwand auch sie in einem Dunst aus Aufregung.

 

Paul konzentrierte sich auf sein Dilemma.

Dachte nach bis die Muskeln auf seinem Gesicht sich anspannten, um ihm dabei zu helfen.

Er hatte die Wut auf etwas, das ihn nicht wütend machen sollte, angenommen.

Er hatte angenommen.

Er hatte reagiert wie ein geprägter Vollidiot reagieren würde.

Er hatte geprägt reagiert.

Geprägt.

Er hatte angenommen!

Er hatte die Prägung angenommen.

Und dann hatte die Welt aufgehört zu schwanken.

 

Fuck.

Fuckfuckfuck!

 

„Trotzdem. Sie sieht aus wie-“

„Quil! Halt die Klappe!“, schnitt Sam ihm grollend das Wort ab.

Paul wünschte, er hätte es nicht getan.

 

„Sie sieht aus, wie eine verdammte Sekretärin!“ Die Worte schossen wie eine Stichflamme aus ihm hervor. Die Augen weit aufgerissen und das Gesicht verzogen von der frischen Welle Übelkeit, gegen die er kämpfte. Aber er hieß sie willkommen. Das Wanken und Würgen. Die drehende Gefrierkälte, das Brennen in seinem Hals und seinen Augen.

Es hieß Kampf.

Übelkeit hieß Kampf.

Kälte und Brennen und Schwanken hieß, dass er die Prägung nicht annahm.

Es hieß, dass er sich nicht ergab.

Er hatte verstanden.

 

Paul keuchte und krallte sich mit einer Hand in Jareds Shorts. Darunter fühlte sich seine Haut kalt an.

Kalt! Jareds Haut war nicht kalt.

Was bedeutete, dass Paul glühen musste.

Er ließ Jared los und sackte nach vorne. Hielt sich mit den Ellenbogen auf den Oberschenkeln davon ab, wie ein Taschenmesser in sich zusammen zu klappen.

„Hey Paul, Mann!“ Embrys naiver Sonnenschein erhellte den Raum. „Bist du wieder da, Alter?“

Paul antwortete nicht. Stattdessen ließ er seine Stirn gegen die harte Wand seiner miteinander verschränkten Finger fallen. Es klatschte laut. Und der Schmerz tat gut.

Er machte es noch mal.

Und noch mal.

Und noch mal.

„Ok-ay“, kam es zögerlich von Embry, in seinem Tonfall deutlich zu hören, dass er an Pauls Geisteszustand zweifelte.

Und er tat Recht daran.

Paul war kurz davor, durchzudrehen.

„Sprich mit mir!“ Das war Sam. „Was ist los? Was kann ich tun?“

Paul schüttelte den Kopf. Das einzige was ihm einfiel war erschieß mich. Zwei Mal bitte.

„Willst du wandeln? Uns rein lassen?“

Ruckartig hob Paul den Kopf.

„Nein!“ Die Gewalt seiner Abwehr riss eine Brandspur in seine Kehle und er verengte die Augen, als er den Schmerz spürte.

Aber die Panik war real. Paul hatte keine scheiß Ahnung, was der verfickte Wolf tun würde, wenn er frei wäre, aber er hatte einen bösen Verdacht.

Jetzt lag der Wolf beleidigt und deprimiert in den hinteren Winkel von Pauls Bewusstsein und trug zu dem beschissenen, hilflosen Gefühl bei, das ihn nach unten zog.

Allerdings war es tatsächlich hauptsächlich was Paul fühlte.

Hilflosigkeit.

Und er war verdammt noch mal froh darüber.

Es bedeutete, dass er immer noch da war. Inmitten dieser ganzen Scheiße war er immer noch Paul.

Er war nicht verschwunden in diesem heillosen Durcheinander und auch wenn dieser höllische Gepräge Bullshit passiert war, hatte er sich nicht grundlegend verändert.

Kein bewusstseinsverändernder Fluch konnte ihn brechen und so verdrehen, dass er das hier wollen würde.

Niemals!

Und er wollte es nicht.

Er wollte die Prägung nicht.

Hatte es nie gewollt.

Er wollte nicht an jemanden gebunden sein, der das Rudel in den Hintergrund rückte. Eine neue Sonne in seinem Universum. Ein Taktstock für das Metronom seines Blutstroms.

Und so fühlte es sich auch nicht an.

Vielleicht … vielleicht würde es das auch nicht.

Was hatte Quil gesagt? Es war für jeden von ihnen anders. Und das stimmte. Paul hatte es selbst gesehen.

Durch die übernatürlichen Stränge die das interaktive Spinnennetz ihres Rudelbewusstseins bildeten, hatte er jedes Detail gesehen. Die Verbindung von Sam und Emily. Von Jared und Kim. Von Quil und Claire – so verstörend das auch am Anfang gewesen war, bis sie alle verstanden, dass es nicht auf diese Weise war.

Selbst von Jakes sonderbarer Prägung hatten sie alle einen guten Eindruck, da Sams Bewusstsein etwas von Jakes auffangen konnte, wenn beide Wölfe waren. Wenn auch nur die kleinen Happen, die der Verräter Sam gezeigt hatte. Das Nötige, um den Frieden neu aufzusetzen.

Aber alle Bilder waren anders.

Jede Verbindung war anders.

Und vielleicht brauchte Paul einfach einen Ruhepol in seinem Leben. Ein häusliches Mädchen das ihn amüsierte und entspannte. Vielleicht war das alles.

Rotkäppchen hatte anders auf Paul reagiert, als Frauen es sonst taten.

Keine Wimperngeklimper, kein Flirten. Kein Hauch von Erregung oder auch nur körperlicher Anziehung. Sie hatte ihn behandelt wie einen zugelaufenen Streuner, dem sie dankbar war, aber den sie nicht einschätzen konnte. Der sie interessierte, aber auch nervös machte.

 

 

Vielleicht … Paul konnte sich nicht erinnern, in seinem Leben je so glühend gehofft zu haben.

Neben ihm machte Jared ein Geräusch, als wolle er eine Fliege allein mit seinem Atem vertreiben.

Paul sah, wie er den Kopf schüttelte.

„Du überraschst mich“, sagte Jared und es klang, als wäre das tatsächlich der Fall.

Paul betrachtete ihn dunkel, mit den Gedanken immer noch daran, diese verfluchte Misere irgendwie mit Sinn zu füllen.

„Ich weiß nicht, ob ich mich vor dir verneigen soll oder ob du mich verdammt noch mal gruselst. Wie machst du das?!“

Paul runzelte die Stirn. Es war klar, was Jared meinte. Aber Paul hatte keine Antwort. Es fühlte sich nicht an, als wäre es besonders erfolgreich damit, Widerstand zu leisten.

Aber er fühlte sich erbärmlich. Auch wenn das Brennen und das Wanken und das Gefühl Kotzen zu müssen, verschwunden waren.

„Es ist sein verdammter Dickschädel“, schnarrte Quil, der mit verschränkten Armen da saß und vor sich hin grübelte.

Embry grinste, zwang sich aber zu einer neutralen Miene, als er Pauls düsteren Blick auffing.

Die verbliebenen jüngere Wölfe standen abseits, Teil vom Rudel und irgendwie noch nicht so ganz.

Paul sah, wie Sam Jared einen dieser Blicke zu warf, den nur die beiden verstanden, dann erhob er sich.

Es war klar, wo er hin wollte.

„Bring ihn zur Vernunft“, sagte der Alpha leise, aber nachdrücklich, „Ich sehe nach Emily.“

Pauls Augen fasste Jared ein, der seinen Blick nachdenklich erwiderte.

Er verstand er, dass er derjenige war, der zur Vernunft gebracht werden sollte.

Argwöhnisch neigte er den Kopf und sah Jared leidend an. Ein stummes Flehen zu unterlassen, was auch immer hier der Plan war.

Aber Jared konnte unnachgiebiger sein als der Alpha.

Paul sah sich erneut am Arm gepackt und dann hochgezogen.

„Komm mit, du Draufgänger. Wir gehen spazieren.“

Es hatte keinen Zweck sich zur Wehr zu setzen. In seinem jetzigen Zustand hatte er keine Chance gegen Jared.

 

Der Beta wandte sich an die Anderen. „Ihr bleibt hier und macht euch nützlich.“ Er zögerte einen Moment, dann sah er Quil an. „Ihr Zwei auch. So lange ihr hier seid, gelten unsere Rudelgesetze. Keine Faulenzerei.“

Es folgte einiges an Murren und ein paar schmutzige Worte, aber so weit Paul sehen konnte, setzte sich jeder einzelne in Bewegung.

„Komm“, sagte Jared leise und zog Paul mit sich.

„Lass den Wolf da raus“, sagte Paul so bald sie auf die Veranda getreten waren. „Ich kann mich nicht verwandeln. Ich kann dann für nichts garantieren.“

Für ihn war es Wunder genug, dass er aufrecht stand, ohne sich zu bekotzen, wenn er daran dachte, wie er sich noch vor nicht mal eine halben Stunde gefühlt hatte.

Draußen herrschte das frühe Dämmerlicht der Wintermonate und die Luft war frisch und meerig,kalt, wegen des aufgestiegenen Nebels. Paul atmete sie gierig ein und genoss das Gefühl auf seiner Haut.

Etwas unsicher folgte er Jared in den frühen Abend hinein, zwischen den Häusern entlang und über die vertrauten Wege hin zum Strand.

Das Meer war unruhig und sprühte salzige Sprühfontänen in die Böen, die hier stärker waren als weiter oben im Reservat. Nasser Sand klebte an Pauls Sohlen und beschwerte seine Schritte. Feuchtigkeit drang durch das poröse Material seiner Sneaker. Sie hatten unzählige Löcher. Entweder von seiner Flucht an diesem Morgen oder von zu viel Beanspruchung. Selbst in menschlicher Gestalt fraßen ihrer aller Beine viele Kilometer. Eine harte Prüfung für No-Name Marken aus dem Supermarkt.

Keinen Zweck sie auszutauschen. Irgendwann würde es sie ohnehin zerreißen.

Der Wind half noch mehr, Pauls Kopf durch zu pusten.

Bilder wurden klarer.

Ein Szenario entstand in seinen Gedanken. Eine schematische Erklärung für das, was geschehen war.

Die Zusammenhänge dieser ungewöhnlichen Situation.

Es verschaffte ihm einen Überblick.

Bevor Paul damit fertig war, blieb Jared stehen. Mitten in der kalten, aufbrausenden Meeresbrise. Feucht und voller feiner Wassertropfen schlug ihnen die salzige Luft entgegen, Wind mit Geschmack. Hier war der Nebel fortgeweht und sie konnte auf die wild Wellen hinaussehen, das Spiel aus grauem Wasser und aufgepeitschtem, weißen Schaum.

Paul grub seine Füße tiefer in den kühlen Sand und genoss das vertraute Gefühl.

Winter und das Meer. Sie waren verdammt glückliche Bastarde, an diesem Ort zur Welt gekommen zu sein.

Wenn man das Ganze rein geografisch betrachtete.

„Wie gehts dir, Pauli?“, fragte Jared irgendwann. Leise und ernst, sein Tonfall so besorgt, wie Paul es sonst nur erlebte, wenn irgendetwas mit Kim los war.

Deswegen verzieh er Jared den kindlichen Spitznamen, den er sonst nur Emily benutzen ließ, ohne dass er mit ein bisschen Gewalt reagierte.

Paul spürte die Entrüstung in sich aufsteigen, so wie sie es immer tat, aber der Funke sprang nicht über. Sein Schultern sanken nach vorne, hier, nur in Jareds Gegenwart, war es zwecklos und nicht notwendig, an den Ketten eingebildeter Tapferkeit festzuhalten, die seinen Stolz zusammenhielten.

„Ich hab eine scheiß Angst, Mann“, sagte Paul leise.

Der Wind war so laut, das niemand ohne übertrieben feine Sinne ihn hätte verstehen können.

Jareds drehte sich zu ihm um, sein Gesicht ernst.

„Deine Achse hat sich verschoben“, sagte er langsam. Bedächtig. Betonte die einzelnen Worte mit Sorgfalt. „Deine Welt hat keine zwei Pole mehr, sondern einen.“ Jared machte eine strategische Pause. Stellte sicher, dass Paul ihm gedanklich folgte.

„Und bist weg gerannt, bevor sich alles neu ausrichten konnte.“

Jareds Augen wechselten zwischen Pauls hin und her, nahmen jede kleine Reaktion auf und versuchten gleichzeitig, ihn zum Verstehen zu drängen.

„Momentan steht deine Welt Kopf, ohne Chance sich auszubalancieren. Kurz, du bist ein Idiot.“

Er sagte es ohne irgendeine Spur von Humor.

Jareds Worte ergaben Sinn. Paul hatte die Welt wanken gespürt, seit er in Noras Augen gesehen und etwas in ihm implodiert war.

„Es ist schrecklich, Jay“, krächzte Paul, seine Verzweiflung das erste Mal nicht in ihm versteckt, sondern offen hörbar. Und sichtbar. Paul spürte wie seine Mundwinkel zitterten und seine Stirn schmerzte vor Muskelanstrengung, als Anspannung und Furcht sich durch die Haut gruben.

„Es fühlt sich schrecklich an. Es tut weh.“

Die Offenbarung erstaunte Paul genauso sehr wie Jared, der ihn einen Moment erschrocken ansah.

Dann runzelte sich das vertraute Gesicht seines Freundes.

„Nur weil du dagegen ankämpfst, du Blödmann.“

Jared verzog missbilligend den Mund, sah kurz aus wie eine runzlige Rosine mit der im trüben Licht aschig schimmernden dunklen Gesichtshaut.

Keine besonders verständnisvolle Reaktion, aber Paul entspannte sich ein bisschen.

Er drehte den Kopf in den vom Meer wehenden Wind und starrte in die graue Ferne.

Ja, so viel hatte er bereits verstanden. Es war nicht die Prägung, die ihm Schwierigkeiten bereitete. Sondern sein Widerstand.

Was diese ganze Scheiße noch aussichtsloser machte.

Denn den Widerstand hatte er gewählt, von Anfang an. Noch bevor er wusste, was ihm geschah.

Eine Bewegung von Jared ließ Pauls Blick zurückwandern.

Schwarz glänzende Augen betrachteten ihn nachdrücklich.

„Du musst zu ihr, Paul“, sagte Jared schließlich. „So schnell wie möglich.“

 

Panisch zuckte Pauls Kopf nach oben.

„Nein!“ Das Keuchen klang so erbärmlich, dass Scham heiß und klebrig durch ihn hindurch rasselte. Das war albern. Jared war sein Bruder.

Ein Bruder der ein wütendes Geräusch machte und ihn mit schmalen Augen und gerunzelter Stirn, finster ansah.

„Das ist Blödsinn, Paul. Was ist, wenn es es ihr genauso geht?“ Jareds Hand fasste Paul und seinen ganzen mitleidigen Zustand ein. „Sie hat allerdings keine Ahnung was überhaupt los ist.“

Etwas Heulendes, Kratzendes harkte sich in Pauls Brust und zog.

Er keuchte.

Ein Schmerz so stark, dass er nicht durch ihn hindurch atmen konnte, verbrannte ihm die Brust.

Keuchend und nach Luft schnappend, rutschte Paul in sich zusammen.

Seine Augen fühlten sich an, als wären sie auf der Flucht vor seinem Kopf, als würde sie jeden Moment aus seinem Schädel quellen.

Geschockt starrte er Jared an, der ihn gefasst und nicht sehr überrascht musterte.

Er wirkte auf stählerne, bittere Art zufrieden.

So wie immer, wenn etwas genau nach seinem Plan lief.

„Ja“, sagte Jared, als würde das alles klar stellen. „Genau.“

Paul brauchte einige Minuten, bis er sich aufrichten konnte.

Was war das nur für ein beschissener Fluch?!

„Ich kann nicht zu ihr“, sagte Paul nach einigen süßen Atemzügen.

„Wieso nicht?“

„Nicht bevor ich das-“, er deutete auf sich selbst, „nicht unter Kontrolle habe.“

Etwas in Jareds Augen wurde weicher, verständnisvoller. Er seufzte.

„Paul. Sie ist der Schlüssel zur Kontrolle“, sagte er sanft.

„Ich will das nicht.“ Es war nur ein Flüstern. Ohne den schützenden Wall aus Zorn, fehlte Paul die Kraft für mehr Stimmgewalt.

Jared antwortete nicht. Zumindest nicht mit Worten.

Er sah Paul auf diese Art an, aus der nur Sam schlau werden würde.

Es war eindeutig, dass Jared etwas sagen wollte, aber dramatisches Schweigen vorzog.

„Was?!“

„Paul“, sagte Jared ruhig und feierlich. „Ich weiß, das ist schwer für dich zu begreifen. Aber auf einem unterbewussten Level ist es das. Es ist genau was du willst. Sonst wäre es nicht passiert.“

Pauls Kopf neigte sich wie von selbst nach hinten, nicht so weit, dass er nur noch den Himmel sehen konnte, aber genug, um unwillkürlich Abstand zwischen seinem Kopf und Jareds Worten zu bringen.

Es waren genau diese Worte, die er nicht hören wollte.

Es war das Problem hinter der Prägung, es war die wirkliche Grund, aus dem Paul so wütend auf Jake war.

Es ist genau was du willst.

Und machte das Paul nicht zum größten Heuchler von ihnen allen?

Was immer sich auf seinem Gesicht zeigte, es musste Jared im Sorge erfüllen.

Er streckte eine Hand nach Paul aus.

„Okay, okay, Paul. Hör mir zu!“

Pauls Augen begannen Jared wieder in ihren Fokus zu nehmen. Wachsam. Zweifelnd.

„Wir brauchen dich, okay?“ Jared sah ihn nachdrücklich an, das Kinn etwas gesenkt, sein Blick bohrend.

„Es geht nicht anders. Das Rudel braucht dich.“

Dann holte Jared zum Overkill aus.

„Es tut mir leid, Mann, aber du bist so nicht zu gebrauchen. Du musst das irgendwie hinbiegen.“

Verleumdung schlitzte ihm die Vorderseite auf. Das überwältigende Gefühl wie unfair das alles war, kochte heiß über seine Haut hinweg.

Seine Zähne fletschten sich.

„Ich versuche ja gerade, das Rudel voranzustellen“, zischte Paul zwischen zusammengepressten Kiefern hervor.

Zorn flammte durch seinen Körper, nur etwas abgelöscht durch Jareds immer verwirrtere Miene.

„Was meinst du?“

Paul war so aufgebracht, dass er sich nicht mal richtig bewegen konnte. Er wollte brüllen. Toben. Mit den Fäusten in den Sand schlagen.

Stattdessen stand er da wie ein Trottel und atmete heftig, während bittere Enttäuschung Galle in ihm aufsteigen ließ.

„Ich will nicht, dass sich dieser Fluch zwischen mich und das Rudel drängt.“ Angestrengt betonte Paul jedes einzelne Wort. „Ich will nicht sein wie…“ er presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie taub wurden, als panische Angst ihm etwas verdächtig Feuchtes und Heißes in die Augen trieb. Eher würde er sterben, ehe er auch noch mit dem Heulen anfing wie ein beschissener Dreijähriger.

„Wie wer?“, fragte Jared, die Verwirrung in seiner Stimme genauso deutlich wie auf seinem Gesicht.

Aus Pauls Kehle drang ein ablehnender Laut. Abwehr und Wut, gepaart mit einem rostigen Schnaufen.

„Wie wer, Paul?!“ Jared war nicht der Alpha, aber gegen die Kraft seiner Stimme konnte sie Paul trotzdem nur an guten Tagen zur Wehr setzen.

„Wie Jacob fucking Black!“, brüllte er.

Erst herrschte Schweigen. Zumindest bis auf Pauls heftigen Atem, der selbst im laut sausenden Wind zu hören war.

„Was?!“, sagte Jared schließlich. „Darum machst du dir Sorgen?“

Paul schwieg. Selbst wenn die Frage nicht rhetorisch genug gewesen wäre, um keine Antwort zu benötigen.

Womit er nicht gerechnet hatte, war Jareds Lachen.

Erst ein grunzender Zischlaut. Dann amüsiertes Glucksen.

Paul konnte es nicht fassen.

Mit geblähten Nasenflügeln sah er Jared an. Sah zu, wie der der Kopf zurück warf.

„Oh Mann… Das ist lächerlich.“ Hackendes Lachen folgte und Jared beugte sich nach vorne, während er sich den Bauch hielt.

Eine Weile beobachtete Paul das Schauspiel. Dann hatte er genug.

„Jaja. Es ist urkomisch.“ Seine Stimme schroff und spitz, als er sich zur Seite drehte.

„Schon verstanden.“ Paul wandte sich zum Gehen.

„Ich hab echt keine Zeit für den Scheiß.“

„Warte, Paul!“

Paul schüttelte Jareds Hand an seinem Arm ab.

„Es tut mir leid. Das ist nur… jetzt warte doch mal.“

Ruckartig blieb Paul stehen.

„Fass mich nicht an!“ Drohend machte er einen Schritt auf Jared zu, der daraufhin abwehrend und in Geste des Friedens die Hände hob. Belustigung ließ seine Lippen immer noch zittern.

„Schon gut. Schon gut. Aber bleib mal ruhig. Ich meine das nicht so, nur – Paul das ist lächerlich. Du bist nicht wie Jake. Ihr seid so verschieden wie ...“

Paul hob eine Augenbraue und wartete.

Wieder lachte Jared und Paul verzog genervt den Mund.

„Okay okay, sorry. Warte. Mir fällt einfach nichts sein, was so verschieden ist, wie ihr.“

Paul hätte nicht damit gerechnet, dass Worte existierten, die ihn so schnell entwaffnen könnten.

Er sah zu Boden. Ließ die Bedeutung über sich hinweg waschen, während Jared weiter sprach.

„Wir sind anders. Alle. Und unsere Frauen auch. Genauso wie unsere Beziehungen zu ihnen. Und Paul …“, Jared brach ab und schüttelte lächelnd den Kopf, „Die Kontrolle, die du gezeigt hast … es wäre nicht möglich etwas zwischen dich und deinen Willen zu bringen. Ich meine ... Mann.“ Jared grinste und streckte beide Hände in Pauls Richtung.

„Du bist ein verdammter Superman. Wie du dich davon los machen konntest, kann ich mir nicht mal vorstellen. Damals, als ich Kim sah ... ich hätte nicht mal daran denken können. Und wenn jemand mich mit Gewalt entfernt hätte, ich weiß nicht was ich getan hätte. Es macht mir Angst daran zu denken. Ich hatte keinerlei Kontrolle. Und du …“, wieder brach Jared ab. Wieder schüttelte er den Kopf. So langsam wurde sein Grinsen merkwürdig.

„Wo wir alle immer dachten, dass du und Kontrolle nicht zusammen gehen.“

Paul runzelte die Stirn, als die Worte langsam in sein Hirn sickerten.

„Fakt ist“, sagte Jared und klang dabei bereits wesentlich ernster, „dass du deine Loyalität feststeht. Du hättest es dir nicht bemerkenswerter beweisen können.“

Jared packte Paul am Arm, damit er sich seiner Aufmerksamkeit sicher sein konnte.

„Du würdest dem Rudel nie den Rücken kehren“, sagte Jared mit sanfter, ruhiger Stimme, „du warst bereit deine Prägung aufzugeben, selbst wenn es dich zerstören würde.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich daran etwas ändern wird, wenn du sie wieder siehst und den Dingen … ihren Lauf lässt.“

Ein aufmunterndes Lächeln zeigte sich auf Jareds Gesicht, während er Pauls Blick suchte.

Der Gedanke war schwer. Aber nicht unlogisch.

Vielleicht hatte Jared Recht.

Vielleicht zeigte sich in Pauls Prägung bereits seine Loyalität.

Er hatte sie angenommen, für eine kurze Zeit, und er hatte keinen Unterschied gespürt. Kein Reißen in eine andere Richtung. Kein Zug fort vom Rudel.

Nachdenklich starrte Paul ins Leere. Ließ Wort um Wort, Erinnerung für Erinnerung noch einmal antreten. Dachte scharf nach, bis er nun noch einen Schritt von einer Entscheidung entfernt war.

 

Ein Hieb auf die Schulter lenkte Paul ab. Er blinzelte verwirrt und blieb an Jareds Grinsen hängen.

„Erzähl mir von ihr“, forderte Jared ihn auf. „Wie ist sie so?“

Paul wollte das nicht. Und gleichzeitig wollte er nichts mehr.

Es machte ihm eine scheiß Angst, aber gleichzeitig hatten Jareds Worte die Hoffnung in Paul genährt, dass das Schlimmste vielleicht überstanden und das Ganze doch nicht so aussichtslos war.

Zögerlich begann er zu berichten. Von dem Schock der Begegnung in Rotkäppchens Haus, wie anders sie dort gewirkt hatte. Sprach über den Abend, das Gefühl von Zuhause und Entspannung, wie sich leer stehenden Räumen seiner Seele wärmende Kaminfeuer entzündet hatten. Das Gefühl von gut und richtig. Die vagen Vorahnung, die er immer wieder bei Seite geschoben hatte.

Er erzählte Jared von der Vorfreude und schließlich dem Moment des Wiedersehens. Dem Moment der Prägung.

Und von seinen Wahrnehmungen bezüglich Nora selbst.

„Du meinst es ist platonisch?“, unterbrach Jared ihn mit verwirrter Miene.

Paul zuckte mit den Schultern und steckte die Hände in die Taschen seiner Shorts. Ein seichter Nieselregen hatte eingesetzt und kalte Feuchtigkeit sickerte durch den Stoff seines Shirts. Durchnässte, was Schweiß und Nebel und Gischt nicht bereits durchnässt hatten.

Er begrüßte das Gefühl von Wasser auf der Haut und die winterliche Kälte. Es tat gut, sich nicht länger überwarm zu fühlen.

„Ich weiß, was ich wahrgenommen habe. Und sie hat eindeutig nicht reagiert. Auch wenn ich ...“ er brach ab, zum Teil weil er sich selbst die Lächerlichkeit ersparen wollte, zu offenbaren dass er sich wie ein notgeiler Trottel verhalten hatte und weil er nicht wusste, ob er über etwas sprechen wollte, das ihre Intimsphäre betraf.

 

Es waren gar keine weiteren Worte nötig. Jared machte ein zustimmendes Geräusch und sah dann überlegend in die Ferne. Er schien zu verstehen, was Paul hatte sagen wollen.

Schließlich war er schon in der Situation gewesen. Auch wenn sie so anders ausgesehen hatte.

Jared hatte genug Verstand gehabt, sich auf jemanden zu prägen, der Teil des Stammes war. Und auch wenn Kim jung war, so hatte sie einige Eigenschaften, die sie zu goldenem Rudelmaterial machte. Sie war klug. Sie war der unkomplizierte Ruhepol, den Jared dringend brauchte. Und sie war loyal.

So loyal, dass sie seit der vierten Klasse nur Augen für einen Jungen hatte.

Jared.

Jareds Prägung war als einzige völlig ohne Komplikationen abgelaufen.

Paul fragte sich, was das über den Rest von ihnen aussagte.

„Alter. War klar, dass du es dir schwer machen musst“, sagte Jared schließlich und grinste.

Paul schnaufte. Kein wirkliches Lachen, eher die Parodie von Humor. Dunkel und bitter.

„Ich hab grade was Ähnliches gedacht.“

„Also“, sagte Jared und sein schiefes Grinsen verschwand, „Was jetzt?“

Die Frage traf Paul unvorbereitet, aber eine Antwort hatte er trotzdem.

Er schob den Kiefer vor und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Auf diese Art die jeden zu gruseln schien, wechselte er von einem neutralen Gesicht zu kalter, finsterer Konzentration.

„Jetzt?“, raunte er heiser, seine Brust erfüllt von finsterer Selbstgerechtigkeit.

„Jetzt befinden wir uns im Krieg. Und ich kann keine scheiß Ablenkung gebrauchen.“

Jared erwiderte Pauls Blick schweigend und nachdenklich, so etwas wie Sorge auf seinem Gesicht.

„Du willst dagegen ankämpfen? Immer noch?!“

Es war eher eine Feststellung, als eine Frage, denn Pauls Entschlossenheit war so deutlich zu spüren, wie der Wind der sich an ihren Körpern brach.

„Scheiße noch mal und wie ich das werde.“ Pauls Nasenflügeln blähten sich, sein Kinn arrogant und seine Augen hart.

„Es wird nicht weiter gehen, als bis hier her.“

Er konnte damit umgehen, wenn es nur ein Instinkt zu beschützen war. Eine ruhige Präsenz einige Meilen entfernt, an die er denken und sich dabei entspannen konnte.

Genauso würde es bleiben.

Keine Liebe, kein Märchen, kein Seelenverwandtschafts-Bullshit.

Er war fest entschlossen.

Paul würde nicht zum Sklaven eines beschissenen Fluchs werden.

Das Rudel brauchte ihn? Er würde keinen seiner Brüder im Stich lassen. Schon gar nicht jetzt, wo ihnen ein Haufen Blutsauger im Nacken saß.

Er würde sich darum kümmern, wenn das alles vorbei war.

Wenn sie dann noch lebten.

Grimmig ließ Paul zu, dass die Entscheidung in die für sie vorgesehene Vertiefung in seinem Verstand rutschte.

Vielleicht würde er die Prägung nicht aufheben können. Aber er konnte ihr Drahtseile anlegen.

Er war stärker als Legende.

Er war ein Krieger.

Er war ein Tier.

Sein Blut floss so heiß wie die Lava die diesen Boden geformt hatte, so schnell wie der Wind der das Land drangsalierte und war so stark wie der Felsen, die den stürmenden Wellen trotzte.

Er war ein verdammter Werwolf.

Und er würde sich nicht besiegen lassen.

Nicht ohne einen Kampf.

Das war er sich und dem Rudel schuldig.

Das war er Nora schuldig.

Denn das wusste er mit todbringender Gewissheit. Sie hatte etwas Besseres verdient.

Etwas Besseres als Paul.

Und es war das Einzige und Wichtigste, das je er für sie tun würde.

Er würde sie beschützen.

Vor ihm selbst.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Liebe Leser,

dieses Kapitel ging mir wesentlich schwerer vom Finger als die drei davor. Ich wage mich hier auf vielen Ebenen in neue Gefilde vor, denn Schreiben bedeutet sich ständig weiter zu entwickeln.
Dennoch ist diese Geschichte als locker und fluffig geplant. Dieses Kapitel war allerdings wichtig.
Jetzt da es aus dem Weg ist, kann mein Spaß weitergehen.

Über Feedback würde ich mich freuen. Aber das ist ja nichts Neues :) Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück