Was nicht gesagt werden kann von Daelis ================================================================================ Prolog: -------- Sie fuhr sich durchs Haar und starrte auf das weiße Blatt vor sich. Die Minuten waren nur so gekrochen und noch nicht eine einzige Zeile hatte ihren Weg auf das Papier gefunden. Sie wusste nicht einmal, wieso sie diesen Brief schrieb, geschweige denn, ob sie ihn überhaupt schreiben wollte. Wie sollte ein Brief irgendetwas ändern? “Sehr geehrte Frau Lochner” Nein, das war furchtbar. “Hallo Frau Lochner” Furchtbar. Aber mit ihrem Vornamen konnte sie sie ja schlecht ansprechen, oder? Sie hielt inne. Und was jetzt? Was sollte sie schreiben? Einfach drauf los? Unschlüssig wanderte ihr Blick durch den Raum und schließlich zurück auf das Papier vor sich und den angekauten Kugelschreiber in ihrer Hand. Ihre Finger zitterten, als sie die ersten Worte schrieb. Kapitel 1: Erster Brief ----------------------- Hallo Frau Lochner, was passiert ist, tut mir unendlich Leid. Das klingt hohl, oder? Wie eine dumme Floskel, die man einfach so sagt, weil es die Leute von einem erwarten, egal ob man es ernst meint oder nicht. Aber ich meine es ernst, sehr sogar. Es tut mir so, so Leid. Ich weiß, das kann ich nie wieder gut machen und nichts, was ich sage, wird einen Unterschied für Sie machen, aber ich werde nie wieder so etwas Dummes tun und mein Bestes dafür geben, dass auch sonst niemand so dumm ist, damit sowas nicht wieder und wieder passiert. Es fällt mir nicht leicht, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Vermutlich werden Sie ihn sowieso nie lesen. An Ihrer Stelle würde ich das nämlich auch nicht. An ihrer Stelle wäre ich wahnsinnig wütend und würde den Brief einfach zerreißen oder ins Feuer werfen oder sowas. Warum sollten Sie auch ausgerechnet einen Brief von mir lesen wollen? Ehrlich gesagt, weiß ich auch gar nicht, ob ich ihn überhaupt abschicke. Vermutlich nicht. Was würde es auch ändern? Nichts. Man denkt immer: Das passiert irgendwo, ganz weit weg, aber doch nicht jemandem, den ich kenne oder mir selbst. So ist es wohl mit allen schlimmen Dingen. Man denkt immer, das sei alles ganz weit weg und beträfe einen gar nicht. So wie die Sachen in den Nachrichten. Irgendwo auf der Welt und ganz bestimmt schrecklich, aber auch weit weg und morgen ist es schon wieder vergessen.Das hier werde ich niemals vergessen. Niemals. Sie bestimmt auch nicht. Natürlich nicht. Wie könnten Sie auch? Sie werden ja jeden Tag daran erinnert und das ist alles meine Schuld. Wie schrecklich es für Sie ist, kann ich mir nicht einmal ausmalen. Vermutlich bin ich die Letzte, von der Sie das hören wollen. Immerhin bin ich ja daran schuld, dass Sie jetzt so leben müssen und möchten bestimmt nicht lesen, wie ich darüber jammere, wie schlecht es mir deswegen geht und wie Leid mir das alles tut und dass ich, wenn ich könnte, alles anders machen würde, alles ändern würde und mit Ihnen tauschen würde, wenn ich könnte. Darum… es tut mir Leid. Es tut mir unendlich Leid. Ich würde alles tun, um es ungeschehen zu machen. Es tut mir Leid. J. Kapitel 2: Zweiter Brief ------------------------ Hallo Frau Lochner, ich schon wieder. Den letzten Brief habe ich eigentlich gar nicht abschicken wollen und diesen werde ich vermutlich wirklich nicht abschicken, was am Ende wohl keine Rolle spielt, weil Sie sie sowieso nicht lesen. Ich weiß gar nicht, wieso ich Ihnen das schreibe. Um ganz ehrlich zu sein, schreibe ich diesen Brief wohl nur, weil mein Therapeut mich dazu drängt. Er meint, das sei wichtig, damit ich die ganze Sache verarbeiten kann und mit mir wieder ins Reine komme. So ganz überzeugt bin ich davon allerdings nicht. Ich meine, ich kann doch nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert und mein Leben einfach weiterleben. Das ist einfach nicht richtig, einfach nicht fair. Sie können das ja auch nicht, also steht es mir erst recht nicht zu. Mein Therapeut meint, ich müsse mir vergeben und dafür sei es eben auch wichtig, dass ich mich bei Ihnen entschuldige. Und das möchte ich. Wirklich! Aber ich weiß gar nicht wie. Es tut mir Leid. Es tut mir so schrecklich Leid, was ich Ihnen angetan habe. Doch egal, wie oft ich das sage und es meine, das ändert ja nichts. Solche Sachen kann man einfach nicht wieder gut machen. Erst wollte ich Ihnen einen Blumenstrauß und eine Karte schicken, aber ich habe mich dann nicht getraut. Dachte, sie wollten lieber nichts von mir hören und irgendwie wärs mir billig vorgekommen, Ihnen Blumen zu schicken. Wie “Hey, ich hab ihr Leben ruiniert, aber hier sind ein paar hübsche Blümchen. Jetzt ist alles wieder gut”. Das ist es natürlich nicht und kein noch so schöner Blumenstrauß wird das ändern. Außerdem hätte ich ja auch ihren Namen gar nicht wissen dürfen. Den habe ich ja nur zufällig rausbekommen, weil Sie in der Nähe wohnen und die halbe Nachbarschaft seit dem Tag darüber tuschelt, was passiert ist. Immer, wenn man mich beim Einkaufen erkennt, gucken mich alle so schief an und flüstern hinter meinem Rücken. Als wüsste ich nicht genau, was sie sagen. Dass ich Ihr Leben ruiniert habe und dass ich etwas ganz Furchtbares getan habe und wie ich es überhaupt noch wagen kann, mich aus dem Haus zu wagen. Eigentlich möchte ich das auch gar nicht mehr. Ich will mich einfach nur in meinem Bett verkriechen und nichts mehr hören oder sehen. Es traut sich zwar keiner, mir ins Gesicht zu sagen, dass sie mich scheiße finden und ich verschwinden soll, aber man sieht es ihnen an der Nasenspitze an. Den Nachbarn und der Kassiererin beim Edeka, den Teenies an der Bushaltestelle oder dem komischen Typen aus dem Eckhaus. Das mit den vielen Gartenzwergen im Vorgarten, Sie kennen es bestimmt. Vermutlich sollte ich umziehen. Irgendwohin, wo mich niemand kennt und keiner weiß, was passiert ist. Ein Tapetenwechsel. Das hat mein Therapeut auch gesagt. Dass mir das gut tun würde und dass ich dann Abstand gewänne. Außerdem würde auch ein Umzug nichts ändern. Davon können Sie auch nicht wieder laufen. Das ist nur für mich einfacher und das habe ich eigentlich nicht verdient. Wäre ich doch nur nicht so dumm gewesen… Das wünschen Sie sich bestimmt noch viel mehr als ich. Ich jammere und heule hier herum, dabei sind Sie das Opfer und ich die Täterin. Sie sind die letzte Person auf der ganzen Welt, der ich irgendetwas vorheulen sollte. Dazu habe ich gar kein Recht. Es tut mir alles so schrecklich Leid. Also vielleicht doch wegziehen? Weg von allem hier und auch Ihnen. Ein bisschen käme mir das vor wie eine Flucht. Ziemlich feige, aber besonders Klar, ich könnte mir eine andere Wohnung suchen, in irgendein Kaff ziehen, wo ich niemanden kenne und ganz neu anfangen. Aber dann habe ich nicht einmal mehr meine Familie und das ertrage ich nicht. Meine Freunde reden kaum noch mit mir. Nichtmal Katrin, meine beste Freundin. Sie meint, ich hätte besser aufpassen müssen und dass es ihr Leid tut, dass es mir deswegen so schlecht geht. Sie hat mich ein oder zweimal besucht, aber meldet sich kaum noch. Selbst sie hält mich für einen furchtbaren Menschen. Ich hoffe, Ihre Freunde sind jetzt für Sie da und helfen ihnen. Ich hoffe, sie stehen Ihnen zur Seite. Und natürlich auch Ihre Familie. Ich wünschte, es gäbe irgendetwas, das ich tun könnte, um Ihnen zu helfen, doch mir will einfach nichts einfallen. Keine Schulung, keine Demonstration oder irgendeine ehrenamtliche Hilfe würde für Sie einen Unterschied machen. Sie wären immer noch an den Rollstuhl gefesselt. Das kann ich nie wieder gut machen, das weiß ich. Dennoch würde ich so gerne irgendetwas tun, das Ihnen hilft, wenigstens ein kleines bisschen. Vermutlich ist das auch ziemlich egoistisch, weil ich mich besser fühlen will. Tut mir Leid. Es tut mir alles so Leid. Ich wünsche Ihnen eine gute Genesung. Soweit das möglich ist. J. Kapitel 3: Rückbrief -------------------- Sehr geehrte Frau M., ich fordere Sie hiermit auf, es zu unterlassen, meiner Tochter weiterhin Post zu schicken. Ihre Briefe sind hier unerwünscht. Sollten Sie diesen Wunsch nicht respektieren, behalten wir es uns vor, unsere Privatsphäre mit Nachdruck und nötigenfalls mithilfe eines Rechtsbeistandes vor Eingriffen Ihrerseits zu schützen. Bezüglich unserer Schadensersatzforderungen werden Sie von unserem Rechtsanwalt kontaktiert. Jeglichen Schriftverkehr führen Sie bitte über diesen. P. K Kapitel 4: Erster Antwortbrief ------------------------------ Hallo J., ich weiß, dein letzter Brief ist nun schon einen Monat her, aber ich war einfach nicht sicher, ob ich dir überhaupt schreiben soll. Und was. Ehrlich gesagt war ich total überrascht, dass du mir geschrieben hast. Das hatte ich wirklich nicht erwartet. Vermutlich hast du auch nicht mehr mit einer Antwort gerechnet, oder? Mein Vater hat mir nichts von den Briefen erzählt und ich habe sie dann etwas später im Müll gefunden. Ich wusste anfangs nicht einmal, von wem sie kamen und habe nur gesehen, dass sie an mich adressiert waren und der Absender ein paar Straßen weiter wohnt. Naja… bis ich dann die Briefe gelesen habe. Zuerst war ich nur wütend und wollte die Briefe wieder wegwerfen. Wie du siehst, habe ich es mir dann aber überlegt und mich dazu entschieden, dir zu schreiben. Ein wenig geht es mir da wie dir. Meine Ärztin hat mir dazu geraten. Sie meint, es würde mir helfen, zu verstehen, was passiert ist und es zu akzeptieren. Außerdem meinte der Seelsorger im Krankenhaus schon, dass es ganz normal sei, dass ich sauer auf dich bin und auf alle und die Welt, aber dass es mir nicht gut tun würde, mein Leben lang nur wütend zu sein. In dem Punkt hat er letztlich wohl Recht, schätze ich. Ich will nicht mein ganzes Leben nur damit verbringen, jemanden zu hassen. Damit tue ich mir keinen Gefallen. Aber es ist schwer, das umzusetzen. Also so richtig. Danach hat er eine Menge über Gott geredet, dabei bin ich gar nicht religiös, aber das hat ihn wohl nicht sonderlich interessiert. Es gab auch keinen anderen Seelsorger im Krankenhaus und auch sonst eigentlich niemanden, mit dem man reden könnte. Die Ärzte hatten alle keine Zeit, die Schwestern auch nicht. Nichtmal anständiges WLAN gab es. Wenn man alle paar Stunden für einige Sekunden ein Loch erwischt hat, durch das ein bisschen Verbindung durchkam, reichte es vielleicht für ne kleine Whatsapp-Nachricht. Und im Fernsehen läuft ja auch nur Mist. Meine Zimmernachbarin war blöderweise auch noch aus der Generation, die beim abendlichen ZDF-Krimi strickt und ab 22 Uhr darauf besteht, dass alle Lichter und der Fernseher ausgestellt sind. Sie wurde irgendwie am Knie operiert und jammerte ununterbrochen herum. Sie wollte mehr Schmerzmittel, aufs Klo, jemand soll ihr dies oder jenes bringen und wann denn ihre Tochter sie endlich besuchen komme. Die armen Krankenschwestern taten mir richtig Leid. Was mit mir ist, habe ich ihr nicht gesagt. So ein “junges Ding” wie ich würde sicher bald wieder auf die Beine kommen, meinte sie immer. Im Alter würde ich dann merken, wie gut ich es hatte. Klar. Keine Ahnung, aber rumtönen. Die hat mich dauernd vollgeblubbert, selbst wenn ihr Kopfhörer aufhatte. Natürlich kommt mein Vater jeden Tag, das machts erträglicher, aber ich glaube, er weiß eigentlich auch nicht, was er sagen soll. Er spricht immer nur davon, dass wir das schon hinbekommen und dass ich dann das letzte Schuljahr wiederholen kann, wenn ich soweit fit bin und die Reha natürlich erstmal wichtiger ist. Er redet auch viel mit Ärzten und weiß der Himmel mit wem sonst noch. Er bringt mir auch Bücher mit und hat mir sogar eine Switch gekauft. Schätze, das ist seine Art, mich ablenken zu wollen. Richtig helfen kann er mir ja auch nicht. Zum Glück soll übermorgen die Reha beginnen. Im Krankenhaus kam jeden Tag jemand, um meine Beine zu bewegen. Das sei sehr wichtig, damit sie weiter durchblutet werden. Medikamente und Spritzen bekomme ich deswegen auch. Aber wenigstens tut das ja nicht mehr weh. Hah, das hast du nicht erwartet, mh? Schätze, mir hilft Galgenhumor bei dieser Sache. Außerdem hieß es ja eh schon immer, ich sei ein Stubenhocker. Jetzt hab ich dafür mal eine Ausrede. Ich weiß gar nicht, wieso ich dir all das überhaupt geschrieben habe. Vielleicht, damit du weißt, wie es bei mir jetzt weitergeht und dass ich noch lebe und nicht aufgegeben habe. Was passiert ist, ist scheiße. Und ich bin stinksauer. Auf dich und auf die Leute, die zugelassen haben, dass du überhaupt betrunken ins Auto steigst und auf die ganze verdammte Scheißwelt. Ich hasse es, dass ich nicht einmal mehr einfach aufstehen und aufstehen und auf Klo gehen kann oder einfach nur duschen. Und ich hasse es, dass ich für jeden kleinen Rotz direkt Hilfe brauche. Ich kann mich ja nichtmal mehr allein anziehen, auch wenn eine Schwester meinte, das habe ich ganz schnell raus. Es brauche nur Zeit. Zeit, Zeit, Zeit. Das sagen alle hier. Es braucht Zeit. Es braucht Zeit, bis ich mich zu bewegen weiß - haha, sehr lustig - und Zeit, bis ich weiß, wo meine Grenzen sind und sich die Menschen um mich herum an die Veränderung gewöhnt haben. Aber immerhin bin ich noch am Leben, nicht wahr? Manchmal hätte ich mir fast gewünscht, es wäre nicht so. Aber das wäre grausam. Dann hätte mein Vater gar niemanden mehr. Außerdem will ich nicht sterben. Aber ich weiß auch nicht, ob ich so leben will. Es ist so anstrengend. Selbst diese ganzen kleinen Übungen, die ich im Krankenhaus machen musste, waren total heftig. Und das nur, weil mein Körper nicht mehr funktioniert. Wärst du nicht betrunken gefahren, hättest du mich nicht angefahren und ich läge nicht hier. Stattdessen wäre ich jetzt vielleicht mit Katrin in der Innenstadt, um ein Eis zu essen, anstatt aus dem Fenster zu starren, weil ich nichtmal alleine aus dem Haus komme. Ich könnte dir jetzt schreiben, dass ich dir vergebe, damit du dich besser fühlst, aber eigentlich will ich das nicht. Du hast Scheiße gebaut, so richtig große Scheiße und ich bade sie jetzt aus. Ich hasse dich nicht, aber ich bin wütend und das kann ich nicht einfach abstellen. Mein ganzes Leben hat sich verändert und ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll, denn jeder verdammte Tag ist seitdem ein Kampf. Vielleicht kann ich dir irgendwann verzeihen. Ich hoffe das sogar, weil das bestimmt besser für uns beide ist. Aber im Moment kann ich das nicht. Ich bin zu wütend. Dennoch möchte ich, dass du weißt, dass ich froh bin, dass du mir geschrieben hast und ich das sehr mutig finde. Dass es dir damit auch nicht gut geht, ist mir kein Trost, aber ich verstehe es. Wirklich. Aber dein Leben wird weitergehen, ganz normal und dann wirst du irgendwann vergessen, wie ich heiße und dich nicht mehr fragen, was aus mir geworden ist. Mein Leben jedoch… mein Leben ist für immer an den Rollstuhl gefesselt. Ich werd nie mehr laufen oder springen oder schwimmen oder tanzen. Wenn du etwas für mich tun willst, dann sag mir nur eines: Warum? Warum musstest du zu dieser Party? War es überhaupt eine? Warum warst du betrunken? Warum bist du noch Auto gefahren? Wieso hat dich keiner deiner Freunde aufgehalten? Wieso musstest du ausgerechnet mich übersehen? V. Kapitel 5: Zweiter Antwortbrief ------------------------------- Hallo J., du hast mir nicht geantwortet. Das ist keine Anklage, nur eine Feststellung. Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, ob ich an deiner Stelle geantwortet hätte. Aber ich hätte es mir gewünscht. Weiß auch nicht… Du musst mir natürlich nicht zurückschreiben. Hier im Krankenhaus ist es sterbenslangweilig und doch gewöhnt man sich irgendwie dran. Morgens die Visite mit immer den gleichen Fragen und dauernd neuen Leuten, die man eh im nächsten Moment vergessen hat. Denen geht es bestimmt auch so. Dutzende Patienten, an die sie sich in fünf Minuten nicht mehr erinnern. Für die bin ich nur ein Fall. Dabei geht es hier für mich um alles, um mein Leben. Das ist nicht nur eine Nummer am Patientenbett, eine Visite, die pflichtmäßig auf der Liste steht und die man eben abarbeitet. Aber genau so fühlt man sich hier. Ich weiß ja, sie meinen es nur gut. Jeder sagt das. Sie wollen mir helfen, damit ich schnell wieder ein normales Leben führen kann. Als ob! Für die blöd halten die Leute mich bitte? Ich weiß, dass ich kein normales Leben mehr haben kann. Jeder weiß das, verdammt nochmal! Jeder, der mich nur ansieht. Sie sollen endlich aufhören, um den heißen Brei zu reden und es sagen, wie es ist. Es nervt! Eigentlich schreibe ich dir auch nur, weil ich einfach nicht weiß, wem ich es sonst schreiben sollte. Meinem Vater und meinen Freunden kann ich nicht immer sagen, wie schrecklich alles ist und wie anstrengend und schwer und dass ich einfach manchmal glaube, dass ich nicht mehr kann und nicht weiß, wie ich so leben soll. Sie schauen mich dann immer mit so traurigen Augen an und ich weiß, sie reden dann mit den Ärzten darüber, weil sie Angst haben, dass ich Depressionen bekomme. Ein Arzt hat mit mir da auch schon drüber gesprochen. Ich müsse unbedingt zu einem Psychotherapeuten, damit ich mein Trauma zu verarbeiten lerne. Er lege mir das ganz dringend nahe. Blabla. Was ich will, danach fragt hier natürlich niemand. Ich will hier endlich raus. Die Reha wurde verschoben. Zweimal schon. Ich sei noch nicht soweit. Wenn ich noch länger hier herumliegen muss, drehe ich noch durch. Mein Vater ist da auch nicht unbedingt eine Hilfe. Er versuchts zwar, aber… Naja, er versuchts. Man sieht ihm an, dass er eigentlich auch total überfordert mit allem ist und nicht weiter weiß. Letzte Woche hat er angefangen, mir zu erzählen, wie er die Wohnung umbaut, damit ich auch mit einem Rollstuhl zurechtkomme. Ich weiß, er meint es gut, aber es erinnert mich daran, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich nach Hause komme und dann da festhänge. Er kann mich ja auch nicht jeden Tag pflegen. Pflegen, oh Gott! Ich bin ein Pflegefall! Das nur zu schreiben, fühlt sich surreal an. Am liebsten möchte ich mich einfach einkugeln und schlafen. Dann nervt mich wenigstens niemand mit so dummen Fragen wie “Wie geht es dir?” oder Sprüchen wie “Das wird schon wieder”. Ich kanns echt nicht mehr hören. Selbst meine besten Freunde gucken nur betreten drein. Dass sie nur aus Pflichtgefühl herkommen, ist mir halt auch klar. Es ist öde hier, langweilig und mehr als ein paar Dinge aus der Schule haben sie auch nicht zu erzählen. Als hätte der Rollstuhl eine Mauer zwischen uns aufgebaut. Von heute auf morgen. Ich gehöre einfach nicht mehr dazu. Kein Lachen, keine Scherze, keine Insider. Anfangs kamen Marina und Nora noch fast jeden Tag, aber jetzt waren sie schon fast zwei Wochen nicht mehr hier. Sie rufen auch nicht an und schreiben nur ganz selten. Meistens abends vorm Schlafengehen. So wie man eben Leuten schreibt, auf die man eigentlich keine Lust und mit denen man nicht länger schreiben will, weißt du? Ist schon ziemlich schräg, dass ich das ausgerechnet dir alles schreibe, oder? Immerhin kennen wir uns gar nicht und obendrein hast du mich ja erst in den Rollstuhl gesteckt. Aber wenigstens muss ich dir nicht erzählen, dass ich mich freue, nach Hause zu kommen und dass ich viel trainieren werde, um mein Leben bald ganz normal weiterzuführen und dass ich glücklich bin, dass es so gut vorangeht. Gefühlt tut es das nämlich gar nicht. Wie lange bin ich schon hier im Krankenhaus? Kanns nichtmal sagen. Jeder Tag fühlt sich gleich an. Man verliert völlig das Zeitgefühl. Ich habe einfach so gestrichen die Schnauze voll. Alle tun so, als wäre ich ein rohes Ei, tuscheln, wenn sie glauben, ich höre nicht hin und keiner traut sich, mir einfach ins Gesicht zu sehen und zu sagen, was ich sowieso weiß. Dass es kacke ist. Dass das alles richtig, richtig kacke ist und dass ich nie mehr werde laufen können, aber dass ich damit halt nun irgendwie lernen muss zu leben. Kannst du dir überhaupt vorstellen, was das bedeutet? Wie es ist, morgens nicht einfach aufstehen zu können, um einfach die Vorhänge zuzuziehen, wenn man noch ein wenig schlafen will? Nicht einfach mal zum Kühlschrank wandern zu können, wenn man Hunger hat? Ich käme vermutlich nichtmal dran, wenn ich im Rollstuhl sitze. Alles ist viel zu hoch. Ich hasse das. Manchmal hasse ich dich auch. Du hast mir das angetan. Aber dann erinnere ich mich daran, dass du einfach nur dumm warst. Ich meine, du bist wohl nicht zum Spaß an der Freude in ein anderes Auto gefahren. Es war ein Unfall. Du warst schuld, klar, aber… ich weiß auch, dass du das nicht gewollt hast. Ich hätts auch gewusst, wenn du es mir nicht geschrieben hättest. Eigentlich bin ich einfach nur sauer. Nichtmal nur auf dich. Dir geht es bestimmt ziemlich dreckig damit. Würde es mir auch an deiner Stelle. In mir sehen alle das arme Mädchen, das nie mehr laufen kann und du bist die Böse, die besoffen gefahren ist. Dass dich diese ganzen Leute haben fahren lassen, darüber spricht keiner. Oder darüber, dass es scheiße schwer ist, wieder auf die Beine zu kommen. Also für dich. Ich komme ja nicht mehr auf die Beine. Haha. Da kommt der Galgenhumor durch. Ich will, dass du etwas für mich tust. Als Wiedergutmachung sozusagen. 1. Ich will, dass du mir schreibst. 2. Ich will, dass du dich nie mehr betrinkst. Das mache ich auch nicht, wir haben also gewissermaßen einen Deal. 3. Bitte bring ein paar Blumen für mich zum Friedhof. Keine Rosen! Am Mittwoch nächste Woche. Das wäre mir wirklich wichtig, weil ich ja dieses Mal nicht hingehen kann. Papa wird bestimmt hingehen, aber das ist nicht das gleiche. Gar nicht so schwer, hm? Kann nicht sagen, dass ich damit einfach so tun kann, als wäre nichts passiert, aber… ich denke, es ist ein Anfang. Grüße V. Kapitel 6: Dritter Brief ------------------------ Hallo V., es tut mir Leid, dass ich nicht geantwortet habe. Ich wusste einfach nicht, was ich schreiben soll. Deinen Brief hab ich bestimmt hundertmal gelesen und egal, was ich geschrieben hab, es klang einfach alles blöd. Egal, wie sehr ich mich entschuldige und wie Leid es mir tut, es gibt dir halt deine Beine nicht zurück. Trotzdem… Es tut mir unendlich Leid. Ich würde es so gerne ungeschehen machen oder mit dir tauschen. Es hätte besser mich erwischen sollen, immerhin war ich ja dran schuld. Und eigentlich weiß ich schon jetzt nicht mehr, was ich dir noch sagen könnte. Es steht mir nicht zu, dich damit vollzujammern, wie schlecht ich mich fühle. Immerhin bin ich ja gut davon gekommen. Ich wünsche dir wirklich, dass du bald aus dem Krankenhaus kommst und die Reha starten kann. Die wird bestimmt noch härter, als ich es mir vorstellen kann. Ich wünschte, ich könnte dir da irgendwie helfen. Generell kann ich mir nicht einmal ausmalen, wie schlimm es sein muss, nicht mehr gehen zu können und wie groß die Umstellung in so vielen kleinen, alltäglichen Dingen. Es tut mir so, so Leid. So unendlich Leid. Gestern war ich am Krankenhaus. Also draußen. Ich bin nicht reingegangen. Ein ziemlicher Klotz und ziemlich groß. Überall laufen Leute herum. Ich habe oft darüber nachgedacht, ob ich dich besuchen soll, aber ich traue mich nicht. Wie könnte ich dir auch in die Augen sehen, nach dem, was passiert ist? Abgesehen davon, dass du mich bestimmt auch nicht sehen willst. Das kann ich gut verstehen. Du hast wirklich jeden Grund, mich zu verabscheuen. Natürlich trinke ich nicht mehr! Keinen einzigen Tropfen! Wenn ich nicht betrunken gewesen wäre, wäre das alles gar nicht passiert. Ich verspreche, ich werde niemals wieder auch nur einen einzigen Schluck Bier oder Wodka oder Wein oder sonstwas anrühren. Nie! Auch wenn es zu spät kommt, habe ich doch wenigstens das gelernt. Am Mittwoch war ich auf dem Friedhof. Ich habe ein paar “Funny Honey” ausgesucht. Sie sahen so hübsch und freundlich aus in ihrem leuchtenden Orange und haben diesen schönen Farbverlauf. Im Laden hat man mir gesagt, dass sie lange blühen werden. Es tut mir Leid, dass du deine Mutter verloren hast. Bestimmt vermisst du sie sehr. Könnte jetzt sagen, dass sie bestimmt vom Himmel zu dir schaut, aber eigentlich glaube ich nicht an Himmel oder Hölle. Allerdings bin ich sicher, es gibt sie noch irgendwo, ihre Seele meine ich, und dass sie in deiner Nähe ist. Vermutlich ist sie auch ziemlich wütend auf mich. Hoffentlich gefallen ihr und dir die Blumen trotzdem. Ich habe dir ein Foto gemacht. Dann ist es ein bisschen, als wärst du auch dort gewesen. Entschuldige, das ist bestimmt ein schwacher Trost. Grüße J. Kapitel 7: Dritter Antwortbrief ------------------------------- Hallo J., danke für das Foto und die wunderschönen Blumen. Die hätten meiner Ma sicher gefallen. Mein Papa hat mir davon übrigens auch erzählt und mir ein Foto geschickt. Er meinte, das sei bestimmt Mamas Cousine gewesen. Ich hab ihm nicht gesagt, dass er falsch liegt und die Blumen von dir sind. Dann hätte er sich vielleicht nicht mehr so gefreut und er lächelt sowieso schon so selten dieser Tage. Dabei wünschte ich mir, er würde. Ich bin doch noch am Leben und immer noch seine Tochter. Daran hat sich doch nichts geändert. Trotzdem guckt er immer wie damals bei Mama. Als sie gestorben ist, meine ich. Leider wird die Reha sich wohl noch länger verzögern. Gestern bin ich operiert worden, darum schreibe ich dir auch erst jetzt, und dabei kam es zu Komplikationen. Eigentlich sollte ein Wirbel wieder irgendwie eingeschoben werden. So hat man es mir zumindest erklärt. Das hat dann aber wohl nicht geklappt und jetzt tut mir eigentlich nur alles weh. Mein ganzer Rücken bis rauf zum Nacken, egal wie ich mich drehe. Wenigstens tun mir die Beine nicht weh. Die sehen nämlich auch ganz schön mitgenommen aus. An einem wurde ich schon vor zwei Wochen operiert, da haben sie Knochensplitter entfernt. Jetzt guckt da nur noch so ein Drahtgestell raus, aber das tut wenigstens nicht weh. Ich spüre da ja nichts mehr. Aber diese Rückenschmerzen machen mich wahnsinnig. Dabei bekomme ich schon ziemlich starke Schmerzmittel. Die Schwester sagt, sie darf die Dosis nicht erhöhen, aber sie würde mit dem Arzt darüber sprechen. Das erzählen sie mir nun schon drei Tage. Ich werde noch wahnsinnig, wenn das so weitergeht. Kann mich auf nichts konzentrieren. Es tut einfach nur weh. Hier ist es halt auch so öde, ich hab sonst nichts zu tun. Vielleicht kommst du mich ja doch besuchen. Schmeiße dich auch nicht raus, versprochen. Etwas Ablenkung könnte ich im Moment echt gut gebrauchen. Mein Vater ist total mit dem Umbau beschäftigt, wenn er nicht mit irgendwelchen Ärzten zusammensitzt. Danke für das Foto. Die Blumen sind wirklich schön. Ich weiß das zu schätzen. Grüße V. Kapitel 8: Vierter Brief ------------------------ Hallo V., das klingt wirklich übel. Ich hoffe sehr, dass es dir bald besser geht und die Schmerzen aufhören. Bestimmt hast du im Moment einiges an OPs und Behandlungen vor dir, ganz zu schweigen von den Reha-Plänen. Sie kriegen das doch bestimmt hin. Die Medizin kann heute so viele beeindruckende Sachen. Ich habe in der letzten Zeit viel darüber gelesen und manche Menschen, die querschnittsgelähmt sind, können tatsächlich wieder bis zu einem gewissen Grad laufen lernen! Gib also die Hoffnung bitte nicht auf! Ich weiß nicht, ob es dich interessiert oder dir hilft - und vielleicht weißt du sowieso schon viel genauer darüber Bescheid als ich, immerhin beraten dich ja die ganzen Ärzte und so, aber ich habe dir den Artikel ausgedruckt und beigeheftet, falls du ihn lesen möchtest. Es ist wirklich spannend und ich würde dir wünschen, dass du das auch schaffst. Und nicht nur, weil ich mich dann irgendwie weniger schuldig fühlen würde. Es ändert ja nichts an dem, was ich getan habe, aber für dich wäre es eben schön. Bist du dir sicher, dass du ausgerechnet mich sehen willst? Gerade jetzt, wo es dir nicht so gut geht… Ich meine, wenn du das möchtest, dann komme ich. Ich habe zwar riesige Angst davor, aber ich werde auch nicht weglaufen. Das gehört wohl dazu, hat mein Therapeut gesagt. Man muss sich damit auseinandersetzen und akzeptieren, bevor man vergeben kann. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass ich mir jemals vergebe. Oder dass du das tust. In welchem Zimmer bist du denn untergebracht? Darf ich überhaupt einfach so kommen oder gibt es strenge Zeiten? Grüße J. Kapitel 9: Siebter Brief ------------------------ Hallo V., ich weiß nicht, ob meine Briefe dich noch erreichen, weil du nicht antwortest. Ich hoffe es und natürlich auch, dass du endlich die Reha starten konntest. Vermutlich bist du einfach zu erschöpft, um noch zu antworten oder kamst noch nicht dazu, meine Briefe zu lesen. Für deine OPs drück ich dir die Daumen. Du schaffst das! Wegen dem Arzt, von dem ich dir das letzte Mal geschrieben habe, hab ich nochmal was rausgesucht. Der ist wohl Spezialist für diese spezielle Form der Operation, die dir vielleicht helfen kann. Irgendetwas Kompliziertes, das ich mir nicht merken konnte. Auf jeden Fall hab ich dir da was beigelegt. Deine Ärzte können da bestimmt mehr zu sagen. Vorgestern hatte ich tatsächlich den Mut, ins Krankenhaus zu gehen, um dich zu besuchen. Das hast du dir ja gewünscht und ich dachte, wenn du keine Zeit hast, zu schreiben, schaue ich rein und wir reden vielleicht… naja, von Angesicht zu Angesicht, wenn du noch möchtest. Als ich an der Rezeption nach dir gefragt habe, wollte man mir deine Zimmernummer nicht geben, weil ich keine Angehörige bin. Hätte ich mir wohl auch denken können. Sonst könnte da je jeder einfach reinstiefeln, wie er lustig ist. Halt die Ohren steif. Grüße J. Kapitel 10: Letzter Brief ------------------------- Hallo V., ob es dir besser geht, dort, wo du nun bist? Bist du mit deiner Mutter vereint? Beobachtet ihr deinen Vater, der nun ganz alleine ist? Und ob du manchmal auch zu mir siehst und den Kopf über mich schüttelst, wenn ich vor lauter Selbstmitleid weine? Ich weiß es ehrlich nicht. Ich weiß nur, dass du zu jung warst, um zu gehen. Das ist nicht fair. Du warst so nett und du hast sogar mir eine Chance gegeben. Dabei habe ich dein ganzes Leben ruiniert. Nein, schlimmer noch. Natürlich sagen mir nun alle, dass ich nicht an deinem Tod schuld bin, sondern die Ärzte, die diese riskante Operation vorgeschlagen und durchgeführt haben. Ein schwacher Trost. Das alles wäre ja nicht nötig gewesen, wenn ich an diesem Abend nicht getrunken hätte, wenn ich nicht ins Auto gestiegen wäre, wenn ich dich nicht… getötet hätte. Zumindest so fühlt es sich an. Keine Worte können sagen, was ich dir sagen möchte. Es tut mir Leid. Das ist einfach nicht genug. Vielleicht findest du zwischen den Zeilen, wofür ich auch heute einfach keine Worte finde. Du wirst diese Zeilen nie lesen, doch für mich sind sie ein Abschied. Nicht von allem, was passiert ist, sondern von dir. Darum lasse ich sie hier an deinem Grab. Morgen ziehe ich um. Etwa zwei Stunden von hier, etwas mehr. Ich weiß nicht, ob ich wieder hierher komme, um deinen Namen auf diesem Stein zu sehen. Ich nehme es mir vor, aber… du weißt ja, wie es mit manchen Dingen ist. Ich hoffe, dass du, wo immer du sein magst, mir eines Tages vielleicht vergeben kannst. J. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)