Stimmen des Waldes von Alaiya ================================================================================ Stimmen des Waldes ------------------ Manch einer mag einen Wald bei Nacht gruselig finden, doch für Jen war es nicht weiter außergewöhnlich. Sie hatte schon viele Wälder bei Nacht gesehen, war in der Nähe eines Waldes aufgewachsen und hatte schon mit zwölf ihren Hund manchmal durch die Ränder des Waldes ausgeführt – auch im Winter, wenn es vor der Schule noch dunkel war. Entsprechend war es nicht weiter schlimm. Dennoch war sie aufgeregt hier zu sein, nachdem sie in den vergangenen Jahren doch immer wieder von diesem Ort gehört hatte. Als sie beschlossen hatten – nicht zuletzt dank vielem Zusprechen ihrer Patreons – nach Rumänien zu fahren, war es klar, womit ihr Aufenthalt enden würde. Sie hatten einige bekanntere verspukte Orte des Landes besucht. Sie waren im „Schloss Dracula“, das eigentlich „Schloss Bran“ hieß gewesen. Sie hatten ein vermeintlich verspuktes Hotel in Bukarest besucht. Sie hatten in der Nähe des schwarzen Meers gecampt, um nach UFOs Ausschau zu halten. Und in einem verlassenen Dorf, mitten in der Wildnis waren sie gewesen, da dort angeblich ein Werwolf gesehen worden war. Gefunden hatten sie nichts. Natürlich nicht. Weder waren da Geister im Hotel gewesen, noch ein Werwolf im Wald. Auch UFOs hatten sie nicht gesehen. Nur ein paar Sternschnuppen. Und natürlich hatten sie weder einen Vampir, noch Geister im Schloss des vermeintlichen dunklen Grafens gesehen. Cool war der Trip dennoch gewesen. Das Land war faszinierend. Das Essen herzhaft. Und es gab so viele lokale Geschichten, die es sich zu sammeln lohnte. Jen hatte sich diverse notiert in der Hoffnung daraus später Blogs zu bauen. Doch nun waren sie zum Finale gekommen. Dem Hoia Baciu – nur Hoia Baciu, wie Emily sie auf der Fahrt mehrfach erinnert hatte. Immerhin hieß Baciu Wald und „Hoia Baciu Wald“ zu sagen, wäre, als würden sie „Hoia Wald Wald“ sagen. So oder so: Sie hatten sich in eine Jugendherberge in Cluj-Napoca eingemietet. Anders, als manch eine TV-Show es vermitteln wollte, lag der Hoia Baciu immerhin nicht „mitten im nirgendwo“, sondern in der Nähe einer recht belebten Stadt. Die Nacht zuvor hatten sie diese besichtigt, gut gegessen und ein paar Fotos gemacht. In zwei Tagen säßen sie wieder im Flugzeug zurück nach England. Zuvor jedoch würden sie das machen, worauf sie sich die ganze Zeit schon gefreut hatten: Sie würden eine Nacht im Hoia Baciu verbringen. Jen war sich nicht sicher, wie der Hype um den Wald angefangen hatte. Doch wahrscheinlich war es auf irgendeiner der amerikanischen Geistershows, die um 2010 so beliebt gewesen waren, darüber berichtet worden. Jedenfalls hatte es mehrere von diesen gegeben, die den Wald besucht hatten. So oder so: Es war mittlerweile ein Hotspot. Wer über Geister schrieb oder Videos machte, der kam mindestens einmal hierher und verbrachte die Nacht hier. Immerhin galt der Hoia Baciu als extrem gruselig. Nicht nur, dass die Bäume hier manchmal seltsam wuchsen, es gab auch vermeintliche Geschichten, die ein paar hundert Jahre zurückreichten. Geschichten von Geistern, von Hexen, von körperlosen Stimmen, von Zauberei, von Menschen, die einfach verschwanden und Jahre später auftauchten, ohne gealtert zu sein, und von UFOs. Der Hoia Baciu hatte einfach alles! Es war relativ leicht gewesen herzufinden. Von ihrer Jugendherberge aus, konnten sie den Wald sehen. Sie waren letzten Endes gelaufen, da der Wald trotz allem einen Ruf hatte, der einige Taxifahrer davon abhielt, herzufahren. Gleichzeitig gab es von einer lokalen Kurklinik regelmäßige Nordic-Walking-Kurse im Wald. Es machte alles keinen Sinn. Doch hey: So war es ein Abenteuer. Nick filmte. Er lief den Weg entlang, die kleine Kamera erhoben. „Wir sind gerade auf den Weg zum Hoia Baciu“, verkündigte er an die späteren Zuschauer gerichtet, und filmte erst Emily, dann sie. „Da werden wir auch die Nacht verbringen. Da hinten ist er.“ Damit wandte er die Kamera dem Wald zu, der auf einem Hügel gelegen war. „Ich bin gespannt, ob wir ein UFO sehen“, kommentierte Emily im Plauderton. Jen lachte. „Ganz bestimmt. Und dann wird es uns entführen und wir werden im intergalaktischen Versandhandel arbeiten.“ „Wie ihr seht ist unsere liebe Jen so skeptisch, wie eh und je“, erklärte Nick den Zuschauern. „Jede Gruppe braucht einen Skeptiker“, erwiderte Jen. „Und ich werde euch versichern, es wird auch in dieser Nacht nichts außergewöhnliches passieren.“ Selbst wenn sie sicher genug knisternde Büche und knackende Bäume haben würden, als dass man daraus ein gruseliges Video schneiden konnte. Immerhin wollte niemand ein Video sehen, in dem nichts passierte. Lieber wollten sie sich ein wenig belügen lassen. Lieber spielte man ihnen eine Aufzeichnung ein, die mit etwas Fantasie nach einer Stimme klang. Und dann konnte man vielleicht ein wenig Latein in die Worte der Stimme interpretieren. „Wie ihr sehen könnt“, meinte Jen an die Kamera gewandt, zeigte aber bergab, „sind wir eigentlich ziemlich nahe an Cluj-Napoca, also der nächsten Stadt. Wenn euch also noch einmal jemand erzählen will, der Wald ist ganz weit weg von der Zivilisation, dann lasst euch nicht verarschen.“ Nick drehte die Kamera, um ihrem Fingerzeig zu folgen. „Genau. Wir sind ehrlich mit euch“, meinte er halbherzig. „Wir labern keinen Scheiß.“ „Vielleicht sollten wir, für diejenigen, die es nicht wissen, erst einmal darüber reden, was uns hier erwartet“, mischte Emily sich ein. „Der Hoia Baciu ist ein Wald, der hier einen gewissen Ruf hat.“ Wie immer fasste sie die wichtigsten Aspekte zusammen. Immerhin war sie, wenn man so wollte, ihre Geschichtsforscherin. Sie ging die wichtigsten Ereignisse durch, die mit dem Wald in Verbindung gebracht wurden. „Und wir werden sehen, ob wir dergleichen erleben.“ „Wie ich sage, wir werden sicher von Aliens entführt werden.“ Jen verdrehte die Augen. Mittlerweile hatten sie den Waldrand fast erreicht. „Aber erst einmal suchen wir nach dem 'Kreis'.“ „Der 'Kreis' ist eine Lichtung im Wald, die komplett rund ist“, erklärte Emily sofort. „Dort wachsen keine Bäume und allgemein nichts, bis auf Gras, obwohl es dafür keine wissenschaftliche Erklärung gibt.“ Weil Lichtungen auch immer eine Erklärung brauchten … „Und angeblich ereignen sich die meisten paranormalen Phänomene um diese Lichtung herum“, fuhr Emily fort. „Deswegen werden wir dort unsere Basis aufschlagen.“ „Genau. Und die Lichtung suchen wir erst einmal.“ Nick nahm die Kamera und drehte sie so, dass er sich selbst filmen konnte. „Wenn wir da sind, drehen wir weiter.“ Auch wenn der Handyempfang nicht der beste war, fanden sie die Lichtung relativ schnell. Sie hatten es sich in GoogleMaps markiert und sich zudem zusätzlich die GPS-Daten gespeichert. Insofern fanden sie sich relativ bald auf der Lichtung, die genau so aussah, wie auf all den anderen Videos, die sie gesehen hatten: Eine relativ große Lichtung, an der an einigen Stellen Feuergruben gegraben worden waren. Immerhin war es eine übliche Mutprobe, hier die Nacht zu verbringen. Auch eine lokale Universität forschte über die „seltsamen Phänomene“ des Waldes, so dass diese wohl auch häufiger herkamen. So oder so: Sie stellten ihre Zelte auf, sammelten Feuerholz. Was man halt machte, wenn man die Nacht hier verbringen wollte. Zwar war es Sommer, aber wie sie bereits auf ihrer vermeintlichen Werwolfjagd festgestellt hatten, waren die Nächte doch relativ kalt. „Wir haben gerade unsere allerletzte Mahlzeit“, scherzte Nick, als er wieder filmte. „Ja, bevor wir sicher von einem Werwolf zerfleischt werden“, meinte Jen. „Die Sonne geht gerade unter“, erklärte Emily an die Zuschauer gewandt. „Es wird in etwa einer halben Stunde relativ dunkel sein. Wie ihr sehen könnt, ist die Lichtung wirklich sehr rund. Wir werden hier später EVP-Sessions machen.“ „Hier wurden schon einige seltsame Stimmen aufgenommen.“ Nick gab seiner Stimme einen omniösen Nachklang. „Erst einmal wollen wir aber uns den Wald etwas ansehen“, erklärte Jen. „Es heißt, dass es weiter nördlich immer wieder Lichter gibt.“ Dabei musste sie sich anstrengen nicht zu zynisch zu klingen. Sicher, die Zuschauer liebten es, sie für ihren Skeptizismus entweder zu idealisieren oder zu verteufeln, aber gerade diese Lichtergeschichten klangen für sie immer wieder albern. Klar, es gab in den USA diese seltsamen Sumpflichter, die schwer zu erklären waren … aber hier? Sie hatte noch kein einziges Foto, geschweige denn ein Video gesehen, das sie überzeugt hatte. „Wir werden sehen, was wir dokumentieren können“, meinte Nick und stopfte sich den Rest seines Sandwiches in den Mund. Auch wenn der Wald eine drückende Atmosphäre hatte, war die Stimmung ausgelassen, als sie losliefen. Sie waren von der einen Kamera auf Go-Pros umgestiegen und hatten Taschenlampen dabei. Sicher, die Kameras hatten einen Nachtsichtmodus, doch Gruselstimmung hin oder her: Sie hatten wenig Lust, sich irgendwelche Knöchel zu verstauchen. Also stiefelten sie durch das Unterholz des nicht einmal so dichten Waldes. „Ich habe ziemlich viele Fotos von irgendwelchen Lichtern gesehen“, meinte Nick. „Angeblich eins der häufigsten Phänomene.“ „Wir sind aber auch relativ nahe an der Stadt.“ „Die Stadt liegt aber im Süden von uns“, warf Emily ein. Es war ihre übliche Routine. Nick oder Emily redeten über Phänomene, Jen brachte logische Erklärungen ein, sie stritten im Spaß ein wenig darüber, ehe sie das Thema wechselten oder irgendetwas hörten. Zwar fiel die Hälfte dieser Streits am Ende den Schnitt zum Opfer, doch die, die blieben, boten bessere Unterhaltung, als wenn sie einfach nur so durch die Gegend liefen. „Nun, ich sage nur: Lichter sind in einer besiedelten Gegend jetzt nichts außergewöhnliches.“ „Mitten im Wald schon“, erwiderte Emily. „Nun, wir werden …“ Jen hielt inne. Sie mochte es nicht sagen, doch kam es ihr so vor als hätte sie etwas gehört – nur was es gewesen war, konnte sie nicht sicher sagen. Emily sah sich zu ihr um. „Jen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nichts. Ich …“ Da war es wieder. Es war ein seltsames Geräusch. Wie fließendes Wasser. Aber von allem, was sie wusste, gab es hier keine Quellen. Dennoch. Es erinnerte an ein plätschern. Leise. Weit entfernt. „Hört ihr das auch?“, fragte Emily. Also war sie nicht allein. Jen sah sich um. Vielleicht waren ihre Informationen auch falsch. Vielleicht gab es eine Quelle oder einen Teich. Irgendwie so etwas. Sie schloss die Augen und drehte sich, um zu hören, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Wenn sie eine Quelle fanden, was das Phänomen auf jeden Fall erklärt. Aber auch nach zwei Drehungen war sie nicht sicher. Der Wald machte es schwer, etwas zu hören. „Hat einer von euch Wasser im Rucksack?“, fragte sie daher. „Das klingt nicht wie eine Wasserflasche.“ Nick löste seine und schüttelte sie. „Anderes Geräusch.“ Emily war die erste, die sich wieder an die potentiellen Zuschauer erinnerte. „Ich weiß nicht, ob ihr es auch hören könnt, aber wir hören etwas, das wie Wasser klingt. Irgendwo aus dem Wald. Wir werden nachschauen, woher es kommt.“ Für einen Moment blieben sie dort auf dieser Lichtung stehen, dann zeigte Nick Richtung Nordosten. „Ich glaube es kommt von dort“, meinte er bestimmt und machte erste lange Schritte in die Richtung. Das Licht seiner Taschenlampe tanzte über die seltsam krummen Baumstämme. Wenngleich widerwillig folgte Jen. Ihr Gefühl sagte, dass das Geräusch von irgendwo anders kam. Dennoch folgte sie ihm. Selbst wenn sie nicht an Wölfe in diesem Wald glaubte, so waren hier schon einmal Wölfe gesehen worden. Normale. Nicht die Art, die Tagsüber in Menschengestalt herumlief. Auch wenn Wölfe Menschen normal nicht angriffen, war es vielleicht nicht die weiseste Idee sich in so einer Gegend aufzuteilen. Also hasteten sie in die Richtung, die Nick vorgab, bis dieser stehen blieb, um erneut so lauschen. „Seltsam“, keuchte er. Jen bemühte sich, ihren eigenen Atem unter Kontrolle zu bringen. Die kühle Nachtluft brannte in ihren Lungen. „Was?“ „Ich höre nichts mehr.“ Natürlich lauschten auch Jen und Emily. Doch Nick hatte Recht. Da war nichts mehr. Nur noch das Rauschen des Windes in den Ästen der Bäume – und das Knacken und Knistern einzelner Zweige. Wie immer berichtete Emily den Zuschauern: „Was auch immer das war. Wir hören das nicht mehr.“ „Wahrscheinlich sind wir in die falsche Richtung gelaufen“, meinte Jen. Sie seufzte. Das gehörte natürlich mit dazu. Denn so viel von ihren Videos auch gespielt und überzogen war, so stimmte doch eine Sache: Sie glaubte nicht, dass hier irgendetwas war. Wie Emily hatte auch sie recherchiert, doch obwohl es angeblich Geschichten, die hunderte Jahre zurückgingen, gab, waren die ersten, die sie fand, aus den späten 1960ern, als die Leute dank dem kalten Krieg meinten, überall UFOs zu sehen. Vielleicht hatte es hier in der Nähe ja irgendeinen sowjetischen Testflughaften gegeben oder so. Emily schüttelte den Kopf. „Das war seltsam“, stellte sie fest. Nick drehte sich zu ihnen um. „Was meint ihr. Umdrehen oder nicht?“ „Lasst uns noch ein wenig weitergehen“, erwiderte Jen. „Wir müssen ja nicht die ganze Nacht auf dieser Lichtung sitzen.“ „Du meinst im sagenumwogenen ,Kreis‘“, lachte Nick. „Aber gut. Weiter.“ Wälder sahen bei Nacht irgendwie alle gleich aus. Dankbarerweise war dieser licht genug, als dass Licht von Sternen und Mond auf den Waldboden vordringen konnte. Es machte es leichter zu sehen, selbst wenn es nicht viel zu sehen gab. Natürlich lebten irgendwo Tiere im Wald. Ab und zu konnten sie sie hören. Doch diese gingen den drei stampfenden Zweibeinern lieber aus dem Weg. So viel war klar. Sie gingen knapp eine weitere Viertelstunde durch den Wald, als Nick, der noch immer vorne weglief, plötzlich wie erstarrt stehen blieb. Sein Körper war verspannt, so viel war klar. Doch Jen war nicht sicher, ob er es nur spielte. „Was ist?“, fragte sie. „Da war jemand“, erwiderte er. Seine Stimme klang flach und atemlos. „Jemand?“ Jen schenkte ihm einen ungläubigen Blick. Er zeigte auf den Wald vor ihnen. Da war ein Baum, der in der Mitte durchgespalten schien. Der Baum, dessen Stamm in der Dunkelheit beinahe schwarz wirkte, sah aus, als wäre er eigentlich zwei Bäume, die an der Wurzel verwachsen waren, dann jedoch in unterschiedliche Richtungen gewachsen waren. Seltsam, aber nichts Unerklärliches. Von einer Person fehlte jede Spur. „Da ist nichts“, meinte Jen. „Ich sag dir, da stand jemand.“ Nick klang, als wäre er wirklich erschrocken. Noch immer zeigte er dahin. „Wirklich. Ich sag's dir.“ „Ich hole die FLIR raus.“ Emily legte ihren Rucksack ab und begann darin zu kramen. Die FLIR-Wärmekamera war mit Abstand das teuerste, was sie für diesen Kram besaßen. Sie hatten sie gebraucht gekauft und dennoch über tausend Pfund bezahlt. Allerdings sorgte sie für cooles Material uns war zudem etwas, das relativ wenige Geisterjäger auf YouTube bieten konnten. Emily startete die Kamera, filmte in Richtung des seltsamen Baums, während Jen ihr über die Schulter sah. Da war … nichts. Der Baum zeichnete sich bläulich vor einem gelbgrünen Hintergrund ab, doch daran war nichts Ungewöhnliches. „Ich sage ja, da ist nichts“, meinte Jen. „Du sagst immer, da ist nichts“, murmelte Emily und schaute weiterhin auf den Bildschirm. Jen zuckte mit den Schultern und sah sich um, ehe sie die Augen schloss, um zu lauschen. Hier war auch nichts, das darauf schließen ließ, dass jemand hier war. Nein. Es war alles Einbildung. „Da!“, rief Emily auf einmal aus. Jen zuckte zusammen, schaute zu ihrer Freundin und auf die Kamera. Ein Schauer lief über ihren Rücken, als sie von dem Kamerabildschirm auf, zu dem Baum und dann wieder zur Kamera sah. Da stand eine Gestalt. Jedenfalls die Kamera zeichnete in Rot eine menschliche Gestalt auf, die dort stand, direkt neben dem Baum, um sich bewegte. Es sah aus, als würde die Person einfach in Ruhe dalangspazieren. Dann aber beschleunigte sie ihre Schritte und war im nächsten Moment verschwunden. Emily starrte fassungslos in den Wald. „Oh. Mein. Gott.“ Ihre Stimme war belegt. „Hast du das irgendwie gefaket?“, fragte Jen misstrauisch. Neben Kamerafehlfunktion war es die sinnvollste Erklärung. „Nein!“ Emily strahlte. „Was?“, fragte Nick und drehte sich nun zu ihnen um. „Hier.“ Emily hielt die Aufnahme an, spulte sie zurück und zeigte ihm das Video. Auch Nick starrte es fassungslos an. „Ist das echt?“ Emily nickte mit glänzenden Augen. „Ja!“ „Wow. Das ist … so cool!“ „Wir sollten sicher gehen, dass es kein Fehler ist und wirklich niemand hier ist“, warf Jen ein. Noch immer standen die Haare auf ihrem Rücken auf. Jetzt trat sie vor Nick. Ein Kloß hatte sich in ihrer Kehle gebildet, aber sie schluckte und erhob dann ihre Stimme. „Hallo?“, rief sie in den Wald hinein. „Hallo? Ist da jemand?“ Stille. Ein Windstoß wehte durch die Baumgipfel. Das Knarzen eines Baumstamms. Aber keine Antwort. Natürlich antwortete niemand. „Vielleicht sollten wir eine EVP-Session machen“, meinte Emily nach kurzem Überlegen. Jen zögerte. Zugegebenermaßen tat sie sich schwer, diese Aufzeichnung auf dem FLIR zu erklären. Dennoch schenkte sie ihr einen Seitenblick. „Du meinst, wir könnten hier ausnahmsweise mehr als ein seichtes Rauschen hören?“ „Wir hatten schon einige Stimmen.“ „Matrixing-Effekt.“ „Ich wäre dafür, es mit einer Session zu probieren“, stimmte Nick Emily zu, die bereits das kleine Aufnahmegerät aus ihrer Tasche fischte. „Hat einer von euch die rumänischen Sätze?“, fragte Nick. „Nein, ich dachte, die hättest du eingesteckt?“, erwiderte Emily. Jetzt schauten sie beide Jen an, die jedoch nur mit den Schultern zuckte. „Nicht, dass ich wüsste. Sollte im Notfall so gehen. Oder mit Google Translate.“ Sie fischte ihr Handy aus der Tasche und rief den Explorer auf. Nur um mit einem allzu bekannten Problem konfrontiert zu werden: Google lud und lud und lud und wurde doch nicht angezeigt. Kein Wunder, war der einzige Buchstabe über dem einen weißen Balken in der Anzeige doch ein „E“. „Empfang ist beschissen.“ Emily schaute ihr über die Schulter. „Glaubst du, dass es auch mit den Geistern zu tun hat?“ „Oh ja, ich bin mir sicher, dass Geister fähig sind das abzublocken. Und wenn sie dir wohl gesonnen sind, agieren sie als Antenne.“ Jen schnaubte, wurde jedoch ignoriert. Na ja, vielleicht fand es später jemand lustig, wenn sie dieses Gespräch drin lassen würden. Mittlerweile hatte Emily das Aufzeichnungsgerät angeschaltet. Sie hätten auch die Handys nehmen können, doch Emily fand immer, dass dies keinen Flair hatte. Also nutzten sie das hier. Ein kleines, schwarzes Gerät, wie es wahrscheinlich auch in Anwaltskanzleien genutzt worden wäre. „Hallo. Hallo. Test.“ Emily spulte zurück, um sicherzugehen, dass das Gerät auch vernünftig aufzeichnete. Doch die Aufnahme war vorhanden – nur ungewöhnlich verrauscht. „Klingt als ginge das Gerät kaputt“, murmelte Nick. Jetzt war es Emily, die mit den Schultern zuckte. „Oder es sind andere Mächte am Werk.“ „Lasst uns anfangen“, warf Jen ein. „Schauen wir einfach was passiert.“ Wahrscheinlich nichts. Emily schenkte ihr ein Lächeln, ehe sie sich räusperte. „Hallo?“, sprach sie in das kleine Mikrofon. „Mein Name ist Emily. Das hier sind Jen und Nick. Ist jemand hier?“ Sie wartete für einige Sekunden, um etwaigen Entitäten die Chance für eine Antwort zu geben. „Wie ist dein Name?“, fuhr sie dann fort und pausierte erneut. Es folgte: „Was bist du?“ Und: „Wie lange bist du schon hier?“ Und: „Weißt du, was es mit den Lichtern auf sich hat?“ Nach einer letzten Pause schaltete sie die Aufnahme aus und spulte zurück. Das Ergebnis war abzusehen. „Mein Name ist Emily“, rauschte die verzerrte Stimme aus dem Gerät. „Das hier sind Jen und Nick. Ist jemand hier?“ Rauschen. Es klang, als würde ein Wind durch den Wald wehen. Stärker, als sie es so gespürt hatten, aber das Mikro war eben empfindlich. „Wie ist dein Name?“ Nur weiteres Rauschen. Alles, wie Jen es erwartete. Natürlich sprach niemand mit ihnen. Sämtliche EVPs, die sie je gehört hatte, ließen sich entweder mit Matrixing, also dem Wahrnehmen von Stimmen in weißem Rauschen, oder mit Interferenz erklären. Nur wollte das niemand hören. „Was bist du?“, fragte Emilys Stimme. Es war im nächsten Moment, dass ein Geräusch von dem Gerät erklang, dass die Haare auf Jens Armen zu Berge stehen ließ. Es war ein Schrei. Ein Schrei, den sie vorhin nicht gehört hatte. Ein gellender Schrei, der einen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie zuckte zusammen, während Emily das Diktiergerät fallen ließ. Auf einmal war da der Fluchtinstinkt. So sehr Jens rationale Seite auch versuchte, eine Erklärung zu finden, da war jener weitaus weniger rationale Teil in ihrem Bewusstsein, der ihr Herz schneller schlagen ließ und ihren Körper in Fluchtbereitschaft ersetzt. Der Schrei brach plötzlich ab, als die Aufnahme zu Ende war. Er hatte sogar Emilys letzte Fragen übertönt. Emily zitterte. „Was war das?“, fragte sie, ihre Stimme ganz anders als zuvor. „Ich weiß es nicht“, gab Jen zu, während Nick nur dastand und sie anstarrte. „Das …“ Er zögerte. „Das war nicht irgendwie ein Fehler oder …“ Er brach ab, als seine Taschenlampe auf einmal verlosch. Langsam fühlte sich Jen verarscht. Nein. Das war alles zu Klischee. Sie kannte diesen Ablauf. Erst gingen die Taschenlampen aus, dann liefen alle, trennten sich und später fand man Leichen. Das war so ein Blair Witch Scheiß, nur dass das hier nicht fake war. Nein. Oder? „Lass den Scheiß, Nick“, meinte sie. „Ich bin das nicht.“ Er schüttelte die Taschenlampe. Seine Stimme klang dünn und zittrig. „Echt. Die Taschenlampe …“ Auch Jens Lampe erlosch. Verflucht. „Was geht hier vor?“, hauchte Emily und auch ohne Licht wusste Jen, dass sie Tränen in den Augen hatte. Langsam reichte es. Genau. „Das ist genug!“, rief sie in den Wald. „Wer auch immer das macht: Es reicht! Wir sind in keiner bösen Absicht hier. Wir …“ Ein Rauschen ging durch die Wipfel der Bäume. Kurz meinte sie, ein Licht zu sehen, doch bevor sie darauf reagieren konnte, traf etwas Jen in die Brust. Es war wie eine Sturmböe, die gegen ihre Brust traf, sie nach hinten warf und unsanft auf dem Rücken landen ließ. Für einen Moment war ihr schwarz vor Augen – nicht, dass es in der dunklen Nacht einen Unterschied gemacht hätte. Doch das war nicht alles. In der Ferne war ein Geräusch. Das Lachen von Kindern. Von kleinen Mädchen. „Jen!“, rief Emily und kauerte schon neben ihr. Nick war als nächstes an ihrer Seite, packte sie bei den Schultern. „Weg hier.“ Dieses Mal diskutierte Jen nicht. Ihr rationales Gehirn fand keine Erklärung dafür. Ihre Instinkte fühlten sich derweil bestätigt. Sie brauchte keine Erklärung, um zu laufen. Bevor sie wusste, wie, fand sie sich schon wieder auf den Beinen und dieses Mal lief sie. Sie rannte, hatte eine Hand um Emilys Handgelenk geschlossen, ohne sich genau daran zu erinnern, wann sie dies getan hatte. Sie rannte, verfolgt von fernen Kinderstimmen, zu undeutlich, um sie zu verstehen. Tausend kleine Nadeln schienen in ihre Haut zu stechen. Es schmerzte. Juckte. Was ging hier nur vor? Verzweifelt versuchte sie sich zu erinnern, in welche Richtung die Lichtung gelegen hatte. Von dort aus würden sie zurückfinden. Raus aus dem Wald. Auch wenn es albern war. Es machte alles keinen Sinn. Nichts hiervon ergab Sinn. Wo war eigentlich Nick? Sie warf einen Blick zur Seite, doch von ihrem Freund sah sie keine Spur. Stattdessen war da ein Licht. Flackernd, wie eine Fackel. Es schwebte zwischen den Bäumen her, nicht zu weit von ihr entfernt. Das Ganze musste ein verfluchter Albtraum sein. Sie rannte. Rannte. Rannte. Einmal stolperte Emily fast, doch sie blieben nicht stehen. Wo zur Hölle war Nick? „Nick?“, keuchte Jen in den Wald. „Nick?“ Wann war er verschwunden? In einem Moment war er noch neben ihnen gewesen und dann … Da waren weitere Lichter, diese jedoch weiter entfernt. Es war schwer sie zu erkennen. Sie wirkten seltsam gestreut, wie Scheinwerfer im Nebel. Sie rannten. Irgendwo musste die Lichtung oder der Rand des Waldes sein. Dann … nun, sie würden Nick am Morgen schon finden. Dann konnten sie darüber lachen. Sie würden darüber lachen, dass sie so überreagiert hatten. Nebel … Tatsächlich war der Boden schwerer zu erkennen. Eine ebene, weiße Masse schien sich über diesen gelegt zu haben. Wie Theaternebel. Nein. Das musste eine Halluzination sein. Doch war es auch merkwürdig kalt. Da! Auf einmal durchbrachen sie die Grenze zwischen Bäumen und freier Fläche. Sie waren wieder auf der Lichtung, wo ihre Zelte in Trümmern lagen. Spielte ihnen jemand einen Streich. Waren es vielleicht die lokalen Kinder? Jens Haut juckte. „Nick?“, rief sie atemlos in den Wald hinein. „Nick? Bist du da?“ „Wo ist er?“, fragte Emily neben ihr. Um Ruhe bemüht schaute Jen sie an. „Wahrscheinlich hat er uns nur aus den Augen verloren“, meinte sie. „Vielleicht kann er uns hören. Nick!“ Emily stimmte mit ein. „Nick!“ Doch soweit kam keine Antwort zurück. Nur die Lichter. Die Lichter tanzten weiter durch den Wald. In der Ferne erklang erneut das Lachen eines Kindes. „Das gibt es doch alles so nicht.“ Emily weinte nun wirklich. Sie drängte sich dicht an Jen heran, die Augen starr auf die tanzenden Lichter gerichtet. „Das gibt es nicht.“ „Es ist wahrscheinlich nur eine Illusion“, murmelte Jen. „Nur ein böser Streich.“ Keine gute Beruhigung, waren richtige Menschen doch gefährlicher als fiktionale Geister. „Alles nur …“ Sie wusste auch nicht weiter, machte jedoch einige Schritte rückwärts auf die Lichtung zurück. Dieser seltsame Nebel ging ihr mittlerweile bis zu den Knien. Dann kam ihr ein Gedanke. Ihr Handy. Sie holte es heraus. Eigentlich sollte sie hier zumindest etwas Empfang haben. Genug um die Polizei zu rufen oder so. Solange die nur am Notruf Englisch verstanden. Sie hob es zum Ohr. Die Notrufnummer hatte sie eingespeichert. „Bitte“, flüsterte sie, ohne zu wissen an wen diese Bitte gerichtet war. Hauptsache jemand ging dran. Doch nichts dergleichen geschah. „Was ist das für ein Nebel?“, fragte Emily, während aus dem Handy nur elektrische Statik antwortete. „Ich weiß es nicht.“ Jen sah sich um. Sie konnten hier nicht bleiben. Die Lichter kamen immer näher. Sie schluckte. Nach Süden waren es nur fünfzig Meter oder so bis zur Grenze des Waldes. Das sollten sie schaffen. Dann wären sie an der Grenze des Waldes, ganz nahe bei Cluj. Fest griff sie Emilys Hand. „Lass uns laufen“, hauchte sie. „Wohin?“ „Wenn wir nach Süden laufen, sollten wir schnell aus dem Wald rauskommen.“ „Aber dann müssen wir in den Wald rein.“ „Ich weiß …“ Jen sah in die Richtung, in der Süden sein musste. „Aber …“ Auch da tanzten Lichter. Doch sie mussten hier heraus. Aus dem verfluchten Wald. „Bitte, Emily.“ Der Nebel, was auch immer er war, stand bis zu ihrer Hüfte. „Aber …“ „Bitte …“ Schon zog sie ihre Freundin in die Richtung und widerwillig setzte sich Emily in Bewegung. Sie liefen auf den Rand der Lichtung zu, auf die tanzenden Lichter, die erloschen, als sie sich näherten. Sie liefen gerade aus, soweit es die krummen Bäume erlaubten, die in der Finsternis an düstere Gestalten erinnerten. Sie liefen. Liefen. Liefen. Mussten es nicht fünfzig Meter sein? Nicht hundert? Langsam sollten die Bäume sich lichten. Langsam … Ein gleißendes Licht schien ihnen entgegen. Heller als die Sonne. Heller als ein Scheinwerfer. Es blendete sie, brachte sie zum Stolpern. Sie liefen. Liefen. Liefen. Und fielen … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)