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Rotkäppchen

von

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Zweites Kapitel: In dem Paul die Brille bemerkt

Zweites Kapitel: In dem Paul die Brille bemerkt

 

 

Also, das war merkwürdig ...“

Diesen Tonfall kannte Paul. Und auch wenn er ziemlich genau wusste, worauf Jared anspielte, würde Paul es ihm nicht auf dem Silbertablett servieren.

„Was ist es, das du sagen willst, Jared?!“

„Du und die kleine Schulpsychologin.“

Paul blieb stehen, eine Stichflamme in seiner Brust. „Wieso weiß jeder hier verdammt noch mal wer die kleine Range ist?“

Jared schnaubte. Es war seine Art zu lachen, wenn er spöttisch sein wollte. Paul boxte ihn mittig in den Deltiodeus. Jared rieb sich nicht mal die Schulter. „Jeder außer dir, meinst du wohl.“

Paul presste seine Zunge an den Gaumen und schob den Unterkiefer vor.

Ok. Dann eben nicht. Es interessierte ihn sowieso einen Scheiß.

„Was auch immer.“

Er setzte sich wieder in Bewegung. Schlenderte in Richtung des Autos, das Rotkäppchen stehen gelassen hatte. Und dessen Motor immer noch lief. Sie war entweder ziemlich vergesslich oder ziemlich bescheuert. Eine kleine Traube Kids hatte sich um das glänzende Auto gebildet. Hauptsächlich Jungs. Paul brachte sie mit einem Blick dazu, sich zu verpissen.

Jared warf seinen Arm auf das Dach des kleinen roten Suzukis und setzte einen wissenden Blick auf. Schwachkopf.

Paul hob drohend die Augenbrauen. Spucks schon aus, Arschloch.

Ein Großteil ihrer Kommunikation blieb für gewöhnlich wortlos. Es war Gewohnheit.

Jared grinste und Paul knackste mit dem Nacken.

„Ganz schön anstrengendes Weibsstück. Sonst nichts.“

Er öffnete die Autotür und quetschte sich in die winzige Fahrerkabine des 4Wheel. Hier drin war der Geruch der Sekretärin so stark, das Paul für einen Moment aufhörte zu atmen.

Wie sollte er diesen Ständer sonst los werden. Langsam wurde es nämlich echt nervig.

Laufen war kaum möglich, mit einem solchen Rohr. Und die Shorts die alle um Rudel bevorzugt trugen – reißfest, billig und an jeder Ecke zu bekommen, also leicht zu ersetzen – waren nicht ideal, um es zu verbergen.

Paul griff nach dem Autoschlüssel und stellte den Motor ab. Und tatsächlich. Ein Schaltwagen. Na das sah man nicht alle Tage.

„Weibsstück?“ Jared lachte. „Was ist los, Mann?! Frauenzimmer war dir wohl zu modern?“

Paul stieß ablehnend Luft zwischen den Zähnen aus. „Deine Mama hat gestern angerufen und mich vollgeheult, dass ihr kleiner Liebling ein so dreckiges Mundwerk hat. Ich musste ihr versprechen in deiner Gegenwart nicht zu fluchen.“ Nach einem kurzen Rundblick in den blitzsauberen Innenraum des Autos, klemmte Paul den Autoschlüssel hinter den Lichtschutz des Fahrersitzes. Den Anhänger ließ er nicht völlig verschwinden, damit Rotkäppchen den Schlüssel sofort sehen würde. An der kurzen Ketten baumelte eine Pfoten leckende Katze. Paul schüttelte den Kopf.

Natürlich.

 

Mit einem Ächzen richtete er sich auf und warf Jared einen höhnischen Blick zu.

„Ich spiele den Aufpasser für ein Muttersöhnchen.“

Es war ein ständiger Lacher unter ihnen, dass Paul das größte Muttersöhnchen im Rudel war – seine Mom war eben die Größte – also ignorierte Jared den Kommentar und sah stattdessen zurück zu Sams Haus. Paul folgte seinem Blick.

„Also, was ist der Deal hier?“

Jared zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nur, dass sie ihre Nase in Dinge steckt, die sie nichts angehen.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung Waldrand. Paul folgte.

Er würde heute die nördliche Patrouille übernehmen. Da Jared die östliche rannte, würde er länger unterwegs sein als die anderen. Kein Wunder also, dass er ein wenig zur Eile drängte.

„Und das sie das anders sieht.“

Paul runzelte die Stirn. „Was sieht sie anders?“ Seine Gedanken begannen bereits abzudriften. Der Wald machte das mit ihm. Hier war der Wolf Boss, selbst wenn Paul auf zwei Beinen stand.

„Dass es sie nichts angeht. Sie arbeitet in der Tribal School. Ist dort Beraterin. Psychologie, Sozialarbeit. Der Kram eben.“

Paul warf unwillkürlich einen Blick zurück in Richtung des Hauses.

„Ist das so?!“

„Fing an Fragen zu stellen, als Brady nicht mehr zur Schule kam.“

„Ah.“ Das erklärte tatsächlich so einiges. „Sie ist einer von der Sorte.“

Jared sah ihn fragend an. „Welche Sorte?“

„Die, die sich einbildet, dass es sie kümmert, was mit kleinen, dreckigen Indianerkindern passiert.“

Jared war zwar kein Jacob, dem die praktisch Sonne aus dem Arsch schien, wenn er nicht gerade herum winselte, aber wesentlich positiver als Paul.

„Ich glaub nicht, dass das fair ist, Mann. Sam sagt, sie ist anständig. Nur hartnäckig.“

„Sagt Sam das also.“

Ein prüfender Blick rollte über Paul hinweg.

„Was? Hätte er dir das erzählen sollen?“ Jared griff in den Bund seiner Shorts. Sie waren nun weit genug aus dem Blickfeld des Rez verschwunden, der Wald dicht und dunkel um sie geschlossen. Nur ein paar abgebrochene Äste auf dem Boden verrieten den Eingeweihten, dass sich an diesem Platz Männer einige Male am Tag in gigantische Wölfe verwandelten.

„Nicht die Art Geschichte die dich normalerweise interessiert, Alter!“

Paul hatte keine Gelegenheit zu antworten. Jareds Hose war verschwunden und nur kurz war sein nackter Arsch zu sehen, bevor Fell scheinbar aus dem Nichts schoss und sich um die Umrisse eines riesigen Wolfes legte.

Jared. Braunes Fell, massig und bösartig schnell. Er war ein Biest.

Paul schnipste an eines seiner flauschigen Ohren. Dann rubbelte er dem Wolf über den Kopf. „Braver Junger“, sagte er in seiner besten Hundetrainer Stimme. Was ihm das erhoffte Knurren einbrachte.

Befriedigt ließ er seine eigenen Hosen fallen. Wie immer schob er sie mit dem Fuß unter einen der Büsche.

Manche von ihnen banden sich die Shorts mit Gummibändern um die Knöchel. Damit sie etwas zum Anziehen hatten, wenn sie sich ungeplant zurückverwandeln mussten. Paul hatte damit aufgehört, weil er mit dem Scheißding ständig hängen blieb. Er hatte keine Lust wegen einer Hose von einem Ast erwürgt zu werden.

War beinahe passiert. Die Erinnerung war immer noch frisch und gruslig. Nur deswegen erschrak er, als Jared gurgelnd bellte.

Die Wölfe bellten nicht richtig. Es war mehr ein heiseres … ok, es war ein Bellen. Aber ein ziemlich Verkrüppeltes. Sie konnten sehr viel besser Heulen. Vor allem Jacob Black. Diese Pussy.

„Scheiße, Mann. Erschreck mich nicht so.“ Zu sagen Paul wäre zusammen gezuckt, wäre übertrieben, aber der scheiß Wolf konnte gruslige Geräusche machen.

„Mach dir nicht ins Höschen, Scoobie-Doo. Gleich so weit.“

Paul entleerte seinen Kopf. Ließ die Barriere fallen, hinter der der Wolf wartete und einfach so: Bam. Hatte er Jared in seinem Kopf und quasi tausend Gerüche in der Nase.

Worauf hast du gewartet? Die Queen von England?

Paul schüttelte sich. Es war meistens das erste was er tat, wenn er wandelte. Irgendwie war es wichtig, dass das Fell richtig lag. Oder so was. Vielleicht war es seine Art der Bestandsaufnahme. Prüfen ob alles richtig war und funktionierte.

Ich hab die Brise genossen. Fühlte sich gut an, untenrum.

Urgh. Alter!

Jared war nicht ganz so locker mit dem ganzen Nacktsein wie die meisten von ihnen, die kleine Primel. Aber es verfolgte Pauls Plan ganz wunderbar. Jared zog sich und seine Empfindsamkeit aus Pauls Gedanken zurück und forschte nicht tiefer nach.

Selbstgefällig hob der Wolf ein Bein und pisste an den nächst gelegenen Baum. Das war auch so ein Ding. Dominanz und der ganze Scheiß.

Aber es regte Jareds Wolf auf, der als Beta des Rudels über Paul stand und so etwas gar nicht mochte.

Paul erntete ein Knurren als Verwarnung und musste beobachten, wir Jareds Wolf die Duftmarke von seinem überdeckte.

Er seufzte. Mental. Der Wolf übersetzte seine menschlichen Empfindungen meist nicht in animalische Ausdrucksformen. Er war ziemlich … wölfisch, was so was anging.

Ich riech dich später, du Lutscher.

Und mit diesen liebenswerten Worten, begann Paul zu rennen.

 

Sie hielten Kontakt. Die ganze Zeit. Es war nicht anders möglich. Aber sie hielten sich gleichzeitig zurück. Nur die nötigste Verbindung zwischen ihnen. Das lernte man mit der Zeit. Gedanken priorisieren. Es gab zwar nicht wirklich Geheimnisse unter ihnen, aber es gab Bereiche, die man abschirmen konnte. Nur Josh kam damit noch nicht wirklich zurecht. Und so hatten sie alle seinen Lifestream im Kopf. Niemand sagte etwas dazu. Jeder von ihnen hatte mal so angefangen. Collin war ebenfalls unterwegs, die südliche Grenze kontrollieren, während Brady im großen mittleren Gebiet im Olympic National Park seine Kreise zog, Josh im Schlepptau. Sie hatten so viel mehr Meilen abzudecken, seit die Anzahl der Blutsauger in die Höhe geschossen war. Und seitdem ihr Rudel erst drei und dann fünf Wölfe weniger umfasste.

Reg dich nicht auf, Paul.

Schnauze, Collin.

Es tröstete nur mild, wie gut dieser Ausdruck zu ihnen allen passte.

Warum muss er sich immer so aufregen?

Eine Frage die an niemanden direkt ging. Und Paul musste zugeben, dass er es Collin anrechnete, die Eier dazu zu haben, sie überhaupt zu stellen.

Er hat seine Periode.

Das kam von Jared.

Baby-Alphas ganzes Rumgeheule hat mir Eierstöcke wachsen lassen, antwortete Paul daraufhin.

Das gefiel Brady, sie alle spürten es wegen der belustigen Vibes, die aus seinem Lager in den Mind-Link schwappten. Er war sonst eher der stille Typ.

Joshua war noch zu sehr Frischling, um viel davon mitzubekommen. Jede Wandlung war für ihn neu und ungewohnt, der tierische Aspekt fast zu viel für ihn. Paul erinnerte sich dunkel an seine erste Zeit. Das Rauschen der Wut, das High-sein von dem ganzen Adrenalin. Die Schmerzen. Alles war Farbe, alles was Geräusch und Geruch und es war alles einfach viel. Jeder reagierte anders darauf. Paul mit Wut. Es war seine Art alles in Perspektive zu rücken. Das Unwichtige weg brennen zu lassen und im Flow zu bleiben.

Irgendetwas Besonderes?

Viel Blutsauger-Miasma in der Luft. Aber nichts Außergewöhnliches. Collin schickte ihnen einen olfaktorischen Eindruck von der Gegen rund um das nördliche Quinault Gebiet, die momentane südliche Grenze ihres normalen Rundgangs. Paul antwortete prompt mit einer Bestätigung vom Ozette Lake aus.

Wenn ich daran denke, dass sie nur eine unsichtbare Linie übertreten müssen und dann unschuldige Menschen töten können…

Das war Brady.

Tja, Mann. Und dank Jake können wir sie deswegen nicht in Stücke reißen.

Es folgten verschiedene Bilder von blutrünstigen Szenarien, in dieWölfe die kalten, stinkenden Missgeburten tatsächlich auseinander rissen. Sie schickten sie gegenseitig hin und her, ein unbewusstes Abgleichen von Vorstellungen und Gelüsten. Es geschah manchmal und gehörte zu ihrer Art, miteinander zu kommunizieren.

Die Wölfe waren der natürlicher Feind der Vampire. Es lag ihnen im Blut. So funktionierten sie. Schlimm genug, dass sie diesen Instinkt unterdrücken mussten.

Es ist nicht Jakes Schuld, Paul. Er hat sich auf die Kleine geprägt. Was hätte er tun sollen? Jared, die ewige Stimme der Vernunft.

Dagegen ankämpfen. Paul würde es tun. Das Rudel kam zuerst. Immer. Punkt. Und selbst wenn dieser mystische Bullshit ihn völlig verrückt werden ließe, würde er es wenigstens versuchen. Wie konnte man auf einmal zu einem anderen Mann werden? Die Partner, Seelenpartner – das Wort allein war derartig beschissen dass es Paul nervte es nur zu denken – sollten ergänzen. Die Leere füllen. Das Beste aus dem Mann machen. Die andere Seite der Münze sein.

Wenn sich die kleine Pussy Jacob also gegen das Rudel entschied, sich gegen seine Brüder und auf die Seite des Feindes stellte, dann musste das Teil seiner Entscheidung gewesen sein. Teil von ihm. Und das war es, was Paul so wütend machte. Es zeigte, wie scheiß egal das Rudel Jake gewesen war. Und das konnte Paul nicht verzeihen.

Ich weiß nicht mal, ob das geht. Das Gefühl als ich Kim angesehen habe, das war viel zu stark dafür.

Jared hatte Recht. Das war es, was das Ganze schlimmer machte. Die Situation war kompliziert, das wusste auch Paul. Aber er vereinfachte die Dinge gern. Schwarz und Weiß. Was war daran so schwer? Aber er stand hinter Sams Entscheidung, Jakes Rudel in Frieden zu lassen und an ihrer Seite gegen die bald eintreffenden Blutsauger zu kämpfen. Die Feinde seiner Feinde … waren seine Feinde.

Ach, Scheiße. Wenigstens würde es dann endlich Blut geben.

Trotzdem waren wegen des Friedens zu viele Blutsauger in der Nähe. Menschen saugende Blutsauger. Und alles weil Jake, der elende Verräter, seinen ursprünglichen Plan ein Hybrid-Monster-Baby zu töten nicht durchgezogen hatte.

Nein. Er hatte ihr in die Augen gesehen und die Welt war auf einmal rosa geworden oder irgend so eine Scheiße.

Prägung. Und Vampire. Der dunkle, üble Ort an dem Horror geboren wurde.

Man hatte keine Chance. Zumindest nicht bei der Prägung. So sah es scheinbar aus. Aber war es wirklich so?

Ja, Paul. Es ist wirklich so.

Manchmal war es nervig, dieses Gedankenlesen.

Du wirst es verstehen, wenn du dran bist.

Der Gedanke allein ließ einen würgen.

Die Vorstellung mein Leben lang nach der Pfeife einer Muschi zu tanzen und es auch noch großartig zu finden, ist erbärmlich. Lieber würde ich einen Blutsauger ablecken ohne zu zu beißen.

Sie alle schüttelten sich simultan bei dieser Vorstellung.

Was willst du tun, Paul? Diese Frage wurde von Collin in das Rudelbewusstsein geleitet.

Wirklich dagegen ankämpfen?

Vielleicht muss ich das nicht. Vielleicht passiert es nur denjenigen, die wie kleine Mädchen danach betteln, sich zu prägen.

Sie wussten ein bisschen was über den Ablauf und den Hintergrund, aber sonst tappten sie alle ziemlich im Dunkeln, was die Sache mit der Prägung anging. Fest stand nur, dass es ein Mysterium war. Eines, das keiner wirklich in Frage stellen wollte und für das man dankbar sein sollte.

Sogar nach den neusten Ereignissen.

Belustigung schwirrte von Jared herüber.

Ich freue mich schon darauf, Sam zu zeigen, dass du so darüber denkst. Es ist bestimmt eine Weile her, dass er ein kleines Mädchen genannt wurde.

Tja, scheiße.

Fick dich, Jared!

Das wird Kim übernehmen, vielen Dank. Ich muss das nicht selbst erledigen.

Es sind Minderjährige anwesend. Das war Brady. Es war schon eine kleine Flasche.

He!!

Paul sandte ihm das Bild einer blühenden Mimose.

Du bist ein Arschloch, Paul.

Und dass du es nie vergisst, Bruder.

Paul schreckte ein paar Eichhörnchen bei der Vorbereitung zur Winterruhe auf und jagte zum Spaß ein Kaninchen aus seinem Bau. Er verfolgte ein paar Blutsaugerspuren, fand aber nichts Besorgnis erregendes. Nichts außer der Tatsache, dass sich scheiß Blutsaugerspuren auf ihrem Gebiet befanden, ohne dass sie sie verdammt noch mal aufspüren und zerreißen durften.

Erneut hüpfte das Bild im Rudelbewusstsein hin und her. Das befriedigende Gefühl einen Vampir in Stücke zu fetzen.

Womit sie sich dieser Tage zufrieden geben mussten.

Ich drehe ab.

Collin hatte seine Runde bereits beendet, aber Brady und Josh hatten noch etwas Gebiet vor sich, das Jared auf seiner Linie nach Osten nicht abgedeckt hatte.

Paul hatte beim Makah Reservat abgedreht und die Schleife über Lake Pleasant und Beaver zurückgezogen.

Ich überprüfe noch den Flughafen.

Nicht dass er dort etwas erwartete. Es war schließlich nicht so, dass Blutsauger mit dem Flugzeug anreisten. Und die auf die sie warteten, waren so was sie scheiß Royalty. Paul hatte keine Ahnung wie das ablaufen sollte. Trotzdem. Er fühlte sich besser, wenn er das Gebiet checkte.

Fast durch hier. Brady, auf dem Rückweg stoße ich zu euch. Seht zu, dass ihr den Mount Olympus umrudet habt, wenn das passiert. Josh soll ein paar hundert Meter rauf laufen.

Jarded war ein guter Beta.

Die Antwort war das wölfische Äquivalent zu einem Yes, Sir.

Ich heb dir ein Steak auf, Loser.

Paul wusste nicht mal, ob es Steak gab. Es war egal. Es ging hier nicht um Details. Es war ein ständiger Witz zwischen ihnen allen.

Besser für dich. Dann muss ich es nicht aus dir heraus prügeln.

Um das zu sehen, würde ich glatt mein Wort brechen.

Jared roch als Antwort an einem Haufen Bärenkacke.

Olfaktorischer Schlagabtausch war eines der Highlights des Rudelbewusstseins.

Paul lachte immer noch, als er sich im Wald hinter Sams Haus zurückverwandelte.

Manchmal war ihr Schicksal echt beschissen. Aber es hatte eindeutig seine Vorteile.

 

Sam empfing ihn an der Tür. „Neuigkeiten?“

Paul schüttelte den Kopf. „Ein paar Spuren im Norden, im Süden mehr. Scheiß Blutsauger.“

Sam presste die Lippen aufeinander. „Das war zu erwarten. Irgendwo müssen sie jagen.“

„Wie wäre es mit in der Hölle?“ Sam lächelte nicht mal. Dieser Scheiß war eine Zumutung für sie alle, aber Sams riesengroßes Verantwortungsgefühl machte das Ganze für ihn hundert mal schlimmer. Von Em wusste Paul, dass Sam kaum schlief. Aber er schulterte es mit der stoischen Annahme eines wahren Anführers.

„Wie macht sich Josh?“, erkundigte sich Sam, während Paul sich mit einem Handtuch die Füße abwischte. „Er ist pfiffig. Er wird es bald im Griff haben.“ Mit einem Ächzen erhob er sich „Konnte am Ende sogar einige bewusste Gedanken durchlassen.“

Sam nickte nachdenklich. Er wirkte meilenweit weg. Wahrscheinlich bei Cuzo Sepphron, bei dem es bald so weit sein musste. Oder bei irgendeinem anderen armen Jungen. So viele gab es nicht, bevor es anfing beschissen jung zu werden. Hoffentlich würde es dazu nicht kommen.

Paul wusste dass Sam überlegt hatte, die Jungs wegzuschicken. Aber das würde mehr Fragen und Schaden verursachen, als die Verwandlung. Die hoffentlich irgendwann einfach abgestellt werden konnte, in dem die Mitglieder des Rudels die Wölfe einfach nicht mehr riefen. Sie wussten, dass dann ein normales Leben möglich wäre. Das war ihr Plan. Es war kein guter. Aber der beste, den sie hatten.

 

„Hey, Paul.“

Paul lächelte, noch bevor sie sich in der offenen Tür zum Wohnraum zeigte. Ihr Gesicht war leicht gerötet, das dunkle seidige Haar ein Vorhang zu beiden Seiten. Emily strahlte Ruhe aus und Zuhause. „Riecht gut“, begrüßte Paul sie. Aber was Emily kochte, roch immer gut.

„Huh. Du bekommst erst was davon, wenn du geduscht hast, du stinkiger Werwolf. Hast du dich in Dung gewälzt oder was?“ Sie betrachtete ihn mit kritischem Blick.

Dann erschauerte sie. „So wie ich dich kenne, war es etwas wesentlich Ekligeres.“

Paul grinste und hob einen Arm. Machte eine Show daraus, wie er den Geruch unter seiner Achselhöhle einsaugte.

„Hm. Animalisch. Gefällt mir.“

Ihre Lippen zitterten. Sie war nicht annähernd so humorlos wie sie gerne tat.

„Oh, das glaube ich dir.“ Sie drehte sich um.

„Benutz das untere Badezimmer. Ich will deinen Dreck nicht oben haben.“

„Ja, Ma'm.“ Paul wechselte einen amüsierten Blick mit Sam, der allerdings mit Sternen in den Augen auf Emilys Arsch glotzte.

Paul verdrehte die Augen.

„Es sind frische Handtücher im Schrank unter der Treppe“, rief sie im aus der Küche zu. Sie war nicht wirklich eine Konkurrenz für seine Mutter, aber Em war schon ziemlich klasse.

„Danke, Süße.“ Sam war zu sehr abgelenkt, um zu hören, wie Paul seine Verlobte genannt hatte. Sonst was das nämlich tabu. Nicht dass Paul sich daran hielt.

Grinsend machte er sich auf den Weg zum Schrank unter der Treppe.

Die Ironie ging nicht an ihm verloren. Paul mochte Bücher. Und Harry Potter war ein Klassiker. Allerdings hatten phantastische Welten ihren Reiz für ihn verloren, seit er selbst Teil davon war. Beschissenes Zeugs aus dem Legenden sind. Es hörte auf cool zu sein, wenn es real wurde.

Niemand schrieb in den Geschichten von Flohbissen und dem ganzen anderen Scheiß, der wirklich kacke war.

Die meiste Zeit über hatte Paul kein großes Problem mit ihrem Schicksal. Er liebte den verdammten Wolf. In ihm gab es etwas, das schon vorher da gewesen war und nun raus durfte. Seine Mutter hatte sich gegen eine Diagnose geweigert – sie misstraute dem medizinisches System seit dem Tod von Pauls Dad; gab den Ärzten die Schuld daran – aber ein paar Lehrer hatten mit diesem Buchstabensalat um sich geschmissen. Eine Ausrede, weil sie nicht wussten, wie sie mit ihm umzugehen hatten. Darauf bestand seine Mom jedenfalls.

Paul war sich nicht sicher. Ein kleines Aufmerksamkeitsdefizit hatte noch niemandem geschadet.

Er wusste, dass sein Temperament schnell heiß laufen konnte. Und es hatte schon vor dem Tod seines Vaters etwas Dunkles in ihm gegeben. Ein Loch oder die Abwesenheit von Licht. Etwas, das sich nie füllte, egal wie viel er aß oder trank oder spielte oder rannte. Egal wie viel er fluchte oder sich prügelte. Es war immer da. Und es machte ihn verrückt.

Seit seiner Wandlung war es gleichzeitig besser und schlechter geworden. Mehr Möglichkeiten es rauszulassen, aber das Loch war gewachsen. Manchmal fragte sie Paul, ob es größer wurde.

 

Er ächzte, als er sich nach dem Hahn in der winzigen Dusche streckte und gleichzeitig versuchte, seine Shorts los zu werden. Angeblich bewegten sich alle im Rudel mit einer gewissen Anmut. Wie Raubkatzen beim Anschleichen, so hatte es … irgendjemand mal genannt. Paul hatte es sich gemerkt, weil er sich verschluckt hatte, als er deswegen eine Lachanfall bekam und Jared ihm beim hilfreichen Schlagen auf den Rücken, eine Rippe gebrochen hatte.

In diesem Moment jedenfalls, geduckt und bucklig, ein Bein immer noch in den Shorts verwickelt und Schwanz-baumelnd, kam sich Paul wenig graziös vor.

Er fluchte, als er an die Stange krachte, die den Duschvorhang hielt und dieser sich deswegen an seinen Arsch schmiegte. Paul versuchte das nasse Polyester abzuschälen, aber es klebte an seinem Bein fest. In dieser Zwangsjacken-Dusche hatte Paul keine Chance ihm auszuweichen, dem anhänglichen Scheißkerl.

Seufzend gab er auf und beschleunigte das Abwaschen. Er hasste es Seife zu benutzen, der Geruch brannte ihm immer in der Nase, selbst wenn sie frei von Parfum war – etwas anderes durfte Em nicht kaufen. Das war Sams Anweisung, nicht die des Rudels; obwohl sie ihm alle sehr dankbar dafür waren.

Allerdings war die Seife der Kompromiss den sie eingehen mussten, wenn sie auf ein Abendessen hoffen durften.

Der Duschvorhang kroch ihm zwischen die Beine, als Paul sich die Füße einseifte. Ein delikater, empfindlicher Ort und Paul zuckte zurück, als das widerliche Material seine Hoden streifte. Er hatte prinzipiell nichts gegen ein bisschen Eierkraulen, aber schätzte die Assoziation des plastikartigen Stoffs an seinen Kronjuwelen überhaupt nicht. Es roch zu sehr an Arztuntersuchungen und Militärmusterung und Einmalhandschuhen.

Einfach nach vorne beugen, bitte.

In seinem Versuch dem übergriffigen Duschvorhang auszuweichen, stieß Paul sich den Ellenbogen an der Edelstahlamateur. Ein scharfer Nervenschmerz, der ihm bis in den Bauch schoss, folgte.

„Verfickte, hodenleckende DuschKackGardine. Fick dich!“

Er verpasste dem Duschvorhang einen Schlag. Jareds belustigte Stimme drang durch die Tür. „Alter, was machst du da drin?! Es herrscht strenges Onanierverbot in diesem Haus.“

Paul schnaubte unter dem Duschstrahl wie ein nasser Hund.

Erstens bezweifelte er das stark. Und Zweitens wäre er nie so respektlos. Auch wenn der latent im Haus verharrende Duft der Sekretärin ihm einen subtilen Halbständer beschert hatte, als er zur Tür herein gekommen war.

Hier im Badezimmer war er nicht wahrzunehmen und deswegen an so was nicht zu denken. Was eine kleine Erleichterung war.

„Dieses Badezimmer ist so klein wie ein verdammter Fingerhut.“ Paul hasste das untere Badezimmer.

„Was hast du getan, dass du hier duschen musst?“

Es war tatsächlich eine Art Strafe, bewusst oder nicht, im kleinen Bad duschen zu müssen.

„Ich war zu beeindruckend und eindrucksvoll. Manche Leute können damit einfach nicht umgehen.“

Jared lachte kehlig und bewies damit einmal wieder, wieso er Pauls bester Freund war. Sie waren als Nachbarn aufgewachsen und hatten fast alles miteinander geteilt.

Außer Freundinnen, denn … uärgh.

Jared schlug mit der Faust gegen die Tür.

„Beeil dich, Mann. Ich hab echt Hunger.“

Pauls Antwort war ein Grunzen. Er wusch sich gerade die Haare und wollte kein Wasser in den Mund bekommen.

 

Als Paul zu den anderen in den Wohnraum kam, war Jared nicht da, aber das Geräusch von laufendem Wasser kam aus der oberen Etage.

Paul tauschte einen dunklen Blick mit Emily, er missmutig weil Jared nicht in dem Karnickelstall von einem Badezimmer duschen musste und sie, weil er sich das Haar nicht getrocknet hatte und den Boden voll tropfte. Aber irgendwie musste man ja ein wenig passive Aggressivität abladen. Wenigstens pinkelte er nicht auf den Boden. Obwohl … Flüssigkeit war Flüssigkeit.

Vielleicht war er doch wölfischer, als er es manchmal selbst bemerkte.

Weil er nicht gerne vorhersehbar war, drehte Paul sich wortlos um, um sich mit einem Handtuch über das Kopf zu rubbeln.

Als er wieder da war, Em tätschelte ihm beiläufig die Wange. Wenigstens ließ sie sich nicht dazu herab, Guter Junge zu sagen, so wie er vor ein paar Stunden zu Jared.

Paul grinste bei dem Gedanke daran.

„Was soll das Grinsen, Pauli?“

Nur Em durfte ihn Pauli nennen. Sie hatte zwei Häuser weiter gewohnt, als Paul klein war. Irgendwie waren sie alle miteinander aufgewachsen, aber Emily war die Freundin von Pauls Schwester gewesen. Deswegen kannte er sie im Schlafanzug. Von Mädchen-Pyjama-Parties, an die sein Trommelfell sich noch immer erinnerte.

Er zuckte nur mit den Achseln.

„Wieso muss Collin nicht duschen?“

Der Junior saß am Tisch und las irgendein Comic. Vollkommen ungeduscht.

Sam beantwortete das. „Weil er sich nicht in Kacke gewälzt hat.“

Pauls Brauen zogen sich ruckartig zusammen.

„Ich hab mich nicht in-“ Zu spät bemerkte er, dass Sam einen Witz gemacht hatte. Das tat er sonst nicht. Nicht mehr.

Vielleicht fühlte sich Paul deswegen ein bisschen angesäuert.

„Ein Witz? Was ist los, Alpha, hat Em dich rangelassen, während ich unter der Dusch war?“ Sein Blick fiel auf Collin, der angestrengt nicht in ihre Richtung sah. „Und der Kleine hat zugesehen?“

Paul zog dramatisch die Augenbrauen nach oben, während Collin so rote Ohren bekam, dass er sie selbst als Taschenlampe benutzen könnte.

„Pass auf, du kleiner Krüppelwelpe“, knurrte Sam, seine Stimme ein tiefes Grollen. Er machte nicht häufig Gebrauch von seiner körperlichen Überlegenheit. Schüchterte meist eher unabsichtlich als absichtlich ein.

Allerdings ließ er sich vom Rudel nicht auf der Nase herum tanzen. Was wichtig war.

Aber Paul hatte sich als dritter von ihnen verwandelt. Die Autorität in Frage zu stellen, darüber definierte er sich. Es war quasi Pauls Aufgabe. Und es war so natürlich wie atmen.

Sam war das klar. Aber Sam hasste es trotzdem.

„Lass dich nicht von ihm aufstacheln.“ Emily strich Sam über den Kopf. In dieser winzigen Geste lag so viel Zärtlichkeit, dass es Paul unangenehm war, hin zu sehen.

„Du weißt doch, wie er ist.“

Paul dankte es ihr mit einem Augenzwinkern und einem Grinsen. Emily schüttelte nur den Kopf, während sie ihrem Verlobten den Nacken streichelte. Mehr brauchte es nicht, um Sam zu beruhigen. Der aussah, als würde er schnurren, wenn es ihm anatomisch möglich wäre.

„Born to raise hell.“ Es war ein Songtitel und die Geschichte von Pauls Leben.

„Was soll ich sagen“, antwortete Paul und lehnte sich an die Wand hinter ihm. „Da sind Dämonen in meinem Kopf.“

Sam öffnete ein missbilligendes Auge, aber als er sprach, klang seine Stimme einfach nur müde.

„Du solltest deine Grenzen respektieren lernen. Und nicht ständig drüber hüpfen, wie ein Schulmädchen beim Seilspringen.“

Emily lächelte, während Paul bei diesem Bild das Gesicht verzog.

„Nich cool, Dude.“

Collin gluckste und Paul verpasste ihm einen Schlag auf den Hinterkopf.

Es war kein kräftiger Schlag. Eine locker ausholende Hand.

Aber Collins Kopf kollidierte daraufhin ungebremst und mit einem eindrucksvollen Krachen mit der Tischplatte. Blut spritzte, Collin stöhnte und Emily bekam einen fürchterlichen Schrecken. Was wohl der hauptsächliche Grund für Sams Reaktion war. Nach einem kurzen Blick auf Em – Hände vor dem Mund und Augen groß, aber nicht allzu tief erschüttert – und Collin – blutige Nase, Kopf im Nacken, aber sonst unversehrt, fixierte er Paul.

Dunkles Feuer flackerte in Sams Augen und Paul spürte den verwirrenden Sog von gleichzeitig einsetzendem Impuls zu Kampf und Flucht. Er hob abwehrend die Hände.

„Hey, nichts passiert. Es heilt doch schon wieder.“

Falsche Reaktion.

Ein tiefes Grollen rumpelte in Sams Brust und sein Gesicht schrie nach Mord. Er packte Paul mit Händen wir Schraubzwingen und zwang seinen Kopf nach unten.

Ein Knurren, so tierisch und so Alpha setzte sich über die Berührung in Pauls Knochen fort und füllte dort irgendein Loch. Eine hohle Grube die schon immer existiert hatte und immer danach gierte, gefüllt zu werden. Nur das nie irgendetwas dort hinein passte oder den Weg dahin fand.

Außer in Momenten wie diesen.

„Keine. Kämpfe. Im. Haus!“ Sam hielt ihn so fest, dass Paul nicht nicken konnte und der Alpha grollte noch lauter.

„Sam.“

Emily mischte sich nicht in Rudelangelegenheiten ein. Sie untergrub Sams Autorität nicht. Aber es war ihr Job, ihn zu beruhigen. Und es machte sie immer ein wenig nervös, wenn er im Haus die Stimme erhob, weswegen Sam es für gewöhnlich nicht tat.

„Raus hier, du kleiner Scheißer!“, grollte Sam so dunkel, dass die Worte kaum auszumachen waren.

Er gab Paul einen Stoß, der jeden anderen quer durch den Raum geschleudert hätte.

Paul seufzte und ergab sich der Strafe. Kein Abendessen für ihn. Und das nach der Tortur mit der Zwergendusche.

„Tut mir leid, Collin“, rief Paul und öffnete die Tür. „Tut mir leid, Emy.“

Er war durchaus in der Lage seine Fehler zu erkennen. Und sich deswegen schuldig zu fühlen.

„Kein Pwobwm, Pow.“

Eine gebrochene Nase war beschissen, klar. Aber Collin hätte es gegen Mitternacht wahrscheinlich schon überstanden.

Emily schwieg. Aber nicht weil sie böse war. Sondern weil sie Sam irgendeinen zuckrigen Unsinn zuflüsterte und abgelenkt war.

 

Die kühle Nachtluft empfing ihn.

Knusprige Dezemberkälte, die die Feuchtigkeit aus der Umgebung in trägen Nebel verwandelte. Paul blieb stehen und atmete. Beide Hände an den Seiten, nackte Füße im kalten, nassen Boden.

Ließ sich von der Kälte überrollen. Es war angenehm. Beruhigend.

Er hörte wie Jared im Haus nach ihm fragte und Sam knapp antwortete. Das Seufzten von Jared. Paul grinste. Ja, er war nervig. Aber das hier war seine Familie. Sie liebten ihn. Ob sie wollten oder nicht.

Paul hob die rechte Schulter und knackste mit dem Nacken. Setzte sich innerlich mit der Aussicht auf Tiefkühlpizza und der Inbetriebnahme seines uralten Sandwhichmakers auseinander, als das Küchenfenster geöffnet wurde.

„Hey, Blödmann.“ Jared lehnte grinsend auf der Fensterbank, das einladend leuchtende Licht von Gemeinschaft und einem Dinner, das den Namen verdiente, wie ein beschissener heiligen Schein um seinen dunklen Schädel. „Sam sagt, du sollst das Fahrrad zu Nora Taylor bringen. Dann überlegt er sich das mit dem Hausverbot noch mal.“

Paul runzelte für einen Moment die Stirn, weil er Schwierigkeiten hatte den Namen zu zu ordnen. Dann rastete etwas in seinem Verstand ein.

Rotkäppchen.

Rotkäppchens Name war Nora Taylor.

In seinem Kopf hatte er sie einfach weiterhin die Sekretärin genannt. Ihr richtiger Name war irgendwo zwischen Blutsaugerspuren und dem Geruch des Waldes verschwunden.

Jetzt flammte er umso deutlicher auf. Eigentlich hätte ihn das aufhorchen lassen. Tat es aber nicht.

Später würde er Hungersschwäche die Schuld geben.

„Uh-hu.“ Paul kratzte sich am Kopf.

„Was war das eigentlich heute? Sie und die Kleine. War ein ganz schönes Drama.“

Jared zuckte mit den Schultern. Dann grinste er.

„Vielleicht erzählt es Sam dir, wenn du ein guter Junge bist.“

Paul bedachte Jared mit einem gespielt enttäuschten Bild. „Darauf hast du die ganze Zeit gewartet, huh?“

„Vielleicht.“

Sams Grollen kam aus dem Hintergrund. „Lahote, beweg deinen Arsch. Das Fahrrad steht im Schuppen.“

„Kann ich deinen Truck nehmen?“ An Pauls Truck war nichts verkehrt, aber er konnte ja fragen.

Ein Autoschlüssel traf ihn unversehens am Kopf und fiel zu Boden.

Pauls Mund formte ein lautloses, übertrieben artikuliertes Au. Er rieb sich die getroffene Stelle.

Emily, die neben Jared aufgetaucht war, sah angestrengt so aus, als würde sie versuchen, nicht zu lächeln.

„Die Adresse?“, fragte Paul und bückte sich nach dem Autoschlüssel.

„Gib sie ihm nicht, Em!“ Jareds Lippen kräuselten sich höhnisch. „Soll er sie doch erschnuppern.“ Er machte eine dramatische Pause und seine Augen verengten sich, so wie immer, wenn er einen Witz machen würde. Jared hatte ein miserables Pokerface.

„Wie ein guter Junge.“

Selbst Emily fiel auf, dass Jared diese Hundeanspielung wahnsinnig wichtig war. Sie warf ihm einen betroffenen Blick zu. Paul schüttelte einfach mitleidig den Kopf.

„Was?“

„Nicht mehr witzig, Mann.“

Jared machte ein schnorchelndes Geräusch und zog sich vom Fensterbrett zurück. „Wie auch immer.“

Paul tauschte einen amüsierten Blick mit Emily. Dann lächelte er. „Die Adresse?“

„Ich glaube, sie wohnt in der Nähe des Bogachiel River.“

Glaubst du?“

Emily lächelte ein kleines, feines Lächeln. Es war dieses Lächeln das sich immer dann auf ihrem Gesicht gezeigt hatte, bevor sie eine Handvoll Sand in seine Hose gesteckt oder einen Krebs in seinen Schoß hatte fallen lassen.

„Du musst wohl wirklich ein bisschen schnüffeln … wie ein guter Junge.“

Paul betrachtete sie wortlos. Mit ausdruckslosem Gesicht.

„Wirklich?!“, sagte er tonlos. „Wirklich, Em?!“

Ihr Lächeln wurde breiter.

Viele dachten, sie sei eine zarte Seele. Mütterlich und nährend. Aber Paul kannte die Wahrheit. Er formte mit der Hand eine Pistole und richtete sie auf sie. „Peng!“

Sie lehnte sich weiter vor, um das Fenster zu schließen. Paul wandte sich zum Drehen.

„Und sei höflich, Paul“, rief sie ihm zu. „Die Kleine hat ernsthafte Probleme. Und ihre Schwester ist sehr besorgt. Sei also einmal im Leben nicht du selbst.“

Paul wandte sich um. Verdaute die neue Information. Schwester also. Das war interessant.

„Probleme?“ Er schnaubte. „Ich nenne das eine dicke, fette Essstörung. Und der Wortwitz ist nicht absichtlich.“

Emily hielt in der Bewegung inne und runzelte die Stirn. „Tu nicht so, als wärst du so ein unsensibler Klotz. Ich weiß ganz genau, dass du keiner bist.“ Sie drehte den Kopf und sprach über ihre Schulter mit den anderen. Als ob die sie nicht die ganze Zeit über genauso gut hören konnten, wie Paul sie in diesem Moment. „Er hat bei Cap und Capper dicke Krokodilstränen geweint. Seine Schwester durfte den Film nie wieder ansehen.“

Paul zog die Nase so aggressiv hoch wie nur möglich und kräuselte seine Oberlippe.

„Die Geschichte wird langweilig, Em. Das war vor über zehn Jahren.“ Mit finsterer Miene hörte er das Lachen der anderen. Jareds war besonders laut.

„Und der Film ist verdammt noch mal traumatisch für kleine Kinder. Gibt dir Albträume und so `ne Scheiße.“

Selbst Sam lachte.

Naja. Wenigstens dafür war die Geschichte gut.

Paul drehte sich um, noch bevor Emily das Fenster verschloss. Er hörte die Stimmen der anderen trotzdem. Selbst als er das Fahrrad der Kleinen aus dem Schuppen holte, konnte er dem Gespräch folgen. Sie sprachen über das, worüber sie immer sprachen. Den Pakt. Jake. Die Blutsauger.

Paul bemerkte, dass er gar nicht so unglücklich darüber war, nicht dabei zu sein. Würde ihn nur wieder wütend machen. War nur scheiße, dass er nichts zu essen bekommen würde.

Er winkte Brady und Josh, die gerade aus dem Wald trabten und hob das Fahrrad dann auf die Ladefläche des Pick Ups. Es rumpelte ein wenig und kurz überlegte Paul, ob er es festbinden sollte.

Beinahe sofort entschied er sich dagegen. Mochte man es passiv aggressiv nennen. Es war ihm einfach scheiß egal.

 

Zuhause schmiss Paul ein paar Waffeln in den Toaster und aß zwei direkt aus der Packung ohne sie zu erwärmen, während er nach einem sauberen Shirt suchte. Er griff nach seinem letzten Paar Sneaker und wartete ungeduldig auf das Klacken des Toasters. Am Ende holte er die Waffeln heraus, obwohl sie nicht fertig waren.

Die Letzte hatte den Weg in seinen Magen gefunden, noch bevor er auf die La Push Road gebogen war.

Er hatte immer noch Hunger. Aber trotzdem genoss er die kühle Brise durch das offene Fenster und die salzige Meeresluft. Ok, Er war ein bisschen angefressen, weil Sam ihn gemaßregelt hatte. Ein bisschen genervt, weil er Hunger hatte, aber alles in einem war Pauls Stimmung besser als den ganzen Tag über.

Vielleicht war er ein bisschen merkwürdig.

 

Ihr Haus zu finden war leichter als gedacht. Allerdings wäre er zweifellos schneller gewesen, wenn er nicht die verdammt unpraktischen Straßen hätte benutzen müssen.

Paul musste nicht mal anhalten und die Nase in den Wind halten.

Es war hübsches, kleines L-förmiges Gebäude mit abgezäuntem Grundstück und Carport, unter dem der rote Suzuki stand und schüchtern das Licht von Sams Scheinwerfern reflektierte.

Auch ohne das Auto hätte Paul es gewusst. Vielleicht war er ein beschissener Hellsichtiger oder so was, aber er wusste es einfach.

Der Geruch war nicht stark, als er ausstieg, Sams Truck hinter dem Suzuki geparkt.

Der Fluss war nah und beförderte seinen morastig-flussigen Wassergeruch hierher, die dicht gewachsenen Nadelbäume taten ihr übriges.

Paul gefiel es nicht, wie weit abseits der Stadt Rotkäppchen wohnte. Zwei Frauen am Stadtrand – einen Mann gab es erst in den umgebenden Häusern, das konnte Paul riechen. Vor ein paar Jahren wäre das kein Problem gewesen.

Jetzt verursachte es ein unruhiges Gefühl hinter seinen Knien.

Aber es ging ihn nichts an und fragen würde sowieso niemand nach seiner Meinung, also schluckte Paul es herunter und hob das Fahrrad von der Ladefläche.

Sanftes Licht fiel auf die gepflegte Grasfläche der Einfahrt, dort wo sie nicht gepflastert war, gefiltert durch etwas, das wie Vorhänge aussah. Aber Paul hatte von so einem Scheiß keine Ahnung. Es wirkte warm und einladend. Nett. Das Haus einer Familie, in das ein Mann gerne am Abend zurückkehrte.

Paul runzelte die Stirn. Er konnte beinahe spüren, wie seine Eier sich in seinen Bauch zurückzogen.

Er presste die Lippen aufeinander und ging zur Vordertür. Ein Kranz hing um das Dracheneck-förmige Sichtfenster. Zweige und irgendwelche Beeren.

Paul drückte auf die Klingel. Nirgendwo stand ein Name.

Er hörte Schritte und das Geklapper von Töpfen. Er registrierte Gerüche, die seinen Magen rumpeln ließen, wie einen alten Planwagen und seine Laune hob sich noch einmal um einige Prozent.

Es roch gut.

Eine Tür ging und Paul machte sich bereit für die Begegnung. Er freute sich darauf. Sein Körper spannte sich und dabei merkte er, dass er das Fahrrad unnatürlich hoch hielt. Er spürte dessen Gewicht kaum, aber trotzdem.

 

Sie mussten sich wenigstens um den Anschein von Normalität bemühen. Dann waren die meisten Menschen bereit, über so viele der Dinge, die offensichtlich nicht normal waren, hinweg zu sehen.

Deswegen auch das Shirt und die Schuhe. Es war unpraktisch, aber außerhalb des Reservats waren sie Pflicht.

Sams Regel. Alpha Order.

Paul ließ das Fahrrad fallen. Es hatte keine gute Federung und machte einige ziemlich gequälte Geräusche, bevor es an seine Hüfte lehnte. Paul verzog das Gesucht.

Hoffentlich hatte es sich nicht verbogen. Er riskierte einen Blick nach unten, als die Tür sich öffnete.

Paul sah auf. Und blinzelte. Nicht wegen des Lichtes, das nun in seine Augen schien, denn das war gedämpft und warm. Sondern weil er einen Moment brauchte, um zu realisieren, dass er an der richtigen Tür stand.

Rotkäppchen wirkte so verändert, dass sie ein anderer Mensch hätte sein können. Wenn da nicht der Geruch gewesen wäre. Und der war absolut richtig.

Richtig!

Paul hörte für einen kurzen Moment auf zu atmen, während er die anderen Sinnesreize verarbeitete.

Ihr Haar war offen und im indirekten Licht, das sie von hinten beleuchtete war es so eindeutig rot, wie ein Leuchtfeuer. Eine fluffige, wilde Wolke um ihr blasses Gesicht, das im Schatten lag.

Deutlich auszumachen war nur die Brille.

Eine verfickte Brille.

Absolut gegen seinen Willen und genauso urplötzlich wie schon zuvor, schoss ihm das Blut in die Hose.

Die Brille war nicht mal besonders sexy. Kein breiter Rahmen der Bibliothekarin schrie und obszöne Bilder heraufbeschwörte – Paul hatte diesen Fetisch ohnehin nie verstehen können. Zumindest bis her nicht.

Ein braunes Gestell und runde Gläser. Praktisch. Niedlich.

Scheiße, Mann.

Sie hatte geduscht, ihre Haut immer noch weich und gerötet, ihr natürlicher Geruch stärker.

Es war, als hätte das Wasser ihre Drachen-Persona mit herunter gespült. Sie wirkte kleiner und zugänglicher. Verschwunden war das Sekretärinnen-Outfit, das ohnehin nicht zu ihr gepasst hatte. Stattdessen trug sie einen riesenhaften Pullover und sie war barfuß.

Barfuß!

Paul riss seinen Blick von ihren nackten Zehen los, die verletzlich unter dem weiten Saum ihrer Sweatpants hervor blitzten.

Vielleicht war es die schützende Hand ihres Zuhauses, die sich hinter ihr auftat. Oder wirklich das Wasser. Woher zur Hölle sollte Paul das wissen?

Aber der Unterschied war gewaltig. So gewaltig, dass er immer noch die Luft anhielt, wie ein beschissenes Weichei. Wenigstens war er schnell mit der Bestandsaufnahme. Er hatte wenig Lust wie ein Stalker zu wirken.

„Ja?“ Sie wirkte irritiert. Und es war sein Stichwort.

„Hi.“

Sie blinzelte. Ein müdes Flattern von Wimpern über dunklen Augenschatten.

„Hallo.“ Sie erkannte ihn. Paul sah es. Dennoch wusste sie nicht wer er war.

„Paul“, half er ihr aus. „Sams Freund.“

Ein Seufzen hob ihre Schultern, als ein klein wenig von dem Stahl, den er heute Nachmittag erlebt hatte, in ihr Rückrad zurückfloss.

„Ja. Ich erinnere mich. Guten Abend. Paul.“ Die kurze Pause vor seinem Namen belustigte ihn. Oh, sie erinnerte sich. Sie erinnerte sich sehr gut.

Paul grinste. Dieses Mal amüsiert und nicht einschüchternd und es hatte eine ganze andere Wirkung. Er sah, wie sie ihn anstarrte.

„Ich hab was von euch“, sagte er und nickte mit dem Kinn in Richtung des Fahrrads an seiner Seite.

Sie brauchte eine Weile, bis ihr Blick folgte, als wäre sein Körper eine Leiter, kletterten ihre Augen an ihm herunter. Sie brauchte noch länger bis sie verstand, was sie da sah.

„Das Fahrrad.“

Sie sah ihn an, als wären ihm auf einmal zwei neue Köpfe gewachsen. Es hatte so geklungen, als sei sie sich nicht ganz sicher und wollte lieber auf seine Bestätigung warten.

Er tat ihr den Gefallen nicht, sondern ließ den Moment in die Länge ziehen, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

„Danke“, sagte sie beinahe zehn Sekunden später. Eine lange Zeit, wenn man sich einfach gegenseitig anstarrte.

 

Bis es irgendwann sogar für Paul zu unangenehm wurde. Seine Finger begannen zu zucken.

„Hey!“ Er hob die Hand und schnipste mit Mittelfinger und Damen. Direkt vor ihrem Gesicht.. „Jemand zu Hause da drin?“

Sie schreckte auf und ihr Kopf zuckte zurück.

„Ja.“ Sie blinzelte ruckartig. Eine Hand tastete sich an der Vordertür entlang. Eine unbewusste Suche nach Halt.

„Ja. Ich- ich bin überrascht.“ Ihr Blick flackerte zum Fahrrad und dann wieder zu ihm. Sie war wesentlich kleiner als er, Paul schätzte ein paar Zoll mehr als fünf Fuß, also musste sie ihren Kopf in den Nacken legen, obwohl sie einige Schritte von ihm entfernt stand.

„Nicht gedacht, wir würden es wieder rausrücken?“ Er wollte sie nur ein bisschen aufziehen, allerdings verriet das sein Ton nicht, der todernst klang. Paul, im Gegensatz zu Jared, hatte ein exzellentes Pokerface.

Wieder blinzelte sie, ihr Mund ein kleines, überraschtes O.

„Nein, das-“

Paul zuckte mit den Schultern. „Ich gebe zu, ich wollte es behalten, aber Sam war nicht begeistert.. Er hat ein Problem mit diesen hartnäckigen Vorurteilen gegenüber Ureinwohnern.“

Ein kleines Kitzeln. So fand man für gewöhnlich schnell heraus, ob jemand ein schlechtes Gewissen hatte, weil er genau diese Vorurteile hegte.

Paul grinste böse. Aber Rotkäppchen reagierte nicht wie erwartet. Schien weder geschockt, noch ertappt. Er fragte sich, ob sie ihn vielleicht nicht verstanden hatte.

Allerdings nur für einen Moment, denn dann legte sie auf einmal den Kopf schief und betrachtete ihn mit einer ganz neuen Aufmerksamkeit.

Als wäre ihr etwas an ihm aufgefallen.

Da Paul nicht wusste, was die Änderung verursachte hatte, war ihr suchender Blick ihm unangenehm.

Deswegen tat er das, was er immer tat, wenn er jemanden anpissen wollte.

Er zog die Nase hoch und verzog die Lippen zu etwas, das Rap Künstler so liebten. Verschränkte die Arme vor der Brust. Seine beste Gangster Pose.

Es wirkte anmaßend und aggressiv. Provozierend. Wenn auch ziemlich dämlich. Aber die Meisten bemerkten das gar nicht, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, das Weite zu suchen oder wütend zu werden.

Allerdings nicht Rotkäppchen. Sie kaufte es ihm offensichtlich nicht ab und fuhr fort, ihn anzustarren. Nun offensichtlich berechnend.

Ok. Er hatte sie unterschätzt. Es gab ein Hirn in ihrem hübschen Köpfchen. Ein scharfsinniges, das Dinge wahrnahm.

In Ordnung. Damit konnte er umgehen.

„Danke“, wiederholte sie, nachdem er seine Position ein bisschen gelockert hatte. Sie sprach langsam. Nachdenklich. Ein wenig, als würde sie mit einem Kind sprechen. Oder einem Verrückten. Was aus ihm wohl einen Verrückten machte. Zumindest in ihren Augen. Nun ja. Er war schlimmeres genannt worden.

Er sah, wie sie tief Luft holte und erwartete eine große Rede. Stattdessen wiederholte sie sich erneut.

„Danke, ich...“

Ok. Das begann nervig zu werden. Es war, als würde man versuchen einen Hamster mit einem Löffel zu füttern. Einem sehr, sehr kleinen Löffel.

„Ja?“ Wenn er etwas ungeduldig klang, dann weil er es war.

„Ich überlege nur …“, sie bedachte das Fahrrad mit diesem direkten Blick, der ihre Art zu sein schien, Dinge zu betrachten. Oder Menschen.

Zumindest wenn sie nicht wütend war.

„Ich überlege, ob es eigentlich gut ist, wenn es hier ist.“

Als sie wieder aufsah, war rein gar nichts von dem Drill Seargant übrig, den Paul am Nachmittag kennen gelernt hatte.

Sie wirkte Jahre jünger und so viel umgänglicher, dass sie ihm erneut wie ein anderer Mensch erschien.

Vor allem wirkte sie müde. So geplättet, wie Paul sich heute gefühlt hatte, bevor Rotkäppchen mit ihrer Schwester aufgetaucht war, all das Drama im Schlepptau. Sie wirkte wie jemand, der nicht mehr weiter wusste.

„Wenn sie anfängt, einfach abzuhauen.“ Rotkäppchen löste ihre Hand von der Tür und fuhr sich damit über die Stirn. Grub eine tiefe Rille in die Haut ihrer Schläfe und hinterließ einen roten Striemen. Sogar die Brille verschob sich bei der Bewegung.

Rotkäppchen machte eindeutig keine halben Sachen.

Paul war kurz davor ihre Hand festzuhalten, damit sie sich nicht weiter malträtieren konnte, als sie seufzte. Ein knochen-tiefes Seufzen das in Paul widerhallte. Seine Augen verengten sich. Es schien einfach, als würden sie hier über mehr sprechen, als über ein Fahrrad.

„Ich dachte nur gerade, vielleicht sollte ich ihr nicht auch noch die Möglichkeit dazu geben.“

Sie sah zu Boden.

Ok. Wann war das hier zu einer verfickten Therapie-Sitzung geworden? Es musste außerdem ein ziemlicher Brocken auf ihren Schultern sein, wenn sie hier so einfach begann damit rauszurücken. Ausgerechnet vor ihm.

Außerdem, meinte sie den Scheiß ernst?“

„Wirklich?“

Er hob skeptisch die Augenbrauen, als sie aufsah. Mit der linken Hand klopfte er geistesabwesend auf den Sattel des Fahrrads.

„Warst du mal ein Teenager?“

Die Frage brachte sie mehr aus dem Konzept, als sein Gerede von Diebstahl.

„Was?“

Paul verdrehte die Augen.

„Hör zu. Wenn sie abhauen will, deine kleine Schwester, dann findet sie einen Weg. Das hier-“ er faste mit einer schnellen Geste die Hausfassade ein, „ist nicht wirklich fucking Fort Knox. Sie hat zwei Beine oder? Sie würde einfach laufen.“

Rotkäppchen schien darüber schärfer zu durchdenken, als es eigentlich nötig war.

Sie schob ihre Brille mit dem Zeigefinger nach oben. Zögerte. Starrte ins Leere.

Dann atmete sie aus. Ruckartig.

Und dann tat sie etwas, das Paul schockierte.

Sie lächelte. Das erste Lächeln das er von ihr sah. Und es … machte etwas mit ihm.

„Du hast Recht.“ Sie nickte. Immer noch lächelnd.

Ihre Schulter bewegte sich. Ein kleine Bewegung, ein winziges Achselzucken.

„Und dann ist es wohl besser, wenn sie das Fahrrad hat.“ Rotkäppchen sah an Pauls Seite hinunter.

„In diesen Zeiten sollte niemand sein Leben verpokern, weil er nicht schnell rennen kann.“

 

Sie machte irgendwas mit ihren Lippen. Presste sie aufeinander oder so. Grübchen entstanden dadurch, die sich beim Lächeln nicht gezeigt hatten.

Es fesselte kurz Pauls Aufmerksamkeit, so dass er den Sinn ihrer Worte erst nach einem Augenblick verstand.

Diese Zeiten … sie meinte die Angriffe.

Er überlegte, ob er sie in diesem Glauben lassen sollte.

Das Rudel sorgte dafür dass der Frieden gehalten wurde, aber Paul traute den Blutsaugern nicht. Es waren einfach zu viele. Und wer wusste schon, was die Zukunft bringen würde? Außerdem war es besser, wenn so wenig Menschen wie möglich in den Wäldern unterwegs waren. Es reduzierte die Chance, dass jemand dort etwas sah, was nicht für menschliche Augen bestimmt war.

„Naja. Scheint mir, dass das, was dafür verantwortlich ist, sich noch nicht mal von einer 100 PS Maschine abhängen lassen würde.“

Paul musste nicht spezifizieren, was dafür war. Die Nachrichten waren voll davon. Und er hatte es vor nicht mal einem halben Jahr bekämpft. Auch wenn Rotkäppchen das nicht wusste.

Wieder bedachte sie ihn mit diesem Blick. Der einen dazu bringen könnte, zu glauben, sie wüsste mehr, als sie wissen konnte.

Er zuckte mit den Achseln und grinste.

„Also, lebe deinen Tag, als wäre es dein Letzter.“

Sie schwieg so lange, dass er dachte, sie würde nicht mehr antworten. Dann tat sie es doch.

„Ist das dein Motto, ...“

„Paul“, half er ihr weiter.

„Paul.“ Sie klang ein wenig amüsiert. Auf diese sanfte, feminine Art, die kein Mann jemals ganz verstehen konnte. Und irgendwie hatte er den Eindruck, dass sie seinen Namen nicht wirklich vergessen hatte. Rotkäppchen spielte Spielchen. Und Paul wusste nicht welches.

Er hasste das, verdammt noch mal.

Paul kratzte sich am Nacken.

„Weiß nich. Kann schon sein.“

Sie zuckte mit dem Kinn, als würde sie zu sich selbst nicken, es aber im letzten Moment abbremsen. „Das erklärt vieles.“ Ihr Lächeln war zarter geworden, umspielte nur noch minimal ihre Lippen.

„Ach ja?“ Seine Stimme klang energischer als gewollt. Ungeduld und die ersten züngelnden Flammen von Zorn leckten an seinem Temperament. Sie begann ihn anzupissen.

Er hasste es, wenn Leute einfach unterstellten. Vermutungen als wahr hinnahmen, ohne einen Scheiß zu wissen.

Gut, die meiste Zeit über machte Paul das mit Absicht. Ließ den Menschen ihre Unterstellungen, trieb sie sogar in diese Richtung.

Manchmal war es gut, wenn der Horizont der anderen niedrig blieb.

Aber das war seine Entscheidung.

Er hasste es, wenn es einfach passierte und er keine Kontrolle darüber hatte.

Die überlegene Haltung. Als würde sie ihn kennen.

Sie wusste verfickt noch mal rein gar nichts über ihn.

 

Aber dann lächelte sie erneut. Ein süßes, ehrliches Lächeln. So ohne Falschheit und ohne Hintergedanken, dass Paul sich fragte, wann er jemals von einer Fremden auf diese Weise angelächelt worden war.

Frauen lächelten ihn an. Ja. Das passierte oft. Natürlich.

Sexuell. Flirtend. Unsicher. Spöttisch.

Aber einfach so.

Nett.

Freundlich.

Süß.

Es entwaffnete ihn augenblicklich. Und er dachte, dass er derjenige war, der unterstellt hatte.

Dass er sie falsch eingeschätzt hatte. Kolossal falsch.

„Danke. Für das Fahrrad. Ich weiß es zu schätzen. Wirklich.“ Sie lachte in kleines selbstironisches Lachen. „Ich habe es völlig vergessen.“ Sie schüttelte den Kopf. Wieder so ohne Arglist und vollkommen entwaffnend. „Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht gerade. Mit allem was los ist-“

Sie stoppte.

„Aber ich will dich nicht langweilen. Danke. Wirklich.“

Sie streckte den Arm aus, als wollte sie ihn anfassen.

Instinktiv spannte Paul sich an, nicht sicher, ob er ihre Berührung wollte.

Entweder überlegte sie es sich anders oder bemerkte es, denn ihre Hand fiel auf halbem Weg nach unten. Sie versuchte nicht mal, die Bewegung zu überspielen, wie es viele andere getan hätten.

„Danke.“

Sie wiederholte sich. Und eigentlich sollte es ihn total nerven. Es hatte genervt.

Vielleicht war es der Geruch. Nach Dinner. Ein hübsches Mädchen. Warmes Licht.

Vielleicht hatte er sich einlullen lassen, ohne es zu bemerken.

Paul starrte. Rotkäppchen lächelte ihr Halblächeln.

Und dann war die Entscheidung gefallen.

„Etwas riecht gut“, sagte Paul. Er spielte mit hohem Einsatz und wusste nicht, ob er sie richtig einschätzte. Und es war seltsam, aber er wollte wirklich, wirklich nicht gehen.

„Hm?“ Ihre feinen Augenbrauen zuckten. Sie wirkte verwirrt.

Paul nutzte den Moment zum Angriff.

„Was aus dem Ofen?“

Was auch immer es war, was hier nach Abendessen roch, es erinnerte seinen Magen überdeutlich daran, dass er auf Emilys Hackbraten hatte verzichten müssen. Und der war nicht begeistert.

Paul auch nicht.

Und vielleicht war Rotkäppchen ja dankbar genug.

„Eh ja, Ich-“, sie stockte, schien seine Worte erst jetzt richtig zu begreifen, denn sie begann ihn nachdenklich zu mustern. Ihr Blick huschte zum Fahrrad an Pauls Seite und in diesem Moment wusste er, was sie tun würde.

Er hatte Recht.

Rotkäppchen legte den Kopf zur Seite und lächelte.

„Hast du schon gegessen?“ Sie öffnete die Tür ein wenig weiter, ließ mehr von dem warmen Licht auf den schmalen gepflasterten Weg fallen, der von der Einfahrt hierher führte.

Mehr brauchte es nicht. Paul grinste.

„Das war das Zauberwort.“

Für einen kurzen Moment schienen ihre Lächeln miteinander zu verschmelzen.

Und war das nicht totaler Bullshit?!

„Wo soll das hier hin?“ Er nickte in Richtung des Fahrrads.

„Oh“, sie hatte sich umgedreht, stand der Tür zugewandt. Ihre Augen ruhten kurz auf dem Fahrrad. Das machte sie eine kleine Bewegung mit der Hand. „Lass es einfach dort.“

Paul bedachte diese dämliche Idee nicht mal mit einem Kommentar.

Mittlerweile wusste er, dass sie nicht blöde war. Und tatsächlich deutete sie sein Schweigen sofort richtig.

„Gartenschuppen“, sagte sie stattdessen langsam und bedachte ihn mit einem sonderbaren Blick. „Hinter dem Haus.“ Sie bedeutete ihm mit der Hand den Weg um das Haus herum.

„Ich lasse dich zur Hintertür rein.“

Paul tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn und fasste das Fahrrad am Lenkrad.

„Alles klar, Boss.“

 

Er fand den Schuppen. Und die Hintertür. Und ein paar derbe verrottete Balken im Verandadach. Er beäugte sie skeptisch.

Dann ging die Tür auf und unterbrach ihn dabei.

Es war nicht Rotkäppchen, sondern die Kleine. Hannah.

Das weiche Licht im Hintergrund ließ ihre Züge nicht mehr so spitz aussehen. Anders als ihre große Schwester hatte sie wohl nicht mal die Kraft für eine Katzenwäsche gehabt und sie roch immer noch … scharf. Metallisch.

Krank, deduzierte der Wolf augenblicklich.

Sie starrte ihn mit großen Augen an, als er näher heran kam, ließ ihn allerdings wortlos ins Haus. Hoffentlich hatte ihre Schwester sie dazu aufgefordert, sonst wäre dieses Verhalten nämlich suizidal gefährlich.

Man ließ nicht einfach fremde Männer zur Hintertür herein.

Paul wollte das kommentieren, aber in dem Moment, als er das Haus betrat, wurde er abgelenkt.

Er blinzelte und starrte.

Keine Ahnung was er erwartet hatte. Gar nichts, wahrscheinlich. Auf eine Ausgabe von Interior Design war er allerdings nicht vorbereitet.

„Ok“, sagte er zögerlich, um überhaupt etwas zu sagen und ließ seinen Blick schweifen.

Er wusste einen Scheiß über so einen Schrott, aber alles wirkte gedämpft und sanft, ohne mädchenhaft zu sein. Einfach … wirklich schön.

„Das habe ich nicht erwartet“, sagte er ehrlicherweise.

„Ich weiß.“ Es war das erste das er von Hannah gehört hatte, das nicht tränenreich war. Sie hatte eine süße Stimme. Immer noch recht mädchenhaft. Unschuldig.

Paul fühlte einen Schwall Beschützerinstinkt in seiner Brust umherschwappen.

Das passierte. Es bedeutete, dass der Wolf die Kleine mochte.

Also konnte sie nicht so verkehrt sein.

„Nora hat einen ziemlich guten Geschmack.“

Es klang nicht unbedingt positiv, so wie die Kleine es sagte.

„Aha“, antwortete Paul, der den Fernseher entdeckt hatte. Nicht schlecht. Nicht riesengroß, aber definitiv nicht schlecht. Es lief irgendetwas, das kein Sport war auf lautlos und Paul wandte den Blick ab.

„Sieht nett aus“, sagte er und Hannah zuckte mit den Schultern.

„Hm.“

Sie kletterte auf das Sofa. Von dort musste sie aufgestanden sein, wenn das kleine Nest, das sie sich dort gebaut hatte, Rückschlüsse zu ließ.

Das Sofa war eine lederne Angelegenheit, die wegen der ganzen Kissen einladend wirkte. Trotzdem wäre es für Paul viel zu klein. Nicht dass er plante. sich darauf nieder zu lassen.

Hannah griff eines der Kissen und umklammerte es so heftig, dass es aussah, als würde sie gerade ein Ei legen. Ihr ganzer Körper war starr und angespannt. Dass sie sich unwohl fühlte, strahlte in Wellen von ihr ab.

Paul schlenderte zu einer Reihe von Bilderrahmen an der Wand.

Es zeigte Hannah in diversen Jahren der Kindheit, strahlend und blond, ein kleiner zahnlückiger Engel. Ein Foto von drei Frauen. Eine älter und so blond wie Hannah, ein kleines grinsendes Mädchen auf dem Arm und ein rothaariges an der Seite.

Eine Mutter und ihre zwei Töchter.

Wie ihre Schwester grinste Nora breit. Sie sah aus, als wäre zwölf oder dreizehn. Noch deutlich ein Mädchen, die zarten Anzeichen von Adoleszenz nur zu erahnen. Ihr Haar war zu zwei Zöpfen geflochten und die Sommersprossen auf ihrer Nase waren so zahlreich, dass es aussah, als hätten sie die Herrschaft über Gesicht übernommen. Sie wirkte glücklich.

Paul betrachtete die anderen Bilder. Kein Vater zu sehen.

Interessant.

Er drehte sich zu der Kleinen um, die in ihrer Starre verharrt hatte, obwohl bestimmt drei Minuten vergangen waren.

Paul beschloss, sie ein wenig aufzumuntern.

„Hast uns heute ganz schön auf Zack gebracht, was?!“

Anders als jeder andere Teenager, holte das nicht ihren inneren Rebell hervor. Stattdessen duckte sie den Kopf und sah aus wie die Schuld höchstpersönlich.

„Es tut mir leid“, flüsterte sie. Eine kleine Fee mit gebrochenen Flügeln.

Pauls Mundwinkel zuckten.

„Kein Problem, Kiddo.“ Er machte einen Schritt in ihre Richtung. Das Wohnzimmer war nicht sehr groß und er schon, deswegen hatte er nicht viel Platz, sich zu bewegen.

„Es braucht schon ein bisschen mehr, um uns wirklich zu ärgern.“

Er lächelte in ihre Richtung, aber sie sah ihn nicht an. Ihre Augen hatte sie auf den Fernseher gerichtet, aber sie schien nicht wirklich hinzusehen. Außerdem war der Ton immer noch ausgestellt.

„Also“, zog er ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Was läuft?“

Da Hannah nicht wusste, was er meinte, musste sie ihn ansehen. Paul nickte in Richtung Fernseher.

„Teen Wolf“, war ihre leise Antwort.

Paul musste sich wirklich hart anstrengen, um nicht laut zu lachen. Es war wirklich beschissen komisch.

„Wirklich.“

Hannah war zu jung, um die Ironie in seiner Stimmer zu bemerken, deswegen nickte sie nur.

Paul kam näher, blieb an der Sofalehne stehen und besah sich die flimmernden Bilder genauer.

„Ist das ein Ding bei euch?“

Er sah aus der Peripherie, dass die Kleine den Kopf schüttelte.

„Nur ich seh‘s mir an. Nora hasst solche Sache. Sie mag kein Fantasy.“

Paul gluckste. Tatsächlich.

Nun, wenn das nicht der beschissendste Zufall aller Zeiten war.

 

 

Nora hörte ihre Stimmen. Vor allem seine Stimme. So tief und sonor wie sie war, würde man ihn wahrscheinlich sogar noch ein paar Hundert Meter in der Erde verstehen können. Wenn man dort verharren sollte. Aus irgendeinem sonderbaren Grund.

Nora runzelte die Stirn über sich selbst und trocknete die Hände an einem Geschirrhandtuch. Sie fügte ihrer mentalen To-Do Liste den Stichpunkt richtiges Handtuch in Küche hinzu und warf das Geschirrtuch dann in die Spüle.

Dann verzog sie das Gesicht und holte es schnell wieder heraus. Nass. Natürlich.

Großartig, Nora.

Das zerknüllte Geschirrtuch in der Hand, drehte Nora den Herd aus und stählte den Rücken, als sie sich wieder aufrichtete.

Zeit dem Biest die Stirn zu bieten.

In diesem Fall war es sogar mehr als eine Redeart.

Dieser Kerl war einfach nur gigantisch.

Man sah große Menschen auf der Straße, sogar den ein oder anderen Sechs Fuß Sechs großen Mann. Und dann war da die NBL.

Aber Typen wie er und seine Freunde, die Gang um Sam Uhley … das war ein ganz anderes Kaliber. Sie hielten sich auf eine Weise aufrecht, die sie noch größer erscheinen ließ. Eine Art Selbstverständlichkeit, als wüssten sie ganz genau wer sie waren und was sie vom Leben verlangten.

Dass es sich ihnen zu Füßen warf.

Nun, Nora hatte noch nie gerne zu jemandem aufgesehen.

 

Er stand mit dem Rücken zur Tür, sein großer Körper noch gigantischer in ihrem kleinen Wohnzimmer. Logisch betrachtet war er kein Riese.

Er war größer als die meisten Männer.

Aber es waren die Muskeln, die es alles so außergewöhnlich erschienen ließen.

Häufig wirkten große Männer schlaksig. Deswegen musste seine Gestalt für Noras Augen so monströs wirken. Jetzt, ohne den Ausdruck permanenter Herausforderung auf seinem Gesicht, sah sie, dass nichts an ihm tatsächlich extrem war.

Er war … gut gebaut. Feste Stränge deutlich akzentuierter Muskulatur an Schultern und Rücken. Keine breiigen Massen an fetten Muskelpaketen, sondern echt voneinander unterscheidbare Muskelgruppen.

Sie hatte ein Semester allgemeine Anatomie gehabt und wusste, dass das selten war. Bodybuilder arbeiteten Ewigkeiten an dieser Akzentuierung, aber gezieltes Training ließ Muskulatur hypertrophieren und erzeugte ein Körperbild, das für viele nicht ästhetisch aussah.

Paul hier allerdings, wirkte nicht wie ein Bodybuilder.

Keiner der Hühnen die Nora heute auf dem Reservatsgebiet gesehen hatte, sah so aus. Sie hatte es nur gesagt, um etwas zu verdeutlichen.

Selbst Sam Uhley, der Größte von den Sechs, wirkte zwar groß und muskulös, aber auf eine … graziöse Art.

Nora wusste, dass es nicht zusammen passte. Das machte das Ganze noch umso bizarrer.

 

Aber Pauls Rücken war nicht monströs. Er war … attraktiv. Wenn man auf diesen Typ stand. Der, der dir mit einer falschen Bewegung den Hals brechen konnte.

Nora mochte Männer lieber, die weniger einschüchternd waren.

 

Im Nachhinein würde es ihr merkwürdig vorkommen, dass sie daran dachte. An Männer und welchen Typ davon sie selbst bevorzugte. Und dass sie es tat, während sie Pauls Rücken begaffte. Denn für gewöhnlich dachte sie über so etwas überhaupt nicht nach. Nora bemerkte Männer sonst nicht mal.

Natürlich bemerkte sie Männer. Aber nur als geschlechtslose Menschen, die ihre Umwelt bevölkerten. Sie sah nicht genau hin. Sie dachte nicht über sie nach.

Sie waren einfach … da.

Aber in diesem Moment versuchte Nora nur, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken und zu verstehen, wieso sie diesen riesigen Kerl mit schmutzigem Mundwerk hineingebeten hatte.

Wegen des Fahrrads. Richtig. Das war nett von ihm gewesen.

 

Nora hörte, wie Hannah von der Serie erzählte, die sie gerade ansah. Dann ihren eigenen Namen.

Sie hörte Paul lachen. Ein dunkles, grollendes Geräusch, das sie ein wenig verunsicherte und dann ärgerte. Sie würde keine Angst vor ihm haben. Das hier war ihr Haus. Und sie würde ihn jederzeit mit dem Besen herausjagen, wenn er sich nicht anständig benahm. Er würde vielleicht dabei zerbrechen, ihr Besen, aber es ging schließlich ums Prinzip.

„Ist das so?“, hörte sie Paul sagen. In einem Tonfall, der ihr in den Ohren kratzte.

„Ich hab nichts gegen Fantasy“, sagte Nora deswegen. Sie hörte wie angespannt ihre Stimme klang. Ein wenig atemlos. Hannah wandte ihr den Kopf zu und Paul ebenso. Er wirkte nicht überrascht, dass sie hinter ihnen stand. Vielleicht war man weniger schreckhaft, wenn man so groß war wie er. Mit der Gewissheit in den Knochen, dass es auf der Welt kaum etwas gab, das eine Gefahr darstellte.

Wie musste es sein, mit so einer allgemeinen körperlichen Überlegenheit durch sein Leben zu gehen?

Nora kämpfte gegen den Impuls, sich ein bisschen aufrechter hinzustellen, als sein Blick auf sie fiel.

Sie reckte das Kinn vor.

„Ich mag Buffy.“

Er drehte sich vollständig zu ihr um, während Hannahs Interesse sich wieder verlor.

„Buffy?“ Es war nicht wirklich eine Frage. Mehr eine Wiederholung dessen was Nora gesagt hatte, aber er betonte das Wort auf seltsame Weise. Als würde sie ihm damit mehr sagen, als sie es getan hatte.

„Ja“, sagte sie. „Die Vampirjägerin.“

„Jägerin.“

Wieder diese Wiederholung.

Es könnte die Vermutung nahelegen, dass er ein wenig beschränkt war.

Aber Nora wusste es mittlerweile besser.

Er war nicht blöde. Ganz im Gegenteil.

Aus seinem Blick blitzte beißende Intelligenz hervor, wenn man an der provozierenden Art vorbei sehen konnte, die einfach seine Persönlichkeit zu sein schien. Nora kannte die Menschen gut genug um zu wissen, dass das nicht häufig der Fall sein konnte.

Sie schätzte, dass er die Leute gern in dem Glauben ließ, er sei ein nicht sehr intelligenter Grobian mit einem Aggressionsproblem. Zumindest das mit der Intelligenz war eine Fehleinschätzung, der Nora selbst aufgesessen war.

Es hatte sich wahrscheinlich als dienlich erwiesen, wenn die Menschen ihn unterschätzten. So war er derjenige, der die Kontrolle behielt.

Aber sein Temperament … das schien nicht gespielt zu sein.

 

Sein Blick war für Nora nicht zu deuten, also wandte sie den Kopf und sprach ihre Schwester an.

„Paul bleibt zum Essen, Hannah. Er hat dein Fahrrad vorbeigebracht.“

Sie meinte es nicht als Erinnerung an die heutige Episode, sie hatten lange genug darüber gesprochen.

Sondern als Erklärung für ihre Schwester, wieso ein großer, fremder Typ aus dem Nichts mit ihnen zu Abend aß. Hannah musste verstehen, dass es um Dankbarkeit ging. Nichts weiter.

„Danke“, murmelte Hannah, das Kinn auf ihre Knie gestützt, den Blick zum Fernseher gerichtet.

Nun, was höfliche Gesten anging, war das lausig gewesen.

Nora holte schon Luft, um etwas zu sagen, als Paul ihr mit einer Geste zu verstehen gab, es fallen zu lassen.

Wahrscheinlich war es ohnehin besser, über so etwas zu sprechen, wenn keine Fremden anwesend waren. Sie wollte Hannah nicht zurechtweisen. Nur sensibilisieren.

„Möchtest du Kaffee?“

Die Frage überraschte Paul, der einmal blinzelte und dann den Kopf schüttelte. „Zu spät dafür.“

Klar. Natürlich. Sie hätte spezifischer sein sollen.

„Ich habe Koffeinfreien.“

Das war anscheinend besser, denn er lächelte. Er war süß, wenn er lächelte. Ein wenig von der Härte verschwand und die ganze Kantigkeit schmolz. Er wirkte mehr wie ein übergroßer Junge, als der Tyrann, der er eindeutig sein konnte. Trotzdem wirkte er einschüchternd. Aber das konnte auch nur Nora sein.

„Na dann.“ Er wies ihr an, den Weg zu zeigen.

 

Sie fühlte sich unwohl, seine Präsenz so nah hinter ihr, dass sie sich einbildete, seinen Atem im Nacken spüren zu können. Was nicht möglich war. Aber die Logik half nicht immer, die bescheuerten kleinen Tiraden, die die Psyche veranstaltete, zu entkräften.

Nora führte ihn durch den langen Flur, an der Treppe ins Obergeschoss vorbei zur geräumigen Küche. Es gab zwei weitere Türen auf dieser Etage. Hinter einer verbarg sich ein Badezimmer, hinter der anderen die Treppe zum Keller, wo die Waschmaschine stand. Da unten machte Nora Yoga, wenn sie sich dazu aufraffen konnte.

Ihr fiel auf, dass Paul sich aufmerksam umsah. Nicht das einfache Interesse von jemandem, der das Heim eines anderen das erste Mal besucht. Sondern mit einem gezielteren Blick. Er betrachtete die Decken und das Treppengeländer. Nora fragte sich, ob es vielleicht sein Beruf war.

Er verharrte in ihrem Flur, um an einer Wand herum zu klopfen. Was Nora Zeit genug gab, die passenden Kaffeepads aus Keramikdose zu holen und sich nach zwei Tassen zu strecken.

Als sie die Schranktür schloss, bemerkte sie, dass Paul in der Tür lehnte, den Blick auf ihre Mitte gerichtet.

Unangenehm berührt, zupfte sie den übergroßen Pulli zurecht, den sie über alten Jogginghosen trug. Nicht gerade ein modisches Outfit, aber das war ihr Zuhause. Kein Grund also, sich unwohl zu fühlen.

Logik, triff auf deinen ewigen Feind: Gefühl.

Nora drückte die Knöpfe und lehnte sich an die Arbeitsplatte ihrer Küche.

„Also“, begann er und Nora schreckte leicht zusammen. Das gefiel ihr gar nicht. Die Küche war nicht klein. Nicht für eine Küche. Aber es fühlte sich trotzdem an, als würde er die Hälfte davon einnehmen. Sie drehte sich um, damit sie ihn nicht ansehen musste und stellte das Gas unter dem Kartoffel- und Bohneneintopf an, obwohl sie wusste, dass der heiß genug war.

Es gab sonst nichts weiter zu tun. Die Brötchen waren fertig und blieben ihm abkühlenden Ofen ausreichend warm und der Salat wartete im Kühlschrank.

„Sind es die Blutsauger?“

Abgelenkt von ihrem Versuch den bereits wieder blubbernden Eintopf nicht anbrennen zu lassen, sah sie über ihre Schulter.

„Was?“

Paul stand nicht mehr an der Tür, sondern am Fenster. Wieder zuckte Nora zusammen. Sie hatte nicht gemerkt, dass er sich bewegt hatte.

Sofort zog sie den Topf vom Herd und schaltete ihn aus. Auf einmal wollte sie ihm nicht länger den Rücken zu drehen.

Er stand ihr zu gewandt und betrachtete sie eingehen.

„Buffy“, sagte er. „Sind es die Blutsauger?“

Oh. Er wollte wissen, was ihr an der Serie gefiel.

Der erste Kaffee wählte diesen Moment, um fertig zu werden. Nora griff danach.

„Ich weiß nicht.“

Sie wollte ihm die Tasse nicht direkt in die Hand geben. Also stellte sie den Kaffee auf den Tisch.

Sein Blick folgte der Bewegung und irgendwas in der Art wie er es tat, erweckte in Nora das Bild von einem Tier auf der Jagd. Es war ein entsetzlicher Gedanke und es wurde Zeit, dass sie sich zusammenriss.

Nora räusperte sich und stellte ihre eigene Tasse unter die Maschine. Eine Katze war darauf abgebildet und die Buchstaben MEOW. Ein Geschenk von Hannah.

Nora mochte Katzen.

„Ich mag die Witze, denke ich. Die Show nimmt sich selbst nicht so ernst.“

Als Nora von der Kaffeemaschine aufsah, hatte Paul sich seine Tasse genommen und stand wieder an genau der Stelle, an der er vorher gestanden hatte.

Es waren keine fünf Sekunden vergangen und in der Küche war es leise. Sie hatte nicht ein einziges Geräusch gehört. Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken.

Für einen Moment sah Nora ihn einfach nur an. Sie überlegte nicht einmal. Starrte einfach nur. Er erwiderte ihren Blick schweigend, schien aber irgendwie … amüsiert. Vielleicht wusste er, dass er sie nervös machte.

Vielleicht tat er das mit Absicht.

Der Gedanke weckte ein wenig von ihrer sonstigen Sturheit und sie fand die Kraft ihn herausfordernd anzusehen.

„Was?“, thematisierte sie seine nun offensichtliche Belustigung. Er hatte eine große Hand um seine Tasse geschlungen, ignorierte den Kaffee aber sonst. Dieses Lächeln hatte sich wieder auf seine Züge geschlichen.

„Ich hätte dich nicht für jemanden gehalten, der Witze sehr mag.“ Er zuckte mit den Achseln.

„Das ist alles.“

Nora bemerkte, dass seine Antwort ihr nicht gefiel. Was sollte das heißen? Dass sie aussah, als würde sie keinen Spaß verstehen?

Es ärgerte sie fast noch mehr, dass ihr seine Meinung etwas ausmachte.

Die Kaffeemaschine beendete die zweite Runde mit einem appetitlichen Gurgeln. Nora ignorierte sie.

„Du kennst mich nicht.“ Es implizierte, was sie nicht sagte: du kannst nicht wissen, ob ich Witze mag oder nicht, du frecher Kerl.

Paul nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Den Blick wandte er dabei nicht ab. Betrachtete sie weiterhin über den Rand der Tasse hinweg.

Es wirkte … intensiv.

Als er absetze, lächelte er. Seine dunklen Augen funkelten und ein seltsamer Zug war um seine Lippen entstanden.

„Und da hast du vollkommen Recht.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein allgemeines Gruppendankeschön an die Leser, die sich bereits hier her verirrt haben. Ein noch größeres Dankeschön an alle, die etwas zu erste Kapitel geschrieben haben.

Ihr wisst es selbst, Feedback ist das Kohlenhydrat des Autorenstoffwechsels.

Es ist Energiegeber und Antreiber. Motivator.


Ich hoffe ihr hattet beim Lesen so einen Spaß wie ich beim Schreiben. Ich hatte nämlich selten so Großen.

Sollten ein paar Dinge seltsam erscheinen oder ihr es nicht sofort einordnen können, muss das nicht unbedingt schlimm sein. Häufig ist es keine wichtige Information. Zu wissen, das Interieur Design das zweitbest verkaufte Einrichtungsmagazin in den USA ist, zum Beispiel.

So etwas könnt ihr gerne ignorieren, ebenso wie eventuelle geografische Referenzpunkte.


Ein paar Worte möchte ich zu den Namen und der Zeit verlieren.

Ich weiß nicht, wann der Breaking Dawn Plot spielt. Ich hatte den Eindruck, das im Film Schnee vorkommt. Aber bitte … ich werde das nicht recherchieren. Das ist Zeit, die ich anders viel besser einsetzen kann, denn ich habe mir die Freiheit genommen, einen OC einzuführen, also ist das Canon Plot sowieso über den Haufen geworfen.

Verzeiht mir also derartige „Schnitzer“.

Ihr werdet im Laufe der Geschichte bemerken, dass ich die vorgegebene Alter der Wölfe in den Wind schlage. Ich werde das so bugsieren, wie es mir gefällt. Denn ich bin kein großer Freund von Teenager Romanzen. Pauls biologisches Alter ist dementsprechend ein bisschen angehoben. Aber nicht viel.

Nach Brady und Collin, stoßen in Breaking Dawn sieben unbenannte Wölfe zum Rudel hinzu. Eine Folge der hohen Vampirpopulation (auch wenn die temporär ist). Ich nehme mir die Freiheit ihnen Namen zu geben. Also nicht wundern, wenn ihr über Namen stolpert, die ihr nicht kennt.


Verzeiht mir Tippfehler. Bitte. Oder weist mich drauf hin. Danke. Manche sind übrigens absichtlich. Um einen umgangssprachlicheren Ton zu mimen Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  MorganMidnight
2019-11-08T14:23:50+00:00 08.11.2019 15:23
Super Geschichte!!!!!!!
Also ist Nora seine Seelenverwandte?
Weswegen war sie eigentlich bei Sam?
Wegen dem einen neuen Wolf? (Sorry habe den Namen schon wieder vergessen)
Ich bin schon gespannt, wie es weitergeht!!!!!!!
Antwort von:  Feuermalerin
10.11.2019 11:18
Hi Morgan,

vielen lieben Dank für deinen Kommentar. <3

Hm, wenn das alles unklar ist, muss ich mir wohl mehr Mühe geben :)
Häufig übertreibe ich es mit dem Prinzip: zeige und sage es nicht.

Nora ist ihrer Schwester hinterher gefahren, die mit dem Fahrrad los ist, um Seth zu sehen. Der allerdings nicht da war. Wir wissen ja, wo er ist. Bei den Cullens.

Und ich möchte es nicht so deutlich aussprechen, was es mit der Prägung auf sich hat und wieso es nicht passiert ist, obwohl ja eine gewisse Anziehung da ist.
Der Hinweis ist in beiden Kapiteln und in der Kurzbeschreibung versteckt.
Es geschieht immer, wenn man sich in die Augen sieht.
Aber Nora braucht eine Brille.
So ... mehr gibts nicht dazu :)
Aber es wird bald passieren.

Danke noch mal!


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